Über das Buch

Zwölf Menschen begegnen sich, während ihr Leben in Turbulenzen gerät. Auf dem unruhigen Flug nach Madrid kommt eine Frau, die ihren krebskranken Sohn in London besucht hat, mit ihrem Sitznachbarn ins Gespräch. Der Geschäftsmann aus dem Senegal weiß noch nicht, dass ihn in Dakar die Nachricht eines tragischen Unfalls erwartet, bei dem ein Frachtpilot Zeuge wurde. In diesem höchst spannendem Roman berührt jedes Leben das nächste, ob es der indische Golfer ist, der seinen senilen Vater bestiehlt, oder die Tochter einer ausgewanderten Deutschen, die einen syrischen Flüchtling heiraten will. Mit magischer Schwerelosigkeit nimmt uns der international gefeierte Autor David Szalay mit auf eine Reise rund um die Welt.

David Szalay

Turbulenzen

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Carl Hanser Verlag

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Inhalt

1 LGW — MAD

2 MAD — DSS

3 DSS — GRU

4 GRU — YYZ

5 YYZ — SEA

6 SEA — HKG

7 HKG — SGN

8 SGN — BKK — DEL

9 DEL — COK

10 COK — DOH

11 DOH — BUD

12 BUD — LGW

Für T & B

1

LGW — MAD

Auf der Heimfahrt vom Krankenhaus wollte sie wissen, ob sie noch bleiben solle. »Nein, ich schaffe das«, sagte er.

Am späteren Nachmittag fragte sie ein zweites Mal. »Ich schaffe das«, sagte er. »Du kehrst besser heim. Ich schaue mal nach Flügen.«

»Ganz sicher, Jamie?«

»Ja, ganz sicher. Ich schaue nach Flügen«, wiederholte er und hatte den Laptop schon aufgeklappt.

Sie stand am Fenster und sah bedrückt auf die Straße. Der Anblick der villenartigen Doppelhäuser Notting Hills und der geduckten kahlen Bäume war ihr inzwischen vertraut. Sie wohnte seit über einem Monat in der Wohnung ihres Sohnes, der währenddessen im Krankenhaus gelegen hatte. Im Januar war Prostatakrebs bei ihm diagnostiziert worden — deshalb die wochenlange Bestrahlungstherapie im St Mary’s. Der Arzt hatte gesagt, man werde nun einen Monat warten und dann CTs machen, um nachzuprüfen, ob die Behandlung erfolgreich gewesen sei.

»Morgen Nachmittag gegen fünf geht einer«, sagte er. »Iberia. Von Gatwick nach Barajas. Passt das?«

Insgeheim hatte sie erwogen, mit Zug und Fähre zu reisen. Sie ermahnte sich selbst, nicht albern zu sein. Sie wusste, dass ihre Flugangst albern war. Die Statistiken waren eindeutig. »Ja«, sagte sie. »Das passt mir.«

Sie drehte sich wieder zum Wohnzimmer um. Jamie saß auf dem Sofa, seitwärts über den Laptop gebeugt, und tippte. Er war mit Anfang zwanzig hier eingezogen, hatte sein ganzes Erwachsenendasein in dieser Wohnung verbracht. Sein Widerwille gegen eine Veränderung kam ihr fast neurotisch vor. Unfassbar, dass er jetzt in seinen Fünfzigern war. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie ihn jung vor Augen.

»Okay«, sagte er, indem er den Laptop zuklappte, »das ist erledigt«, und ihr kam der Gedanke, wie einfach das heutzutage war — ein Flugticket kaufen, reisen.

Er bestand darauf, sie zum Flughafen zu begleiten. Sie nahmen den Gatwick Express, sprachen wenig und trennten sich vor der Sicherheitskontrolle. Ihr war untypischerweise zum Heulen. Kurz darauf, sie stand in der mehrfach gewundenen Schlange, drehte sie sich in der Hoffnung um, er wäre noch da. Er war schon weg, und sie hatte die prophetische Ahnung, dass er an der Krankheit stürbe, innerhalb eines Jahres tot wäre. Als sie mit der Plastikwanne kämpfte und die Schuhe auszog, zitterte sie immer noch.

