Linda Scott liefert mit Das weibliche Kapital die wissenschaftlichen Grundlagen für den nächsten entscheidenden Schritt: die globale wirtschaftliche Ermächtigung der Frauen. Anhand eigener Forschung, empirisch belegt und mit zahlreichen Fallbeispielen zeigt Scott, dass die Gleichstellung der Geschlechter kein Luxusprojekt des reichen Westens ist, sondern der aussichtsreichste Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Rigoros, nachdrücklich und klar skizziert sie die Grundlagen eines fairen ökonomischen Systems – und schließt mit dem Blick auf die Rolle der Frauen eine Lücke, die die großen Entwürfe von Thomas Piketty und Jeffrey Sachs in den vergangen Jahren offengelassen haben.

 

 

 

LINDA SCOTT

 

DAS WEIBLICHE KAPITAL

 

Aus dem Englischen von Stephanie Singh

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Jim, Catherine und Paul

 

 

THE TRUTH WILL SET YOU FREE, BUT FIRST IT WILL PISS YOU OFF.

Gloria Steinem

 

 

INHALT

 

  1  Die XX-Ökonomie

  2  Die Wahrheit hinter Big Data

  3  Das Regiment der Zwänge

  4  Schlechte Ausreden und unentschuldbares Verhalten

  5  Geld oder Liebe?

  6  Flucht aus der Küche

  7  Mütter werden abgestraft

  8  Chauvinismus

  9  Das Scheitern der Lohngleichheit

10  Das 80-Prozent-Weihnachten

11  Geld als Schikane

12  Owning it – Beharrlichkeit

13  Den Weltmarkt im Blick

14  Der Weg zur Rettung

Nachwort: Die nächsten Schritte

 

Dank

Anmerkungen

Auswahlbibliografie

Register 409

 

 

1

DIE XX-ÖKONOMIE

 

Das Auto raste durch die unbeleuchteten Straßen von Accra. Mein Herz klopfte. Der Fahrer erklärte wütend und zugleich besorgt, was links und rechts zu sehen war.

Hunderte obdachloser jugendlicher Mädchen bewegten sich wie Schatten durch die Nacht. Manche wuschen sich halb nackt in großen Eimern, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Andere lagen übereinander und schliefen. »Sie flüchten aus den Dörfern«, sagte der Fahrer. »Die Eltern wollen sie an fremde Männer verkaufen und verheiraten. Tagsüber müssen sie wie die Tiere schuften und sich nachts den Männern sexuell unterwerfen. Im Glauben, alldem entkommen zu können, flüchten sie in die Stadt.«

Viele der Mädchen waren schwanger oder hielten Babys in den Armen. Vergewaltigung sei in den Dörfern Alltag, erzählte der Fahrer, aber hier auf der Straße sei es auch nicht sicherer. »Eine ganze Generation ist auf der Straße aufgewachsen«, fuhr er gequält fort. »Sie werden nie ein Leben in einer Familie oder Gemeinschaft kennenlernen. Wie sollen sie lernen, richtig und falsch zu unterscheiden? Was wird aus Ghana wenn diese Kinder erwachsen werden?«

Viele Mädchen arbeiteten auf den Märkten als Trägerinnen. Sie balancierten die Einkäufe der Kunden in Körben auf ihren Köpfen. Manche rutschten in die Prostitution ab. Andere waren in einem jahrtausendealten Albtraum gefangen – dem Sklavenhandel, der noch immer die riesigen Kriminalitätsnetzwerke der Welt bedient.

Die Lobby meines Hotels fühlte sich an wie ein anderes Universum. Ich recherchiere schon lange in den Armenvierteln dieser Welt, aber nie zuvor hatte mich etwas so sehr verstört wie das, was ich in der ersten Nacht in Ghana sah.

Ich war am Nachmittag angekommen, um ein vielversprechendes Projekt zu beginnen: Mein Team von der Universität Oxford wollte eine Maßnahme erproben, die jungen Mädchen vom Land helfen sollte, länger zur Schule zu gehen. Die Methode war einfach, aber einen Versuch wert – wir stellten kostenlose Binden zur Verfügung. Zum Zeitpunkt unserer Studie war bereits bekannt, dass arme Länder große wirtschaftliche Vorteile hatten, wenn Mädchen die Mittelschule absolvierten. Mädchen mit besserer Bildung erhöhen Qualität und Menge der Arbeitskräfte, wodurch das Wirtschaftswachstum steigt. Mädchen, die ihre Ausbildung abschließen, bekommen auch später ihr erstes Kind und haben somit insgesamt weniger Kinder, wodurch das oft enorme Bevölkerungswachstum verlangsamt wird. Gut ausgebildete Frauen erziehen ihre Kinder zudem anders: Sie begleiten sie eher bis zum Schulabschluss, ernähren sie gut und stellen eine gute gesundheitliche Versorgung sicher. Diese Mütter durchbrechen den Teufelskreis der Armut, der viele Länder Afrikas fest im Griff hat.

