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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: Alexandra Bauer (textwerk, München), Karin Leonhart für textwerk, München

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Yuliia Antoniuk

impressum ISBN 978-3-8338-7477-2

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Coverabbildung: Getty Images

Illustrationen: www.pfau-design.de

Fotos: privat

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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Nach Corona ist vor Corona!

Warum wir gerade jetzt unser Gesundheitssystem hinterfragen sollten

Weshalb braucht es jetzt in Zeiten einer durch Covid-19 ausgelösten Pandemie ein kritisches Buch zum Gesundheitssystem? Deutschland ist mit den Herausforderungen, die uns das Virus stellte, doch sehr gut umgegangen. Unser Gesundheitssystem war – auch im weltweiten Vergleich – weniger belastet: Ansteckungs- und Todesraten sind niedriger als bei den meisten unserer europäischen Nachbarn, als in den USA oder Südamerika gewesen. Zudem belegen Umfragen, dass die Deutschen anders als in früheren Jahren zufrieden mit ihrem Gesundheitssystem sind.

Das Buch Die Gesundheitslüge hätte eigentlich im April 2020 erscheinen sollen. Im Frühjahr hatten wir uns aber entschieden, den Veröffentlichungstermin zu verschieben, denn ich war und bin überzeugt: Ein Aufruf zu grundlegenden Systemreformen wäre angesichts der Corona-Pandemie nicht angemessen gewesen. Während der vergangenen Monate ging es vorrangig um Solidarität und Support, damit Ärzte, Pflegepersonal, die Politik, wir alle das Problem Covid-19 gemeinsam in den Griff bekommen. Nun ist die Kurve abgeflacht und verglichen mit anderen europäischen Ländern wie Italien, Spanien sowie Frankreich sind wir bisher noch glimpflich davongekommen. Wahr ist auch: Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch keine präzisen Aussagen darüber treffen oder fundierte Analysen machen, was zu den unterschiedlichen Entwicklungen von Covid-19 in den einzelnen Ländern beigetragen hat. Ebenso können wir nicht mit Gewissheit vorhersagen, ob es eine zweite Welle geben und wie sie verlaufen wird.

Auch wenn Deutschland der Corona-Krise gut vorbereitet begegnet ist, mehren sich jetzt die Stimmen derer, die eine Reform unseres Gesundheitssystems für notwendig erachten. Eine gewichtige Meinung dazu hat der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder. „Aber wir müssen nun noch einen deutlichen Zahn zulegen“, forderte Söder schon im April 2020 gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt mit Blick auf notwendige Anstrengungen zur Modernisierung unseres Gesundheitssystems.1

Hohe Kosten – niedrige Lebenserwartung

Müssen wir wirklich einen Zahn zulegen angesichts des guten Rufs, den unser Gesundheitssystem in der Welt genießt? Ist unser System nicht schon teuer und komplex genug? Wäre eine grundlegende Reform des Systems entsprechend der sieben Krankheitssymptome, die Sie in Die Gesundheitslüge nachlesen können, nicht der effizientere und kostengünstigere Weg zu einer innovativen Medizin? Einer Medizin, die den Herausforderungen unserer Zeit auf Dauer standhalten kann, ohne den Geldbeutel der Bürgerinnen und Bürger noch stärker zu belasten? Denn trotz des guten Rufs, den unser Gesundheitssystem weltweit innehat – gerade auch nach Corona –, weist es erhebliche Mängel auf. Zwei Fakten sind dabei von zentraler Bedeutung: hohe Kosten und eine niedrige Lebenserwartung. Innerhalb der EU zahlen die Deutschen am meisten für ihre Gesundheit und sind, was die Lebenserwartung angeht, europaweit doch nur im unteren Durchschnitt zu finden.

Sicher ist jedoch, dass die Kosten für unsere Gesundheit in der Zeit nach Corona erheblich steigen werden, da die Krise unser System auch nach ihrer Bewältigung stark belasten wird. Allein für das Jahr 2020 sei bei den Krankenversicherungen ein „Zusatzbedarf von mehr als 14 Milliarden Euro“ zu erwarten, analysierte der Berliner Tagesspiegel.2

Und dies ist keine neue Entwicklung: Wie das Statistische Bundesamt meldete, waren die Kosten unseres Gesundheitssystems tatsächlich schon in den Jahren zuvor drastisch angestiegen. So lagen die Gesundheitsausgaben im Jahr 2017 etwa noch bei 375,6 Milliarden Euro, ein Jahr später waren es 390,6 Milliarden Euro und 2019 schon 407,4 Milliarden Euro.3 Das ist ein Anstieg von knapp 32 Milliarden Euro – innerhalb von nur drei Jahren!

