Mariella redet nicht, nicht mit der Mutter, dem Vater, nicht mit den Goldfischen, den Lehrern oder Mitschülern. Weil ihre Eltern sich getrennt haben. Weil niemand sie verstehen will. Und weil ohnehin zu viel geredet wird. Je lauter es um sie herum wird, desto leiser wird sie. Mariellas Stille eckt an und fordert heraus. Keiner darf einfach so anders sein. Zum Glück ist da Stan, der gehörlos ist und Mariella akzeptiert, so wie sie ist. Gemeinsam mit ihm findet Mariella eine eigene Sprache. Die Begegnung der beiden bestärkt sie darin, bei sich zu bleiben und schließlich ihre Stimme doch wieder zu erheben.
Dirk Pope
Still!
Carl Hanser Verlag
Für Aisling, Cian und Fionn
But Mariella just crossed her arms and she walked up the stairs
And she went into her bedroom and she sat on her bed
And she looked in the mirror and she thought to herself
»If I wanna play, I can play with me,
If I wanna think, I’ll think in my head.«
Kate Nash
Lesen zwingt dich zum Stillsein in einer Welt,
die der Stille keinen Platz mehr einräumt.
John Green
Manche sagen, ich rede nicht viel.
Allein das ist ein Beleg dafür, dass einige Leute zu viel reden.
Dabei sind mir Worte oder Wörter nicht gleichgültig, im Gegenteil.
Worte oder Wörter.
Wie bildet man den Plural von Wort? Wörter haben keine Bedeutung, nicht unbedingt. Worte dagegen schon. Ein Mann, ein Wort. Eine Frau, viele Wörter.
Ich bin eine Frau, zumindest fühle ich mich so, auch wenn ich noch nicht volljährig bin. Und wer sich diesen Spruch ausgedacht hat, hat keine Ahnung. Oder redet zu viel daher.
Vielleicht haben selbst Worte keine Bedeutung. Hohle Worte. Große Worte, die am Ende gebrochen werden. Die Geschichte ist voll davon. Und ich glaube kaum, dass es in der Mehrheit Frauen waren, die groß dahergeredet haben, um am Ende nicht das zu halten, was sie vorher versprochen hatten.
Das erklärt aber immer noch nicht, warum ich es vorziehe, lieber still danebenzusitzen, als selbst etwas zu sagen. Ich rede nicht viel. Genauer gesagt: Ich rede überhaupt nicht mehr. Weder mit meiner Mutter oder meinem Vater noch mit anderen Leuten. Klassenkameraden. Freundinnen oder Freunde, die ich nicht wirklich habe. Schon früher war ich recht einsilbig. Ja. Nein. Gut. Schlecht.
Auf. Wie. Der. Seh’n.
Reden, um sich zu verständigen. Nicht mehr als absolut notwendig. Mittlerweile ist mir selbst eine einzige Silbe zu viel. Das hat auch mit meinen Eltern zu tun. Oder mit dem, was davon übrig geblieben ist. Ein letzter Rest, mit dem es nichts zu reden gibt. Und längst bin ich der Knoten in der Zunge, der erste und letzte Buchstabe jedes Schweigegelübdes, die Meisterin des Stillseins, stiller als die schwärzeste Nacht, als der tiefste Ozean.
Meine Mutter macht so etwas wahnsinnig.
»Mariella«, sagt sie dann, »jetzt sag doch was! Was hab’ ich dir getan, dass du nicht mit mir redest? Himmel herrje. Das ist so krank!«
Sie sagt nicht, dass ich krank sei. Nur, dass das krank sei. Trotzdem hat sie mich gezwungen, mit ihr zum Arzt zu gehen. Gern hätte ich ihr den Unterschied erklärt. Dafür hätte ich aber reden müssen, und das wollte ich natürlich nicht.
*
Seit fast einem Jahr leben wir hier in dieser Kleinstadt.
In Unter-Ober.
