Oma Grace ist Zoes engste Freundin, ihre Verbündete, die weiß, dass Zoe das größte Herz der Welt hat. Oma ist immer auf ihrer Seite, auch wenn Zoe ihre Eltern mal wieder wütend anzischt, weil sie anderer Meinung ist. Und erst recht, wenn Zoe sich gegen ihre Kusine zur Wehr setzen muss oder in der Schule gemobbt wird. Aber Oma Grace vergisst manchmal Dinge und es wird immer schlimmer. Als Zoes Eltern beschließen, Grace zukünftig in einem Pflegeheim für Alzheimer-Patienten unterzubringen, beschließt Zoe, mit ihrer geliebten Oma durchzubrennen. Gemeinsam wollen sie nach Zoes verschollenem Onkel suchen. Es wird eine abenteuerliche Reise mit einigen Schwierigkeiten, aber auch eine voller Überraschungen und unverhoffter Freude.
Allan Stratton
Zoe, Grace und der Weg zurück nach Hause
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Carl Hanser Verlag
Für Charlie Sheppard
Mom läuft wie eine Verrückte herum und versucht, unser Wohnzimmer normal aussehen zu lassen. Viel Glück. Du kannst Landschaftsbilder von Walmart über die Haarschnitt-Plakate an der Wand hängen, bunte Nylontücher über die Trockenhauben legen und Tabletts mit Salzbrezeln auf die Waschbecken stellen — ein Friseursalon bleibt trotzdem ein Friseursalon.
Von Montag bis Samstag halten Moms »Mädels« — »Nenn sie bloß nicht Kundinnen!« — in der Essecke ein Schwätzchen oder schauen auf den Stühlen unter den Trockenhauben fern. Aber heute ist Sonntag, und wir bereiten uns auf unseren Besuch vor, was bedeutet, dass ich Dad helfe, den Flokati aus seinem Versicherungsbüro im Keller nach oben zu schleppen. Für gewöhnlich wohnt das Ding dort unten, weil »keiner Lust hat, den ganzen Tag Haare von einem Flokati zu saugen«.
Der Teppich stinkt schlimmer als mein Schuldirektor unter den Armen. Ich bin mir nicht sicher, ob das von dem feuchten Betonboden im Keller kommt oder von Dads Schweißfüßen. Wenn er Panikattacken hat, zieht er immer die Schuhe aus. Aber Gott sei Dank riecht es hier oben vor allem nach Moms Shampoos und Haarsprays und dem Pfefferminz-Fußpeeling.
Während ich den Teppich ausrolle, holt Dad das Klappbett aus der Abstellkammer, damit wir so tun können, als hätten wir ein Sofa. Mom steht mittlerweile vor den Waschbeckenspiegeln und kämpft mit ihrer Perücke. Sie ist zu beschäftigt, um irgendetwas mitzukriegen. Mom leidet unter Alopezie — dieser Krankheit, bei der einem die Haare ausfallen. Dass ausgerechnet sie als Friseurin so etwas bekommt, würde mein Englischlehrer Ironie des Schicksals nennen. Ich nenne es Karma.
»Sitzt meine Perücke richtig?«
»Ja. Man merkt kaum, dass es eine Perücke ist.«
»Aber man merkt es?«
»Nur, wenn man hinsieht.«
Mom starrt mich an. »Zoe!«
»Wann holen wir Granny Grace ab?«
»Granny wird nicht dabei sein«, sagt Dad, der gerade das Klappbett hereinschiebt.
»Aber sie kommt doch sonntags immer zum Abendessen«, entgegne ich.
Er quetscht das Bett zwischen die Trockenhauben. »Der heutige Abend ist etwas Besonderes. Wir wollen nicht, dass sie Onkel Chad und Tante Jess verärgert.«
»Wegen denen ist Granny hier nicht willkommen?«
Mom zieht am hinteren Teil ihrer Perücke. »Sie würde bestimmt wieder in ihrem schmutzigen karierten Kleid und der unförmigen schwarzen Strickjacke auftauchen. Gott weiß, wie oft ich schon versucht habe, diese Teile zu waschen.«
»Wenn du damit sagen willst, dass Granny stinkt: Nein, das tut sie nicht. Alte Leute schwitzen nicht.«
»Es ist nicht nur das«, sagt Dad. »Wer weiß, was sie wieder von sich geben würde.«
»Die Wahrheit. Granny Grace sagt, was sie denkt.«
»Das Problem ist, dass sie eben nicht denkt.« Dad fächelt sich mit einem Modemagazin Luft unter die Achselhöhlen.
»Genug von deiner Granny«, sagt Mom. »Zieh dich an.«
»Bin ich nackt, oder was?«
»Deine Cousine wird jedenfalls nicht in einer Jeans hier aufkreuzen. Hättest du das angelassen, was du in der Kirche getragen hast, wäre alles gut.«
»Abgesehen davon, dass ich im Lauf des Tages gestorben wäre. Warum muss ich überhaupt noch mit zur Kirche? Ich bin schon auf der Highschool!«
»Trödel nicht«, sagt Dad.
»›Trödeln‹? Ich bin keine drei mehr.«
»Dann benimm dich auch nicht so.«
Quatsch du nur. Ich stapfe in mein Zimmer.