Es stand also bereits vorher nicht gut um die Gesundheitsfinanzen, und der Blick in die Zukunft lässt keine Besserung hoffen, ganz im Gegenteil: „Die gesetzliche Krankenversicherung hat das erste Quartal 2020 mit einem Minus abgeschlossen“, gab Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen, bekannt. Und fügte hinzu: „Für die gesetzlichen Krankenkassen bedeutet das rund 1,3 Mrd. Euro Minus, für den Gesundheitsfonds rund 3,2 Mrd. Euro Minus. Aus diesen Zahlen lässt sich allerdings keine Prognose für das Gesamtjahr ableiten.“4 Pfeiffer sieht die Ursache für hohe Leistungsausgaben im Vergleich zum Vorjahresquartal in kostentreibenden Reformen der letzten Jahre begründet, wie etwa das Terminservice- und Versorgungsgesetz.

Lassen Sie mich dies wiederholen: 4,5 Milliarden Minus im ersten Quartal. Und das ohne die zusätzlichen Kosten für die Bekämpfung von Covid-19! Reformen wie das von Dr. Pfeiffer zitierte Terminservice- und Versorgungsgesetz verursachen enorme Kosten und deckeln zugleich die grundlegenden Fehler im Gesundheitssystem mit Zusatzverordnungen und Regularien, die eher einem Flickenteppich als einer echten Reform gleichen. „Das Gesundheitswesen hat eine weitaus größere Beschäftigtenzahl und eine größere Bruttowertschöpfung als beispielsweise die Automobilindustrie. Unser Gesundheitssystem hat uns gut durch die Krise geführt“, analysierte Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Verbands der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, im Juni 2020. Und meinte weiter: „Angesichts der weltweiten Bedrohungen durch weitere Pandemien oder die medizinischen Folgen des Klimawandels ist es elementar, das Gesundheitswesen auszubauen.“5

Es ist zu hoffen, dass Covid-19 irgendwann bewältigt sein wird, doch schon jetzt scheint klar zu sein, dass uns die Probleme von gestern morgen erneut einholen werden. Ist es also wirklich zielführend, noch mehr Geld ins Gesundheitssystem zu pumpen, um uns auf weitere mögliche Pandemien vorzubereiten? Irgendwann explodieren doch die ohnehin schon hohen Kosten! Daher sollte es im Interesse der Politik sein, das viele Geld, das uns zur Verfügung steht – immerhin zahlen wir innerhalb der Europäischen Union am meisten für unsere Gesundheit –, sinnvoll in eine zukunftsweisende und nachhaltige Medizin zu investieren.

Weshalb unser Gesundheitssystem so teuer ist

In den letzten drei Monaten kamen rund zehn Prozent meiner Neupatienten mit dem Wunsch nach einer Zweitmeinung zu mir, weil sie vor Corona für eine Wirbelsäulenoperation terminiert waren, der Eingriff aber wegen der staatlich verordneten Allgemeinverfügung verschoben worden war. Über die Wochen des Lockdowns waren die Schmerzen zurückgegangen oder sogar verschwunden – ein Phänomen, das die konservative Orthopädie kennt, weil unser Körper in der Regel lernt, sich mit schmerzhaften Schäden oder Degenerationen zu arrangieren. Als die Kliniken irgendwann wieder Kapazitäten hatten und sich bei den Patienten meldeten, um einen neuen Operationstermin zu vereinbaren, wollten viele Betroffene von mir wissen, ob sie sich überhaupt noch operieren lassen sollten. „Ein Schaden auf einem Bild entscheidet nicht über Ihre Therapie. Wenn Sie keine Schmerzen haben, muss man auch nicht operieren“, empfahl ich. Und in den meisten Fällen gelang es, mit präventiven Mitteln wie Aufbau- und Kräftigungstraining den verbesserten Status zu erhalten.

