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Für Lori Die mich vor dem Ertrinken rettete
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christiane Winkler
ISBN 978-3-492-97874-3
© Tarryn Fisher 2014
Published by arrangement with Tarryn Fisher
Titel der englischen Originalausgabe: »Mud Vein«, CreateSpace Independent Publishing Platform 2014
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: Pete Ryan/gettyimages (Haus); Thomas Hauser und EyeEm/gettyimages (Landschaft)
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Cover & Impressum
Erster Teil - Schock und Verdrängung
Kapitel 1 - Tag 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil - Schmerz und Schuld
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Nicks Buch
Kapitel 20
Kapitel 21
Dritter Teil - Wut und Gefeilsche
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24 - Depression
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28 - Das Karussell
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38 - Akzeptanz
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Danksagung
Ich habe einen Roman geschrieben. Ich habe einen Roman geschrieben, der veröffentlicht wurde. Ich habe einen Roman geschrieben, der auf die Bestsellerliste der New York Times kam. Ich habe diesen Roman geschrieben und habe mir die Verfilmung dann im Kino mit einer Tüte fettigen Popcorns auf dem Schoß angesehen. Meinen Roman. Den ich geschrieben habe. Ich habe das alles alleine geschafft, so ist es mir am liebsten. Und wenn der Rest der Welt dafür bezahlen will, einen kurzen Blick in meine chaotische Welt zu werfen, nur zu. Das Leben ist zu kurz, um seine Fehler zu verbergen. Also verberge ich stattdessen mich selbst.
Es ist mein dreiunddreißigster Geburtstag. Ich wache in kalten Schweiß gebadet auf. Mir ist heiß. Nein, mir ist kalt. Ich friere. Das Laken schlingt sich um meine Beine und fühlt sich ungewohnt an – zu glatt. Ich zerre daran und versuche, mich zuzudecken. Meine Finger fühlen sich ungelenk und rau auf dem seidigen Material an. Vielleicht sind sie geschwollen. Ich weiß es nicht, mein Verstand ist träge, meine Augen sind wie zugeklebt, und jetzt wird mir wieder heiß. Oder vielleicht ist mir kalt. Ich kämpfe nicht mehr gegen das Laken, lasse mich treiben … rückwärts … rückwärts …
Als ich erwache, ist es hell im Zimmer. Ich kann das sehen, obwohl meine Augenlider geschlossen sind. Es ist düster – selbst für einen verregneten Tag in Seattle. In meinem Schlafzimmer habe ich deckenhohe Fenster; ich rolle mich auf diese Seite, zwinge mich, die Augen zu öffnen, und blicke auf eine Wand. Eine Holzwand. Die gibt es in meinem Haus nicht. Mein Blick gleitet an ihr entlang bis zur Decke, dann fahre ich hoch und bin schlagartig wach.
Ich bin nicht in meinem Schlafzimmer. Entsetzt sehe ich mich im Zimmer um. In welchem Schlafzimmer? Ich denke an die vergangene Nacht zurück. Habe ich …
Keine Chance. Ich habe einen Mann nicht einmal angesehen, seit … ich bin auf keinen Fall mit jemandem nach Hause gegangen. Außerdem habe ich gestern Abend mit meinem Lektor zu Abend gegessen. Wir haben ein paar Gläser Wein getrunken. Von Chianti wird man nicht bewusstlos. Ich atme flach und versuche, mich zu erinnern, was passiert ist, nachdem ich das Restaurant verlassen habe.
Benzin, ich habe an der Red Sea Service Station auf der Magnolia und Queen Anne gehalten. Und danach? Ich kann mich nicht erinnern.
Ich sehe auf das Federbett herab, das ich zwischen meinen weißen Fingern halte. Rot … Daunen … fremd. Ich schwinge meine Beine seitlich aus dem Bett, der Raum dreht sich vor meinen Augen. Mir wird sofort schlecht. Ein Kater wie nach einem Saufgelage. Ich schnappe nach Luft und versuche, tief durchzuatmen, um meine Übelkeit zu unterdrücken. So etwas kommt nicht vom Chianti, sage ich mir wieder.
»Ich träume«, sage ich laut. Aber das tue ich nicht. Ich weiß es. Ich stehe auf, mir ist gut zehn Sekunden lang schwindelig, erst dann bin ich in der Lage, einen ersten Schritt zu tun. Ich beuge mich vor und übergebe mich … direkt auf den Fußboden. Mein Magen ist leer, trotzdem würgt es mich. Ich hebe die Hand und will mir den Mund abwischen, doch irgendwas stimmt nicht mit meinem Arm – er ist zu schwer. Das ist kein Kater. Ich bin betäubt worden. Ich bleibe noch ein paar Sekunden gekrümmt stehen, dann richte ich mich auf. Ich fühle mich wie auf einem Karussell auf einem Jahrmarkt. Ich taumle ein paar Schritte voran und sehe mich um. Das Zimmer ist rund. Es ist eiskalt. Es gibt einen Kamin – ohne Feuer – und ein Himmelbett. Es gibt keine Tür. Wo ist die Tür? Panik steigt in mir auf, ich wanke ungeschickt im Kreis herum, greife nach dem Bett, um mich abzustützen, dann knicken meine Beine ein. »Wo ist die Tür?«
Ich sehe meinen Atem wie Rauch in der Luft. Ich konzentriere mich darauf, sehe zu, wie er sich ausbreitet und dann auflöst. Meine Augen brauchen lange, bis sie fokussieren können. Ich weiß nicht genau, wie lange ich da stehe, meine Füße beginnen zu schmerzen. Ich sehe auf meine Zehen hinab. Ich spüre sie kaum. Ich muss mich bewegen. Etwas tun. Rausgehen. In der Wand vor mir ist ein Fenster. Ich schleppe mich voran und reiße die dünnen Vorhänge beiseite. Als Erstes fällt mir auf, dass ich mich im zweiten Stock befinde. Als Zweites bemerke ich – o mein Gott! Mein Verstand schickt einen Schauder durch meinen Körper – eine Warnung. Du bist erledigt, Senna, sagt er. Fertig. Tot. Jemand hat dich entführt. Mein Mund ist zu langsam, um zu reagieren, doch als er es tut, höre ich, wie das Einatmen die Stille um mich füllt. Ich habe nie glauben können, dass Menschen im echten Leben keuchen, bis ich mich selbst höre. Dieser Moment – dieses Keuchen, der schreckliche Moment, in dem nichts als Schnee meinen Blick füllt. So viel Schnee. Der Schnee der ganzen Welt türmt sich unter mir auf.
Ich höre, wie mein Körper gegen das Holz kracht, dann senkt sich Dunkelheit auf mich herab. Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einer Pfütze Erbrochenem. Ich stöhne, ein stechender Schmerz schießt durch mein Handgelenk, als ich versuche, mich hochzustemmen. Ich stöhne auf und schlage mir die Hand auf den Mund. Ich möchte nicht, dass mich jemand hört, falls jemand hier sein sollte. Der war gut, Senna, denke ich. Das hättest du dir überlegen können, bevor du zusammengeklappt bist und den ganzen Wirbel veranstaltet hast.