Ortschaften, die drohen groß zu werden, schneidet man in der Mitte durch und verpasst ihnen ein Unter oder ein Ober. Unterhaching, Oberhaching, Untertürkheim, Obertürkheim, Unterliederbach, Oberliederbach. Und so weiter.
Das Gleiche muss auch hier passiert sein, obwohl es vermutlich nie viel zum Durchschneiden gab. Alles ist halb groß, mittelklein. Die Wohnsiedlungen, die Straßen mit Ampeln oder Kreisverkehren, die Fußgängerzone, das Fachwerk, die Geschäfte, die Eckkneipen, die Straßenlaternen, die Abwasserkanäle, das Fallobst, die Friedhöfe. Die Gewaltverbrechen.
Angeblich haben Kleinstädte den Vorteil, dass alles überschaubar und schnell zu erreichen ist. Mir kommt es allerdings so vor, als lebte man auf der Spanplatte einer Modelleisenbahn, nur in echt. Bis zum Fluss sind es zwei Minuten, zum Kirchplatz vier, zum alten Bahnhof sechs, zur Sparkasse acht und zur Schule zehn Minuten. Alles liegt mehr oder weniger auf einer Strecke. Im Zweiminutentakt, je nach Schrittgeschwindigkeit.
Geht man von uns aus in die andere Richtung, kommen ziemlich bald Wiesen und Felder. Äcker. Ein kleiner Weiher. Ein Kleinstadtwald.
Selbst die Menschen hier kommen einem kleiner vor. Ihre Eigenheiten, ihre Klein- und Kleinstkariertheiten. Das Einzige, was an ihnen größer ist, sind ihre Autos. Zum einen haben die Menschen hier mehr Platz dafür, zum anderen müssen sie das kompensieren, was ihnen an den Großstadtmenschen größer erscheint. So weit meine Theorie.
Warum meine Mutter mit mir in diesen Ort gezogen ist, kann ich noch immer nicht verstehen. Zusammen mit meinem Vater hatten wir in einer richtigen Stadt gelebt, in der sogar Straßenbahnen und U-Bahnen fuhren und in der es mehr als ein Kino gab.
Nach der Trennung kamen wir hierher. Wahrscheinlich, weil meine Mutter selbst aus einer ähnlich klein geschnittenen Stadt kam und sich nach so etwas wie Geborgenheit sehnte.
Ich frage mich aber, ob das stimmt und man sich in Kleinstädten wirklich geborgener fühlen kann.
Ich selbst fühle mich nur stärker beobachtet.
*
Der Arzt, zu dem mich meine Mutter dann brachte, hieß Baumann. Dr. Baumann. Er war Hausarzt, und er war mir von Anfang an sympathisch. Vielleicht mochte ich ihn gerade deshalb, weil ich schon diese Bezeichnung großartig finde. Ich weiß, es gibt noch viele andere Arten von Ärzten.
Hirnchirurgen, Kardiologen, Hals-Nasen-Ohrenärzte zum Beispiel.
Aber Ärzte, die sich primär um Häuser kümmern, sind mir die liebsten, denn wenn man mit Häusern spricht, bekommt man in der Regel auch keine Antwort.
Hausarzt. Häuserarzt. Reihenhausarzt. Hochhausarzt.
Natürlich ist das Quatsch, doch allein aus diesem Grund musste mich Dr. Baumann verstehen.
Genauso war es dann.
Dr. Baumann hatte graue, fast weiße Haare und eine runde Brille, die er nach jedem Satz, den er sprach, wieder nach oben schieben musste, weil sie ihm ständig von der Nase zu rutschen drohte. Er schaute mir in den Mund, klopfte mich ab, und am Ende musste ich mich auf eine Waage stellen.
Kopf drei Kilo. Arme und Beine 14. Rumpf 28. Zusammengesetzt wog ich rund 45 Kilo.
Dr. Baumann nickte zufrieden und wandte sich an meine Mutter.
