Günter Niklewski, Rose Riecke-Niklewski
© 2016 Stiftung Warentest, Berlin
© 2016 Stiftung Warentest, Berlin (gedruckte Ausgabe)
7., aktualisierte Auflage
![]() |
Stiftung Warentest Lützowplatz 11–13 10785 Berlin Telefon 0 30/26 31–0 Fax 0 30/26 31–25 25 www.test.de |
email@stiftung-warentest.de
USt-IdNr.: DE136725570
Vorstand: Hubertus Primus
Weitere Mitglieder der Geschäftsleitung:
Dr. Holger Brackemann, Daniel Gläser
Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Die Reproduktion – ganz oder in Teilen – bedarf ungeachtet des Mediums der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Alle übrigen Rechte bleiben vorbehalten.
Die Zitate sind entnommen aus:
Piet C. Kuiper, Seelenfinsternis. Die Depression eines Psychiaters, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1995
Karl Kulitza, Ich hatte Depressionen. Aus der Einsamkeit zu neuer Lebensfreude, Ullstein Buchverlage GmbH, 2011
William Styron, Sturz in die Nacht. Die Geschichte einer Depression, aus dem Amerikanischen von Willi Winkler, Ullstein Buchverlage GmbH, 2010
Programmleitung: Niclas Dewitz
Autoren: Prof. Dr. Dr. Günter Niklewski,
Dr. Rose Riecke-Niklewski
Projektleitung: Ursula Rieth
Lektorat: Florian Ringwald
Mitarbeit: Dr. Karsten Treber
Korrektorat: Christoph Nettersheim
Fachliche Unterstützung: Prof. Dr. Gerd
Glaeske, Annette Schreiter
Titelentwurf: Anne-Katrin Körbi
Layout: Büro Brendel, Berlin
Grafik, Satz, Bildredaktion: Josephine Rank,
Berlin
Illustrationen: Mario Mensch, Hamburg
Bildnachweis:
Estelle Klawitter/zefa/Corbis (Titel)
Fotolia: S. 4 (unten), 5 (oben und unten), 6 (oben und Mitte), 7 (oben und unten), 12, 26, 50, 63, 70, 106, 114, 168, 176, 190, 200, 204, 212, 222, 278
Getty Images: S. 4 (Mitte), 7 (Mitte), 84, 260 iStock: S. 6 (unten), 188, 235, 247, 272 Mauritius Images: S. 5 (Mitte), 140 Shutterstock: S. 228
Verlagsherstellung: Yuen Men Cheung, Vera Göring, Catrin Knaak, Martin Schmidt, Johannes Tretau
Litho: tiff.any, Berlin
ISBN: 978-3-86851-161-1
eISBN: 978-3-86851-694-4 (E-Pub-Version)
„Bei mir geht gar nichts mehr, nichts gelingt mir – mein Leben hat keinen Sinn ... wozu das Ganze?“ Gehen Ihnen solche Gedanken durch den Kopf? Erscheint Ihnen alles aussichtslos, weil Ihre Erschöpfung, Ihre Niedergeschlagenheit sich nun schon über Tage, Wochen nicht ändert – ohne Hoffnung auf Besserung? Wenn ja, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie unter einer Depression leiden – einer Erkrankung, für die es gute Behandlungsmöglichkeiten gibt! Deshalb: Suchen Sie Hilfe.
Woher weiß ich, ob ich depressiv bin – und nicht einfach nur traurig?
Trauer kann einer Depression ähneln. Auch traurige Menschen können sich über nichts mehr freuen, sind mut-, kraft- und antriebslos. Viele depressive Menschen klagen aber darüber, nicht einmal mehr traurig sein zu können. Sie leiden vielmehr unter einer allgemein niedergedrückten Stimmung, fühlen sich schuldig, wertlos oder „leer“. Gefühle, Interesse, Aktivität, Konzentration – all das ist in dieser Leere nicht mehr möglich. Die Niedergeschlagenheit dauert nicht nur einige Tage, sondern kann sich unbehandelt über Wochen und Monate ziehen. Und: Sie scheint grundlos. Menschen, die trauern, wissen meist, warum sie traurig sind. Wie Sie Depression und Trauer unterscheiden können, erfahren Sie unter „Was eine Depression nicht ist“ ab S. 28. Die verschiedenen Formen der Depression finden Sie im Kapitel „Depression ist nicht gleich ...“ ab S. 71.
Familie, Freunde, Job – eigentlich läuft alles gut bei mir. Wieso bin ich trotzdem depressiv?
Manche Depressionen sind verstehbar als Reaktion auf belastende Lebensereignisse, auf schwierige Situationen oder ungeklärte Konflikte. Andere dagegen entwickeln sich scheinbar ohne äußeren Grund, entstehen wie aus heiterem Himmel, wirken, als sei plötzlich ein biologischer Schalter umgelegt. Trotzdem nimmt man an, dass bei der Entstehung einer Depressionen – jeweils ganz unterschiedlich in der Gewichtung – sowohl körperliche (biologische) als auch psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Deshalb ruht die Behandlung einer Depression, bildlich gesprochen, auch auf zwei Säulen: einer psychologischen und einer biologischen, die Sie ausführlich in den Kapiteln 6 und 7 dargestellt finden. Wie sich diese beiden Faktoren im Kampf gegen die Depression am wirkungsvollsten kombinieren lassen, erläutert die Tabelle auf S. 103.
Gibt es außer Psychotherapie und Medikamenten keine weiteren Behandlungsmöglichkeiten?
Psychotherapie und die Behandlung mit Antidepressiva gelten heute – oft auch in Kombination – als die zwei wichtigsten Therapiemöglichkeiten. Daneben gibt es jedoch auch andere Verfahren, die sich als wirksam erwiesen haben: Lichttherapie für Winterdepressionen, Schlafentzug und Schlafphasenverlagerung für Patienten mit starken Tagesschwankungen und Elektrokrampftherapie, wenn andere Behandlungsmethoden versagt haben. Mehr dazu unter „Andere biologische Behandlungsverfahren“, S. 167. Was (vielleicht) sonst noch hilft, finden Sie im gleichnamigen Kapitel ab S. 177.
Muss ich bei einer Depression ins Krankenhaus?