»Was ist denn neuerdings mit ihr los?«, fragt er Mom, als ob ich taub wäre. »Ist das nur eine Phase?«
Ich drehe den Kopf nach hinten. »Ja. Mein ganzes Leben ist eine Phase«, schreie ich noch, bevor ich die Zimmertür zuknalle. Im letzten Sommer haben sie mir das Handy abgenommen und mir Hausarrest gegeben — für etwas, das ich gar nicht getan hatte. Jetzt geht es dauernd um Granny. Und da fragen sie sich, weshalb ich wütend bin?
Der Abend heute wird grausam. Wenn Granny hier wäre, würde uns nicht langweilig werden. Wir würden uns unterm Tisch mit den Füßen anstupsen und versuchen, uns das Lachen zu verkneifen. Wie soll ich das Essen nur ohne sie durchstehen? Ich rufe bei ihr an. »Hi, Granny.«
»Spatz! Gerade habe ich an dich gedacht.«
»Ich hab auch an dich gedacht. Tut mir leid, dass wir uns heute Abend nicht sehen werden.«
»Wolltest du mich sehen?«
»Ja, allerdings geht es heute nicht — wegen Mom und Dad. Morgen komme ich aber bei dir vorbei, wie immer.«
»Gut. Ich halte dir einen Platz auf der Schaukelbank frei.«
Ich lächle. »Hab dich lieb, Granny.«
»Ich hab dich auch lieb, Spatz.«
Wir legen auf, und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich glücklich. Dann öffne ich meinen Wandschrank. Seufz.
Ich schreibe eine SMS an meine Cousine Madi: »Was hast du an?«
Sie antwortet nicht. Vermutlich simst sie gerade mit einer Million Freundinnen wegen der coolen Party gestern, zu der ich nicht eingeladen war. Ich hoffe, ihr fallen die Daumen ab.
Und so ziehe ich also dieses schreckliche »Junge Dame«-Outfit an, das Mom mir gekauft hat. Ich sehe darin aus wie ein zu groß geratenes Kindergartenkind. Zumindest ist es keins von Madis Kleidern. In der Schule wissen alle, dass ich ihre abgelegten Sachen trage, auch weil sie das Ganze mit Sprüchen wie »War ich tatsächlich mal so flach vorne?« kommentiert.
Madi ist meine beste Freundin, abgesehen davon, dass ich sie hasse. Als wir klein waren, entschied sie, mit welchem Spielzeug ich spielen durfte. Mittlerweile entscheidet sie, mit wem ich befreundet sein darf — es sind ausschließlich die coolen Kids an ihrem Tisch in der Schulkantine. Und mit denen bin ich nicht einmal befreundet. Sie laden mich nicht zu ihren Partys ein, und ich muss gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn Madi abfällig über meine gebrauchten Klamotten oder über mein Zuhause redet.
Welcher Loser lässt sich so etwas gefallen? Ein Loser wie ich natürlich. Ich bin meinen Eltern so ähnlich, dass ich kotzen könnte. Denn nur um das klarzustellen: Dass Onkel Chad und Tante Jess zu uns kommen, ist in Wahrheit gar nichts Besonderes — es ist etwas Unglaubliches. In etwa so unglaublich, wie Marsianer im Burger King zu sehen. Meine Eltern tun so, als läge es daran, dass Onkel Chad zu sehr in sein Traktorunternehmen eingespannt ist und Tante Jess mit ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen zu tun hat. Doch der wahre Grund, weshalb sie uns nie besuchen kommen, ist der, dass wir in diesem eingeschossigen Alu-Leichtbaukasten an der Schnellstraße wohnen und sie in einer Gegend, in der zweistöckige Backsteinhäuser stehen und die Straßen Bürgersteige haben.
Letztlich ist es doch so, dass Tante Jess noch nicht einmal zu Mom kommt, um sich frisieren zu lassen. Sie und Madi gehen lieber zu Sylvie drüben in Woodstock, weil »Sylvie keine Friseurin, sondern Stylistin« ist. Außerdem wurde Sylvie in Montreal geboren und hat dieses gewisse Je ne sais quoi — was auch schon alles ist, was Tante Jess auf Französisch herausbringt.
Ruft Mom nach mir?
»Zoe, zum letzten Mal, komm her zu uns. Sie sind schon fast auf der Treppe.«
Ich positioniere mich an der Tür, fünf Schritte von meinen Eltern entfernt. Dad hat sich seinen Anzug mit Fischgrätmuster angezogen. Den trägt er normalerweise nur, wenn man ihn gebeten hat, aus der Bibel vorzulesen. Er klapst sich mit der Hand auf die Jacketttasche, in der er Großvaters Glücksuhr aufbewahrt.
Die Mackenzies klopfen. Mom zählt bis zehn, bevor sie die Tür öffnet, damit unser Besuch nicht spitzkriegt, dass sie hinterm Fenster gelauert hat.
»Jess, Chad, Madi!«, ruft Mom, als stünden überraschend liebe Gäste vor der Tür.