Mit einer Hand umklammere ich mein Handgelenk, stütze mich an der Wand ab und schiebe mich hoch. Erst da bemerke ich, was ich anhabe. Nicht meine Kleidung. Ich trage einen feinen weißen Leinenpyjama – teuer. Dünn. Kein Wunder, dass mir so verdammt kalt ist.
Großer Gott!
Ich schließe die Augen. Wer hat mich ausgezogen? Wer hat mich hergebracht? Mit steifen Händen fahre ich über meinen Körper und taste mich ab. Ich berühre meine Brust, ziehe meine Unterhose runter. Keine Blutung, keine Wunde, aber ich trage einen weißen Slip, den mir irgendwer angezogen hat. Jemand hatte mich nackt vor sich. Jemand hat meinen Körper berührt. Ich schließe bei dem Gedanken meine Augen und beginne zu zittern. Hemmungslos. Nein, bitte nicht das.
»O mein Gott«, höre ich mich sagen. Ich muss atmen – tief und gleichmäßig. Wer auch immer mich hergebracht hat, hat Teuflischeres im Sinn, als mich hier erfrieren zu lassen. Ich sehe mich um. Im Kamin liegt Holz. Wenn dieser geisteskranke Scheißkerl mir Holz dagelassen hat, hat er vielleicht auch etwas dagelassen, um es anzuzünden. Das Bett, in dem ich aufgewacht bin, steht in der Mitte des Zimmers; es ist handgeschnitzt und hat vier Pfosten. Es ist hübsch, das macht mich ganz krank. Ich mustere das Inventar des Raumes: eine massive Holzkommode, ein Schrank, ein Kamin und ein Teppich aus dichtem Tierfell. Ich reiße die Schranktür auf und gehe die Kleidungsstücke durch … zu viele Kleidungsstücke. Sind die für mich? Meine Hand bleibt an einem Etikett hängen. Die Erkenntnis, dass sie alle genau meine Größe haben, bereitet mir Übelkeit. Nein – sage ich mir. Nein, die können nicht für mich sein. Das ist alles ein Irrtum. Sie können nicht für mich sein, die Farben stimmen nicht. Rottöne … Blautöne … Gelbtöne …
Aber mein Verstand weiß, dass das kein Irrtum ist. Mein Verstand kennt sich mit Kummer aus, genau wie mein Körper.
Konzentrier dich, Senna.
Im obersten Fach des Schranks entdecke ich eine verzierte Silberschachtel. Ich nehme sie herunter, schüttle sie. Sie ist schwer. Fremdartig. In der Schachtel befinden sich Feuerzeuge, ein Schlüssel und ein kleines Silbermesser. Ich will über den Inhalt der Schachtel nachdenken. Ihn anschauen, ihn anfassen – aber ich muss mich beeilen. Ich ergreife das Messer und schneide am unteren Rand einer Bluse einen Streifen ab, mache mit meiner unverletzten Hand eine Schlinge daraus, ziehe mit den Zähnen den Knoten fest und lege mein Handgelenk in die selbst gemachte Armschlinge, der Schmerz lässt mich zusammenzucken.
Ich stecke das Messer ein und will nach einem Feuerzeug greifen. Meine Hand schwebt über der Schachtel. Acht rosafarbene Zippos. Hätte ich nicht schon Schüttelfrost, würde ich ihn jetzt bekommen. Ich versuche ihn abzuschütteln. Ich kann ihn nicht abschütteln. Ich kann und ich muss es tun, weil mich friert. Mit zitternder Hand greife ich nach einem Feuerzeug. Das ist ein Zufall, lache ich. Kann irgendwas im Zusammenhang mit einer Entführung Zufall sein? Darüber werde ich später nachdenken. Im Moment muss ich mich aufwärmen. Meine Finger sind taub. Ich brauche sechs Anläufe, bis ich das Rädchen am Zippo zum Sichdrehen bringe. Es hinterlässt Abdrücke auf meinem Daumen. Das Holz ist nur schwer entflammbar. Feucht. Hat er es erst vor Kurzem hierhergebracht? Ich suche nach etwas, womit ich das Feuer anfachen könnte, aber da ist nichts. Ich könnte etwas verbrennen, was ich später noch brauche. Ich denke bereits ans Überleben, und das macht mir Angst. Zunder. Was könnte ich als Zunder verwenden? Meine Augen suchen den Ort ab, bis ich in einer Ecke des Schranks eine weiße Schachtel entdecke, auf der ein rotes Kreuz prangt. Ein Erste-Hilfe-Kasten. Ich laufe hin und klappe ihn auf. Verbände, Aspirin, Spritzen – mein Gott. Am Ende finde ich alkoholgetränkte Einwegtücher. Ich nehme ein paar und laufe zum Kamin zurück. Ich reiße die erste Packung auf und halte das Feuerzeug an eine Ecke. Es fängt Feuer und lodert auf. Ich halte das brennende Tuch an das Holzscheit, reiße eine weitere Packung auf und wiederhole den Vorgang. Ich bete zu wem auch immer, der für Feuer verantwortlich ist, und blase sanft darauf. Das Holz fängt Feuer. Ich ziehe die dicke Daunendecke vom Bett, wickle mich darin ein und kauere mich vor die schwache Flamme. Es reicht nicht. Mir ist so kalt, dass ich am liebsten ins Feuer eintauchen und so die Kälte verjagen würde. Aber ich bleibe sitzen, kauere auf dem Boden, bis ich zu zittern aufhöre.
Dann bewege ich mich.
Unter dem Teppich befindet sich eine Falltür mit einem schweren Eisengriff. Sie ist verschlossen. Ich ziehe mit meiner unverletzten Hand fünf Minuten lang daran, bis meine Schulter brennt und mein Magen wieder revoltiert. Ich starre sie einen Augenblick an, dann laufe ich los und hole den Schlüssel aus der Silberschachtel. Was für ein perverses Spiel ist das eigentlich? Und warum brauche ich so lange, um die Sache mit dem Schlüssel zu begreifen? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich laufe barfuß um die Falltür herum und drücke den Schlüssel an meinen Oberschenkel. Der Schlüssel ist ungewöhnlich groß, altmodisch, ehern. Das Schlüsselloch in der Falltür scheint groß genug für ihn zu sein. Mich fröstelt wieder, doch diesmal weiß ich, dass es nicht nur die Kälte ist. Ich bleibe stehen und sehe mir den Schlüssel genauer an. Er füllt meine gesamte Hand aus, von den Fingerspitzen bis zum Handgelenk. In der Mitte des Türgriffes ist ein Fragezeichen eingraviert, das Metall windet sich kunstvoll darum. Ich lasse den Schlüssel fallen. Er fällt schwer auf den Boden nicht weit von der Stelle entfernt, an der ich mich übergeben habe. Ich weiche zurück, bis ich mit meinen Schultern an die Wand stoße.