Er: »Isst sie denn normal?«
Sie: »Das möchte ich von Ihnen wissen!«
Er: »Ich meine, nimmt sie regelmäßig Essen zu sich?«
Sie: »Ja, macht sie. Sie isst. Nicht viel, aber sie isst.«
Er: »Und sie schläft normal, geht zur Schule? Hat sie sonst irgendwelche Auffälligkeiten?«
Sie: »Nein, nichts Besonderes. Sie spricht nur nicht.«
Er: »Frau Blum, so wie ich die Sache einschätze, ist das alles recht normal. Das ist einfach die Pubertät. Doch wenn Sie wollen, kann ich Sie gerne an einen Spezialisten überweisen.«
Meine Mutter sagte, dass sie vielleicht darauf zurückkommen werde, und wir verabschiedeten uns.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beteuerte er noch einmal, als wir schon fast draußen waren. »Wer nicht redet, ist ein guter Zuhörer. Und das ist ohnehin die bessere Sorte Mensch.«
*
Die bessere Sorte Mensch.
Ich kenne Obst- und Gemüsesorten. Teesorten. Wurst- und Käsesorten. Eissorten. Aber welche Sorten von Menschen gibt es? Ich glaube kaum, dass Dr. Baumann von Rassen gesprochen hatte, dafür war er viel zu nett.
Wahrscheinlich meinte er das Verhalten, den Charakter von Menschen. Die erfolgreichen, die leistungsstarken, die schönen, die sportlichen, die jammernden, die jämmerlichen. Diejenigen, die breitbeinig rumtrampeln, um möglichst große Fußstapfen zu hinterlassen. Und die, die wie Federn lautlos über den Sand schweben und alle Spuren verwischen.
Ich glaube, zu dieser Sorte Mensch gehöre ich.
Dabei kann ich gar nicht sagen, dass ich deshalb gut zuhören kann.
Oder besser als andere.
Rein theoretisch müsste Dr. Baumann recht haben. Wer nicht selbst lautstark mittut, kann sich viel besser auf die Zwischentöne konzentrieren. Tatsächlich ist es aber so, dass mich das alles nicht interessiert und ich ganz schnell auf Durchzug schalte. Ich bin niemand, der andere durch sein Zuhören inspiriert. Mir sind Menschen eher egal. Nicht vollkommen egal, nur egal. Das ist ein Unterschied, und ich meine das weder abfällig noch aus irgendeiner Arroganz heraus. Schließlich haben wir ja auch mit denen zu tun, mit denen wir nichts zu tun haben. Über Straßennetze, Telefonleitungen, Sozialsysteme.
Das darf man nicht außer Acht lassen.
Trotzdem, rein statistisch gesehen lernen wir nicht einmal annähernd ein Prozent der Weltbevölkerung kennen. In meinem Fall noch viel, viel weniger. Und da verlange ich nicht von den anderen 99,9999999 Prozent, dass sie irgendein Mitgefühl für mich aufbringen.
Umgekehrt soll es bitte genauso sein.
*
Meine Mutter sagt immer, ich lebe in einer eigenen kleinen Welt.
Ich mag den Gedanken, auch wenn meine Mutter damit nur erreichen will, mich zurück in ihre andere, große Welt zu holen.
Das allerdings erscheint mir weitestgehend unmöglich. Meine Welt ist in meinem Kopf, und da lasse ich niemanden rein. Etwas anderes geht auch gar nicht. Denn dass sich die Synapsen zweier Menschen miteinander verbinden, ist ja eher ungewöhnlich. Außer vielleicht bei siamesischen Zwillingen.
In Biologie hatten wir einmal den Aufbau des Gehirns, und komischerweise scheint das gesamte Gehirn aus irgendwelchen Lappen zu bestehen. Frontallappen, Temporallappen, Parietallappen. Großhirnlappen. Kleinhirnlappen. Rechte Gehirnlappenhälfte, linke Gehirnlappenhälfte.
Ein Lappen zum Erinnern, zwei zum Vergessen, drei zum Lachen. Vier, um Tränen zu vergießen.
Einige Lappenregionen liegen bei mir größtenteils brach, fürchte ich. Der Lappen für Mathematik ziemlich, der für Physik und Chemie ganz sicher. Einmal gut durchgewischt, und weg ist alles, was vielleicht mal da war.