Doch an jenem Abend bekam ich das Gegenteil zu sehen, nämlich was geschieht, wenn die Kräfte, die die Mädchen aus den Schulen drängen, sie gänzlich in die Flucht schlagen. Die geflohenen Mädchen geraten in eine Abwärtsspirale, die in der gesamten Region für ganze Generationen Leid und Gefahr bedeutet. Ich wusste, dass diese destruktiven Dynamiken auf der ganzen Welt am Werk sind und auch in anderen Ländern zu Gewalt und Destabilisierung führen – denn Menschenhandel ist eine der gewinnbringendsten Sparten des internationalen Verbrechens. Doch was ich in dieser Nacht erlebte, veränderte meinen Blick auf meine Arbeit für immer und verlieh mir ein Gefühl der Dringlichkeit, das ich nie wieder verloren habe.

Im Zentrum dieses Buchs steht die überraschende Wahrheit, dass die wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen einige der teuersten Übel der Welt beheben und zugleich Wohlstand für alle aufbauen würde. Auf den folgenden Seiten werde ich Geschichten erzählen, die jener aus den Schatten von Accra ähneln. Ich werde über persönliche Erfahrungen aus afrikanischen Dörfern und asiatischen Slums berichten, aber auch aus Londoner Vorstandszimmern und amerikanischen Universitäten. Ich werde zeigen, wie Frauen an all diesen Orten wirtschaftlich ausgeschlossen werden und welche negativen Folgen das hat.

Seit 2005 kann diese Realität zunehmend durch eine zuvor nicht verfügbare Menge an Daten belegt werden: Die weibliche Bevölkerung aller Länder ist durch ein besonderes Muster ökonomischer Benachteiligung geprägt, und diese Benachteiligung wird überall mit den strukturell gleichen Mechanismen aufrechterhalten. Die eingeschränkte wirtschaftliche Inklusion von Frauen geht allerorten über Arbeit und Lohn hinaus und umfasst auch Besitztümer, Kapital, Kredite und Märkte. Zu diesen ökonomischen Hindernissen kommen kulturelle Beschränkungen, die Frauen gemeinhin auferlegt werden, etwa geringere Mobilität, die vulnerable Position, die sie im Zusammenhang mit der Fortpflanzung innehaben, oder die allgegenwärtige Bedrohung durch Gewalt. Zusammengenommen entsteht so eine spezifisch weibliche Schattenwirtschaft, die ich als »XX-Ökonomie« oder das »weibliche Kapital« bezeichne.

Entschiede sich die Weltgemeinschaft, die wirtschaftlichen Hindernisse für Frauen abzubauen, könnten wir in eine nie dagewesene Ära des Friedens und Wohlstands eintreten. Im vergangenen Jahrzehnt ist eine kleine Bewegung entstanden, die von dem Ziel getrieben wird, eben diese Hindernisse abzuschaffen. An dieser Bewegung zur wirtschaftlichen Stärkung und vor allem auch Selbstermächtigung von Frauen beteiligen sich zwar noch nicht viele, doch sie hat bereits eine globale Reichweite und kooperiert mit einer wachsenden Zahl der mächtigsten Institutionen der Welt: Staatsregierungen, internationalen Behörden, großen Stiftungen, weltweit tätigen Wohltätigkeitsorganisationen, religiösen Organisationen und multinationalen Konzernen.

Ich selbst war von Anfang an Teil der Bewegung. Zunächst habe ich in meiner Forschung Möglichkeiten erprobt, Frauen zu finanzieller Autonomie zu verhelfen. Anfangs war ich in ländlichen Gebieten tätig, vor allem in Afrika. Ich habe sowohl eigene Ideen als auch Vorschläge anderer getestet und in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Umständen direkt mit den betroffenen Frauen zusammengearbeitet. Zudem habe ich eine jährliche Konferenz von Spezialisten auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Stärkung von Frauen unter dem Titel »Power Shift Forum for Women in the World Economy« ausgerichtet, auf der Experten sich über ihre Erkenntnisse austauschen konnten. Seit 2015 konzentriere ich mich auf andere Dinge. Ich forsche zwar immer noch in entlegenen Gebieten, aber inzwischen reise ich auch in die Hauptstädte dieser Welt, um mich auch an politischen Gesprächen auf höchster Ebene zu beteiligen. Dabei geht es um die Frage, wie weltweite Reformen implementiert werden können.

Dabei mache ich oft bestürzende Beobachtungen. Die nationalen Finanzminister, die die Weltwirtschaft lenken, unterminieren die Fürsprecherinnen der Frauenrechte, indem sie sie wie einen weiblichen Hilfstrupp behandeln. Die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und die G20 veranstalten zwar eine »Frauenwoche«, gründen eine »Arbeitsgruppe« oder bauen sogar einen Satz über Frauen in ihre Communiqués ein, aber sie weigern sich, in ihren Planungen die besonderen Bedürfnisse der Hälfte ihrer Bevölkerung zu berücksichtigen. Sie weigern sich, zu erfahren, wie die Ausgrenzung von Frauen ihrer Wirtschaft schadet oder wie die Einbeziehung von Frauen in ihre nationalen Budgets das ersehnte Wachstum bringen könnte. Aufgrund von Vorurteilen übergehen sie die XX-Ökonomie.

Deshalb brauchen wir euch. Ich hoffe, mit diesem Buch viele Unterstützer und Unterstützerinnen zu finden, die sich der wirtschaftlichen Einbeziehung der Frauen verschreiben. Ich schlage konkrete, vernünftige und wirksame Maßnahmen vor. Ich rufe euch auf, euch dieser Bewegung anzuschließen, unabhängig von sexueller Orientierung, Geschlecht, Nationalität oder Herkunft. Unabhängig davon, ob ihr in einer Fabrik, einem Büro, auf einem Bauernhof, zu Hause oder online arbeitet. Jedes Mal, wenn ich in diesem Buch schreibe, »wir sollten dieses tun« oder »wir können jenes daraus schließen«, meine ich uns alle.