Ob am Bewegungsapparat oder am Herzen – wir geben viel Geld für unnötige Therapien aus. Natürlich ist medizinischer Fortschritt wichtig und kann lebensrettend für schwer erkrankte Patienten sein. Aber warum müssen deutsche Ärzte um ein Vielfaches häufiger als ihre europäischen Kollegen zum Messer greifen? Warum sind wir in zahlreichen medizinischen Disziplinen Operationsweltmeister?

Ein Grund dafür ist die Art und Weise, wie unser System ärztliche Arbeit vergütet. Im Kapitel Übertherapierung beschreibe ich, warum konservative, für Patienten schonendere Behandlungsmaßnahmen schlechter bezahlt und daher weitaus seltener angewendet werden. Auch Corona wird an der Tatsache nichts ändern, dass zu schnell und zu viel operiert wird. Dazu kommt: Die Struktur unserer Krankenhauslandschaft ist mehr auf politische und ökonomische Interessen ausgerichtet als auf eine sinnvolle zeitgemäße Medizin. Warum die Trennung zwischen ambulantem und stationärem Bereich endlich aufgeboben werden muss, wird in Die Gesundheitslüge dargelegt. Und auch weshalb eine geringere Anzahl fachlich kompetenter Krankenhäuser in Verbindung mit der Erhöhung von ambulanten Notfallzentren für Patienten vorteilhafter ist – selbst im Angesicht einer Pandemie. Bei einem Blick ins Kapitel Zu teure und zu viel Verwaltung wird einem klar, dass ein Teil des Geldes für den Erhalt unseres Gesundheitssystems in einen bürokratischen, trägen, kostspieligen und reformbedürftigen Apparat fließt, der im digitalen Zeitalter überhaupt nicht notwendig wäre. Statt also immer neue, kaum noch zu durchblickende Änderungen von Gesetzen und Verordnungen vorzunehmen, wäre die Politik auf höchster Ebene gefordert, Aufstellung, Struktur und Organisation des Gesundheitssystems kritisch zu prüfen – um die zur Verfügung stehenden Ressourcen sinnvoller und effizienter zu nutzen.

Die richtige Medizin für unser Gesundheitssystem

Deutschland hinkt, was den digitalen Standard angeht, allgemein weit hinterher, im Gesundheitssystem ist dies besonders deutlich zu spüren. Jens Spahn ist der fünfte Gesundheitsminister in Folge, der das Thema elektronische Patientenakte auf der Agenda hat. Zurzeit geht es ebenfalls nicht wirklich voran. Die Umsetzung scheitert immer wieder an den Bestimmungen des Datenschutzes, eine Grundsatzdiskussion, die auch bei der Corona-Warn-App hochkam. Sie war ein wesentlicher Grund dafür, dass die Entwicklung der App im Vergleich zu anderen Ländern stockte und so erst im Juni 2020 starten konnte. Mehr Digitalisierung würde für mehr Gesundheits- und Kostentransparenz sorgen – auch hier ist der Gesetzgeber stärker gefragt. Das Kapitel Innovationsfeindlichkeit liefert dazu Antworten: Wer bzw. was trägt dazu bei, dass notwendige Innovationen immer wieder verschleppt werden?

Die jüngste Diskussion um den CDU-Abgeordneten Philipp Amthor hat den Ruf nach einem Lobbyregister für mehr Transparenz in der Politik zum wiederholten Male laut werden lassen. Aber immer wieder vergeblich. Amthor hatte neben seinem politischen Engagement einen Aufsichtsratsposten bei Augustus Intelligence, einem Software-Start-up. Gleichzeitig engagierte er sich auf politischer Ebene, um Unterstützung für das Unternehmen zu erhalten. Eine solche Verflechtung von Wirtschaft und Politik ist nicht im Sinne einer demokratischen Volksvertretung. Ähnliche Muster gibt es auch im Gesundheitswesen, wie Sie im Kapitel Zu viel Lobbyismus lesen können. Aber: Sind Entscheidungen von Gesundheitspolitkern nicht am Patientenwohl, sondern eher am eigenen Gewinn orientiert, geht es nicht nur um Ihr Geld, sondern im schlimmsten Fall auch um Ihre Gesundheit. Immer wieder stellt sich die Frage, wieso die Verantwortlichen im System – die Politiker – all dies zulassen? Eine Ursache dafür liegt sicherlich im politischen System selbst, das Lobbyismus nicht nur begünstigst, sondern Lobbyisten zu gesundheitspolitischen Entscheidern erhoben hat.