Dafür ist mein Sprach- und Wortlappen bedruckt mit hundert Millionen Wörtern, Buchstaben, Sätzen, Satzzeichen. In Prosa oder Versform. Knallbunt und schwarzweiß gestreift. Unauslöschlich. Wahrscheinlich überlappt er alles, was in anderen Lappenregionen jämmerlich verkümmern musste.
Ich habe einmal über diese 10-Prozent-Theorie gelesen. Demnach nutzt der Mensch nur ein Zehntel seines Gehirnpotenzials. Das heißt, dass 90 Prozent ungenutzt bleiben. Ob das so richtig ist, kann ich nicht abschließend beurteilen. Mir gefällt nur die Vorstellung, dass sich in meinem Kopf eine riesige Lagerhalle befindet, in der mittendrin ein Lampion hängt, in dem ein Licht brennt. So hell wie eine kleine Sonne.
*
Wer nicht redet, hat nichts zu sagen.
Sagt man.
Vielleicht stimmt das wirklich.
Vielleicht ist es mir nur einfach zuwider, zu reden, ohne etwas zu sagen.
Ganz früher war ich laut. Einsilbig, aber normal laut. So wie andere Kinder, die mit wiederum anderen Kindern schreiend durch die Gegend laufen. Das ist für viele Menschen ein Gräuel. Damals lebten wir in einer Gegend, die voll war von lärmenden, brüllenden, kreischenden, weinenden Kindern. Und ebenso voll von Erwachsenen, die diesen Lärm nicht länger ertragen konnten.
Sagten sie zumindest.
Hinzu kamen die permanenten Vorwürfe und Ermahnungen, nicht vorlaut zu erscheinen und still zu sein, wenn sich andere unterhielten oder es einfach nicht passend war. Zu Hause, wenn Besuch da war. Im Museum. In der Bibliothek. In der Kirche. In der Schule.
Das habe ich verinnerlicht und perfektioniert. Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Ich glaube, je lauter es zu Hause wurde, umso leiser wurde ich. Und seit dem Umzug hierher rede ich überhaupt nicht mehr. Am liebsten hätte ich mich mit getrennt, aber das ging natürlich nicht. Eine Entscheidung, bei der ich nichts mitzureden hatte. Wenn sich Eltern trennen, trennen sich nur die Erwachsenen, nicht ihre noch nicht volljährigen Kinder. Sie müssen bei einem Elternteil bleiben, Vater oder Mutter. Wie ein Anhang, ein Appendix. Ein Wurmfortsatz.
Wer nicht gefragt wird, braucht auch nicht zu antworten. Eine einfache Formel, die meine Mutter bis heute nicht verstanden hat. Weder meine Mutter noch irgendjemand sonst.
Ich rede überhaupt nicht mehr.
Selbst in der Schule bin ich längst so still, dass man mich nicht einmal wahrnimmt, wenn ich meine Sachen ein- oder auspacke. Den Lehrern war das anfangs egal. Natürlich wollten sie, dass man sich im Unterricht beteiligt. Ihnen waren aber die stillen Schüler tausendmal lieber als die lauten. Und mit denen hatten sie genug zu tun. Insofern reichte es ihnen, wenn ich ab und an höflich nickte und so tat, als interessierte ich mich für ihren Unterricht. Mittlerweile hat sich das etwas verändert. Denn einigen Lehrern scheint es nicht mehr gleichgültig zu sein, und sie zwingen mich, mit ihnen zu reden. Bislang ohne Erfolg, doch wie lange noch?
Dabei habe ich durchaus eine schöne Stimme. Ich kann sogar ganz gut singen, wenngleich ich das seit Jahren nicht mehr getan habe. Ich glaube, meine Stimme ist recht hell. Und ich erinnere mich, dass ich früher besonders die hohen Töne getroffen habe, ohne schrill zu klingen. Oder wie ein Stück Blech. Daran erinnert sich auch meine Mutter. Wenn ich schon nicht redete, sagt sie dann, könnte ich ja wenigstens singen. Ein perfider Vorschlag, der nur auf eines abzielt: die Stille in unserem Zuhause erträglich zu machen.