Nach der Kontrolle steuerte sie in der Departure Lounge sofort ein Pseudo-Pub an, um eine Bloody Mary zu trinken.

Sie trank eine zweite Bloody Mary, und als ihr Flug ausgerufen wurde, ging sie zum Gate, ein weiter Weg, wie sich zeigte. Als sie eintraf, standen dort schon viele Menschen — mehr als in das Flugzeug passten, wie sie dachte. Vielleicht würde man Passagiere suchen, die freiwillig zurückblieben. Aber das geschah nicht. Sie hatte einen Fensterplatz. Sie blickte auf den grauen, im Abendsonnenschein liegenden Asphalt. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung.

Dann blieb es stehen.

Es schien in einer Schlange zu stehen — das gedämpfte Dröhnen der Jets ertönte in regelmäßigem Takt an einem Ort, der ihrem Blick entzogen war.

Die Monotonie des Ganzen hatte sie fast betäubt, als der Pilot zu hören war, er murmelte: »Prepare for take-off.«

Trotz des Wodkas wurde sie von einer Angst erfasst, die sich, ähnlich wie der Motorenlärm, in mehreren klar voneinander geschiedenen Phasen steigerte — zuerst die eine Art von Lärm und dann, als sie in den Sitz gepresst wurde und die Welt am Fenster vorbeizog, eine andere. An diesem Punkt bezweifelte sie immer, dass das Flugzeug tatsächlich abhöbe. Sie ertappte sich stets bei dem Gedanken: Das müsste doch längst passiert sein; irgendwas ist schiefgelaufen. Sie war also jedes Mal erstaunt, erlebte jedes Mal eine tiefe Überraschung, wenn sich die Nase des Flugzeugs hob, wenn es sich vom Erdboden löste — obwohl sie eher das Gefühl hatte, dass der Erdboden unter ihr wegsackte.

Sussex lag jetzt tief unter ihr, ein Flickenteppich aus Feldern in der bläulichen Dämmerung.

Dann ertönte ein leises »Ping«.

Schwer zu sagen, ob dieses »Ping« beruhigend war oder nicht. Sie fragte sich, was es zu bedeuten hatte. Vielleicht, dass alles normal verlief, aber es war vermutlich bedeutungslos.

Sie sah sich um, als wäre sie überrascht, noch am Leben zu sein, und nahm zum ersten Mal ihren Nachbarn wahr.

Er saß fast reglos da, die Hände locker im Schoß verschränkt, und starrte geradeaus. Vielleicht versuchte auch er, die Angst zu zügeln.

Irgendwann würde sie ihn bitten müssen, sie durchzulassen.

Sobald das Zeichen des Sicherheitsgurts erlosch, drehte sie sich zu ihm um und sagte: »Entschuldigen Sie, darf ich bitte?« Sie hob extra die Stimme — erstaunlich, wie laut man sprechen musste, um bei diesem Lärm gehört zu werden.

Wie erwartet, sah sie der Mann zunächst verständnislos an. »Darf ich bitte?«, wiederholte sie.

Er zwängte sich umständlich an dem freien Sitz vorbei, um sie durchzulassen. Als sie folgte, fragte sie sich, warum er sich nicht auf den Sitz am Gang gesetzt hatte, denn der war nicht belegt — so hätten sie beide mehr Raum.

Als er sich dann wieder in die Mitte setzte, ärgerte sie sich über seinen Mangel an Sinn und Verstand. Sie erwog sogar, ihm vorzuschlagen, den Sitz zu wechseln, und ihr fiel auch eine Formulierung ein: Vielleicht wäre es für uns beide bequemer, wenn Sie dort säßen? Sie hätte das normalerweise mit einem munteren Lächeln gesagt, befürchtete aber, der Mann könnte ein Vorurteil darin wittern — ein rassistisches Vorurteil —, und das reichte, um ihren Mund zu verschließen. In Situationen wie diesen war sie gehemmt, obwohl sie sich nicht für eine Rassistin hielt, aber konnte sie das so genau wissen? Sie erwog, den Mann anzusprechen. Er war offenbar kein Engländer. Als sie einander im Gang ausgewichen waren, hatte sie gemeint, einen französischen Akzent aus seinen Worten herauszuhören.