Deshalb ist nach Corona vor Corona! Die Gesundheitslüge versteht sich als Zukunftsbuch, das nach der gegenwärtigen Krise aktueller sein wird als zuvor. Die letzten Monate haben uns gezeigt, wie wichtig Solidarität ist. Es ist vorrangig dem Verantwortungsgefühl, der Disziplin und Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung geschuldet, dass unser Medizinsystem nicht wirklich gefordert wurde und nur ein Bruchteil der geschaffenen Kapazitäten in Anspruch genommen werden musste.

Wir haben ideale Voraussetzungen für eines der besten Gesundheitssysteme der Welt: engagierte und gut ausgebildete Ärzte, ein hohes Forschungsniveau, modernste Technologien und ein riesiges Gesundheitsbudget. Aber wir investieren die Gelder nicht zum Wohl der Patienten und für die Erfordernisse unserer Zeit. Aus diesem Grund benötigen wir dringend eine grundlegende Erneuerung des Systems. Wie das gehen soll und was die Politik, alle Beteiligten im Medizinsystem sowie jeder Einzelne dazu beitragen kann, dies darzustellen, ist Ziel dieses Buches. Echte Reformen können gelingen, wenn wir die sieben in diesem Buch beschriebenen Symptome, an dem unser Gesundheitssystem krankt, heilen. Unser Ziel sollte es sein, die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel so einzusetzen, dass uns das im Ranking der Lebenserwartung vom hinteren Mittelfeld auf einen der vordersten Plätze bringt und Prävention zur Erhaltung der Gesundheit sowie zum Schutz vor Covid & Co. im Mittelpunkt steht.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch einen Beitrag zu einem konstruktiven Dialog auf allen Ebenen des Gesundheitssystems leistet, damit wir die vorhandenen Potenziale und Ressourcen zum Wohl der Patienten nutzen. Denn am Ende zahlen wir mit unseren Versicherungsbeiträgen doch auf ein langes Leben und die bestmögliche Versorgung aller ein.

Ihr Dr. Martin Marianowicz

»Wenn unser Gesundheitssystem so effizient ist, wie es Politiker gern kommunizieren, dann sollten die hohen Kosten dafür eigentlich ein langes Leben in Aussicht stellen. Dann müssten die Deutschen europaweit also dementsprechend die höchste Lebenserwartung haben. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wir rangieren im europäischen Vergleich gerade mal im Mittelfeld auf Platz 17 und investieren weit mehr in unsere Gesundheit als die anderen europäischen Länder. Die Spanier geben im Schnitt 2.446 Euro jährlich für ihre Gesundheit aus, das ist etwas mehr als die Hälfte dessen, was die Deutschen zahlen. Gemessen an der Lebenserwartung muss das spanische System wohl effektiver sein.

Woran könnte es sonst liegen, dass die Menschen in unserem Land im Schnitt zwei Jahre früher sterben als die Spanier? Warum werden die Engländer, deren Gesundheitssystem einen schlechten Ruf hat und unserem angeblich weit unterlegen ist, älter als wir? Höhere Kosten und niedrigere Lebenserwartung: Wie passt das zusammen? Bekommen wir für unser Geld wirklich die beste Behandlung, die unserer Gesundheit dient? Oder ist die Annahme ›Ein großes medizinisches Angebot hilft viel‹ am Ende nicht richtig?«

Vorwort

Unser Gesundheitssystem ist krank: Es ist teuer, ineffizient und so komplex, dass ein Autor eigentlich 1.000 Seiten schreiben müsste, um die fatalen ökonomisch motivierten Mechanismen vollumfänglich aufzuzeigen. Im medizinischen Wirtschaftskreislauf sind die Versicherten die unwichtigsten Beteiligten. Sie finanzieren das System und sind zugleich häufig Bittsteller bei Krankenkassen, wenn es um die Bezahlung von Leistungen jenseits der eingeschränkten Regelversorgung geht. Die meisten Menschen wissen noch nicht einmal, was ihre Behandlung kostet, geschweige denn, was mit ihrem Geld, den Versicherungsbeiträgen, passiert. Immer wieder werden Patienten zum Opfer eines kranken Systems, weil ihre Behandlung mehr auf die bürokratischen Zwänge des Arztes zugeschnitten ist als auf ihre individuellen Bedürfnisse.