»Was. Ist. Das?« Doch natürlich ist niemand da, der mir das beantwortet, außer sie warten direkt hinter der Falltür auf mich, um mir genau zu erklären, worum es geht. Ich zittere, unwillkürlich schließen sich meine Finger um das Messer in meiner Tasche. Die Klinge ist scharf. Das beruhigt mich. Ich habe eine Vorliebe für scharfe Messer und weiß verdammt gut, wie man Haut damit ritzt. Wenn ich einen Schlüssel habe, haben sie auch einen Schlüssel. Ich kann hier darauf warten, dass sie raufkommen, oder ich kann runtergehen. Ich bevorzuge die zweite Alternative; das gibt mir das Gefühl, ein wenig mehr Macht zu besitzen.
Ich bewege mich schnell, weiche dem Erbrochenen aus und greife nach dem Schlüssel. Bevor ich darüber nachdenken kann, was ich da tue, beuge ich mich schon über die Falltür und stecke ihn in das Schlüsselloch.
Metall auf Metall, dann ein … Klick.
Mit meiner unverletzten Hand ziehe ich die Falltür auf. Sie ist verdammt schwer. Als ich sie ablege, achte ich darauf, keinen Lärm zu machen. Ich spähe in die Dunkelheit. Da ist eine Leiter. Am Fuß der Leiter liegt ein runder Teppich, dahinter befindet sich ein Gang. Weiter als ein paar Schritte kann ich nicht sehen. Ich werde hinunterklettern müssen. Ich stecke das Messer zwischen meine Zähne und zähle die Sprossen, während ich mich hinunterbewege.
Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs. Meine Füße treffen auf den Teppich. Der Boden ist kalt. Die Kälte schießt meine Beine hinauf. Warum habe ich nicht an Schuhe gedacht? Ich trage das Messer vor mir her, bereit, jeden damit zu erstechen, der mir entgegenspringt. Ich würde auf die Augen zielen und, wenn ich es schaffe, auf die Eier. Nur ein scharfer Stoß, und sobald sie sich zusammenkrümmen, würde ich losrennen. Jetzt, da ich einen Plan habe, sehe ich mich um. Über mir befindet sich eine Dachluke, hauchdünne Sonnenstrahlen fallen auf den Holzboden. Ich gehe hindurch, und meine Augen huschen umher auf der Suche nach einem versteckten Angreifer.
Ich bin am Ende des Ganges: Holzdielen, Holzwände, Holzdecke. Es gibt drei Türen: zwei auf der linken Seite, eine auf der rechten. Alle sind verschlossen. Direkt hinter mir befinden sich eine Wand und die Leiter, die ich soeben hinuntergeklettert bin. Auf der anderen Seite des Gangs sehe ich einen Treppenabsatz. Ich beschließe, dass ich dort zuerst hingehen werde. Falls jemand aus einer der Türen stürzen sollte, bin ich schon an ihm vorbei und auf dem Weg zur Eingangstür. Doch irgendetwas in meinem Hinterkopf flüstert mir zu, dass es nicht so einfach sein wird. Auf Zehenspitzen schleiche ich an den Türen vorbei, am Treppenabsatz bleibe ich stehen. Ich halte das Messer kampfbereit in der Hand, auch wenn es angesichts der Lage etwas klein wirkt.
Ich befinde mich offensichtlich in einer Holzhütte. Unten, auf der linken Seite, sehe ich eine große, offene Küche. Auf der rechten Seite liegt ein Wohnraum mit einem dicken, cremefarbenen Teppich. Alles ist gespenstisch still. Mit dem Rücken zur Wand schleiche ich die Treppe hinunter. Wenn ich es zur Eingangstür schaffe, kann ich losrennen. Hilfe holen. Doch mein Verstand wandert zu dem endlosen Schnee, den ich aus dem Fenster im runden Zimmer gesehen habe. Ich schiebe den Gedanken fort. Es wird jemanden geben … ein Haus … oder ein Geschäft vielleicht. Herrgott, warum habe ich nicht daran gedacht, Schuhe mitzunehmen? Bei mir ist alles hirnlose Aktion. Ich werde mit bloßen Füßen durch meterhohen Schnee laufen müssen. Die Eingangstür liegt direkt unten vor der Treppe. Ich sehe mich im Gang um und vergewissere mich, dass mir niemand folgt, dann stürme ich die Stufen hinab zur Tür. Sie ist verschlossen. Neben der Tür befindet sich eine Tastatur. Sie kann nur elektronisch geöffnet werden. Ich werde mir einen anderen Weg nach draußen suchen müssen. Ich zittere wieder. Falls mich jetzt jemand angreift, wäre ich nicht in der Lage, das Messer fest genug zu halten, um mich zu verteidigen. Ich könnte ein Fenster einschlagen. Links vor mir ist die Küche. Dort versuche ich es zuerst, sie ist rechteckig. Glänzende Edelstahlausstattung. Sie sieht nagelneu aus.
Mein Gott, wo bin ich? Das Fenster nimmt die ganze Länge der Küchenzeile ein, unterbrochen nur vom Kühlschrank. In einer Ecke steht ein schwerer, runder Tisch, zu jeder Seite eine geschwungene Bank. Ich ziehe die Schubladen auf, bis ich jene finde, in der die Messer liegen. Ich ziehe das größte heraus und prüfe sein Gewicht in meiner Hand, bevor ich mein Babymesser auf die Küchenplatte lege. Doch dann überlege ich es mir noch einmal und stecke das kleine Messer wieder in die Tasche.
Jetzt, da ich eine Waffe besitze, eine richtige Waffe, eile ich zum Wohnbereich. An einer Wand stehen Bücher, an der anderen ist ein Kamin. Um einen Couchtisch stehen ein Sofa und ein kleines Zweiersofa. Es gibt keinen Weg nach draußen. Ich sehe mich nach etwas um, mit dem ich ein Fenster einschlagen könnte. Der Couchtisch ist zu schwer für mich – vor allem mit einem verstauchten Handgelenk. Als ich ihn mir näher ansehe, entdecke ich, dass er an den Fußboden geschraubt ist. Es gibt keine Stühle. Ich gehe zurück in die Küche, öffne jeden Schrank und jede Schublade, und meine Verzweiflung steigt von Sekunde zu Sekunde, ebenso wie das Risiko, entdeckt zu werden. Es gibt nichts, was groß oder schwer genug wäre, um ein Fenster zu zertrümmern. Bangen Herzens wird mir klar, dass ich wieder nach oben gehen muss. Das könnte eine Falle sein. Es könnte sich jemand hinter einer Tür verstecken. Aber warum sollte man mir den Schlüssel zu einem Zimmer geben, in dem ich eingeschlossen war, wenn man mich festsetzen will? Ich zittere am ganzen Körper, während ich wieder die Treppe hinaufsteige. Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint, fühle mich aber den Tränen näher als je zuvor. Ein Fuß vor den anderen, Senna, falls sich jemand auf dich stürzt, benutze dein Messer und schlitze die Person auf. Ich stehe zwischen den Türen. Ich wähle die links von mir, lege meine Hand auf den Knauf und drehe ihn um. Ich höre mich atmen: abgehackte, kalte, entsetzte Atemzüge.