Ganz offensichtlich ist die Botschaft, dass der heutige Abend etwas Besonderes ist, nicht bei den Mackenzies angekommen. Sie tragen das, was Tante Jess gerne ihre »Freizeitgarderobe« nennt. Oh yeah, und Madi hat eine Jeans an. Eine Designer-Jeans zwar, aber Jeans ist Jeans. Sie hat mein »Junge Dame«-Outfit kaum wahrgenommen, da verraten mir ihre Augen schon, was sie denkt: »Bitte sag mir, dass ich das da nie getragen habe. Niemals.«
Mom umarmt Tante Jess, als wäre sie ihre verloren geglaubte Schwester; und ein bisschen entspricht das auch der Wahrheit.
»Du hättest dir nicht solche Umstände machen sollen«, sagt Tante Jess mit Blick auf die mit Nylontüchern verhängten Trockenhauben.
»Ach, das sind doch keine Umstände«, entgegnet Mom, als ob Tante Jess es ernst gemeint hätte.
»Oh, und was hast du mit deinen Haaren angestellt?«
Mom wird rot. »Nur ein bisschen dies und das.«
Onkel Chad überreicht Dad eine Flasche Wein. »Ich hab hier eine Kleinigkeit fürs Essen.« Womit er meint für ihr Essen, denn in meiner Familie trinkt niemand Alkohol. Außer mir: Seit ich angeblich vor zwei Jahren eine halb volle Flasche Bier in Madis Haus geschmuggelt habe, bin ich für die Familie einer von diesen Aggro-Alkis. Ein halb volles Bier — das Madi mir gegeben hatte!
Nichtsdestotrotz nimmt Dad die Weinflasche in Empfang, denn hey, das hier sind schließlich Onkel Chad und Tante Jess. Mom bittet sie, auf dem Klappbett Platz zu nehmen, und sie und Dad setzen sich auf die Frisierstühle vor den Waschbecken. In solchen Augenblicken haben Madi und ich uns früher immer nach draußen verdrückt, aber seit wir auf der Highschool sind, will sie nicht mehr vor unserem Haus gesehen werden (was mir nicht anders geht). Stattdessen gehen wir nun in mein Zimmer.
Madi schließt die Tür hinter sich und wirft mir einen Blick zu. »Ihr kriegt das Geld nicht.«
Ich verziehe das Gesicht. Bitte was? Geld?
Madi seufzt, als sei ich extrem schwer von Begriff. »Deine Eltern wollen die alte Tiptop-Schneiderei kaufen? Damit deine Mutter ihren Salon in die Main Street verlegen kann? Darum sind wir hier. Das weißt du doch wohl, oder?«
»Klar.« Absolut gar nichts weiß ich.
Madi verdreht die Augen bis zum Anschlag. Ich wünsche mir, dass ihre Pupillen genau da bleiben, wo sie jetzt sind. »Du bist eine sooo schlechte Lügnerin, Zoe. Also schön: Deine Mom hat meine Mom angerufen und uns zum Abendessen eingeladen, woraufhin meine Mom gefragt hat: ›Wollen wir nicht ins Restaurant gehen?‹ Denn mal ernsthaft: Hier essen? Aber deine Mom hat abgelehnt und gemeint, es müsste im privaten Rahmen stattfinden, weil sie und dein Dad meinen Dad um einen Kredit bitten wollen. Und meine Mutter war in dem Moment einfach zu perplex, um zu antworten: ›Willst du mich verarschen?‹«
Ich hör wohl nicht richtig.
»Wie auch immer«, fährt Madi fort. »Mein Dad jedenfalls hat zu meiner Mom gesagt: ›Wenn deine dämliche Schwester und ihr trotteliger Mann keinen Kredit von der Bank bekommen, sollen sie seine Mutter ins Altersheim stecken, in deren Haus einziehen und den ganzen Schrott dort für bares Geld verkaufen.‹«
»Dein Vater will, dass wir Granny Grace nach Greenview Haven bringen?«, frage ich ungläubig.
»Na, die ist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Mom sagt, sie ist dement.«
»Das hat Tante Jess in deiner Gegenwart gesagt?«
»Es ist doch kein Geheimnis. Deine Großmutter sucht nach Müll!«
»Das tut sie nicht. Sie sammelt Dinge, die andere Menschen nicht mehr haben wollen.«
»Ja. Und so was nennt sich Müll.«
»Hör auf! Es ist alles in Ordnung mit ihr.«
»Dir kommt das vielleicht so vor. Aber frag mal unsere Mütter.«
»Die halten sich bloß für was Besseres.«
»Tja, und meine ist es tatsächlich.«
»Nur, weil sie Onkel Chad geheiratet hat. Im Gegensatz zu deiner Mom ist Granny etwas ganz Besonderes.«
»Oh ja, besonders sonderlich. Mom schämt sich so. ›Weshalb hat Carrie bloß in diese Vogel-Familie eingeheiratet?‹, sagt sie immer. ›Wenn sie damals nur nicht in Schwierigkeiten gesteckt hätte …‹ Siehst du, das ist nämlich der Unterschied zwischen uns beiden: Meine Eltern wollten mich.«
»Meine wollten mich auch.«
»Das ist vielleicht die Version, die sie dir erzählen — aber meine Mom weiß, wie es wirklich war.« Madi checkt ihre Fingernägel. »Wo wir gerade von ›ungewollt‹ sprechen: Ich würde es dir ja gerne auf nette Art beibringen, aber das funktioniert nicht, also sag ich es dir ganz direkt: Sprich in der Schule nicht mehr mit mir, setz dich mittags nicht an meinen Tisch und lass dich nicht an meinem Spind blicken. Okay?«