Warum sehen wir diese Schattenwirtschaft erst jetzt so deutlich? Bislang gab es zwei Schwierigkeiten: fehlende Daten und eine engstirnige Vorstellung davon, wie unsere Tauschsysteme funktionieren. Wirtschaft wird hauptsächlich am Austausch von Geld bemessen, aber ein Großteil der Beiträge von Frauen zur Wirtschaft ist unbezahlt – etwa in Form von Hausarbeit oder landwirtschaftlicher Arbeit. Außerdem wird normalerweise der Haushalt als kleinste Dateneinheit benutzt, doch Einkünfte von Frauen werden typischerweise einem männlichen Haushaltsvorstand zugerechnet. Allein aus diesen beiden Gründen berücksichtigen unsere Beschreibungssysteme die wirtschaftliche Aktivität von Frauen meist nicht.

Zusätzlich verschlimmert wurde die Situation lange deshalb, weil Institutionen – von Universitäten bis hin zu Regierungen – Daten meist nicht nach Geschlecht erhoben und analysiert haben und es aus armen Ländern zudem ohnehin kaum Informationen gibt – erst recht keine nach Geschlecht differenzierten. Während der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren waren nur sehr wenige Frauen im akademischen Betrieb tätig, sodass keine wissenschaftliche Disziplin ihnen besondere Beachtung schenkte. In den letzten 50 Jahren stiegen sowohl Anzahl als auch Bekanntheitsgrad der Wissenschaftlerinnen. Eine Disziplin nach der anderen – Geschichte, Anthropologie, Psychologie, Soziobiologie, Archäologie, Medizin und Biowissenschaften, um nur einige zu nennen – veränderte sich durch eine einfache Frage: Was ist mit den Frauen? Einige Gebiete sind allerdings bis heute von diesem intellektuellen Wandel unberührt geblieben. Die Wirtschaftswissenschaft ist eines davon. Das Fehlen vollständiger geschlechterdifferenzierter Daten hat dazu geführt, dass die wirtschaftliche Lage von Frauen hier verglichen mit dort oder heute verglichen mit früher nicht systematisch untersucht werden konnte.

Das größte Hindernis bestand jedoch im tiefen Misstrauen männlicher Ökonomen gegenüber Frauen. Es hielt sie davon ab, die Frage überhaupt aufzugreifen. Die für die Volkswirtschaften Verantwortlichen werden in den Promotionsprogrammen der Ökonomie-Fakultäten ausgebildet, wo sie lernen, Wirtschaft als eine interesselose Maschine zu betrachten, die in luftiger Höhe operiert und von Problemen wie dem Ausschluss eines Geschlechts nicht berührt ist. Und an den Universitäten lernen Ökonomen auch, Frauen als Gruppe abzutun und geringzuschätzen.

Die Animosität männlicher Ökonomen gegenüber Frauen war jüngst Thema einiger Artikel in der New York Times, der Washington Post, der Financial Times und im Economist. Die Aufmerksamkeit der Presse wurde durch eine Studie ausgelöst, die in schockierenden Einzelheiten aufzeigte, wie sich Wirtschaftswissenschaftler privat über Frauen äußern. Eine Million Posts eines Online-Diskussionsforums, in dem Ökonomiestudenten und Fakultätsmitarbeiter Klatsch und Tratsch über Kollegen austauschen, wurden im Hinblick darauf untersucht, ob die Wirtschaftswissenschaftler sich in einem solchen Umfeld unterschiedlich über Männer und Frauen äußerten. Die in Bezug auf eine Kollegin am häufigsten verwendeten Wörter waren heißer, lesbisch, Sexismus, Titten, anal, heiraten, Feminazi, Nutte, heiß, Vagina, Brüste, schwanger, Schwangerschaft, süß, heiraten, Gebühr, wunderschön, geil, verliebt, schön, Sekretär(in), abservieren, einkaufen, Date, Nonprofit, Absichten, sexy, verabredet und Prostituierte. Die in Verbindung mit Männern auftauchenden Begriffe waren Mathematiker, Preisgestaltung, Berater, Lehrbuch, motiviert, Wharton, Ziele, Nobelpreis und Philosoph. Ökonominnen berichteten den Journalisten, diese Wörterliste zeige, wie ältere Wirtschaftswissenschaftler Jüngeren beibrächten, Frauen in Verruf zu bringen.1

Die Ökonomie ist weltweit das am stärksten von Männern dominierte Fach an den Universitäten – noch mehr als naturwissenschaftliche und technische Fächer, Ingenieurwissenschaften und Mathematik. Aufgrund der wachsenden Anzahl von Frauen in den Naturwissenschaften werden in manchen Ländern, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten, über die Hälfte der Promotionen von Frauen abgelegt. In den Wirtschaftswissenschaften beträgt diese Quote weniger als ein Drittel.2 Frauen sind dort seit Jahrzehnten nicht stärker vertreten, weil die Ökonomen das Geschlechterverhältnis innerhalb ihres Fachs nicht als Problem sehen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shelly Lundberg erklärt: »In den meisten Disziplinen wird unterstellt, dass Diversität per se etwas Gutes sei. Die Mainstream-Ökonomie bestreitet das tendenziell. Sie glaubt nur allzu gern, dass fehlende Diversität schlicht ein marktwirtschaftliches Ergebnis sei, dass also die geringe Anzahl von Frauen in ihrem Fach darin gründe, dass Frauen sich entweder nicht besonders dafür interessierten oder nicht produktiv seien.«3