*
IfaS (Institut für angewandtes Schweigen): Mariella, wir dürfen doch ›Sie‹ sagen?
Ich: Selbstverständlich.
IfaS: Mariella, Sie gelten als eine der international renommiertesten Expertinnen im Bereich der Wortlosigkeit. Wie kam es dazu?
Ich: Wortlosigkeit ist prinzipiell der falsche Begriff. Ich gebrauche ja Wörter, eine Mehr-, Viel- und Unzahl sogar. Ich artikuliere sie nur nicht laut.
IfaS: Verzeihen Sie die unpräzise Formulierung. Trotzdem, wie erklären Sie Ihr Schweigen?
Ich: Nun, ich glaube, es wurde ganz einfach zu viel gesagt. Über die Tage, Jahre, Jahrhunderte. Geschwafel, Geplapper, Geschwätz. Es ist an der Zeit, einen Kontrapunkt zu setzen. Ein Zeichen, verstehen Sie?
IfaS: Sicher. Allein dass wir uns darüber unterhalten, ist eigentlich eher widersprüchlich und nicht im Sinn der eigentlichen Idee, oder?
Ich: Sie sagen es.
IfaS: Dennoch, ist es eher die Lust am Schweigen oder die Unlust am Reden, die Sie antreibt?
Ich: Ich denke, es ist beides gleichermaßen. Die Lust an der Unlust.
IfaS: Können Sie sich vorstellen, dass sich das wieder ändert und Sie in absehbarer Zeit Ihr Schweigen brechen. Oder werden Sie für immer darauf verzichten?
Ich: Nun, zunächst ist es ja kein Verzicht. Reden ist kein natürliches Grundbedürfnis wie essen oder schlafen. Auch wenn es manchem so vorkommt. Wer nicht redet, schadet weder sich noch seiner Umwelt. Im Gegenteil, viele Leute würden ihren Mitmenschen keinen größeren Gefallen tun, als einfach mal den Mund zu halten.
IfaS: Meinen Sie damit jemand Speziellen? Ihre Lehrer? Oder Ihre Mutter, die Sie ja offensichtlich dazu bewegen will, wieder mit ihr zu reden?
Ich: Müssen wir über meine Mutter sprechen?
IfaS: Das entscheiden Sie ganz für sich selbst. Doch vielleicht ist es für Sie ja erst einmal einfacher, über sie zu reden als mit ihr, oder?
Ich: Wie Sie meinen. Also, dann reden wir zunächst über sie.
Meine Mutter.
Eigentlich ist sie eine ganz normale Frau mit einem ganz normalen Mitteilungsdrang.
Vielleicht ist sie gleichzeitig aber auch eine Vielzahl ganz normaler Frauen. Oder Menschen.
Mit einer Vielzahl von Mitteilungsdrängen.
Sie ist die besorgt nachfragende Mutter, die Nachbarin von nebenan, der Tratsch im Supermarkt, die Endlosschleife einer Hotline-Nummer, die Frau im Navi, die noch nie ein eigenes Ziel erreicht hat, die Werbeunterbrechung zwischendurch, die Vor- und Nachrede. Der Senf, den man dazugibt.
Rein theoretisch müssten wir uns perfekt ergänzen. Doch sie kann mein Schweigen einfach nicht akzeptieren und versucht es mit immer neuen Methoden.
Wochenlang hat sie auf mich eingeredet.
Sie hat mir gedroht.
Sie hat mich angeschrien.
Sie ist in Tränen ausgebrochen.
Sie war mit mir beim Arzt.
Sie hat versucht, mit ihrem Schweigen mein eigenes Schweigen zu durchbrechen.
Ihr letzter Versuch entbehrt nicht einer gewissen Originalität.
Sie hat ein kleines Aquarium angeschafft, in dem zwei Goldfische schwimmen.