Die meisten Depressionen können ambulant behandelt werden – durch Hausärzte, Psychiater, Psychotherapeuten. Manchmal ist ein Klinikaufenthalt jedoch die bessere Option. Ein möglicher Grund für die Wahl einer stationären Behandlung in der Klinik sind die zahlreichen, ganz unterschiedlichen Therapieangebote, die dort wahrgenommen werden können. Das kann sinnvoll sein, wenn verschiedene ambulante Behandlungsansätze über mehrere Wochen hinweg ohne den gewünschten Erfolg bleiben oder wenn der Betroffene immer tiefer in die Depression sinkt. Notwendig wird ein Klinikaufenthalt, wenn zu den vielen Symptomen der Depression der Wunsch nach Selbsttötung kommt. Mehr unter „Suizidalität – Gefahr im Verzug“ ab S. 193.
Ich habe für eine Psychotherapie keine Zeit, dafür bin ich viel zu beschäftigt.
Für leichtere Depressionen gibt es mittlerweile internetbasierte Psychotherapieverfahren. Einige, zum Beispiel Deprexis, sind gut evaluiert und wirksam. Sie stellen eine sinnvolle Möglichkeit dar, die Wartezeit bis zum Beginn einer Face-to-Face-Psychotherapie zu überbrücken. Erste Ergebnisse deuten an, dass sie für manche Patienten eine Psychotherapie auch ersetzen können. „Hilfe zur Selbsthilfe“ finden Sie im gleichnamigen Abschnitt ab S. 112.
Was kann ich tun, um mich vor einer erneuten Depression zu schützen?
Depressionen gehen vorbei. Und wer sie überwunden hat, erinnert sie allenfalls wie einen bösen Traum. Um ihn nicht wieder real werden zu lassen, ist es wichtig, die Therapie nicht zu früh abzubrechen. Das gilt für die medikamentöse ebenso wie für die Psychotherapie, in der Sie hoffentlich erfahren haben, was möglicherweise Ihr Denken, Fühlen und Erleben depressiv gemacht hat. Dringend empfohlen wird auch eine geregelte Lebensführung, die sich nach dem eigenen biologischen Rhythmus richtet. Auch Ernährung kann eine Rolle spielen. Das Kapitel „Gesund bleiben“ ab S. 279 versorgt Sie mit Tipps zur Vorbeugung.
Mein Arzt hat mir Antidepressiva verordnet. Verändern die nicht meine Persönlichkeit und machen abhängig?
Antidepressiva verändern weder die Gefühle noch die Persönlichkeit. Sie tragen vielmehr dazu bei, dass ein depressiver Mensch, der durch die Depression „verändert“ wurde, wieder zu dem Menschen wird, der er war, mit den Gefühlen, die er vor der Depression erleben konnte. Im Gegensatz zu „Beruhigungspillen“ haben Antidepressiva kein Suchtpotenzial, das heißt: sie machen nicht abhängig und ihr Absetzen führt nicht zu Entzugserscheinungen. Dennoch sollten sie nicht von einem Tag auf den anderen abgesetzt werden. Alles Wichtige zu Antidepressiva finden Sie im Kapitel „Körperliche Behandlung“ ab S. 141.
Dieses Einleitungskapitel ist vor allem für augenblicklich Betroffene geschrieben. Es ist bewusst kurz gehalten, denn wir wissen, dass es einem depressiven Menschen schwerfallen kann, längere Texte zu lesen.
Manche Menschen haben Glück: Der Inhalt dieses Buches ist für sie ohne Belang, da weder sie selbst noch irgendjemand aus ihrem Verwandten- und Freundeskreis unter einer Depression leiden. Doch das ist eher die Ausnahme. Untersuchungen zeigen, dass Depressionen zu den häufigsten psychischen Störungen im Erwachsenenalter gehören. Fast jede/r Zehnte ist irgendwann einmal selbst betroffen – und mit ihm viele andere Menschen: Angehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen, Lehrer, Schüler, Arbeitnehmer und -geber.
Dieser Ratgeber ist an alle – direkt oder indirekt – Betroffenen gerichtet. Nicht jeder von ihnen hat dasselbe Interesse, dieselben Möglichkeiten, nicht jedem ist jede Information wichtig. Deshalb blättern Sie – suchen Sie heraus, was für Sie von Bedeutung ist, auch dann, wenn es Ihnen schwerfällt, lange Texte zu lesen, weil die Depression es Ihnen unmöglich macht, sich dauerhaft zu konzentrieren. In diesem Kapitel finden Sie einen Kurzratgeber, der die Kerninformationen ganz knapp zusammenfasst. Die Wichtigste: Eine Vielzahl von Behandlungsverfahren gibt der Krankheit Depression eine gute Prognose. Hilfe ist möglich, fast jede Depression geht vorbei. Wenn Sie derzeit unter einer Depression leiden, ist dies für Sie sicher die wichtigste Information: Ihnen kann geholfen werden!
Depression: Eine Krankheit, die jeden treffen kann
Auch wenn Sie sich so fühlen: Sie sind mit Ihrer Krankheit nicht allein! Derzeit leiden in Deutschland zwischen 5 und 10 Prozent der Bevölkerung darunter. Der Anteil derer, die irgendwann im Lauf ihres Lebens daran erkranken, ist noch weitaus größer. Fast jeder Fünfte – Frauen sogar häufiger – wird mindestens einmal im Leben über depressive Symptome klagen. Daneben ergeben andere Befragungen, dass viele Menschen unter depressiven Beschwerden leiden, ohne dass sie sich selbst als depressiv bezeichnen. Dies lässt den Schluss zu, dass leichtere und nicht als Depression erkannte Erkrankungsverläufe noch sehr viel verbreiteter sind.
Depressionen gehören so zu großen Volkskrankheiten. Ihre Belastung für den einzelnen und die Gesellschaft übertrifft die anderer Volkskrankheiten wie zum Beispiel Diabetes oder Bluthochdruck.