Die an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten herrschende Kultur legt allerdings eine andere Erklärung nahe. 48 Prozent der Professorinnen für Ökonomie berichten, im Beruf aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden zu sein. Es herrscht eine allgegenwärtige Atmosphäre des Mobbings. Viele der befragten Professorinnen führen in diesem Zusammenhang die von neu eingestellten Beschäftigten sowie Doktoranden und Doktorandinnen verlangten Forschungspräsentationen an. Diese Vorträge würden von den männlichen Fakultätsmitgliedern stets mit feindseliger Kritik überzogen, mit dem Ziel, »den oder die Vortragende/n fertigzumachen«. 46 Prozent der Teilnehmerinnen wissenschaftlicher Konferenzen sagen, sie würden aus Angst vor unfairer Behandlung keine Fragen beantworten oder Ideen vortragen. 2018 gestand die American Economic Association ein, die Frauenfeindlichkeit in ihrer Disziplin führe zu »inakzeptablem Verhalten, [das] fortbesteht, weil es schweigend hingenommen wird«. Laut Leah Boustan, Ökonomin an der Universität Princeton, betrachten die Professoren ihrer Disziplin Frauen als ihnen untergeordnete Schicht, deren Aufstieg innerhalb des Fachs ihren eigenen Status gefährde. Also schüchtern sie die Frauen ein, um sie zu vertreiben und das eigene Prestige zu wahren.4

Die Ökonomie als Disziplin hat einen übergroßen Einfluss auf die Gesellschaft, weil sie Regierungen berät. »Wenn das Fach alles durch die Brille systematischer geschlechtsbezogener Benachteiligung betrachtet«, so der Economist, »hat das Auswirkungen für die Politik und andere Sektoren, die sich auf der Suche nach Analysen, Rat oder sogar Weisheit an diese Disziplin wenden.«5 Die Benachteiligung realer Frauen durch Wirtschaftsexperten führt zu einer negativen Haltung gegenüber dem Thema weiblicher Ökonomie, sodass die XX-Ökonomie sich nur schwer einen Platz auf der globalen Agenda erkämpfen kann.

Auch die Philosophie hinter dieser kompromisslosen Haltung stellt ein großes Hindernis dar. Ihr erstes Prinzip lautet, die Wirtschaft basiere auf dem kollektiven Handeln rationaler, informierter Individuen, die unabhängige, freie Entscheidungen im eigenen Interesse träfen. Eine solche Wirtschaft führe, sich selbst überlassen, ungeachtet aller scheinbaren Ungleichheit für alle Beteiligten zu optimalen Ergebnissen – als sei sie durch Adam Smiths berühmte »unsichtbare Hand« gesteuert. Wer von dieser ökonomischen Fingerfertigkeit nicht profitiere, habe entweder ein inhärentes Defizit oder sich gewissermaßen selbst für die eigene Benachteiligung entschieden.

Die XX-Ökonomie kämpft mit Bedingungen, die diesen Grundannahmen so fundamental entgegenstehen, dass sie die gesamte Philosophie widerlegen. Wie wir in diesem Buch sehen werden, haben Frauen stark eingeschränkte Optionen, erhalten nicht alle wichtigen Informationen und werden bestraft, sobald sie auch nur ansatzweise Eigeninteresse durchblicken lassen. In ihren ökonomischen Entscheidungen können Frauen selten unabhängig handeln – und sind im Gegenteil oft zu irrationalen, also nicht den eigenen Interessen entsprechenden Handlungen gezwungen. Frauen kämpfen mit wirtschaftlicher Ausgrenzung, nicht nur mit ungleichen wirtschaftlichen Ergebnissen. Die Wissenschaft verfügt nicht einmal über die Werkzeuge, um diesen Umstand begrifflich zu fassen. Die vorherrschende Philosophie bietet als einzige Erklärung, dass (a) Frauen im Hinblick auf jedwede Art wirtschaftlichen Engagements biologisch unterlegen seien oder (b) sich freiwillig in jedem Land und jedem Wirtschaftssektor in eine unterprivilegierte Position begeben hätten. Diese Vorstellung ist ebenso fanatisch wie unplausibel. Bereits an ihren Wurzeln kann die Wirtschaftsphilosophie des Weltmarkts die Hälfte der Weltbevölkerung nicht einmal adressieren. Eine Ökonomin warnte in der Financial Times: »Hauptsächlich männliche Wirtschaftsforschung und Politikberatung sind genauso schlecht wie die Praxis, Medikamente vorrangig an Männern zu testen. Die Ergebnisse werden mindestens der Hälfte der Bevölkerung nicht gerecht.«6

Aufgrund dieser Engstirnigkeit der akademischen Welt wurde die Datenanalyse, aus der sich das Profil der XX-Ökonomie ergibt, nicht von Universitäten durchgeführt, sondern von mit Geschlechterfragen befassten Gruppen innerhalb großer internationaler Behörden. Anfang dieses Jahrhunderts begannen große Institutionen wie das UN-Entwicklungsprogramm und das Weltwirtschaftsforum, Informationen über den Status von Frauen (Bildung, Beschäftigung, Führungspositionen, Gesundheit, Rechte) mit den Leistungsdaten von Volkswirtschaften zu vergleichen.7 Angesichts der gängigen Vorstellungen von Wirtschaft waren sie überrascht, eine deutliche Korrelation zwischen Geschlechtergleichberechtigung und nationaler Wirtschaftsleistung festzustellen (Abb. 1). In Ländern mit hoher Gleichberechtigung der Geschlechter waren auch Einkommen und Lebensstandard hoch; in Ländern mit geringer Gleichberechtigung herrschten Armut und Konflikte.