Mir wird schlecht. »Madi?«
»Sorry, wenn das jetzt hart klingt, aber alle halten dich für eine Witzfigur. Vor allem Katie und Caitlyn.«
»Katie und Caitlyn?«, sage ich. »Um die hat sich keiner geschert, bis sie Titten bekommen haben.«
»Entschuldige mal!«, entgegnet Madi empört. »Sie bewundern mich. Und du hältst dich ab heute von mir fern.«
»Aber wir kennen uns schon, seit wir ganz klein sind.«
»Erinnere mich nicht daran.«
Weshalb bettle ich hier rum? Aufhören. Aufhören! »Und was ist mit letztem Sommer, als dein Cousin Danny aus Saskatoon zu Besuch war? Wer hat eure Kondome versteckt? Und das Haschisch? Ich. In dem alten Karton von meinem Barbie-Traumhaus, genau da, wo du wolltest. Und als Mom und Dad es herausgefunden haben — wer ist da angeschrien worden? Wer hat Hausarrest bekommen und zwei Monate Handyverbot? Und ich hab dich trotzdem nicht verraten. Nie.«
»Und wenn schon. Hättest du es getan, hätte ich einfach behauptet, du lügst. Dann hättest du noch mehr Ärger bekommen, das weißt du doch selbst. Erinnerst du dich: damals, als wir zum Spielen verabredet waren und ich so getan habe, als hättest du mich gehauen? Deine Mom hat dich zur Strafe in der Ecke sitzen lassen. Das war echt zu komisch.«
»Du bist so unfair.«
»Es ist, wie es ist.«
»Das sagst du nur, weil dein Dad es immer sagt und du dich dadurch erwachsen fühlst. Aber weißt du was: Für mich hört sich das nur an, als ob du eine riesengroße Heuchlerin bist, die glaubt, dass ich ihr in den Hintern krieche.«
»Du bist so unreif.« Madi lächelt auf Tante-Jess-Art. »Und apropos unreif — Ricky Saunders spielt in einer völlig anderen Liga als du, also: Träum weiter!«
»Wer sagt, dass ich auf Ricky Saunders stehe?«
»Ach, komm schon. Die Art, wie du ihn ansiehst, wenn er drüben am Sportlertisch sitzt, und wie du sabberst, wenn er mit Dylan an meinem Spind vorbeikommt … Du weißt doch, dass Dylan mein fester Freund ist …?! Das ist so peinlich. Echt ekelhaft.« Sie setzt sich auf mein Bett, zieht ihr Handy aus der Tasche und beginnt, eine SMS zu schreiben.
»Runter von meinem Bett, du scheinheilige Kuh.«
Die Heuchlerin kichert. Anscheinend hat gerade eine ihrer Freundinnen etwas irrsinnig Komisches geschrieben. Ja, hab ich ihr gesagt, simst sie zurück.
»Du glaubst wohl, du kannst dich in meinem eigenen Zimmer über mich lustig machen?« Ich versuche, mir das Handy zu schnappen.
»Lass mich in Ruhe oder ich schreie«, sagt Madi.
»Es gibt Abendessen«, ruft Mom vom anderen Ende des Flurs.
Wir quetschen uns um den Esstisch. Onkel Chad hat einen Bierbauch, und Tante Jess ist »gut gepolstert«, weshalb ich kaum meine Ellbogen bewegen kann. Dad spricht das Tischgebet. Ich will schreien.
In der nächsten halben Stunde strahlt Madis Heiligenschein so hell, dass ich mich wundere, warum wir überhaupt noch eine Lampe am Tisch brauchen. Kerzengerade sitzt sie da, so, wie es eigentlich von mir erwartet wird. Sie sagt Bitte und Danke und isst sogar ihr Gemüse. In der Zwischenzeit machen Onkel Chad und Tante Jess Smalltalk, es geht um seinen Traktorenhandel und darum, dass sie den Ausschuss für das diesjährige Herbstfest leitet.
Mom und Dad sagen gar nichts, stattdessen nicken sie nur wie Zombies auf Antidepressiva. Ich wette, Onkel Chad hat mit ihnen schon über den Kredit gesprochen. Nach dem Dessert schiebt er seinen Stuhl zurück und tätschelt seinen Bauch, als wäre er ein Baby. »Das Essen war klasse, Carrie.«
»Ja, es war wunderbar, ganz wunderbar.« Tante Jess sieht auf ihre Uhr. »Ach herrje, schon so spät.«
Es ist nicht einmal acht, aber wer will schon bei einem Begräbnis abhängen? Wir stürzen zur Tür. Tante Jess sagt: »Wir müssen das wirklich öfter machen.« Mom und Dad sagen: »Unbedingt.« Und alle drei sehen so aus, als wären sie sehr darum bemüht, nicht auf den Boden zu kotzen.
Onkel Chad drückt Dads Schulter. »Es ist, wie es ist.«
»Ach, wir werden schon einen Weg finden«, sagt Dad mit einem dümmlichen Schulterzucken. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, nicht wahr?«
Onkel Chad sieht ihn an, als ob Dad im Sterben liegt. »So heißt es zumindest.«
Die Haustür ist zu.
Mom holt ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel. Dad zieht die Schuhe aus.