Jede unbehandelte Depression birgt ein hohes Risiko. Man schätzt, dass 10 bis 15 Prozent der Patienten, die an einer schweren Depression leiden und nicht behandelt werden, ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Doch auch weniger schwere Krankheitsverläufe bedeuten Leid für Betroffene und Angehörige. Nach einer Bewertung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belasten Depressionen das Leben der Betroffenen wesentlich stärker als andere Erkrankungen – darunter auch körperliche Beschwerden wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die Zahlen richtig lesen
Die vielen unterschiedlichen Zahlen zum Thema Depression – auch in diesem Buch – können verwirrend sein. Widersprüchlich erscheinen sie aber nur, wenn man bestimmte Angaben überliest. So kann es etwa heißen, dass „jährlich 4,4 Prozent der Männer und 13,5 Prozent der Frauen“ an einer Depression erkranken, während anderswo steht: „Im Lauf ihres Lebens erkranken bis zu 15 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen“ oder „10 Prozent der Einwohner zum Untersuchungszeitpunkt“.
Entscheidend sind die Zeiträume: Jährlich, im Lauf des Lebens usw. Zu unterschiedlichen Zahlen führt auch die jeweils gewählte Gruppe der Erfassten: einmal sind dies Patienten, die bereits in Behandlung sind, ein anderes Mal Personen, die unter depressiven Symptomen leiden, unabhängig davon, ob sie sich in Behandlung befinden.
Eine moderne Krankheit?
Die Zahlen legen den Verdacht nahe: Depressionen sind vor allem eine Folge unseres modernen hektischen, industrialisierten und städtischen Lebensstils. Einiges spricht dafür: Viele Probleme unserer Zeit wie Arbeitsverdichtung, beruflicher Druck, ein verändertes Bindungsverhalten – sichtbar an steigenden Trennungs- und Scheidungsraten –, aber auch die Anforderungen der modernen Freizeitgesellschaft können zu Belastungen werden, denen man nicht mehr gewachsen ist. Weitere Faktoren sind der steigende Konsum und Missbrauch bestimmter Medikamente und Genussgifte. Nikotin, Alkohol, Drogen, aber auch manche oft lebensrettenden modernen Medikamente sind längst für ihre depressionsauslösende (Neben-)Wirkung bekannt.
Auch die zunehmende Missachtung unserer inneren biologischen Rhythmen, die durch moderne Technik – etwa elektrisches Licht – erst möglich gemacht wurde, ist ein Faktor. Schichtdienst, Freizeit- und Urlaubsgestaltung fordern eine weitgehende Unabhängigkeit von Tages- und Jahreszeiten, die oft nicht unserer inneren Uhr entspricht. Fachleute sprechen von einer Urbanisierung („Verstädterung“).
Dennoch sind Depressionen keine moderne Erscheinung. Es gab sie in allen Kulturen und Gesellschaftsformen zu allen Zeiten und gibt sie noch immer. Die erste schriftliche Nennung eines Krankheitsbildes, das unserem heutigen Verständnis der Depression entspricht, findet sich schon im 5. Jahrhundert vor Christus. Und nicht nur Ärzte, auch Philosophen und Dichter thematisieren seit der Antike über Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit solche Phasen niedergedrückter Stimmung als „Melancholie“, die sich auf das gesamte seelische und körperliche Erleben auswirkt.
HÄTTEN SIE‘S GEWUSST?
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erleiden in Europa jährlich 7 Prozent aller Menschen eine schwere Depression.
Damit gehören Depressionen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt.
Unbehandelte Depressionen dauern durchschnittlich sechs bis zwölf Monate.
Eine lang andauernde, weniger schwere Depression (Dysthymie) dauert ohne Behandlung Jahre.
Das Risiko von immer wiederkehrenden depressiven Episoden ist ohne Behandlung weit höher.
Die Sterblichkeitsrate durch Selbsttötung bei einer unbehandelten schweren Depression beträgt etwa 10 bis 15 Prozent!
World Health Organization (WHO):
10 facts on the global burden of disease, 2008.
Worauf es jetzt ankommt
Die Einsicht, an einer seelischen Störung zu leiden, ängstigt. Sie widerspricht unserer Vorstellung eines freien Willens, den wir für uns in Anspruch nehmen wollen. Das hindert viele Menschen, sich bei einer psychischen Störung so zu verhalten wie etwa bei starken Bauchschmerzen oder hohem Fieber: Sie scheuen oder schämen sich, fachgerechte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele Menschen können ihre Depression auch aus Unkenntnis nicht als Krankheit erkennen. Dazu kommt: Es ist nicht zuletzt die Depression selbst, die Betroffene daran hindert, sich Hilfe zu suchen. Zum einen machen depressive Teilnahmslosigkeit und Müdigkeit das Ganze zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe, die aufgrund der Hoffnungslosigkeit ohnehin sinnlos erscheint. Zum anderen empfinden gerade depressive Menschen ihre Krankheit als eigenes Versagen: Krankheitsbedingte, also depressive Schuldgefühle „verbieten“ es, sich selbst als krank, also „unschuldig“ zu erkennen.
Leider ist die Haltung vieler Menschen noch immer von massiven Vorurteilen geprägt. „Häng nicht herum“ oder „Reiß dich zusammen“, aber auch „Mach einfach Urlaub“ oder „Morgen sieht alles schon ganz anders aus“ und die Aufforderung, einfach „positiv zu denken“, sind häufige Reaktionen. Gut gemeinte Versuche, einen depressiven Menschen aufzuheitern, gehen am Problem vorbei und zeigen ein grundlegendes Missverständnis: Eine Depression ist kein momentaner Durchhänger, keine Willensschwäche und keine schlechte Laune. Dieses Missverständnis verhindert oft die rechtzeitige fachgerechte Hilfe durch einen Psychiater oder Psychotherapeuten.
Den Teufelskreis durchbrechen
Ein Teufelskreis beginnt: Die Symptome werden immer stärker, auch jene, die den Kranken hindern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Behandlung kann oft erst beginnen, wenn die Symptome sich vor der Umwelt nicht mehr verbergen lassen, also die Organisation des privaten und beruflichen Lebens nicht mehr möglich ist. Viel zu häufig führen erst nicht mehr zu verdrängende Gedanken, sich selbst, das eigene Leben wertlos zu finden und „Schluss machen“ zu wollen, in die Behandlung. Oft haben private und berufliche Folgen der Krankheit dann schon soziale Rahmenbedingungen geschaffen, welche die Hoffnungslosigkeit verstärken und die Gesundung erschweren. Manche depressiven Störungen können rasch chronisch werden, was ihre Behandlungsmöglichkeit mindert – umso mehr, je später die Behandlung eingeleitet wird.