 

 

 

 

ABB. 1  Jeder Punkt in den beiden Grafiken steht für die Rate wirtschaftlicher Möglichkeit von Frauen in einem Land in Beziehung zum Wachstumspotenzial (Bild oben) oder Bruttoinlandsprodukt (Bild unten). Auf jeder Grafik sind ungefähr 100 Nationen zu sehen – alle, über die Daten zur Verfügung standen. Die nach oben rechts strebenden Punkte auf der ersten Abbildung zeigen, dass größere wirtschaftliche Freiheit für Frauen sich positiv auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. Die untere Abbildung zeigt ein vergleichbares Muster für das Verhältnis von Pro-Kopf-BIP und der wirtschaftlichen Einflussnahme von Frauen. Beide Grafiken zusammen zeigen das Vorher und Nachher eines steigenden BIP und legen nahe, dass Frauenrechte sich positiv auf den Reichtum eines Landes auswirken. Inzwischen weisen auch andere Daten in dieselbe Richtung.

Quellen: Weltbank-Daten über das BIP bei gleicher Kaufkraft; Economist Intelligence Unit for the Women’s Economic Opportunity Index; World Economic Forum for the Global Competitiveness Index

 

Zunächst hieß es: »Ach, in den armen Ländern kämpfen die Menschen ums Überleben, deshalb müssen die Männer dort dominieren. Den reichen Ländern geht es besser, also können sie es sich leisten, den Frauen mehr Freiheiten zu gewähren.«8 Doch die Notwendigkeit männlicher Dominanz für das Überleben wurde nie bewiesen. Gestützt auf zahlreiche Hinweise können wir heute im Gegenteil sagen, dass eine zu starke Vorherrschaft der Männer sich destabilisierend auswirkt und die Überlebenschancen senkt – vor allem, weil sie so häufig zu Konflikten führt. Die Standarderklärung, die Gleichstellung der Geschlechter sei ein Luxusgut und männliche Macht sei für die Bevölkerung von Vorteil, passte zu den damals vorherrschenden Überzeugungen und wurde deshalb akzeptiert.

2006 entwickelte der Jahresbericht Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums jedoch ein neues Verständnis der Ökonomie der Geschlechter. Es besagte, dass die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in die Nationalwirtschaften Wachstum befördere und es ohne diese Einbeziehung zur Stagnation komme. Die Lösung für arme Länder bestehe darin, es den reichen Ländern gleichzutun und die Gleichberechtigung der Geschlechter umzusetzen. Das bedeutete auch: Die reichen Länder können es sich nicht leisten, Frauen gleichzustellen – sondern die Gleichstellung der Frauen machte sie erst reich.

Seither haben der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, UNICEF und verschiedene internationale Denkfabriken weitere Daten generiert und analysiert.9 2018 wurden all diese Daten zusammengeführt, und es zeigte sich, dass Geschlechtergleichberechtigung den wirtschaftlichen Erfolg und das gesellschaftliche Wohlergehen in den jeweiligen Ländern insgesamt positiv beeinflusste. Die Daten verdeutlichten auch den negativen Einfluss männlicher Wirtschaftsmonopole. Zur selben Zeit untersuchten kleinere, praktische Studien – etwa unsere in Ghana – die Mechanismen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern begünstigen, und erprobten Wege zur stärkeren Beteiligung von Frauen. Insgesamt hat sich unser Verständnis der Rolle der Frauen in der Wirtschaft dramatisch verändert.

Die XX-Ökonomie ist ähnlich wie der Schwarzmarkt, die Gig-Economy, die Informationswirtschaft und der informelle Sektor zu verstehen. Jede dieser Wirtschaftsformen lässt sich als Teil des weltweiten Systems identifizieren, doch keine von ihnen ist gänzlich unabhängig – sie alle haben Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und werden eine mehr oder weniger günstige Rolle für ihre künftige Entwicklung spielen. Die XX-Ökonomie ist eine Ökonomie der Frauen. Sie umfasst spezifische Geschäftspraktiken sowie typische Produkte und Dienstleistungen. Für viele ist sie so unsichtbar wie der Schwarzmarkt, aber sie wird die Zukunft genauso beeinflussen, wie sie bereits die Vergangenheit beeinflusst hat. Die Bewegung zur wirtschaftlichen Stärkung der Frauen will die Zukunft besser machen – nicht schlechter.