»Für dich, Mariella. Damit du etwas Gesellschaft hast«, hat sie gesagt und den Glaskasten in der Diele auf die Kommode gestellt. »Du magst doch Fische, oder? Früher hast du Fische immer gerne gemocht. Weißt du noch, als wir damals im Zoo waren und du nur Augen für die Delphine hattest? Die waren ja auch wirklich toll!«
Ich habe dann genickt und mich um ein Lächeln bemüht. Delphine sind eindeutig keine Fische, allerdings schwimmen sie im Wasser, und ich finde sie tatsächlich großartig. Weniger großartig war dagegen die Idee mit dem Aquarium und der damit verbundene Versuch meiner Mutter, mich zum Reden zu bringen. Die beiden Goldfische waren natürlich eine Art Metapher auf unser Zusammenleben in diesem Haus, mit der mich meine Mutter provozieren wollte. Zwei Stummfische, die eingesperrt auf engstem Raum den ganzen Tag aneinander vorbeischwimmen, ohne einen Ton zu sagen. Fast wäre ich darauf reingefallen. Ob die beiden Mutter und Tochter waren, habe ich bislang nicht herausbekommen.
*
In dem Haus, in dem wir jetzt leben, ist alles schräg. Die Wände, die Türrahmen, der Fußboden. Als hätten sich alle Ecken und Kanten über die Jahre hinweg auseinandergelebt.
Es ist ein sehr kleines Haus mit einem kleinen Untergeschoss und einem winzigen Obergeschoss.
Ein Unter-Ober-Haus.
Und seitdem die Stummfische den ganzen Tag durch die Diele schwimmen, ist weniger Platz — für alles und jeden. Im Prinzip macht mir das nichts aus. Ich bin ohnehin lieber in meinem eigenen Zimmer. Es befindet sich direkt unter dem Dach, und man kann es nur über eine schmale Treppe erreichen, die selbst dann knarrt, wenn niemand drübersteigt. Unter einer der Dachschrägen steht mein Bett, schräg daneben ein Holztisch, der auch nicht ganz gerade steht, was entweder an einem der ungleichen Beine liegt oder an dem wellig gewordenen Laminat, weil die Treppe darunter ja permanent weiter nach oben wächst.
Mir gefällt das.
Ich liebe es, Dinge eben nicht gerade zu rücken, so wie es viele Leute gerne haben.
Das Leben ist keine Wasserwaage.
In dem Haus, in dem wir mit meinem Vater wohnten, stand oder lag immer alles akkurat zueinander. Die Stühle wurden in exakt gleichem Abstand unter den Esstisch geschoben. Im Regal waren die Bücher nach Größe geordnet. Alle Bilderrahmen hatten die gleiche Farbe, und meine Mutter achtete damals noch darauf, dass in der Obstschale gleich viele Äpfel, Birnen und Orangen lagen. Ein Musterhaus der Geometrie. Was habe ich es gehasst.
Wenn wir zusammen aßen, lag das Besteck im rechten Winkel zur Tischkante, bevor es spätestens beim Nachtisch durch den Raum geflogen ist — allerdings nicht kreuz und quer, nicht einmal das. Teller zersplitterten genau in ihrer Mitte. Und ich erinnere mich an ein Messer, das horizontal im Türrahmen stecken blieb. Im 90-Grad-Winkel.
Bei mir im Zimmer entscheidet jeder Gegenstand für sich, wo er liegen will. Es gibt keinen festen Lageplan, zumal sich die Koordinaten meiner Bücher, Zeitschriften, Stifte, Blöcke, Hosen, T-Shirts, Unterwäsche und Socken einem permanenten Wandel zu unterwerfen haben, um weiterhin interessant zu bleiben.
Ich liebe es, Dinge schräg zu platzieren.
Der Stapel ausgelesener Bücher liegt auf der Kante des Regals, das ich linksseitig auf einen umgedrehten Blumentopf gestellt habe, sodass es bei jeder Bewegung bedrohlich kippelt. Die Frage, die mich am meisten beschäftigt: ob nur die Bücher runterfallen. Oder ob sie gleich das ganze Regal mit in die Tiefe reißen.