Dabei ist bei depressiven Erkrankungen heutzutage Hilfe gut möglich, vor allem, wenn die medizinische Therapie frühzeitig beginnt. Leider herrscht oft auch bei Hausärzten immer noch Unkenntnis oder Ratlosigkeit. Selbst unter professionellen Helfern haben sich die verschiedenen und sehr erfolgreichen therapeutischen Möglichkeiten in der Behandlung depressiver Störungen noch viel zu wenig herumgesprochen.
Depression ist kein unausweichliches Schicksal. Die modernen Behandlungsverfahren stellen sie in eine Reihe mit „ganz normalen“ Erkrankungen, die überwunden oder ins Leben integriert werden können. Der erste und wichtigste Schritt aus der Depression ist dabei immer, sie zu erkennen und Hilfe zu akzeptieren. Dieser Schritt ist allerdings auch der schwierigste. Deshalb brauchen die Betroffenen andere Menschen – Familie, Freunde, Kollegen –, die ihre Symptome erkennen und ihnen diesen ersten Schritt erleichtern. Sie brauchen Hilfe, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können.
Bitte legen Sie das Buch nicht aus der Hand. Wie für jede Krankheit gilt auch für Depressionen: Ein gut informierter Patient hat die besten Behandlungsaussichten.
Die Lektüre eines ganzen Buches ist für viele Menschen, die an einer Depression leiden, eine Überforderung. Die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, das vorübergehende Nachlassen der Merkfähigkeit und vor allem auch das Fehlen der Energie gehören ja gerade zu wesentlichen Symptomen ihrer Krankheit. Werfen Sie es sich also nicht vor, wenn Ihre Konzentration, Ihre Fähigkeit, einen Zusammenhang herzustellen, und Ihre Energie durchzuhalten derzeit nicht ausreichen. Es ist durchaus normal, dass Sie das momentan nicht können, aber auch sicher zu erwarten, dass diese Fähigkeiten mit dem Abklingen Ihrer Depression zurückkehren. Deshalb haben wir das Wichtigste in 20 Punkten zusammengefasst:
Checkliste
Ein kleiner Test
Ob Sie vielleicht unter einer Depression leiden, sollten Sie anhand der folgenden Fragen selbst einmal prüfen:
Fühle ich mich seit einiger Zeit durchgängig traurig, niedergeschlagen oder hoffnungslos?
Empfinde ich keine Freude, kein Vergnügen mehr, habe ich an vielem oder gar allem, was mich früher interessiert hat, das Interesse verloren?
Bin ich ständig müde, erschöpft, fühle ich mich wie ausgebrannt?
Habe ich keinen Appetit mehr?
Habe ich abgenommen, ohne es zu wollen?
Kann ich seit längerer Zeit schlecht schlafen? Leide ich unter Ein- und Durchschlafstörungen, oder wache ich jeden Morgen sehr früh auf?
Fühle, bewege ich mich und denke ich wie mit angezogener Handbremse oder umgekehrt wie unter Strom?
Habe ich mein sexuelles Verlangen verloren?
Fühle ich mich wertlos, unfähig, als Versager und an allem schuld?
Habe ich in letzter Zeit auffällige Konzentrationsschwierigkeiten, kann ich mir nichts mehr merken?
Denke ich manchmal über den Tod nach oder darüber, mir etwas anzutun?
Wenn Sie mehr als vier Fragen mit ja beantwortet haben, leiden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit an einer typischen Depression.
(Nach: Wittchen, H. U. et al.)
Gehen Sie auf jeden Fall zum Arzt oder Psychotherapeuten, wenn Sie schon mehrere Wochen ununterbrochen deprimiert sind, Ihren Alltag nicht mehr oder nur mit größter Anstrengung meistern, häufig über den Tod nachdenken, keinen Sinn mehr darin sehen zu leben oder so verzweifelt sind, dass Ihnen das Schlussmachen als einziger Ausweg erscheint. Diese Gedanken sind ein Symptom einer behandelbaren Krankheit.
1 Nicht jede Niedergeschlagenheit, Trauer, Antriebslosigkeit ist eine Depression. Depressionen sind Krankheiten mit psychischen und körperlichen Symptomen. Sie sind keine vorübergehende schlechte Laune, keine einfache Niedergeschlagenheit, keine Traurigkeit, kein kurzer „Durchhänger“, weil man eben einmal nicht „gut drauf“ ist. Depressionen sind umfassender, beeinträchtigen den gesamten Alltag, dauern nicht nur Stunden oder einige Tage. Und vor allem: Sie sind durch den Willen und gute Vorsätze, durch „positives Denken“, das Ihnen manche empfehlen werden, nicht zu beeinflussen. Der kleine Test auf der linken Seite hilft Ihnen herauszufinden, ob Sie unter einer Depression leiden.
2 Es gibt heute verschiedene Modelle, die versuchen, das Entstehen von Depressionen zu beschreiben. Man nennt Depressionen eine psychobiologische Krankheit, weil an ihrer Entstehung sowohl psychische als auch körperliche, also biologische Faktoren beteiligt sind. Depressionen haben nicht nur eine Ursache. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, können Sie im Kapitel „Warum bin ich depressiv?“ ab Seite 51 weiterlesen.
3 Depressionen können gut behandelt werden! Umso beunruhigender ist es, dass weniger als die Hälfte aller erkrankten und behandlungsbedürftigen Menschen professionelle Hilfe bekommt. Beunruhigend deshalb, weil auf diese Weise viele Menschen mit einem Risiko leben, das vermeidbar wäre. Bei allen Formen der Depression gilt: Je früher die Behandlung einsetzt und je konsequenter sie durchgeführt wird, desto wirksamer ist sie.
4 Der erste Schritt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen – die Voraussetzung jeder Behandlung –, ist der schwerste. Es gehört zu Ihrer Krankheit, dass Sie vielleicht gerade für diesen ersten Schritt Unterstützung brauchen.