Sie geht auf.
»O mein Gott.«
Ich schlage eine Hand vor den Mund und umklammere meine Waffe. Ich lasse mein Messer nicht sinken, ich halte es hoch, kampfbereit. Ich gehe über den Teppich, meine Zehen krümmen sich um die grobe Wolle, als suchten sie Halt. Auf der anderen Seite, mir zugewandt, steht an der Wand ein Himmelbett. Von der Bauart sieht es wie ein Kinderbett aus, aber es ist breiter als ein Kingsize-Bett für Erwachsene. Zwei der Bettpfosten sind lebensgroße Karussellpferde, ihre Stangen verschwinden im Holzbalken des Rahmens. Links von mir befindet sich ein Kamin, rechts eine Fensterbank. Ich habe Probleme mit der Atmung. Zuerst die Feuerzeuge, dann der Schlüssel, dann … das.
Ich beeile mich, aus dem Zimmer zu kommen. Ich schließe die Tür hinter mir. Eine weitere Tür. Diese wirkt furchterregender als die letzte. Ist das nur meine Vorahnung, oder ist das der letzte Ort, an dem sich mein Entführer versteckt? Ich stehe lange davor, meine Atemwolke kräuselt sich in der Luft, mit eiskalten Fingern umklammere ich mein kleines Messer. Mit meiner verletzten Hand greife ich nach dem Türknauf und zucke zusammen, weil Schmerz meinen Arm hinaufschießt. Ich stoße die Tür auf und warte ab. Das Zimmer ist dunkel, aber bis jetzt hat sich niemand auf mich gestürzt. Ich mache einen Schritt voran und taste nach einem Lichtschalter. Dann höre ich es, das Stöhnen eines Mannes – tief und kehlig. Ich gehe rückwärts aus dem Zimmer und richte mein Messer auf den Laut. Ich will loslaufen, die Leiter wieder hinaufklettern und mich im Zimmer einschließen. Ich tue es nicht. Wenn ich nicht nach dem suche, was mich hergebracht hat, wird es nach mir suchen. Ich will kein Opfer sein. Nicht schon wieder. Mein Herz pocht hektisch. Plötzlich hört das Stöhnen auf, als hätte er bemerkt, dass ich hier bin. Ich höre ihn atmen. Ich frage mich, ob er auch mich hören kann. Der Laut beginnt erneut, diesmal sind es gedämpfte Worte, als spräche er durch etwas hindurch. Worte … Worte, sie klingen wie HILF MIR! Das könnte eine Falle sein. Was soll ich tun? Ich gehe direkt darauf zu.
Niemand greift mich an, trotzdem ist mein Körper angespannt und sprungbereit. Die dumpfen Schreie iiilf, iiilf werden entschiedener. Ich suche nach einem Lichtschalter, das bedeutet, ich muss mein Messer in die verletzte Hand nehmen. Das macht nichts – falls sich jemand auf mich stürzt, werde ich jeden Schmerz in Kauf nehmen, um ihn aufzuschlitzen. Ich finde den Schalter: Er ist breit, viereckig, flach, ich muss ihn mit zwei Fingern herunterdrücken. Bis das Licht vollständig angeht, nehme ich das Messer schnell wieder in die unverletzte Hand. Plötzlich ist das Zimmer in uringelbes Licht getaucht. Es flackert etwas, bevor es sich an irgendeine Energieversorgung hängt und zu summen beginnt. Ich blinzle angesichts der plötzlichen Veränderung. Dann strecke ich meine Hand mit dem Messer aus und stochere vor mir in die Luft. Da ist nichts – kein Angreifer –, dafür steht ein Bett da. Darauf liegt ein Mann, seine Arme und Beine sind mit dicken weißen Fetzen an die vier Bettpfosten gefesselt. Seine Augen sind verbunden, er ist mit demselben Stoff geknebelt. Entsetzt sehe ich zu, wie er den Kopf von einer auf die andere Seite wirft. Die Muskeln seiner Arme sind so angespannt, dass ich klar erkennen kann, wo jeder einzelne beginnt und endet. Ich stürze zu ihm und will ihm helfen, bleibe dann aber stehen. Ich könnte immer noch in Gefahr sein. Es könnte eine Falle sein. Er könnte die Falle sein.
Ich mache vorsichtig ein paar Schritte, sehe in alle Zimmerecken, als könnte jemand aus den Holzwänden auftauchen. Dann drehe ich mich zur Tür um, durch die ich gekommen bin, und vergewissere mich, dass sich niemand hinter mir hereingeschlichen hat. Ich bewege mich weiter voran, bis ich mit qualvoll hämmerndem Herzen neben dem Bett stehe. Ich schwinge das Messer in meiner Hand. Neben dem Bett ist eine Tür. Ich stoße sie mit dem Fuß auf, er schweigt, sein Gesicht ist mir zugewandt, er atmet schwer. Er hat dunkles Haar … Stoppeln im Gesicht. Das Badezimmer ist leer, der Duschvorhang zur Seite gezogen, als hätte mein Entführer – in letzter Minute – daran gedacht klarzustellen, dass er nicht da ist. Ich verlasse das Badezimmer. Der Mann windet sich nicht mehr. Mit dem Rücken zur Wand strecke ich meine Hand aus und ziehe ihm schnell Augenbinde und Knebel weg. Ich stehe halb über ihn gebeugt, als wir uns zum ersten Mal richtig sehen. Ich kann sehen, wie schockiert er ist. Und er sieht, wie sehr ich es bin. Er blinzelt schnell und scheint seinen Blick schärfen zu wollen. Ich lasse mein Messer fallen.
»O mein Gott.« Das sage ich schon zum zweiten Mal. Ich möchte es nicht zur Gewohnheit werden lassen. Ich glaube nicht an Gott.
»O mein Gott«, sage ich wieder. Ich gehe langsam in die Knie und behalte dabei ihn und die Tür im Blick, bis ich meine Waffe wieder aufgehoben habe. Ich weiche zurück. Ich brauche den Abstand zwischen uns. Ich gehe zur Tür, aber dann wird mir klar, dass man mich aus dem Hinterhalt überfallen könnte. Ich wirble herum. Ich fahre mein Messer aus. Hinter mir ist nichts. Ich wirble erneut herum – richte mein Messer auf den Mann im Bett. Das kann nicht sein. Das ist verrückt. Ich bin verrückt. Ich drücke mich mit dem Rücken an die Wand. Nur so fühle ich mich ein wenig sicherer, ich habe das Zimmer im Blick, und niemand kann sich von hinten an mich heranschleichen.
»Senna?« Ich höre meinen Namen. Ich sehe ihm wieder ins Gesicht. Ich rechne damit, in dieser Minute aus diesem Albtraum zu erwachen. Dann werde ich in meinem Bett liegen, unter meiner weißen Daunendecke, in meinem eigenen Pyjama.
»Senna«, keucht er. »Mach mich los … bitte …«
Ich zögere.