Ich stemme die Hände in die Hüften. »Wann wolltet ihr mir davon erzählen?«
Mom wischt sich mit dem Taschentuch über die Augen. »Wovon?«
»Von der Tiptop-Schneiderei … Dass der Friseursalon umziehen soll. Ich meine — Hallo!? Bin ich nicht auch ein Teil dieser Familie?«
»Hast du uns belauscht?«, fragt Mom.
»Wenn du’s genau wissen willst: Madi hat es mir erzählt. Und sie hat gesagt, dass Granny dement, Dad ein Trottel ist und du dämlich bist.«
»Wie kannst du es wagen, so mit uns zu reden?«
»Ich zitiere nur.«
»Erzähl keine Märchen über deine Cousine«, sagt Dad. »Madi ist sehr gut erzogen.«
»Ja, teuflisch gut.«
»Geh auf dein Zimmer.«
»Erst, wenn ihr mir sagt, was mit Granny geschehen soll.«
Dad presst seine Zehen in den Boden. »Mit Granny wird gar nichts geschehen.«
»Das will ich euch auch geraten haben.« Nach außen hin bin ich richtig taff, während ich auf mein Zimmer gehe — aber tatsächlich kann ich kaum atmen.
Am nächsten Tag in der Schule segelt die Heuchler-Queen mit ihren allerbesten Freundinnen Katie und Caitlyn — alias »die Scheinheiligen« — an mir vorbei. Ich stelle mir vor, wie sie von einem Psychopathen mit Kettensäge durch den Wald gejagt werden. Ricky Saunders begegnet mir. Wir reden nicht miteinander, weil er in der elften Klasse und cool ist, aber er lächelt mich immer an. Bisher habe ich mir eingebildet, das hätte was zu bedeuten. Heute frage ich mich, ob er weiß, dass ich auf ihn stehe, und er sich darüber lustig macht. Ich schaue weg.
In der Mittagspause blicke ich schnurgeradeaus, als ich durch die Schulkantine laufe. Ich komme am Tisch der Heuchlerinnen vorbei. Sie kichern. Ich tue so, als ob ich es nicht bemerke.
Starrt jeder in der Schulkantine zu mir rüber? Was geht in ihren Köpfen vor? Worüber reden sie?
Ich bemühe mich um einen möglichst normalen Gang und erreiche endlich einen Tisch im hinteren Teil des Speisesaals. Emily Watkins popelt in der Nase und klebt das gute Stück unter ihren Stuhl. »Was machst du denn hier?«, fragt sie mich, als hätte ich mich verlaufen.
»Ich esse. Zumindest hatte ich das vor.«
Gegenüber von mir sitzt Eric, der Drogen-Dealer der Schule, und spielt Schlagzeug auf seinem Rucksack. Er ist immer so stoned, dass er eine Fangfrage wittert, sobald ein Lehrer ihn nur beim Namen nennt.
Einige Schüler lachen. Lachen sie über mich? Mein Brustkorb und meine Finger kribbeln. Ich stehe auf, recke das Kinn vor, als ob mir alles egal ist, schmeiße mein Mittagessen in den Mülleimer und verstecke mich in der Mädchentoilette. Es läutet. Ich kann nicht in den Unterricht. Ich renne nach draußen, schnappe mir mein Fahrrad und rase zu Granny.
Granny lebt in einem stattlichen, zweigeschossigen Haus aus gelben Backsteinen, das einen sogenannten Widow’s Walk hat — eine mit einem Geländer umgebene Plattform auf dem Dach — sowie eine rundum laufende Veranda. Es steht auf einem 1000 Quadratmeter großen Grundstück. Mom sagt, das Haus sieht aus, als ob Landstreicher darin hausen, aber es ist schließlich nicht Grannys Schuld, dass Dad so ungeschickt ist. Als er das Dach ausbessern wollte, passten die Schindeln nicht aufeinander, und er hat alles mit Teer besudelt. Als er die Fensterrahmen gestrichen hat, spritzte Farbe über die Außenmauern. Außerdem behauptet er, der Garten sei zu groß, um jede Woche gemäht und gewässert zu werden, weshalb es dort — was für eine Überraschung! — einfach beschissen aussieht.
Wenn meine Eltern Fachleute dafür engagiert hätten, wäre es nie so weit gekommen. Es ist nur so, dass wir »nun mal kein Geld haben«. Auch gut, aber dann beschwert euch nicht. Zumindest lebt Granny nicht in einem geschmacklosen Friseursalon. Ihr Zuhause hat sogar einen Namen: das Vogelhaus. Und das nicht wegen der ganzen Vogelbäder und Futterhäuschen dort, sondern weil es bereits seit den 1920er-Jahren im Besitz der Familie Vogel ist. Als Dad elf war, sind Granny und Grandpa dorthin zurückgekehrt, um sich um meinen Urgroßvater zu kümmern.
Ich lasse mein Fahrrad hinter dem Tor und laufe zur Veranda. Granny sitzt in ihrem karierten Kleid und der dicken schwarzen Strickjacke auf der Schaukelbank vorm Haus. Die Klamotten sind so etwas wie ihre Uniform. Und zu dieser Uniform gehört auch ihre rote Lederhandtasche, die sie stets bei sich trägt, damit sie nicht vergisst, wo sie sie hingelegt hat. In der Handtasche befinden sich ihre Brieftasche, der Autoschlüssel, Papiertaschentücher, einige Überraschungen und ein Handy, das meine Eltern ihr für den Fall besorgt haben, dass sie stürzt und nicht mehr alleine hochkommt.