In der Anfangszeit der Bewegung argumentierten wir für die Unterstützung der XX-Ökonomie, indem wir auf den Anschub des Wirtschaftswachstums hinwiesen, der dadurch zu erwarten ist. Diese Strategie gefiel dem Publikum – das hauptsächlich aus Ökonomen und Finanzministern bestand, die sich für Wachstum interessierten, nicht aber für mehr soziale Gerechtigkeit für Frauen. Mit der Zeit benutzten wir das BIP als Chiffre für die Größe und Entwicklungsrichtung der Wirtschaft im Hinblick auf Ausschluss oder Einbeziehung von Frauen. Genauso werde ich das BIP hier verwenden. Ich sage keineswegs, dass wir Frauen nur aufgrund des Wachstums zu mehr wirtschaftlichem Einfluss verhelfen sollten. Das blinde Streben nach einem wachsenden BIP ist ein Charakteristikum patriarchaler Ökonomien und sollte nicht unser Hauptziel sein.

Die Zahlen zeigen, dass die XX-Ökonomie riesig ist und nur übersehen werden kann, wenn die Fachleute entschlossen wegschauen. Um es anschaulicher zu machen: Wäre die XX-Ökonomie der Vereinigten Staaten eine eigene Volkswirtschaft, wäre sie groß genug, um den G7 beizutreten. Frauen erwirtschaften bereits 40 Prozent des BWP, und bald wird ihr Beitrag mit dem der Männer gleichziehen. Frauen stellen fast die Hälfte der Agrarprodukte weltweit her. Obwohl sie die Hälfte der Menschheit, die Hälfte der nationalen Einkommen und der Nahrungsmittelversorgung stellen, wird ihnen von Ökonomen und Politikern nur eine Nebenrolle eingeräumt.10

Die XX-Ökonomie ist also der verlässlichste Motor des Wirtschaftswachstums. Als in den 1970er-Jahren in Nordamerika und Westeuropa viele Frauen in den Arbeitsmarkt eintraten, machte der so ausgelöste wirtschaftliche Aufschwung diese Länder zu den starken Wirtschaftsmächten, die sie heute sind. Daten aus 163 Ländern belegen, dass arbeitende Frauen Wohlstand befördern.11 In allen Ländern bilden Männer die Grundlage der Wirtschaft, weil fast alle von ihnen mehr oder weniger ständig arbeiten. Wenn es nicht zu einer Revolution der Produktivität kommt, wird männliche Arbeit folglich nicht zum Wirtschaftswachstum beitragen, weil ihr Potenzial ausgeschöpft ist. Frauen hingegen stellen eine häufig nicht oder nicht ausreichend genutzte Ressource dar, sodass mehr arbeitende Frauen zu Wachstum führen. Die Daten zeigen, dass der Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt sich additiv auswirkt und Wachstum befördert – anders als oft befürchtet kostet er Männer also keine Arbeitsplätze. Der Glaube, die wirtschaftliche Inklusion von Frauen sei ein Nullsummenspiel und die von einem Geschlecht erwirtschafteten Gewinne führten beim anderen zu Verlusten, hat sich als falsch erwiesen.

Die wirtschaftliche Stärkung von Frauen trägt zur Wohlstandsbildung bei und schafft so bessere Lebensbedingungen für alle Bürger. Doch auch der Umkehrschluss stimmt: Wo Frauen keinerlei Freiheiten genießen, leiden alle. In den ärmsten und instabilsten Ländern der Welt sind die Indikatoren für Gleichstellung der Geschlechter am niedrigsten und die Auswirkungen der wirtschaftlichen Ausgrenzung der Frauen verheerend. Zu diesen Effekten gehören eine Verschärfung der Armut, Gewalt, wachsender Hunger, schlechtere Kinderversorgung, Ressourcenverschwendung, Zunahme der Sklaverei und Verstärkung von Konflikten. Die zerstörerischen Auswirkungen extremer männlicher Dominanz in diesen Gesellschaften betreffen die gesamte Welt.

Frauen zu mehr wirtschaftlichem Einfluss zu verhelfen ist heute eine erprobte Strategie im Kampf gegen das Leid. »Studie um Studie hat uns gelehrt, dass es kein wirksameres Werkzeug gibt als die Ermächtigung der Frauen«, so Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, in der Einleitung des UNICEF-Berichts The State of the World’s Children (2007). »Keine andere politische Maßnahme hat bessere Chancen, die wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen oder die Kinder- und Müttersterblichkeit zu senken. Keine andere politische Maßnahme hat derart eindeutige, positive Auswirkungen auf Ernährung und Gesundheit, die HIV-Prävention eingeschlossen. Keine andere politische Maßnahme erhöht die Bildungschancen der nächsten Generation so wirksam.«12 Obwohl all das bekannt ist, kommt Frauen nur ein marginaler Anteil internationaler Hilfsleistungen zu.

Die Ausgrenzung der XX-Ökonomie kommt die ganze Welt teuer zu stehen. Beispielsweise zwingen die fehlenden Investitionen der reichen Länder in Kinderbetreuung Millionen von Frauen, die gerne in Vollzeit arbeiten würden, zu Teilzeitarbeit oder zur gänzlichen Aufgabe ihres Berufs, wodurch das BIP um Milliarden geringer ausfällt. Diese »Mütterbestrafung« macht auch den größten Anteil des Gender Pay Gap aus. Schätzungen der Weltbank zufolge verliert die Weltwirtschaft durch ungleiche Löhne und Gehälter jährlich 160 Billionen US-Dollar und bestraft zugleich die XX-Ökonomie für einige ihrer wirtschaftlich wichtigsten Beiträge – die »Aufzucht von Humankapital«.13