Ich möchte mit diesem Buch eine öffentliche Diskussion entfachen, die zu echten Reformen führt, zu denen das Gesundheitssystem mit den gegenwärtigen Strukturen und Machtverhältnissen weder bereit noch fähig ist. Und ich wünsche mir, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sich Ihrer Nebenrolle in diesem kranken System bewusst werden. Denn vor den fatalen Folgen für die eigene Gesundheit kann sich nur schützen, wer die Symptome kennt und versteht, wo die Wurzeln der Krankheit liegen. Sie sind mittels Ihrer Versicherungsbeiträge die tragende Säule im System, Ihr Wohl steht jedoch nicht mehr im Mittelpunkt. Das will ich mit diesem Buch gern ändern.

Ich bin kein Gegner der fortschrittlichen Gerätemedizin, auch nicht von technischen Innovationen oder Ärzten. Aber wer soll den Menschen helfen, wenn sie krank sind? Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, dem wir vertrauen und auf das wir uns im Ernstfall verlassen können – und das uns nicht kränker macht, als wir sind. Das uns weder wie einen Durchlaufposten behandelt noch vorschnell unters Messer liefert, nur weil schonende Behandlungsmethoden weniger lukrativ sind.

Während des Schreibprozesses fragten mich Gesprächspartner immer wieder, ob ich keine Angst hätte, meine Stimme öffentlich zu erheben, ob es nicht gefährlich sei, das Gesundheitssystem und das Versagen der entscheidenden Akteure zu kritisieren. Ich finde das nicht. Die wirkliche Gefahr ist doch, offensichtliche Missstände in einem dringend reformbedürftigen System nicht anzusprechen, sie nicht zu hinterfragen. Hinnehmen und Wegschauen ändern nichts. Im Gegenteil: Beides wirkt sich negativ auf Ihre Gesundheit, Ihre Lebenserwartung und die Kosten aus.

Ihr Dr. Martin Marianowicz,

München im Februar 2020

Die sieben Symptome der Krankheit

Niedrige Lebenserwartung

Ein weiterer augenscheinlicher Grund, warum der Patient Gesundheitssystem krank ist, zeigt sich bei der Lebenserwartung. Menschen in anderen Ländern Europas zahlen nicht nur weniger für ihre Gesundheit, sie leben auch länger als die Deutschen. Schaut man sich das einmal im europäischen Vergleich an, lässt sich feststellen: Die Deutschen rangieren gerade mal auf Platz 17, was die Lebenserwartung zum Zeitpunkt ihrer Geburt angeht, weit hinter Spanien, wo die Menschen am längsten leben, und ebenfalls hinter Italien, Frankreich, Großbritannien und Schweden. Auch wenn sich die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren fast verdoppelt hat, sterben die Menschen in Deutschland früher als in Spanien: Die durchschnittliche Lebenszeit betrug für das Jahr 2016 bei Frauen 81 und bei Männern 78 Jahre. In Spanien dagegen leben Frauen wie Männer über zwei Jahre länger. Das kann doch nicht nur dem vielgepriesenen Rotwein oder dem mediterranen Lebensstil geschuldet sein.