Außerdem schien er mit sich selbst beschäftigt zu sein, war in Gedanken versunken.

Im Gang näherte sich ein Servierwagen mit leisen, klimpernden Geräuschen, winzige Kratzer im Grundton des Dröhnens.

Sie rührte die Bloody Mary mit einem Plastikstab um. Die Motoren schnurrten in trägen, rhythmischen Wellen. Allmählich wirkte der Wodka. Das dichte Gewebe der Welt begann sich zu lockern. Sie hatte ihren Geist jetzt besser unter Kontrolle — stellte sich Begebenheiten vor, die ihr fast wirklich vorkamen. Sie hatte den Tod ihres Sohnes in einer Abfolge so realer Bilder vor Augen, dass ihr die Tränen kamen. Sie drehte sich zum Fenster um, sah in dem dunklen Kunststoff aber nur ihr Spiegelbild, in tiefe Schatten gehüllt wie eine Landschaft bei Sonnenuntergang. Sie malte sich aus, nach seinem Tod die Wohnung auszuräumen — alles aus den Regalen zu nehmen, all jene Dinge, an denen er jahrzehntelang festgehalten hatte. In diesem Augenblick erbebte das Flugzeug zum ersten Mal. Eine leichte Turbulenz, doch sie fand es entsetzlich, dass die Illusion der Sicherheit auf einmal dahin war, dass sie sich nicht mehr einbilden konnte, ihr könne nichts passieren. Dank des Wodkas konnte sie die erste Erschütterung recht gut verdrängen. Die nächste ließ sich nicht mehr so leicht ignorieren, und die übernächste war so heftig, dass ihrem Nachbarn die Cola in den Schoß flog.

Und dann ertönte plötzlich wieder die Stimme des Piloten, er sagte in furchtbar ernstem Ton: »Cabin crew, take your seats.«

Nachdem es ausgestanden war, schlug sie in der unheimlichen, prekären Stille die Augen auf und begegnete dem Blick ihres Nachbarn. Auch er wirkte mitgenommen. Nun, da sich die schlimmste Angst gelegt hatte, widmet er sich seiner mit Cola bekleckerten Anzughose. Sie reichte ihm Papiertücher, und er bedankte sich, und dann tauschten sie sich darüber aus, warum sie im Flugzeug saßen. Der Mann erzählte, er sei beruflich in London gewesen. Sie erkundigte sich nach seinem Job. Ihr war unwohl. Die innere Erschütterung, die auf den Schrecken gefolgt war, schlug in eine Benommenheit um, die sie noch furchtbarer fand. Sie hatte das Gefühl, als bewegte sich ringsumher alles, ein unangenehmes Gefühl, und die Miene des Mannes verriet ihr, dass sie elend aussah. Ihr war schlecht. Der Mann fragte etwas, das sie nicht verstand. Er wiederholte die Worte mehrmals, stand dann auf und ging.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag ihr Kopf auf dem Platz des Mannes, und sie sah zu einer dunkelhaarigen Frau auf. Diese stellte ihr mit starkem spanischem Akzent Fragen auf Englisch. »Sind Sie Diabetikerin?«, lautete eine, und sie rang sich ein Nicken ab, als sie verstand. Dann sagte die Frau: »Ich bin Ärztin. Ich möchte Ihnen helfen.«

»Danke«, sagte sie, wusste aber nicht, ob ihre Stimme trug, und das war ihr letzter bewusster Gedanke, bevor sie sich auf den Boden übergab. Der Lärm war ohrenbetäubend laut, und als ihr Kopf über dem Teppich hing, glaubte sie, das Flugzeug würde tatsächlich abstürzen. Dann begriff sie, dass es landete.