Eine gut ausgebildete, gesunde Bevölkerung ist die wertvollste Ressource einer modernen Wirtschaft. Allerdings betrachtet der Westen Kinder inzwischen nicht mehr als öffentliches Kapital, sondern als privaten Luxus. Eltern müssen Geld und Anstrengung in ihre Kinder investieren, bis diese ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Von erwachsenen Kindern wird nur selten erwartet, ihre Eltern finanziell zu unterstützen. Die Erziehung von Kindern fühlt sich an wie Konsum, nicht wie eine Investition. Vielleicht haben die Menschen in den wohlhabenden Ländern deshalb vergessen, wie wichtig jede heranwachsende Generation für jede ihnen vorausgehende Kohorte ist: Wir alle müssen uns auf die Kinder anderer verlassen, die für uns bei der Feuerwehr, der Polizei oder auf dem Bau Dienst tun oder in den Bereichen Bildung, Medizin, Musik oder Bibliotheken tätig sind, die unser Leben sicherer und erfüllter machen.

Die XX-Ökonomie bildet den Grundstein einer positiven Zukunft, weil sie so viel in Familien und Gemeinschaften investiert. Die Vorstellung, Frauen seien frivole Konsumentinnen, die ihr Geld für Kleider und Kosmetika ausgäben, während Männer rational und verantwortungsvoll wirtschafteten, ist weit verbreitet. Die Fakten zeigen aber, dass dies nichts anderes ist als ein geschlechtsspezifisches Vorurteil. Männer als Gruppe geben oft Geld für eigene Luxusgüter aus, statt ihre Einnahmen mit ihren Familien zu teilen. Dabei sind ihnen sogar Alkohol, Tabak, Glücksspiel, Prostitution und Waffen wichtiger als die Ausbildung ihrer Kinder. Im Gegenteil dazu geben Frauen als Gruppe ihr Geld zuerst für ihre Familien – vor allem für die Kinder – und für Gemeinschaften aus. Laut einem Bericht des Global Market Institute von Goldman Sachs müssen die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) sowie die »Next 11«-Länder (Bangladesch, Ägypten, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, die Türkei, Südkorea und Vietnam) die Gleichberechtigung der Geschlechter erreichen, um eine Mittelklasse auszubilden – die jede Marktwirtschaft für ihre Stabilität benötigt. Goldman Sachs zufolge bilden gerade die Ausgaben der Frauen für das Wohlergehen der Haushalte – Ernährung, Bildung, medizinische Versorgung, Bekleidung, Kinderbetreuung und Haushaltsgüter – das Grundgerüst der Mittelschicht.14 Die Forschung hat immer wieder gezeigt, dass die wirtschaftliche Stärkung der Frauen selbst in den ärmsten Ländern die Ausgaben für Bildung, Ernährung und Gesundheit steigen lässt und diese Länder somit stärkt.

Ungeachtet der zentralen Rolle der Frauen für unser aller materielles Wohlergehen wird die XX-Ökonomie konsequent unterschätzt und unter Wert gehandelt. Denn weltweit hält sich die hartnäckige Überzeugung, Frauen hätten eine gleiche Bezahlung einfach nicht verdient. Sie zeigt sich zum Beispiel in den vom Weltwirtschaftsforum jährlich erhobenen Daten »Wage Equality for Similar Work« (gleicher Lohn für gleiche Arbeit).15 In einer Meinungsumfrage des WEF (Executive Opinion Survey) wurde Führungskräften aus 132 Nationen die Frage gestellt: »Bis zu welchem Grad wird in Ihrem Land Frauen für gleiche Arbeit der gleiche Lohn gezahlt?« Die Summe der Antworten ist kein direkter Bericht über tatsächliche Löhne und Gehälter, aber sie ist eine aussagekräftige Schätzung der normativen Praxis im jeweiligen Land – also dessen, was Frauen gemeinhin, und implizit fair, bezahlt wird. Abb. 2 zeigt, dass es in keinem Land der Welt üblich ist, die Geschlechter für gleiche Arbeit gleich zu entlohnen. Die globale Daumenregel besagt, dass eine Frau nur 65 Prozent des Werts eines Mannes hat – unabhängig von der Berufsgruppe. Dieses Vorurteil liegt der Benachteiligung zugrunde, der sich Frauen in allen Wirtschaftsbereichen ausgesetzt sehen.

 

 

ABB. 2  Gleicher Lohn für gleiche Arbeit wird hier gemessen als der Prozentsatz der Gehälter von Männern, die Frauen für dieselbe oder vergleichbare Arbeit erhalten. Die schwarze Linie markiert den Punkt, an dem Frauen die gleiche Bezahlung wie Männer erhalten würden. Es ist klar zu erkennen, dass Frauen in keinem Land der Welt üblicherweise die gleiche Bezahlung erhalten. Die Länder sind in alphabetischer Reihe abgebildet, beginnend mit Albanien, endend mit Venezuela.

Quelle: Weltwirtschaftsforum, Global Gender Gap Report (2018)

 

Für jede Art von Arbeit in jeder Branche, jeder Tätigkeit und jedem Land wird Frauen weniger bezahlt als Männern. Jede Quelle, die Gehaltsinformationen liefert, und jede Methode zum Erhalt dieser Informationen, kommt zu diesem Schluss. Ein anderes Ergebnis ist nur durch Manipulation der Daten möglich. Viele Apologeten männlicher Dominanz tun leider genau das und perpetuieren damit den Mythos, dass der Gender Pay Gap »nur Fiktion« sei. Wie Trolle manipulieren sie die Gehaltsdaten, indem sie sich auf klar geschlechtsspezifische Faktoren konzentrieren, vor allem auf die Auswirkungen von Hausarbeit und Kinderversorgung auf die Karrieren von Frauen. Und verkünden dann triumphierend, es gebe keine Geschlechterdiskriminierung.