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Wer bezahlt wie viel in Europa? Und wer lebt wie lang? 9

Wenn unser Gesundheitssystem so effizient ist, wie es Politiker gern kommunizieren, dann sollten die hohen Kosten dafür eigentlich ein langes Leben in Aussicht stellen. Dann müssten die Deutschen europaweit also dementsprechend die höchste Lebenserwartung haben. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wir rangieren im europäischen Vergleich gerade mal im Mittelfeld auf Platz 17 und investieren weit mehr in unsere Gesundheit als die anderen europäischen Länder. Die Spanier geben im Schnitt 2.446 Euro jährlich für ihre Gesundheit aus, das ist etwas mehr als die Hälfte dessen, was die Deutschen zahlen. Gemessen an der Lebenserwartung muss das spanische System wohl effektiver sein. Woran könnte es sonst liegen, dass die Menschen in unserem Land im Schnitt zwei Jahre früher sterben als die Spanier? Warum werden die Engländer, deren Gesundheitssystem einen schlechten Ruf hat und unserem angeblich weit unterlegen ist, älter als wir? Höhere Kosten und niedrigere Lebenserwartung: Wie passt das zusammen? Bekommen wir für unser Geld wirklich die beste Behandlung, die unserer Gesundheit dient? Oder ist die Annahme »Ein großes medizinisches Angebot hilft viel« am Ende nicht richtig?

Viel hilft nicht immer viel, wie sich im Verlauf des Buches zeigen wird. Das Wohl und die Interessen des Patienten sind in unserem Gesundheitssystem, das derzeit Krankheit und nicht Gesundheit belohnt, aus dem Blickpunkt geraten! Nicht Heilung ist das vorrangige Ziel, sondern Therapie. Und nicht selten sind risikoreiche oder ineffektive medizinische Maßnahmen mehr auf die bürokratischen Zwänge des Systems zugeschnitten als auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten. Dieser Trend ist gefährlich! Denn es geht um Ihre Gesundheit, Ihr Geld und darum, wie tief Sie dafür in die Tasche greifen müssen.

Im Oktober 2019 wartete die Bertelsmann Stiftung mit der alarmierenden Studie Zukünftige Entwicklung der GKV-Finanzierung auf, die bis 2040 ein Kassendefizit von bis zu 50 Milliarden Euro sowie eine Steigerung der Krankenversicherungsbeiträge auf bis zu 19 Prozent des Bruttogehalts prognostiziert.10 Um das zu verhindern und den Satz langfristig auf rund 15 Prozent zu halten, müsste der Staat das Gesundheitssystem nicht mehr wie heute mit 14,5 Milliarden, sondern mit 70 Milliarden Euro bezuschussen. Das kann darüber hinaus bedeuten, dass Patienten aufgrund der Ressourcenknappheit in Zukunft mit mehr Einschränkungen bei sinnvollen abrechenbaren Versicherungsleistungen rechnen müssen. Das kann wohl kaum die Lösung sein! So kann es doch nicht weitergehen!

Die folgenden Kapitel stellen eine Art Anamnese des kranken Patienten Gesundheitssystem dar. Als Arzt habe ich mir die Symptome der Krankheit angesehen, die Geld fressen sowie die Lebenserwartung verringern, und nach den dahinterstehenden Ursachen gesucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass unser Gesundheitswesen nicht nur unter systemischen Fehlern leidet, sondern es auch noch dem Patienten, dem schwächsten Glied, schaden kann. Die sieben Symptome, die ich Ihnen nachfolgend aufzeige, sind ansteckend, denn sie beeinflussen auf ungünstige Weise, dass risikoreiche Therapien die Ursachen der Patientenbeschwerden oft nicht wirklich beseitigen. Um der Willkür des Systems nicht ausgeliefert zu sein, ist es für uns alle unabdinglich, Diagnose- und Therapieentscheidungen zu hinterfragen sowie über mögliche schädliche Folgen Bescheid zu wissen. Inwieweit es Sie treffen könnte, was Sie tun können, um sich zu schützen, und was sich ändern muss, damit das Wohl des Patienten wieder in den Mittelpunkt aller Akteure im Gesundheitswesen rückt, darum geht es in den folgenden Kapiteln.