»Senna«, sagt er wieder. »Ich tue dir nichts. Ich bin es doch.«
Er legt seinen Kopf wieder auf das Kissen und schließt die Augen, als hätte er unerträgliche Schmerzen.
Ich halte das Messer fest in der Hand und säble den weißen Stoff durch, mit dem seine Arme gefesselt sind. Ich bekomme kaum Luft, kann kaum klar sehen. Die Spitze des Messers ritzt seine Haut. Er zuckt zusammen, gibt aber keinen Ton von sich. Fasziniert sehe ich zu, wie sich das Blut sammelt, bevor es seinen Arm herunterrinnt.
»Tut mir leid«, sage ich. »Meine Hände zittern. Ich kann nicht …«
»Ist schon in Ordnung, Senna. Lass dir Zeit.«
Wie witzig, denke ich. Er ist gefesselt, beruhigt aber mich.
Ich durchtrenne die Fessel an seiner anderen Hand, er nimmt mir das Messer aus der Hand und befreit seine Beine. Ich sage kein Wort und gerate in Panik. Ich hätte mein Messer nicht aus der Hand geben sollen. Er könnte … Er könnte derjenige sein …
Das kann doch nicht sein.
Als er sich befreit hat, springt er aus dem Bett und massiert sich die Handgelenke. Ich entferne mich einen Schritt von ihm … gehe auf die Tür zu. Er trägt nur eine dünne Pyjamahose. Irgendwer hat auch ihm das angezogen, denke ich.
Und dann spreche ich in Gedanken seinen Namen aus: Isaac Asterholder.
Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ist sonst noch wer hier? Hast du gesehen …«
»Nein«, unterbreche ich ihn. »Ich glaube nicht, dass jemand hier ist.«
Er geht umgehend zur Tür. Ich weiche zurück, als er an mir vorbeigeht. Ich will mein Messer zurück. Ich verweile in der Türöffnung und weiß nicht, wem ich trauen soll. Dann folge ich ihm. Er durchsucht die Zimmer, während ich mein Handgelenk halte. Sollte uns jemand angreifen, wird er ihr erstes Ziel sein. Ich muss etwas Scharfes in die Finger bekommen. Wir gehen die Treppe hinunter, Isaac versucht es mit der Haustür, er rüttelt daran, schlägt mit den Fäusten gegen das Holz und flucht, als sie sich nicht öffnen lässt. Ich sehe, dass er die Tastatur beäugt, sie aber nicht berührt. Eine Tastatur in einem Holzhaus. Wer immer uns hier eingesperrt hat, hat uns auch die Möglichkeit gegeben zu fliehen.
Nachdem er beide Stockwerke vollständig untersucht hat, sieht er sich nach etwas um, womit er ein Fenster einschlagen könnte.
»Wir könnten gemeinsam die Bank hochheben«, schlage ich vor und zeige auf den schweren Holztisch in der Küche. Isaac reibt sich die Schläfen.
»Okay«, sagt er. Doch als wir versuchen, ihn anzuheben, entdecken wir, dass er mit glatten Bronzeriegeln am Boden angeschraubt ist. Er sieht sich die restlichen Möbel an. Es ist überall dasselbe. Alles, was schwer genug wäre, um ein Fenster einzuschlagen, ist auf dem Boden festgeschraubt.
»Wir müssen hier raus«, beharre ich. »Vielleicht gibt es Werkzeug, mit dem wir die Schrauben lösen können. Wir können Hilfe holen, bevor wer immer uns hier hergebracht hat zurückkommt. Es muss etwas in der Nähe geben, wo wir hingehen können …«
Er sieht mich plötzlich wütend an. »Senna, glaubst du wirklich, dass jemand sich all die Mühe macht, uns zu entführen und in ein Haus zu sperren, damit wir dann problemlos fliehen können?«
Ich mache den Mund auf und schließe ihn wieder. Entführt. Wir wurden entführt.
»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Aber wir sollten es wenigstens versuchen.«
Er öffnet und schließt Schubladen, wühlt darin herum. Er reißt den Kühlschrank auf und wird mit einem Mal blass im Gesicht.
»Was? Was ist denn?« Ich eile zu ihm, um zu sehen, was er sieht. Der Kühlschrank ist groß, Gewerbegröße. Jedes Fach ist bis auf den letzten Zentimeter gefüllt. Das Gefrierfach ebenso: Fleisch, Gemüse, Eis, Dosen mit gefrorenem Fruchtsaft. In meinem Kopf dreht sich alles, während ich mir klarmache, was das zu bedeuten hat. Das Essen hier reicht für Monate. Ich greife nach einer großen Dose Tomaten und schleudere sie, so fest ich kann, gegen die Fensterscheibe. Ich werfe sie mit meiner linken Hand, aber die Angst verleiht ihr eine riesige Geschwindigkeit. Sie schlägt mit einem dumpfen Schlag gegen die Scheibe, fällt auf die Küchenplatte und rollt dann auf den Boden. Wir starren sie ein paar Minuten lang an, sie ist auf einer Seite verbeult, dann beugt Isaac sich herab und hebt sie auf. Er versucht es selbst, holt mit seinem Arm wie ein Diskuswerfer nach hinten aus und wirft sie mit gestreckten Fingern los. Diesmal ist der Schlag lauter, doch das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich renne zur Eingangstür zurück und werfe mich gegen die Türklinke. Ich schreie, hämmere mit den Fäusten gegen das Holz und ignoriere den stechenden Schmerz in meiner verletzten Hand. Ich muss Schmerz spüren, ich will es. Ich hämmere und trete eine gute Minute lang, dann spüre ich Isaacs Hände auf meinen Armen. Er zieht mich fort.
»Senna! Senna!« Er schüttelt mich. Ich starre zu ihm auf, atme hastig. Er muss irgendwas in meinem Blick sehen, denn er umarmt mich. Ich zittere an seinem warmen Körper, bis er von mir abrückt.
»Lass mal dein Handgelenk sehen«, sagt er sanft. Ich strecke es ihm hin und zucke zusammen, als er sachte mit seinen kalten Fingerspitzen dagegenklopft. Er nickt zustimmend, als er meine selbst gemachte Schlinge sieht. »Es ist verstaucht«, sagt er. »Hattest du das schon, bevor du aufgewacht bist?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich bin gestürzt … oben.«
»Wo bist du aufgewacht?«
Ich erzähle ihm von dem Zimmer oben am Ende der Leiter und wie ich den Schlüssel gefunden habe. »Ich denke, man hat mich betäubt.«
Er nickt. »Ja, uns beide. Komm, lass uns einen Blick in dieses Zimmer werfen. Außerdem, wenn es Strom gibt, muss es auch eine Heizung geben. Wir müssen den Thermostat finden.« Wir gehen wieder die Treppe hinauf.
Ich mustere sein Gesicht. Seine dunklen Augen wirken trübe, als käme er gerade von einem Trip herunter – nur dass er keine Drogen nimmt. Nicht einmal Kopfschmerztabletten. Ich weiß viel über diesen Mann. Das ist es auch, was mich am meisten schockiert. Warum bin ich hier? Warum bin ich mit ihm hier?