Grannys Augen leuchten: »Zoe! Wie heißt das Zauberwort?«
Ich bin zu alt für so was, aber es macht sie glücklich. »Rhabarber.«
»Kuchen!« Granny umarmt mich. »Wollen wir reingehen?«
»Wieso?«, frage ich zurück. »Bist du nicht gern hier draußen?«
Granny kann nichts dafür, aber im Haus stinkt es nach alten Leuten. An guten Tagen ist die Luft da drin schwer und süßlich wie das Innere einer Keksdose. Tja, und dann gibt es die Tage, an denen Granny vergessen hat, die Mäuse aus den Mausefallen zu entfernen. Dad stellt die Fallen wieder neu auf, wenn er ihr einmal in der Woche die Post vom Postamt vorbeibringt. Meist hat sie so gut wie gar keine Post.
Wir rücken auf der Schaukelbank zusammen. Als ich klein war, bin ich immer unter die Bank geklettert und habe die Ohrwürmer gezählt, die sich in den Schraubenlöchern verkrochen hatten.
»Und«, sagt Granny, »was hat mein kleiner Spatz mir heute zu erzählen?«
Eigentlich wollte ich mir irgendetwas Lustiges ausdenken, aber ehe ich mich’s versehe, liegt mein Kopf auf ihrer Schulter, und ich erzähle ihr, dass Madi mich von ihrem Tisch in der Schulkantine verbannt hat. Okay, zugegeben — dort habe ich vielleicht wirklich nicht hingehört. Aber dass ich bei diesen Leuten gesessen habe, ist das einzig halbwegs Coole an mir gewesen.
»Du brauchst Madi nicht«, sagt Granny. »Such dir andere Freunde.«
»Wer würde mich schon wollen.«
»Jeder, der etwas Grips im Kopf hat.«
»Warum?«, schniefe ich.
»Weil du ein guter Mensch bist, weil du freundlich bist und man sich auf dich verlassen kann. Und weil du das größte Herz der Welt hast.«
»Das sagst du doch nur so.«
»Du willst doch nicht behaupten, dass deine Granny eine Lügnerin ist? Welche alte Frau hat schon eine Enkelin, die jeden Tag vorbeikommt! Vergiss diese Madi-Kröte einfach. Die Mackenzies haben sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Willst du wissen, weshalb ihr Großonkel nicht im offenen Sarg aufgebahrt wurde? Er ist auf den Eisenbahnschienen gestorben und endete in fünf Teilen. Seine Füße haben sie nie gefunden.«
Ich habe diese Geschichte schon tausend Mal gehört, aber sie bringt mich immer wieder zum Lachen. »Was denkst du, was mit denen passiert ist?«
»Ich glaube, ein Rudel Hunde hat sich darüber hergemacht und ist an Fußpilzvergiftung gestorben.«
»Oder Onkel Chad hat sie sich als Andenken in die Gefriertruhe gelegt.«
»Oder deine Tante Jess hat Suppe davon gekocht.«
»Oder jemand hat Madi damit in den Hintern getreten.«
Granny klopft sich auf die Oberschenkel. »Das gefällt mir.«
Granny und ich schauen in den Garten. Ich liebe all die Vogelbäder, besonders wenn es geregnet hat und die Wanderdrosseln und Häher darin herumplanschen. Ich liebe auch die Kinderwagen und meinen alten Spielzeuglaster — früher hat Granny Blumen darin gezogen, es sind also eher Pflanzkübel. Dann gibt es da noch die Schaufensterpuppe mit Duschhaube, die in der Schubkarre liegt — wir nennen sie Fred —, und die Windmühle vom alten Minigolf-Platz. Alles hier hat eine Geschichte, selbst die Vogelnester entlang der Veranda.
Heute entdecke ich etwas Neues. »Von wem stammt das Dreirad da drüben?«
Granny runzelt die Stirn. »Ein echtes Mysterium. Wie lautet Ihr Verdacht, Kommissarin Vogel?«
»Irgendein Kind hat es stehen lassen?«
»Dann frage ich mich, wo das Kind hin ist.«
»Vielleicht wurde es von einem Eiscreme-Laster entführt«, fantasiere ich drauflos. »Lass uns mal zur Eiskalten Erfrischung fahren — ich wette, wir finden das Kind in einem ihrer Karamelleisbecher.«
Granny lacht, tätschelt mir das Knie und wir steigen in ihren alten Toyota Corolla. Die Fahrertür schließt nicht richtig, weil sie eingedellt ist. Granny zieht ein Hundehalsband durch die offen stehenden Fenster der Vorder- und der Hintertür und schnallt es fest, damit die Tür während der Fahrt nicht aufspringt.
»Was ist mit deiner Autotür passiert, Granny?«
»Irgendein Kerl muss mir auf dem Parkplatz rückwärts reingefahren sein.«
Wir fahren los und ignorieren die klappernde Tür. Granny ist umsichtig. Sie fährt langsam, und wenn wir in die Nähe geparkter Autos kommen, lenkt sie den Wagen Richtung Straßenmitte. Hinter uns hupt jemand. Granny fährt an den Straßenrand und lässt ihn vorbei. »Diese Leute heutzutage.« Ihre Lippen bewegen sich, als ob sie im Kopf eine Einkaufsliste durchgeht.