5 Erste Anlaufstellen sind:
ein Mensch, dem Sie vertrauen,
Ihr Hausarzt, für Frauen oft der Frauenarzt, für Kinder der Kinderarzt (siehe „Beim Hausarzt“, S. 87),
ein Psychiater oder Nervenarzt (siehe „Psychiater“, S. 90),
ein Psychotherapeut (siehe „Psychotherapeut“, S. 91),
Kriseninterventionseinrichtungen oder die Ambulanz einer psychiatrischen Abteilung oder eines psychiatrischen Krankenhauses,
Beratungsstellen freier Träger, die Sie bei der Suche nach einem Arzt oder Psychotherapeuten unterstützen. Wenn Sie dringend einen einfühlsamen Ansprechpartner brauchen: Die Telefonseelsorge ist auch eine Einrichtung für Menschen in Ihrer Situation! Sie ist bundesweit unter den Telefonnummern 0 800 / 1 11 01 11 und 0 800 / 1 11 02 22 erreichbar. In Notfällen erreichen Sie unter der bundesweit einheitlichen Rufnummer 116 117 den ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen.
Checkliste
Fragen Sie sich selbst
Versuchen Sie sich schon im Vorfeld eines Arztbesuchs einige Fragen selbst zu beantworten:
Welche Gedanken gehen mir durch den Kopf?
Wie fühle ich mich?
Vergesse ich schneller als früher und kann ich mich kaum mehr konzentrieren?
Ist mir alles egal, kann mich nichts aufmuntern oder auch ärgern?
Habe ich Angst, und wenn ja, was ängstigt mich?
Könnte ich immer nur im Bett liegen?
Kommen mir manchmal oder häufig Gedanken, wie schön es jetzt wäre, nur noch zu schlafen, alles hinter mich gebracht zu haben, weil mir alles gleichgültig ist oder so schrecklich, dass ich es nicht mehr ertragen kann?
Fühle ich mich verspannt, neige ich zu mehr Kopf- und Bauchschmerzen?
Schlafe ich schlecht? Kann ich nicht einschlafen, wache ich morgens früh auf?
Habe ich keinen Appetit mehr?
Habe ich abgenommen? Oder habe ich ständig Hunger, vor allem Heißhunger auf Süßes, und nehme zu? Macht die Verdauung Probleme?
Wie steht es mit meiner Lust, mit meinem Partner zu schlafen?
Stehe ich morgens auf und erledige meinen Alltag einigermaßen, oder habe ich schon aufgegeben?
Wie lange dauert dieser Zustand, in dem ich mich gerade befinde, schon an? (Versuchen Sie, sich möglichst genau zu erinnern.)
Habe ich schon einmal so etwas erlebt?
Worunter leide ich am meisten?
Gibt es ein Ereignis, einen Auslöser, der mir meinen jetzigen Zustand verständlich macht? Oder war das schon lange ähnlich und wurde eigentlich nur immer schlimmer?
6 Eine genaue Diagnose ist notwendig, um die für Sie beste Behandlungsmöglichkeit zu finden. Hausärzte, Psychiater, Nervenärzte, Psychotherapeuten und klinische Psychologen sind für diese Diagnose zuständig. Eine Übersicht finden Sie im Kapitel „Depression ist nicht gleich Depression“, S. 71.
7 Ihre Mitarbeit bei der Erstellung der Diagnose ist wichtig. Deshalb: Sprechen Sie offen über Ihre körperlichen und seelischen Beschwerden und Probleme. Stimmungen, Gefühle, unabweisbare Gedanken sind ebenso von Bedeutung wie körperliche Beschwerden. Das fällt Ihnen leichter, wenn Sie sich auf dieses Gespräch vorbereiten (siehe die Checkliste auf der linken Seite).
8 Eine körperliche Untersuchung muss fast immer einer weiteren Behandlung vorausgehen. Dies aus zwei Gründen: Es gibt Depressionen, die das Symptom einer anderen Erkrankung sind. In diesem Fall muss die Grunderkrankung behandelt werden und nicht die Depression. Und: Vor einer Behandlung mit Medikamenten müssen wegen möglicher Unverträglichkeiten bestimmte körperliche Untersuchungen, zum Beispiel ein EKG, durchgeführt werden. Dazu mehr unter „Die körperliche Untersuchung“, S. 94.
9 Lassen Sie sich genau aufklären über Ihre Krankheit und darüber, wie sie voraussichtlich verläuft. Denn wesentlich für die Behandlung Ihrer Depression ist, dass Sie und Ihre Angehörigen ausreichend informiert sind. Auch für Depressionen gilt: Nur ein informierter Patient ist in der Lage, selbst den Behandlungsfortschritt der Erkrankung mitzugestalten.
10 Auf der Grundlage der Diagnose muss der Behandlungsplan erstellt werden (siehe „Mein Behandlungsplan“, S. 98). Dazu gehört die Entscheidung, welche Form der Therapie Ihnen helfen kann. Über die unterschiedlichen Formen der Psychotherapie können Sie sich im Kapitel „Psychologische Behandlung“, S. 107, informieren. Über die medikamentöse Behandlung erfahren Sie mehr unter „Die wichtigsten Medikamente und ihre Wirkweise“ ab S. 146.
11 Zur Erstellung des Behandlungsplans gehört auch die Entscheidung, ob Ihre Behandlung ambulant (Sie besuchen Ihren niedergelassenen Arzt oder Psychotherapeuten regelmäßig in seiner Praxis) oder stationär (Sie lassen sich in eine psychiatrische Klinik, psychiatrische Abteilung oder auf eine Depressionsstation einweisen) durchgeführt werden soll.
12 Es gibt viele psychotherapeutische Verfahren, die bei der Behandlung von Depressionen hilfreich sind. Welches gerade für Sie das richtige ist, hängt von vielen Faktoren ab – nicht zuletzt auch davon, bei welchem Psychotherapeuten Sie möglichst bald einen ersten Termin und anschließend auch regelmäßige Therapietermine bekommen. Und wenn Sie die Wahl haben: Scheuen Sie sich nicht, mehrere Erstgespräche bei verschiedenen Psychotherapeuten zu führen. Die letzte Entscheidung liegt bei Ihnen. Folgende Fragen können sie Ihnen erleichtern:
Leuchten mir das Behandlungskonzept und die Behandlungsziele des Psychotherapeuten ein? Kann ich sie für mich akzeptieren?
Habe ich den Eindruck, der Psychotherapeut ist an mir und meiner Geschichte interessiert, oder behandelt er mich als „Objekt“ seines Verfahrens?
Habe ich Vertrauen?
Fühle ich mich wohl, angenommen, verstanden?