Er dreht den Kopf und sieht mich an. Es wirkt tatsächlich so, als sähe er mich zum ersten Mal. Ich sehe die Auf- und Abwärtsbewegung seiner Brust, während er um Atem ringt. Genau wie ich vor einer Viertelstunde. Seine Augen suchen mein Gesicht, dann sagt er: »An was kannst du dich erinnern?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich war bei einem Abendessen in Seattle. Gegen zehn bin ich gegangen. Ich habe auf dem Heimweg gehalten, um zu tanken. Das war’s. Du?«
Er starrt mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf den Boden. »Ich war im Krankenhaus, meine Schicht war gerade zu Ende. Die Sonne ging auf. Ich weiß noch, dass ich innegehalten und sie mir angesehen habe. Dann nichts mehr.«
»Das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte jemand uns beide hierherbringen?« Ich denke an die Feuerzeuge, den Schlüssel und das Karussellzimmer, dann schiebe ich den Gedanken weg. Ein Zufall. Aber allein der Gedanke bringt mich zum Lachen.
»Ich weiß es nicht«, sagt Isaac. Ich glaube nicht, dass ich ihn das je habe sagen hören. Ich denke an all die Momente in meinem Leben, in denen ich auf seine Antworten gezählt habe – Antworten gefordert habe – und er sie stets hatte.
Aber das war einmal …
Er fährt mit der Hand über seine Bartstoppeln, ich sehe die tiefroten Blutergüsse an seinem Handgelenk, wo sich die Fesseln in seine Haut gegraben haben. Wie lange hatte er so gefesselt dagelegen? Wie lange war er bewusstlos gewesen?
»Wir müssen uns aufwärmen«, sagt Isaac.
»Ich habe ein Feuer gemacht … im Zimmer oben an der Leiter.«
Wir suchen nach dem Thermostat. Mir fällt auf, wie weiß seine Knöchel um den Messergriff sind. Wir finden ihn im Karussellzimmer hinter der Tür. Er stellt die Heizung an.
»Wenn es Strom gibt, müssen wir in der Nähe von irgendwas sein«, sage ich hoffnungsvoll.
Er schüttelt den Kopf. »Nicht unbedingt. Es könnte ein Generator sein. Der könnte irgendwann ausfallen.«
Ich nicke, glaube ihm aber nicht.
Wir klettern in das runde Zimmer hinauf, um uns an das Feuer zu setzen und darauf zu warten, bis es im Haus warm wird. Er lässt mich zuerst raufgehen. Sobald ich oben bin, sieht er sich ein letztes Mal um und klettert mir dann schnell hinterher. Wir schließen die Falltür und sperren sie ab. Wir versuchen den Schrank daraufzuschieben, doch auch er ist festgeschraubt. Das Feuer, das ich entfacht habe, brennt vor sich hin. Es gibt drei extra Scheite. Ich greife nach einem und lege ihn ins Feuer, während Isaac sich im Zimmer umsieht.
»Wo, glaubst du, sind wir?«, frage ich ihn, als er sich neben mich auf den Fußboden setzt. Er legt das Messer zwischen uns ab. Das gibt mir ein besseres Gefühl. Bisher habe ich noch kein Vertrauen. Es ist ein gutes Zeichen, wenn er seine Waffe nicht vor mir verbirgt.
»So viel Schnee? Wer weiß? Wir könnten überall sein.«
Wir sind im Nirgendwo, denke ich.
»Wie hast du dich von den Fesseln befreit?«
»Was?« Ich verstehe nicht, was er damit sagen will, doch dann wird mir klar, dass er denkt, dass auch ich gefesselt gewesen wäre.
»Ich hatte keine«, sage ich.
Er sieht mich an. Wir sind so nah beieinander, dass der Dampf unseres Atems sich in der Luft mischt. Er hat dunkle Stoppeln im Gesicht. Ich hätte am liebsten meine Handfläche an ihnen gerieben, um etwas Scharfes und Echtes zu spüren.
Seine stets durchdringenden Augen wirken wie tiefe Teiche. Er blinzelt fast nie. Das hat mich am Anfang genervt, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, aber mit der Zeit habe ich es zu schätzen gelernt. Sagen wir, es erweckt den Eindruck, als fürchte er, etwas zu verpassen. Seinen Patienten ist das auch aufgefallen, sie sagen oft, dass sie das zu schätzen wissen, weil er auch bei Operationen nicht blinzelt.
Wisst ihr, Doktor Asterholder würde nie auch nur das kleinste Blutgefäß verletzen, war ein Dauerscherz in seinem Krankenhaus.
Warum hatte man mich nicht geknebelt und an meine Bettpfosten gefesselt?
»Damit du mich befreien kannst«, sagt er, als lese er meine Gedanken.
Ein Schauder läuft mir den Rücken herunter.
»Isaac, ich habe Angst.«
Er rutscht näher zu mir heran und legt einen Arm um meine Schulter. »Ich auch.«
Als sich das Haus langsam erwärmt und wir unsere Gliedmaßen wieder bewegen können, schließen wir die Falltür auf und steigen hinunter. Wir setzen uns einander gegenüber an den Küchentisch. In unseren Augen liegt jener leere, gläserne Ausdruck, den Menschen zeigen, wenn sie unter Schock stehen. Obwohl wir flink wie Katzen aufspringen würden, wenn es notwendig wäre. Da bin ich mir ganz sicher. Ich berühre den Griff meines Messers. Wir, Isaac und ich, haben unsere Messer griffbereit vor uns auf den Tisch gelegt. Er muss gar nichts sagen, ich sehe ihm sein Misstrauen an. Ich bin auch misstrauisch. Wir sehen dämlich aus; entführt und in ein Haus gesperrt, warten wir darauf, dass derjenige zurückkommt, der uns das angetan hat.
»Lösegeld«, sage ich. Meine Stimme krächzt. Sie bleibt mir im Hals stecken, bevor ich etwas hinzufügen kann. Ich schlucke und sehe Isaac an.
Sein Blick huscht in die Ecken des Raumes. Er wippt mit den Beinen, ich spüre, wie die Dielen vibrieren. Alle paar Minuten sieht er zum Fenster, dann wieder zurück zur Tür.
»Vielleicht …«
Mir fällt die Pause auf, die er nach vielleicht macht. Er will mehr sagen, traut mir aber nicht. Und wenn ich meine These genau bedenke, so ist sie eigentlich nicht aufrechtzuerhalten. Lösegeldentführungen gehen schnell und chaotisch vonstatten; Waffen werden an den Kopf gehalten, Forderungen gestellt. Da gibt es keine Code-Schlösser an der Tür und genügend Essen, um einen dieser vielbesungenen langen Winter zu überstehen. Ich lege meine Hände flach auf den Tisch und stütze mein Kinn darauf. Mein kleiner Finger berührt den Griff meines Messers.
Wir warten.