»Granny?«
Sie macht eine abwehrende Handbewegung. »Ich muss nachdenken … Wir fahren doch irgendwohin.«
»Ja. Zur Eisdiele.«
»Natürlich fahren wir zur Eisdiele.« Sie trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad.
»Zwei Straßen weiter und dann links?«, sage ich.
»Das weiß ich. Deine Granny ist nur ein bisschen zerstreut, das ist alles.«
Als wir die Eiskalte Erfrischung erreichen, bleibt Granny im Auto, während ich unsere Eisbecher hole. Sie sieht mir beim Essen zu, dann drückt sie mir plötzlich ihren Becher in die Hand. »Lass uns heimfahren.«
»Wir sind doch gerade erst gekommen.«
»Heutzutage kann man niemandem mehr trauen. Sobald du weg bist, räumen sie dir das Haus leer.«
Als wir ihre Einfahrt erreichen, fällt mir etwas ein: Wenn ich nach Hause komme und Mom und Dad noch nicht da sind, stelle ich mir auch oft vor, dass sich ein Mörder im Wandschrank versteckt. »Soll ich mit dir das Haus durchsuchen, um sicherzugehen, dass niemand sich reingeschlichen hat?«, frage ich sie.
»Gott segne dich.«
Grannys Haus ist genauso unordentlich wie mein Zimmer, nur dass hier wertlose Antiquitäten herumstehen und überall seltsame Dinge liegen, die sie partout behalten will. Sie kontrolliert das Erdgeschoss, während ich nach oben gehe und mir als Erstes ihr Schlafzimmer vornehme. Ich will nicht fies sein, aber sie sollte wirklich mal die Bettlaken waschen. Andererseits: Wenn du nicht einmal im Alter so leben kannst, wie du willst, wann dann?
Zum Spaß schaue ich in ihre Klapp- und Wandschränke, und ich sehe auch unter dem Bett nach, wo sie ihre Sammelmappen und die Familien-Fotoalben aufbewahrt. Auch ihr Nachttisch steht voller gerahmter Bilder — es sind Fotos von mir, von Mom und Dad, und von Onkel Teddy, als er noch klein war.
Onkel Teddy war zwölf Jahre älter als Dad. Er starb, noch bevor Granny und Grandpa hierhergezogen sind, um sich um Urgroßvater zu kümmern. Einmal habe ich von Granny wissen wollen, was passiert ist. Sie ist in Tränen ausgebrochen und aus dem Zimmer gegangen. Dad sagt, ich soll nicht danach fragen, es muss also etwas Schreckliches geschehen sein. Vielleicht hat Onkel Teddy sich umgebracht? Wie auch immer, ich glaube, er war ihr Lieblingskind, denn der Staub auf seinem Fotorahmen ist vom vielen Hochnehmen ganz verschmiert.
»Hier unten ist alles in Ordnung«, ruft Granny.
»Hier oben ist auch alles in Ordnung«, rufe ich zurück.
Draußen lehnt Granny sich gegen das Verandageländer. »Wenn du alt bist, wollen sie dich loswerden.«
»Ich will das nicht, Granny.«
»Ich weiß, Spatz.« Sie nimmt mich in die Arme. Ich wünschte, sie würde mich nie wieder loslassen.
Frühstück. Mom fuchtelt mit ihrer Gabel vor Dad herum. »Jess und Chad haben recht. Denk nur mal an die Kartonstapel neben dem Ofen. Das Haus deiner Mutter könnte jederzeit in Flammen aufgehen. Und dann würden die Leute sagen, dass wir etwas hätten unternehmen sollen.«
»So schlimm ist es nicht«, sagt Dad. Seit Sonntag hat er keine Schuhe mehr getragen.
»Ach nein? Diese kleinen Blasen an deinen Fußsohlen sind wieder da.«
»Hallo!?«, fahre ich dazwischen. »Ich esse noch.«
Mom ignoriert mich. »Wann hast du das letzte Mal ihren Kühlschrank durchforstet?«
»Carrie, so was kann ich nicht machen.«
»Warum nicht? Ich wette, die Hälfte ihrer Nahrungsmittel ist verdorben. Was, wenn sie sich eine Lebensmittelvergiftung holt?«
Dad schließt die Augen, als wolle er beten. »Ich seh ihn mir vor dem Mittagessen mal an.«
»Nein. Ich werde ihn mir ansehen. Du sagst zwar, du wirst nach dem Rechten sehen, aber du tust es nicht. Und wo wir gerade von Lebensmitteln sprechen: Heather Watkins hat sie beim Einkaufen gesehen — im Morgenmantel.«
Das ist eine Lüge. Granny trägt nie etwas anderes als ihr kariertes Kleid.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe, Tim? Heather Watkins hat deine Mutter im Morgenmantel im Laden gesehen!« Mom bemerkt meinen Todesblick. »Was?!«, fährt sie mich an.