Stimmt die persönliche „Chemie“?
Kann ich mir vorstellen, über Wochen, Monate, bei einer Langzeitbehandlung auch über Jahre hierher zu kommen?
Und vor allem: Bin ich nach diesem ersten Gespräch, zumindest für den Augenblick, zuversichtlicher?
13 Eine Psychotherapie hilft nicht von heute auf morgen. Haben Sie Geduld!
14 Es gibt viele verschiedene Medikamente mit unterschiedlichen Wirkprinzipien. Das für Ihre Depression richtige Medikament zu finden ist die schwierige Aufgabe des Arztes. Vergessen Sie nicht, Ihrem Arzt alle Medikamente zu nennen, die Sie sonst im Augenblick einnehmen.
15 Auch wenn Sie Medikamente verordnet bekommen, schließt Ihre Behandlung regelmäßige Gespräche mit dem Arzt (anfangs zweimal pro Woche etwa 20 Minuten, später in größeren Abständen) oder eine längere Psychotherapie ein.
16 Auch Medikamente helfen nicht von heute auf morgen. Haben Sie Geduld!
17 Für manche Unterformen der Depression sind andere Verfahren möglich und manchmal auch notwendig: Lichttherapie (siehe „Lichttherapie“, S. 167) für Winterdepressionen. Schlafentzug oder Schlafphasenverlagerung (siehe „Schlafentzug“, S. 169) für Patienten mit starken Tagesschwankungen. Magnetstimulation (siehe „Repetitive transkranielle Magnetstimulation“, S. 171) kann eine sinnvolle Unterstützung sein. Elektrokrampftherapie (siehe „Elektrokonvulsive Therapie“, S. 173) kann helfen, wenn andere Therapiemethoden versagt haben. Informieren Sie sich!
18 Das Ziel jeder Behandlung ist Ihre Gesundung. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Ihrem Therapeuten, wenn
Ihnen Zweifel an der augenblicklich eingeschlagenen Behandlung kommen,
Sie nach einigen Wochen (längstens sechs bis acht Wochen) keine Besserung oder gar eine Verschlechterung verspüren.
Der aktuelle Behandlungsplan muss dann überprüft und wenn nötig geändert werden. Scheuen Sie sich nicht, auch andere Ärzte und Psychotherapeuten zu Rate zu ziehen und gegebenenfalls zu wechseln. Es geht um Ihre Gesundheit und Ihr Leben. Aber brechen Sie keine Behandlung ohne Rücksprache mit Ihrem Arzt oder Ihrem Psychotherapeuten ab. Sprechen Sie, wenn möglich, noch mit einem weiteren Experten über Ihren Entschluss, bevor Sie ihn in die Tat umsetzen.
19 Viele Menschen, die an einer Depression leiden, wollen wissen, was sie selbst dazu beitragen können, damit es ihnen wieder besser geht. Über die Rolle von Ernährung und Bewegung können Sie sich unter „Vorbeugung im Alltag“, S. 290, informieren.
20 Und wenn es Ihnen besser geht, denken Sie daran: Vielen Einflüssen, die uns ins Stimmungstief stürzen können, sind wir nicht einfach ausgeliefert. Und nicht alle sind unabänderlich. Versuchen Sie herauszufinden, auf welche Sie in Ihrem Sinne Einfluss nehmen können. Und tun Sie es!
Depressionen betreffen nicht nur den Erkrankten selbst! Auch Angehörige, Freunde, Kollegen sind Betroffene.
Eine Depression verwickelt, „steckt an“. Das heißt nicht, dass jeder Angehörige eines Depressiven dieselben Symptome entwickelt. Viele Menschen, die Depressiven nahestehen, werden überfürsorglich, kontrollierend, aber auch ärgerlich, ungehalten, wütend, manche ängstlich, hoffnungslos und hilflos oder einfach nur müde und leer – und dies weit mehr als im Kontakt mit Angehörigen, die unter einer anderen Krankheit leiden. Die Depression prägt den Umgang zwischen dem Depressiven und seiner engeren Umgebung – und dies meist so, dass es keinem gut tut!
Wenn Sie den Verdacht haben, dass ein Mensch, der Ihnen nahesteht, an einer Depression erkrankt ist, sollten Sie sich folgende Fragen stellen:
Fühle ich mich in letzter Zeit von meinem Angehörigen abgelehnt, zurückgewiesen, weniger geliebt?
Habe ich in letzter Zeit weniger Lust, weniger Interesse, mit meinem Angehörigen zusammen zu sein?
Bin ich in letzter Zeit mehr und mehr enttäuscht, frustriert, weil meine Angebote, meinen Angehörigen zu unterstützen, zurückgewiesen werden?
Verbringe ich weit mehr Zeit mit meinem Angehörigen als früher, sodass mir für andere Personen und eigene Aktivitäten wenig Zeit bleibt?
Fühle ich mich selbst „ausgepowert“, niedergeschlagen, leer?
Gibt es häufiger Streit zwischen uns?
Fühle ich mich angespannt, ängstlich – mehr als früher?
Fühle ich mich allein gelassen, einsam?
Trinke ich mehr Alkohol als früher oder nehme ich beruhigende Medikamente?
Bleibt meine Arbeit, meine Freizeit auf der Strecke?
Wenn Sie auf viele dieser Fragen mit Ja antworten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch Sie von der Depression „angesteckt” wurden.
Wie kann ich mit der Depression eines nahestehenden Menschen besser umgehen?
Das Wichtigste ist die Einsicht: Mein Angehöriger – meine Mutter, mein Partner, mein Kind, meine Freundin – ist krank. Aufmunterungen und Ratschläge wie „Denk positiv!” oder „Entspann dich, mach einfach mal Urlaub!” oder gar „Reiß dich zusammen, häng nicht so herum!” helfen nicht. Im Gegenteil: Sie quälen die Betroffenen, weil sie eben gerade dies nicht können. Was sie jetzt brauchen, ist Hilfe, um – professionelle – Hilfe in Anspruch nehmen zu können.
Hier acht Ratschläge für Sie:
1 Versuchen Sie, sich über die Krankheit zu informieren.
Was ist eine Depression? (siehe „Und was ist eine Depression?“, S. 33)
Wie erklärt man sich ihre Entstehung? (siehe „Warum bin ich ...?“, S. 51)
Welches sind die ersten Schritte, was ist für eine richtige Diagnose notwendig? (siehe „Vom Verdacht zum ...“, S. 85)
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? (siehe „Mein Behandlungsplan“, S. 98).