Hohe Kosten

Wie zufrieden sind Sie eigentlich mit unserem Gesundheitssystem? Vermutlich werden Sie – wie viele Menschen in Deutschland – der Meinung sein, dass im Großen und Ganzen alles in Ordnung sei. Diesen Eindruck bestätigt auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC), die seit 2014 untersucht, wie die Deutschen zu ihrem Gesundheitssystem stehen. PwC veröffentlicht die Ergebnisse in einem jährlichen Healthcare-Barometer, zuletzt im Jahr 2019. 55 Prozent der Befragten im Jahr 2018 zählten hier das deutsche Gesundheitswesen »zu den drei besten der Welt«.6 Aber worauf beruht die subjektive Zufriedenheit? Nach meinen Erfahrungen der letzten 30 Jahre, die ich durch zahlreiche Vorträge und im Dialog mit Patienten und Interessierten sammeln konnte, basiert sie auf einer großen Anzahl an Krankenhäusern, einer hochmodernen Apparatediagnostik, gut ausgebildeten Ärzten, einer enormen Dichte an medizinischen Geräten, Zugang zu zahlreichen, auch teuren Medikamenten, gepaart mit einer flächendeckenden Versicherungsstruktur, was den Eindruck erweckt, wir seien gut versorgt. Im Zweifelsfall können die Menschen, so denken die meisten, zeitnah hochprofessionell behandelt werden. Sie wiegen sich in unserem System in Sicherheit, weil die medizinischen Möglichkeiten für sie gleichbedeutend sind mit den Versprechen von Gesundheit und – damit verbunden – einer hohen Lebenserwartung.

Die subjektive Zufriedenheit des Einzelnen erlebe ich oft bei Menschen, die gesund sind und daher noch keine schlechten Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen gemacht haben. Nachvollziehbar, denn die meisten Menschen gehen, solange sie nicht krank sind, davon aus, dass schon alles irgendwie okay sei. Sie beschäftigen sich nicht näher mit dem Gesundheitssystem und können somit gar nicht sehen, woran es krankt. Erst wenn Beschwerden auftauchen, kann sich das ändern: Für gewöhnlich, sobald sie als Patienten mit den persönlichen Folgen der Defizite konfrontiert sind. Da ist die Rede von langen Wartezeiten auf Termine, von Unzufriedenheit mit Ärzten, die sich kaum Zeit nehmen können, von einer schlechten Versorgung in ländlichen Gebieten, von mangelndem Austausch zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern, von schnellen Operationsempfehlungen, fehlendem Pflegepersonal und steigenden Versicherungsbeiträgen. Interessanterweise kommt die PwC-Untersuchung zu dem Schluss, dass die Zufriedenheit im Jahr 2018 gegenüber 2016 abgenommen hat, denn damals lag diese noch bei 64 Prozent.7 Immer mehr Menschen scheinen also zu spüren, dass in unserem Gesundheitswesen etwas nicht in Ordnung ist, wissen allerdings nicht genau was.

Das Gesundheitssystem kostet Jahr für Jahr mehr 8

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Woran zeigt sich nun, dass es dem Patienten Gesundheitssystem schlecht geht? Am augenscheinlichsten an einem enormen Kostenapparat, dem teuersten in der Europäischen Union (EU), der von Jahr zu Jahr mehr Geld frisst. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beliefen sich die Ausgaben für das Jahr 2017 auf 375,5 Milliarden Euro, das ist mehr als der gesamte deutsche Staatshaushalt, der bei 356 Milliarden Euro liegt, und macht 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Diese Zahl hat sich über die letzten 25 Jahre mehr als verdoppelt. Wo soll das noch hinführen?

Dennoch denken viele Menschen, dass die erhaltenen Gesundheitsleistungen günstig seien, weil es kaum Zuzahlungen oder Selbstbeteiligungen wie in anderen europäischen Gesundheitssystemen gibt. Dazu muss man aber in Betracht ziehen, dass viele europäische Länder, darunter Großbritannien, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, hauptsächlich steuerfinanziert sind, während die Deutschen zusätzlich zu den Steuern hohe Krankenversicherungsbeiträge bezahlen. Auch wenn der Arbeitgeber in der Regel die Hälfte übernimmt, tragen die gesetzlich Versicherten, und das sind etwa 90 Prozent der Deutschen, die Kosten augenblicklich im Schnitt mit 14,6 Prozent des Bruttolohns. Hinzu kommt ein Beitrag von monatlich rund 0,9 Prozent, der sich jährlich ändert. Sie bezahlen für ihre Gesundheit also zusätzlich zu den monatlichen Steuern. Für einen allein lebenden Angestellten kann das durchaus mit 700 Euro pro Monat zu Buche schlagen. Wohlgemerkt für eine Person!

Unser Gesundheitssystem ist krank