»Nichts.«
»Erzähl keinen Unsinn. Spuck’s aus!«
»Mrs Watkins sollte sich um ihren eigenen Mist kümmern und, anstatt schlecht über Granny zu reden, lieber Emily beibringen, dass man seinen Rotz nicht unter die Stühle der Schulkantine schmiert.«
»Das reicht jetzt, Fräulein.«
»Du wolltest es doch wissen.«
Mom trägt das scheppernde Geschirr zur Spüle. »Die Wahrheit ist: Seit dein Grandpa tot ist, ist deine Granny neben der Spur. Ach, vergiss es. Verschließ ruhig weiter die Augen vor dem Offensichtlichen.«
»Offensichtlich ist nur, dass du Granny wegsperren lassen willst, damit du dir ihr Haus krallen und deinen blöden Salon in die Main Street verlegen kannst.«
Mom, die Hände voller Gabeln und Messer, wirbelt herum.
»Los, komm schon«, rufe ich. »Stich mich ab, na los!«
»Zoe. Carrie«, sagt Dad.
Mom beginnt zu weinen. Ich schnappe mir meinen Rucksack. Während ich in mein Zimmer stampfe, höre ich Dad sagen: »Carrie, sie hat es nicht so gemeint.« Aber das habe ich.
Das mit der Schule hat sich für heute erledigt. Wenn Mom zu Granny geht, muss ich mir vorher ihren Kühlschrank ansehen. Ich lasse mein Rad vor der Veranda fallen, klopfe an die Haustür und gehe hinein. »Granny?«
Keine Antwort. Normalerweise ist sie um diese Zeit schon aufgestanden. Manchmal hält sie auch ein Nickerchen auf der Couch im Wohnzimmer, auf der Grandpa die Nächte verbracht hat, als er nicht mehr die Treppe hochkam. Aber heute ist sie weder dort zu finden noch in einem der anderen großen Zimmer im Erdgeschoss. Ich sehe in der Küche nach. Woah — was für ein bestialischer Gestank!
Ich gehe die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen. Granny liegt vollständig angezogen auf ihrem Bett. Ich nähere mich ihr vorsichtig, damit ich nicht auf eine der Schachteln trete oder mir den Zeh an dem Gartenzwerg stoße.
»Granny«, flüstere ich. »Ich bin’s, Zoe.«
Sie richtet sich kerzengerade auf. »Zoe, was machst du hier? Du solltest längst schlafen.«
»Es ist neun Uhr morgens.«
»Gute Güte.« Granny blinzelt. »Ich muss mal für kleine Mädchen.« Sie steuert das Badezimmer an. »Du kannst mir Gesellschaft leisten, wenn du willst.«
»Schon gut«, sage ich. »Weshalb machst du die Tür nicht zu?«
»Ich muss sehen, wo ich bin.«
Ich laufe runter in die Küche, um dem Verwesungsgeruch auf den Grund zu gehen und um die Kartons neben dem Herd zu verstecken. Die Mausefallen sind leer. Ich spritze Spülmittel in den Abfluss, um das zu überdecken, was auch immer da unten verrottet, aber der Gestank kommt nicht von dort. Ich schaue unter dem Papier nach, das gegenüber dem Spülbecken lagert. Unter einigen Flyern entdecke ich einen vertrockneten Hamburger, aber auch der ist es nicht. Ich stopfe alles in einen großen grünen Müllsack und öffne den Kühlschrank.
Granny kommt in die Küche. »Suchst du irgendwas?«
»Nein. Granny, weshalb wirfst du nicht einfach mal was weg?«
»Essen wegwerfen?« Ihr Blick fällt auf die Anrichte neben dem Herd. Sie kneift die Augen zusammen. »Da lagen doch Kartons?«
»Ich hab sie in die Schublade gepackt.«
»Warum?«
»Mom kommt vorbei. Sie mag es nicht, wenn irgendetwas in der Nähe der Herdplatten liegt.«
»Das ist ihr Problem. Wenn man Dinge in Schubladen legt, verschwinden sie.«
»Granny, bevor wir uns Gedanken über die Kartons machen, würde ich gerne ein Kommissarin-Vogel-Kühlschrank-Spiel mit dir spielen. Hast du Lust?«
»Worum geht’s da?«
»Das Spiel heißt Was war das?. Wir zeigen auf Dinge im Kühlschrank. Wenn der andere nicht herausfinden kann, was es einmal war, wird es rausgeholt und weggeschmissen. Diese Plastiktüte mit grünem Brei zum Beispiel. Was war das?«
»Keine Ahnung.«
»Also fliegt sie raus.« Die Tüte landet im Müllsack.
»Warte. Vielleicht brauche ich das noch.«
»Wofür?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Also schön. Ich leg’s wieder zurück, wenn Mom gegangen ist. Jetzt bist du dran. Such du dir was aus, von dem du nicht weißt, was es ist.«
Granny deutet auf einen Suppentopf, aus dem graue Fusseln wachsen.
Ich schneide eine Grimasse. »Moms Gesicht, wenn sie das sehen würde.«
Granny lacht und schneidet eine noch wildere Grimasse. Und so geht es hin und her, bis wir vor Lachen brüllen. Im Handumdrehen landen geheimnisvolle Fleischteile in aufgeblähten Beuteln, alte Eier und klumpige Milch im Müllsack. Doch als wir uns bis zu den abgelaufenen Ketchupflaschen vorgearbeitet haben, hängt der Gestank immer noch in der Luft.