2Seien Sie realistisch! Depressionen brauchen professionelle Behandlung – und Zeit. Sie können den Kranken in dieser Zeit der Gesundung unterstützen, aber Sie können ihn nicht heilen!
3Dennoch braucht Ihr Angehöriger Sie mehr denn je. Seien Sie also für ihn da – trotz der Krankheit, die den Umgang mit ihm so schwierig machen kann. Bedrängen Sie ihn jedoch nicht, und vor allem: Vermeiden Sie Appelle an den guten Willen und Vorwürfe, aber auch Aufmunterungen, vermeintlich gute Ratschläge und Beschönigungen.
4 Versuchen Sie – soweit es geht –, Ihr gewohntes Leben weiterzuführen. Opfern Sie sich, Ihre Beziehung zu anderen, Ihre Arbeit, Ihre Freizeit nicht der Krankheit!
5 Sprechen Sie mit Ihrem Angehörigen offen und ehrlich. Lassen Sie ihn an Ihren Gefühlen teilhaben, auch wenn sie nicht nur positiv sind. Selbst negative Gefühle wie Ärger und Angst gehören zu Ihrer Beziehung. Machen Sie ihm aber deshalb keine Vorwürfe.
6 Nehmen Sie die Depression Ihres Angehörigen nicht „persönlich“, etwa als Vorwurf. Er zieht sich nicht zurück, weil Sie nicht attraktiv, nett, geliebt ... sind.
7 Nehmen Sie Hilfe in Anspruch – sei es bei Freunden, anderen Familienmitgliedern, Kollegen oder bei professionellen Beratern in Beratungsstellen. Immer mehr Einrichtungen und Ärzte, die sich mit der Behandlung depressiv Erkrankter befassen, bieten Gruppen- und Einzelgespräche für Angehörige an. Sprechen Sie mit dem Arzt oder Psychotherapeuten Ihres Angehörigen. Er kann Ihnen weiterhelfen.
8 Sie sind beide betroffen – werden Sie auch gemeinsam zu Verbündeten bei der Behandlung der Depression!
Es ist wichtig, Anzeichen und Symptome einer Depression zu erkennen und richtig einzuordnen. Denn eine Depression ist eine Krankheit, die behandelt werden muss – und kann!
Das Wort „depressiv“ ist in Mode gekommen. Man sagt: „Ich bin heute wieder so depressiv“ und meint damit eher: „Mir geht es heute mies, ich bin schlechter Laune, niedergeschlagen, habe zu nichts Lust.“ In diesem Sinn hin und wieder „depressiv“ zu sein ist fast schon chic. Man hat seinen depressiven Tag und darf sich hängen lassen.
Aber ist das depressiv? Wenn Mediziner und Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten von Depression sprechen, meinen sie etwas anderes. Depression ist eine Krankheit, und zwar eine mit ganz verschiedenen Gesichtern, Ausprägungen und Verläufen, die eines gemeinsam haben: Sie verursachen beträchtliches Leiden. Unbehandelte Depressionen können Monate bis Jahre dauern und den ganzen Menschen, sein Fühlen, Empfinden, Denken und zahlreiche körperliche Fähigkeiten und Funktionen beeinträchtigen. Und sie machen den Alltag zur Qual.
Depressionen sind nicht einfach nur „schlechte Laune“, keine vorübergehende Niedergeschlagenheit, kein Durchhänger, weil man gerade nicht gut drauf ist. Sie sind auch keine Trauer oder keine Erschöpfung nach großer Anstrengung oder die Resignation nach einer herben Enttäuschung.
Auch Trauer und Niedergeschlagenheit gehören zum Leben – und nicht jede schlechte Phase ist gleich eine Depression.
„Depressiv“ im Sinne von traurig, niedergeschlagen, hoffnungslos, verzagt, pessimistisch ist jeder einmal. Jeder kennt auch solche Tage, an denen wir uns über nichts freuen können, an denen wir verstimmt sind, ohne Energie, uns schlecht, schuldig, unfähig, unruhig oder ängstlich fühlen. Diese Gefühle sind wie andere Gefühle Teil unserer emotionalen Grundausstattung. Sie gehören zu unserem Gemütsleben wie Freude, Zufriedenheit, Heiterkeit, Zuversicht, Beschwingtheit, Stolz, Triumph oder Zorn, Wut, Ärger und Hass. Wir haben eine ganze Bandbreite von Gefühlen zur Verfügung. Jeder kennt die Niedergeschlagenheit nach einem Streit, die Freude und Heiterkeit nach der Versöhnung, die Wut, den Ärger und die Enttäuschung, wenn wir hintergangen wurden. Wir kennen unsere Gereiztheit, wenn das Mittagessen ausfallen musste und der Magen knurrt, und das „Gesicht wie drei Tage Regenwetter“ als Ausdruck schlechter Laune, wenn wieder einmal nichts klappen will.
Unsere Stimmung ist abhängig von äußeren Einflüssen. Dazu gehören Erfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich, also mit der Partnerin/dem Partner, der Familie, den Arbeitskollegen, Freunden, Nachbarn, ebenso wie beruflicher und privater Stress, dem wir unterworfen sind oder den wir uns selbst antun. Sie ist auch abhängig vom Geräuschpegel um uns herum, von der Raumtemperatur, in der wir uns bewegen, vom Klima und der Jahreszeit. Unsere Stimmung hängt auch von inneren Faktoren ab, zum Beispiel davon, ob wir hungrig oder satt, ausgeschlafen oder übermüdet, ob wir gesund und fit sind oder uns körperlich angeschlagen und unwohl fühlen. Dies gilt für gute und schlechte Stimmung.