In der Hütte ist es so gespenstisch still, dass wir ein noch meilenweit entferntes Auto oder eine Person hören könnten, trotzdem sehen wir immer wieder nach. Warten … warten. Schließlich steht Isaac auf. Ich höre, wie er von Zimmer zu Zimmer geht. Frage mich, ob er nach etwas sucht oder ob er sich einfach nur bewegen muss. Mir wird klar, dass es wohl Letzteres ist. Wenn er nervös ist, kann er nicht still sitzen. Als er wieder in die Küche kommt, breche ich das Schweigen.
»Was ist, wenn sie nicht mehr zurückkommen?«
Er antwortet lange nicht.
»Es gibt da eine Vorratskammer«, sagt er und nickt in Richtung einer schmalen Tür links vom Tisch. »Da sind genügend Vorräte für Monate gelagert. Ein fünfzig Pfund schwerer Mehlsack steht auch dort. Nur das Holz im Lager reicht höchstens für ein paar Wochen. Maximal vier, wenn wir es rationieren.«
Ich will nicht an den riesigen Mehlsack denken, also tue ich, als hätte ich ihn nicht gehört. Das Holz hingegen beunruhigt mich. Ich will nicht erfrieren.
Draußen stehen viele Bäume. Also wenn wir rauskämen, dann hätten wir Holz.
»Das Karussellzimmer«, sagt er. »Findest du das nicht seltsam?« Seine Stimme klingt klar, präzise. Diesen Ton hat er auch bei seinen Patienten drauf. Ich bin nicht seine Patientin und mag es nicht, wenn er so mit mir spricht.
»Ja«, sage ich nur.
»Das Buch?« Sein Ton wird ruppiger. »Da steht nichts von einem Karussell drin, oder?«
»Nein«, sage ich. »Tut es nicht.«
Das war unnötig.
»Meinst du, es könnte ein Fan von dir sein? Einer, der von dir besessen ist?«
Ich will nicht darüber nachdenken, aber diesen Gedanken hatte ich auch schon. Ich möchte nicht für das alles verantwortlich sein.
»Das könnte sein«, sage ich vorsichtig. »Aber das erklärt nicht deine Anwesenheit.«
»Hast du irgendwelche Drohungen bekommen, seltsame Briefe?«
»Nein, Isaac.«
Er sieht auf, als ich seinen Namen sage.
»Senna, denk genau darüber nach. Das könnte wichtig sein.«
»Das habe ich schon!«, zische ich. »Ich habe keine seltsamen Briefe bekommen, auch keine E-Mails. Nichts!«
Er nickt, geht zum Kühlschrank.
»Was machst du da?«, frage ich, drehe mich auf meinem Stuhl um und sehe ihm nach.
»Ich mache uns was zu essen.«
»Ich habe keinen Hunger«, sage ich schnell.
»Wir wissen nicht, wie lange wir ohnmächtig waren. Du musst etwas essen und trinken, sonst trocknest du aus.«
Er beginnt, Sachen aus dem Kühlschrank zu holen und sie auf den Tresen zu legen. Er holt ein Glas, füllt es mit Wasser aus dem Wasserhahn und bringt es mir. Es hat eine komische Farbe.
Ich nehme es. Wie kann ich in so einer Situation essen oder trinken? Ich zwinge mich zu trinken, weil er vor mir steht und wartet.
Ich starre blindlings hinaus auf den Schnee, während er am Herd steht. Es ist ein Gasherd; so, wie er aussieht, ist er nagelneu.
Als er wieder zum Tisch zurückkommt, bringt er zwei Teller mit Rührei. Schon vom Geruch wird mir übel. Er stellt ihn vor mich hin, ich nehme die Gabel.
Waffen haben wir viele; Gabeln, Messer … wenn jemand vorhätte zurückzukommen, hätte er uns nicht all das dagelassen, damit wir ihn angreifen können. Ich spreche aus, was ich denke, Isaac nickt.
»Ich weiß.«
Natürlich hatte er auch daran gedacht. Er war mir schon immer zwei Schritte voraus…
»Deine Haare sehen anders aus«, sagt er. »Ich habe dich im ersten Moment gar nicht wiedererkannt … oben.«
Ich blinzle und sehe ihn an. Reden wir hier tatsächlich über meine Haare? Meine weiße Haarsträhne macht mich verlegen. Ich verstecke sie hinter dem Ohr.
»Ich hab sie wachsen lassen.«
Ein Bissen in den Mund, kauen, schlucken, ein Bissen in den Mund, kauen, schlucken.
Wir sprechen nicht länger über meine Haare. Als ich fertig gegessen habe, kündige ich an, dass ich auf die Toilette muss. Ich bitte ihn mitzukommen. Das einzige Badezimmer im Haus ist im Schlafzimmer, da, wo ich Isaac gefunden habe. Er wartet mit dem Messer in der Hand vor der Tür. Bevor wir die Küche verließen, hatte er sich ein größeres geschnappt. Es ist fast komisch, dann aber auch wieder nicht. Großes Messer, große Wunde. Ich selbst hatte mir ein Steakmesser genommen. Die sind leicht zu handhaben und sehr scharf.
Ich erleichtere mich und gehe zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Darüber hängt ein Spiegel. Als ich mich sehe, zucke ich zusammen. Mein Haar hängt schlaff und fettig herunter, die zweieinhalb Zentimeter breite weißgraue Strähne, die ich habe, seit ich zwölf bin, wirkt erschreckend an meinem bleichen Gesicht. Ich habe alles unternommen, um sie loszuwerden: Ich habe sie gefärbt, sie geschnitten, sie Haar für Haar ausgezupft. Aber das Grau nimmt keine Farbe an. Ich habe im Laufe der Jahre auf Dutzenden Friseurstühlen gesessen und mir immer das Gleiche angehört: »Das hat keinen Sinn … die Haare nehmen die Farbe nicht an.« Egal was ich tat, die Strähne wuchs immer wieder wie störrisches Unkraut nach. Irgendwann habe ich es aufgegeben. Nichts zu machen.
Ich mache das Wasser an, es spritzt kurz, dann fließt ein schwacher brauner Strahl heraus. Ich befeuchte mein Gesicht und trinke etwas. Es schmeckt seltsam – nach Rost und Dreck.
Als ich aus dem Badezimmer komme, reicht mir Isaac sein Fleischermesser. Ich muss mein Messer weglegen, damit ich es halten kann, denn mein Handgelenk ist lädiert.
»Ich auch«, sagt er. »Lass nicht zu, dass die bösen Jungs uns kriegen.«
Ich grinse – ich grinse tatsächlich –, als er die Tür schließt. Sein Humor zeigt sich immer in den merkwürdigsten Momenten. Ich habe immer gedacht, dass ich der Bösewicht sei, nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal einem schutzlos ausgeliefert sein würde.
Als er wieder herauskommt, hat er sich auch das Gesicht gewaschen, sein Haar ist feucht. An seiner Schläfe rinnt etwas Wasser herunter.
»Und was jetzt?«, frage ich.
»Bist du müde? Wir könnten uns abwechseln. Willst du schlafen?«
»Verdammt, nein.«
Er lacht. »Ja, ich habe verstanden.«
Dem folgt eine lange, peinliche Pause.