*
Socke: »Die Fallhöhe ist jetzt schon immens.«
Regal: »Nicht auszudenken, was da noch alles passieren kann!«
Hose: »Mir ist das zu durcheinander.«
Dr. Baumann: »Diese Mariella, ist sie denn normal?«
Bürste: »Das wüssten wir gern von Ihnen!«
*
Ordnung ist das halbe Leben.
Unordnung die andere Hälfte.
*
Ganz sauber ist das Zimmer nicht.
Ich glaube auch nicht, dass Sauberkeit allzu erstrebenswert ist.
Niemand würde sagen, dass so etwas wie eine saubere Wiese oder ein sauberer Wald existieren. Überall gibt es Erde, Blütenstaub, Äste, Moos, Moder, Pilze, Exkremente und Tierkadaver. Trotzdem halten sich alle gerne in der Natur auf und gehen stundenlang dort spazieren, um möglichst viel von diesem Schmutz abzubekommen.
Für mich ergibt das keinen Sinn. Denn sobald auch nur ein Absatz voll unter den Sohlen von draußen mit in die Wohnung kommt, gilt sie als verschmutzt. Im umgekehrten Fall darf man nichts von drinnen mit nach draußen nehmen, um die Umwelt nicht zu verschmutzen. Keinen Abfalleimer, keine Plastiktüte, keinen Staubsaugerbeutel, keinen alten Kühlschrank. Ich frage mich, wo da die Konsequenz ist. Vielleicht gibt es eine Ordnung des Schmutzes. Eine Schmutzhierarchie. Guten und bösen Schmutz, ich habe keine Ahnung.
Auf mein Zimmer bezogen komme ich damit nicht weiter. Wahrscheinlich ist es nicht gerade sauber, eher natürlich dreckig. Demnach stört es mich auch nicht, dass sich hinter dem Schreibtisch faustgroße Staubflocken gesammelt haben. In der Fensterscheibe spiegeln sich die Schlieren, und unter meinem Bett haben sich Spinnen eingenistet. Genauer gesagt sind es Zitterspinnen, die ziemlich lange Beine haben. Tatsächlich sind es sogar extrem lange Beine, vor denen man sich eigentlich ekeln müsste.
Ich selbst finde sie nicht eklig. Im Gegenteil. Zitterspinnen sind grundsätzlich harmlos, und sie können sich durch ihr schnelles Zittern in ihrem Netz unsichtbar machen.
Ich finde so etwas faszinierend.
Und genau das möchte ich auch können.
*
Mein Vater rief an.
Alles sei ein großes Missverständnis.
Ich müsse ihn verstehen.
Ich könne jederzeit mit ihm sprechen.
Ich solle ihm nur etwas Zeit …
Ich hörte ihm so lange zu, bis er endlich auflegte.
*
Manchmal liege ich auf dem Bett und zittere mit aller Kraft mit Armen und Beinen.
Es ist wahnsinnig anstrengend, sich unsichtbar zu machen.
Neulich hat mich meine Mutter dabei überrascht, und sie dachte, ich hätte so etwas wie einen epileptischen Anfall. Es muss ziemlich echt ausgesehen haben, denn sie hat sofort den Notarzt gerufen. Natürlich war das übertrieben, und das hätte ich meiner Mutter gerne mitgeteilt. Aber ich konnte ja schlecht mit ihr reden.
Ich ging zu ihr ins Wohnzimmer und wollte ihr durch meine bloße Anwesenheit zu verstehen geben, dass sie nicht gleich in Panik geraten musste. Mit dem Telefonhörer in der Hand starrte sie mich an.
»Du … du …«, stammelte sie. »Womit habe ich das alles nur verdient?«
Ihre Stimme zitterte dabei so wie ich kurz zuvor noch auf dem Bett. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und blickte so eisig nach draußen, dass es im Garten anfing zu schneien.
Es gibt ja diesen Satz, dass man nicht