Sie waren in einem Rettungswagen, sie und die spanische Ärztin. Die Sanitäter hatten ihr etwas injiziert, und sie fühlte sich stabiler. Sie hatte nach Hause fahren wollen, nicht ins Krankenhaus, schien aber keine Wahl zu haben. Während der Rettungswagen mit heulender Sirene durch die Straßen raste, erzählte sie der Ärztin von den Turbulenzen, vergessend, dass sie auch im Flugzeug gesessen hatte. »So viel Angst hatte ich noch nie«, sagte sie. »Ich habe die Augen geschlossen und mir befohlen, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass ich gleich sterbe. Ich saß mit geschlossenen Augen da und dachte: Wenn ich sterben muss, dann lass Jamie leben. Bitte lass ihn leben. Bitte, bitte lass ihn leben.« Sie verstummte kurz, dann sagte sie: »Das ist eigentlich nicht meine Art. Ich weiß wirklich nicht, an wen ich die Worte gerichtet habe.«

»Vielleicht an Gott?«, schlug die Ärztin lächelnd vor.

»Ich glaube nicht an Gott. Das ist es ja.« Sie merkte, dass sie absurd offen und gesprächig war, und fragte sich flüchtig, was die Sanitäter ihr verabreicht hatten, während sie ergänzte: »Das Verrückte ist, dass ich auf einmal so zuversichtlich bin. Ich habe nur noch Schwarz gesehen, und jetzt habe ich das Gefühl, dass alles gut wird, dass Jamie die Sache übersteht.«

Die Ärztin lächelte wieder. Der Rettungswagen hatte angehalten. »Da sind wir«, sagte sie.

2

MAD — DSS

Cheikh merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn Mohammed mochte ihn nicht ansehen. »Was ist denn, Mohammed?«, fragte er. Mohammed schwieg. Er hatte mit mehreren anderen Fahrern vor dem Ankunftsterminal gewartet. Dort war es ruhig — es war spät, nach Mitternacht, der von Madrid kommende Flug war einer der letzten gewesen. Mohammed griff stumm nach dem Koffer. Als sie in die warme Nacht traten, erzählte Cheikh von den Turbulenzen, die die Maschine auf dem Flug von London nach Madrid geschüttelt hatten, und musste lachen, als er schilderte, wie er sich mit Cola bekleckert und dann versucht hatte, seine Hose in einer Toilette des Madrider Flughafens unter den Handtrockner zu halten. Mohammed schien nicht zuzuhören. Er verstaute den Koffer im schwarzen Lexus und öffnete seinem Arbeitgeber anschließend die Tür, alles ohne ein Wort.

»Oh, Mohammed«, sagte Cheikh, als er im zerknitterten Anzug auf den Rücksitz sank. »Ich bin hundemüde.«

Es war stets bizarr, den Tag in einer Stadt wie London zu beginnen und ihn dann hier, daheim in Dakar, zu beschließen. Das Hotelzimmer mit Blick auf die kahlen Bäume des Parks, in dem er morgens erwacht war, kam ihm jetzt vor wie ein Traum, genauso der Anblick der Leute in dunklen Anzügen, die über die regennassen Asphaltwege geeilt waren, manche mit Regenschirm. Dass die gleichen Leute morgen früh auf den gleichen Wegen unterwegs wären, ohne dass er sie sähe, war ein befremdlicher Gedanke.

»Die Biskaya«, sagte er und versuchte, im Rückspiegel Mohammeds Blick aufzufangen, »ist berüchtigt für ihre Turbulenzen. Hast du das gewusst, Mohammed?«

Mohammed schüttelte den Kopf, ohne den Blick zu erwidern.

»Das wusstest du nicht?«

Cheikh wartete darauf, dass Mohammed etwas sagte.

Er blieb stumm.

Sie gerieten in dichten Verkehr und kamen langsamer voran.

»Das wusstest du nicht?«, wiederholte Cheikh, und Mohammed schwieg wieder.

Sonderbar, denn Mohammed war eigentlich ein aufmerksamer und interessierter Zuhörer. Das beklommene Schweigen passte nicht zu ihm.

»Was ist los, Mohammed?«, fragte Cheikh.