»Ich würde mich gerne duschen«, sage ich. Was ich nicht hinzufüge, ist, falls das kranke Schwein mich angefasst haben sollte.
Er nickt. Ich klettere die Leiter hinauf, um mir etwas zum Anziehen zu holen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass ich Kleider anziehen soll, die jemand für mich ausgewählt und hergebracht hat. Ich wünschte, ich hätte meinen eigenen, aber nicht einmal der Pyjama, den ich noch immer trage, gehört mir. Ich sehe mir den Inhalt des Schranks an. Fast jedes Kleidungsstück hätte ich selbst auch ausgesucht – bis auf die Farben. Davon gibt es zu viele. Das ist gruselig. Wer kannte mich so gut, dass er mir Kleider kaufen konnte? Kleider, die mir sogar gefielen? Ich hole ein langärmeliges Yogashirt von einem Bügel und finde darunter die dazu passende Hose. In einer Schublade liegen Unterhosen und BHs.
O Gott!
Ich beschließe, keine anzuziehen. Ich kann keine Unterwäsche tragen, die irgendein Perverser für mich gekauft und in die Schublade gelegt hat. Das würde sich anfühlen, als würde er mich … da berühren. Ich knalle die Schubladen zu.
Isaac hilft mir die Leiter hinunter. Seit meinem Angriff auf die Tür ist mein Handgelenk auf doppelte Größe angeschwollen.
»Halte es hoch und nicht ins heiße Wasser«, sagt er, bevor ich im Badezimmer verschwinde.
Unter dem Waschbecken finde ich Seife und Shampoo. Gewöhnliches Zeugs. Die Seife ist weiß und riecht nach Wäsche. Ich bleibe nur fünf Minuten, auch wenn ich gerne etwas länger geduscht hätte. Das bräunliche Wasser erwärmt sich nicht richtig und riecht seltsam.
Ich verlasse die Dusche, trockne mich mit dem zitronenfarbenen Handtuch ab, das auf dem Handtuchhalter hängt. Das ist eine so fröhliche Farbe. Eine so paradoxe Farbe. Und so sorgfältig für uns hierhin gehängt. Ich trockne meine Arme und Beine ab, versuche jeden Tropfen zu erwischen. Gelb, um den Schrecken des verflixten Schnees, unseres Gefängnisses und der Entführung zu mildern. Vielleicht dachte wer immer uns hergebracht hat, er könnte mit der Farbe des Handtuches die Verzweiflung lindern. Ich lasse es angewidert auf den Boden fallen. Dann lache ich unkontrolliert und schrill auf.
Ich höre, wie Isaac leicht an die Tür klopft.
»Alles in Ordnung, Senna?«
Seine Stimme klingt gedämpft. »Es geht mir gut!«, rufe ich hinaus. Dann muss ich so laut und heftig lachen, dass er die Tür öffnet und hereinkommt.
»Es geht mir gut«, sage ich, als ich sein besorgtes Gesicht sehe, und versuche, mein Lachen zu unterdrücken. Ich lache hinter vorgehaltener Hand, bis mir die Tränen aus den Augen treten. Ich muss so heftig lachen, dass ich mich am Waschbecken festhalten muss.
»Es geht mir gut«, keuche ich. »Ist das nicht das Verrückteste, was du je gehört hast? Als könnte es mir gut gehen. Geht es dir gut?«
Ich sehe die Muskeln in seinen Wangen zucken. Seine Augenfarbe wirkt metallisch, blechern. Er greift nach mir, aber ich schlage seine Hand fort. Ich lache nicht mehr.
»Fass mich nicht an.« Sage ich lauter und schroffer, als ich eigentlich wollte.
Er presst die Lippen zusammen und nickt. Er hat es mitbekommen. Ich bin verrückt. Das ist nichts Neues. Ich sitze mit dem Messer auf dem Bett und starre auf die Tür, während er dran ist. Käme genau jetzt jemand ins Zimmer, wäre ich zu nichts nütze – mit oder ohne Messer. Ich habe das Gefühl, als wäre mein Körper hier und der Rest von mir in einem tiefen Loch. Ich kann die beiden Teile nicht zusammenbringen.
Isaac duscht sogar noch kürzer als ich. Als er herauskommt, fasse ich mich wieder ein wenig. Er hat sich ein Handtuch umgewickelt und eilt zum Kleiderschrank. Ich sehe, dass er sich genau wie ich die Kleider ansieht. Er sagt nichts, rubbelt aber die Baumwolle eines schwarzen Hemdes zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich erschaudere. Selbst wenn das hier etwas mit einem Fan von mir zu tun haben sollte, wie kommt Isaac ins Spiel? Während er sich im Badezimmer anzieht, starre ich auf das Messer. Es ist ganz neu; die makellose Klinge glänzt. Es wurde für uns gekauft, denke ich.
Da wir nichts zu tun haben, gehen wir wieder hinunter und warten. Isaac wärmt zwei Dosen Suppe auf und schiebt ein paar tiefgekühlte Brötchen in den Ofen. Eigentlich verspüre ich Hunger, als er mir die Schüssel reicht.
»Draußen ist es immer noch hell. Es müsste jetzt eigentlich schon dunkel sein.«
Er blickt auf sein Essen herab und weicht meinem Blick aus.
»Warum, Isaac?«
Er sieht mich immer noch nicht an.
»Glaubst du, wir sind in Alaska? Wie zum Teufel haben sie uns über die kanadische Grenze bekommen?«
Ich stehe auf und gehe in der Küche auf und ab.
»Isaac?«
»Senna, ich weiß es nicht.« Er klingt kurz angebunden. Ich bleibe stehen und sehe ihn an. Er hält den Kopf auf sein Essen gesenkt, hebt aber seinen Blick und sieht mich an. Schließlich seufzt er und legt seinen Löffel beiseite. Er dreht ihn langsam im Uhrzeigersinn, bis er einen vollen Kreis beschrieben hat.
»Kann schon sein, dass wir in Alaska sind«, sagt er. »Warum legst du dich nicht etwas hin? Ich bleibe wach und passe auf.«
Ich nicke. Ich bin nicht müde. Oder vielleicht bin ich es doch. Ich lege mich auf die Couch, ziehe meine Beine zur Brust und rolle mich ein. Ich habe Angst.
Niemand kommt. Zwei Tage nicht, dann drei. Isaac und ich sprechen kaum miteinander. Wir essen, wir duschen, wir schleichen wie ruhelose Schatten von Zimmer zu Zimmer. Sobald wir einen Raum betreten, wandert unser Blick an die Stellen, an denen wir Messer versteckt haben. Werden wir sie je brauchen? Wann? Wer wird überleben, wer sterben? Das ist die schlimmste Folter, die ein Mensch sich vorstellen kann – auf den Tod zu warten. Dieses Nichtwissen sehe ich in den dunklen Ringen, die sich um Isaacs Augen gebildet haben. Er schläft weniger als ich. Ich weiß, ich sehe nicht anders aus; es nagt an uns.
Angst.
Angst.
Angst.