Stimmungstief
Negative Gefühle haben erst einmal nichts mit der Erkrankung „Depression“ zu tun. Denn meistens sind wir in der Lage, mit negativen Gefühlen angemessen umzugehen, sie anzunehmen oder zu bewältigen. Wir wissen in aller Regel, welche Laus uns über die Leber gelaufen ist, welche äußeren und inneren Ereignisse unsere Stimmung beeinträchtigen. Haben wir wirklich schlechte Laune, einen Durchhänger oder einfach „unseren depressiven Tag“, vertrauen wir auf die Selbstreinigungskräfte unserer Psyche und wissen, dass morgen oder übermorgen schon wieder alles ganz anders aussieht. Das Stimmungstief braucht keine Behandlung. Denn Stimmungsschwankungen sind notwendig und normal. Erst die Möglichkeit, zwischen positiven und negativen Stimmungen und Gefühlszuständen zu „schwingen“ – unsere Schwingungsfähigkeit, wie Fachleute dies nennen –, macht unsere emotionale Gesundheit aus. Und: Ab und zu ein weniger guter Tag verstärkt das Glück eines wirklich schönen.
Umgang mit dem Stimmungstief
Die meisten guten Ratschläge, die depressive Menschen zu hören bekommen, die sie aber in ihrer Depression überfordern, sind bei einem Stimmungstief durchaus sinnvoll. Dazu gehört zum Beispiel die Aufforderung, positiv zu denken, nicht alles so schwer zu nehmen, sich etwas Gutes zu gönnen oder auszuspannen. Hilfreich sind Entspannungstechniken wie zum Beispiel das Autogene Training oder Yoga, die beide unter professioneller Anleitung erlernt werden können.
Was ganz wichtig ist: Versuchen Sie immer, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was Ihnen die Stimmung verdorben hat! Belassen Sie es nicht beim Grübeln, lernen Sie, mit anderen über sich und Ihre Probleme zu sprechen! Das ist oft nicht einfach. Aber Übung macht auch hier den Meister.
Manchmal brauchen wir aber auch solche Durchhänger, und wer dann seinen depressiven Tag „nimmt“, erlaubt sich durch diese Selbstbeschreibung, einmal aus der im Berufs- und Privatleben verordneten Stimmung auszubrechen, die von guter Laune, Aktivität, Energie und Optimismus gekennzeichnet sein soll. Ist dies nicht durchaus legitim?
Trauer
Wir trauern nach dem Verlust eines geliebten Menschen, nach einem Trennungserlebnis oder nach einem schweren Schicksalsschlag. Diese Trauer ist eine natürliche Gefühlsreaktion. Sie ist in ihrer Ausprägung individuell unterschiedlich, in den Grundzügen jedoch bei allen Menschen ähnlich.
Trauernde sind niedergeschlagen, können kaum Interesse an ihrer Umwelt zeigen, sind verletzlich, energie- und kraftlos. Trauer beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit und kann zu Gedächtnisstörungen führen. Trauernde Menschen leiden auch körperlich. Typische Beschwerden sind zum Beispiel Magen- und Darmstörungen, meist Durchfall, leichte Erschöpfbarkeit, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit.
Im Stimmungstief? Versuchen Sie herauszufinden, was Ihnen die Laune verdorben hat – und gönnen Sie sich viel Bewegung, weniger Stress, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf (siehe dazu auch die Grafik „Was kann ich für mich selbst tun?“, S. 301).
Trauer und Depression können also einander sehr ähnlich sein. Der entscheidende Unterschied jedoch sind der Trauerprozess und die Trauerarbeit. Durch die Trauerarbeit gelingt es dem Trauernden, sich vom Alten zu lösen und sich Neuem zuzuwenden. Sie zeigt sich in einem ganz typischen zeitlichen Ablauf, dem Trauerprozess. Beides ist dem Depressiven in seiner spezifischen Niedergeschlagenheit und Trauer verwehrt.
Trauern braucht Zeit
Die Trauerreaktion ist ein universelles menschliches Reaktionsmuster, mit dem es uns gelingt, Verlust und Trennung zu verarbeiten und nicht vom Schmerz überwältigt zu werden. Zwar zeigen einzelne Kulturen recht unterschiedliche Ausdrucksweisen für Trauer – denken Sie nur an die „Klageweiber“ mediterraner Kulturen – und viele verschiedene Praktiken und Rituale, um mit der Trauer fertig zu werden. Alle diese Rituale haben eine wesentliche Funktion: die Hinterbliebenen in ihrem Trauern zu unterstützen, ihnen die notwendige „Trauerarbeit“ zu ermöglichen. Der Schmerz muss verarbeitet werden, ein lebendiges Bild der oder des Verlorenen muss erst in eine Erinnerung überführt, verinnerlicht – erinnert – werden, bevor Neues am seelischen Horizont erscheinen kann. Und nicht zu Unrecht betrachten wir es mit Argwohn, wenn ein Mensch unmittelbar nach einem elementaren Verlusterlebnis wieder neue Beziehungen eingeht. Haben wir dann nicht den Verdacht, dass entweder etwas offen geblieben ist, als Hypothek in die neue Beziehung mitgenommen wird, oder dass es der vorangegangenen Beziehung an seelischer Tiefe fehlte?
Dieser für das menschliche Leben unverzichtbare seelische Prozess passt für viele nicht in unser hektisches Alltagsleben. Sie verstehen nicht, weshalb ein Trauernder nicht rasch wieder zur Tagesordnung zurückkehren kann (und will).
“ Trauer ist keine Krankheit, keine seelische Störung, sondern ein notwendiger, schmerzvoller und manchmal langwieriger Vorgang.
Nicht selten wird normale/gesunde Trauer mit Krankheit, der Depression, verwechselt. Trauer stört. Auch die Betroffenen selbst sind manchmal nicht bereit, ihre Trauer zuzulassen. Der Arzt oder Psychotherapeut soll sie möglichst schnell – sei es durch Medikamente oder Psychotherapie – „therapieren“, damit sie wieder zu ihrer Alltagsgeschäftigkeit zurückkehren können.
Aber: Trauer gehört ins menschliche Erleben, ist keine Krankheit, keine seelische Störung, sondern ein notwendiger, schmerzvoller und manchmal langwieriger Vorgang des Erinnerns, des Abschiednehmens und der Neuorientierung. Sie ist ein unverzichtbares Durchgangsstadium, an dessen Ende das Erleben eines Menschen um wesentliche Qualitäten bereichert sein kann. Nicht umsonst spricht man vom „Trauerjahr“ als einer Zeit, die ein psychisch gesunder Mensch braucht, um einen schweren Verlust zu verarbeiten.
„Krankhaft Trauern“