Die Misere der XX-Ökonomie gründet in der ihr immanenten Abhängigkeit: Sogenannte »häusliche Pflichten« benachteiligen Frauen am Arbeitsplatz und erhöhen ihr persönliches wirtschaftliches Risiko. In allen Ländern leisten Frauen die gleiche (oder sogar mehr) Arbeitszeit wie Männer, aber weil sie die Last der unbezahlten Hausarbeit tragen, haben sie sowohl weniger Zeit für bezahlte Arbeit als auch für Freizeit. Männer können mehr Stunden bezahlte Arbeit leisten und die wirtschaftlichen Vorteile einheimsen, weil Frauen ihnen zu Hause den Rücken freihalten.

 

 

ABB. 3  Der Prozentsatz arbeitender Frauen variiert in dieser Grafik von oben nach unten in etwa entsprechend dem Pro-Kopf-BIP jedes Landes. Dies ist der Zusammenhang zwischen arbeitenden Frauen und nationalem Wohlstand. Die dritte Spalte zeigt die Zeit, die Frauen im Verhältnis zu Männern im jeweiligen Land mit unbezahlter Arbeit verbringen. In der vierten Spalte findet sich das Verhältnis zwischen allen – bezahlten und unbezahlten – Arbeitsstunden im Vergleich zu Männern. Die Abbildung illustriert, dass Männer sich umso weniger unbezahlte Arbeit mit Frauen teilen, je geringer das Einkommen im jeweiligen Land ist. Frauen können deshalb weniger bezahlte Arbeitsstunden leisten, was wiederum das BIP senkt.

Quellen: Arbeit: Weltwirtschaftsforum, Global Gender Gap Report (2017). BIP pro Kopf: CIA, World Factbook (2017). Zeitnutzung: Organisation for Economic Cooperation and Development (Zugriff: 2. Nov. 2018)

 

Länderübergreifende Vergleiche illustrieren, was dieses Verhältnis für Frauen und Regierungen bedeutet. Abb. 3 zeigt, dass die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt in reichen Ländern wie Schweden, den USA und Großbritannien zu höheren Pro-Kopf-BIP geführt hat. Dabei handelt es sich um Länder, in denen fast genauso viele Frauen wie Männer bezahlter Arbeit nachgehen. Allerdings haben Frauen in diesen Ländern weniger bezahlte Arbeitsstunden als Männer, denn sie leisten immer noch mehr Hausarbeit – von 30 Prozent mehr in Schweden bis zum fast doppelten Anteil in Großbritannien. Frauen und Männer arbeiten also insgesamt gleich viel, aber Männer werden für den Großteil ihrer Arbeitsstunden bezahlt, während Frauen mehr unbezahlte Stunden ableisten. Mexiko, die Türkei und Indien weisen eine niedrigere Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt und folglich niedrigere BIP auf. Frauen, die zu Hause bleiben, stellen für diese Länder hohe Opportunitätskosten dar. Diese Frauen leisten drei- bis siebenmal so viel Hausarbeit wie Männer. In der Türkei und Indien ist diese Last so ungleich verteilt, dass Frauen ein bis zwei Stunden länger zu Hause arbeiten, als Männer bezahlte Arbeit leisten – sie wischen noch den Fußboden, während ihre Ehemänner längst vor dem Fernseher sitzen.

Die wirtschaftliche Viabilität oder Überlebensfähigkeit von Frauen steht deshalb in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Rolle im Haushalt: Je mehr Hausarbeit sie leisten, umso weniger wirtschaftliche Möglichkeiten haben sie. Auch ihre untergeordnete Rolle im Haushalt bedeutet für die Frauen unverhältnismäßig große Verluste und Risiken. Gemeinhin wird von ihnen erwartet, die eigenen Ziele denen der Männer unterzuordnen. Fast immer ist es die Frau, die mit der Geburt der Kinder ihren Beruf aufgibt oder auf Teilzeit reduziert. Der Mann bastelt weiter an seiner Karriere, während die der Frau stagniert oder sich gänzlich auflöst. Frauen verzichten auf berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, weil ihre Ehemänner nicht zum Umzug bereit sind – während von Frauen normalerweise erwartet wird, ihren Männern zuliebe umzuziehen. Die »häuslichen Pflichten« von Frauen führen schrittweise zu geringerer Bezahlung und weniger Aufstiegschancen, doch das sind nicht alle negativen Folgen: Wenn ein Paar sich trennt oder der Ehemann stirbt, geraten Frau und Kinder in eine wirtschaftliche Notlage und rutschen oft in die Armut ab. Weil Frauen ihr Leben lang wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, fallen auch ihre Renten- oder Pensionszahlungen deutlich niedriger aus als die der Männer, sodass sie eher von Altersarmut betroffen sind und ihren Familien und Staatskassen zur Last fallen.16

Die Arbeit, die Frauen zu Hause leisten, ist für das Funktionieren des Wirtschaftssystems von entscheidender Bedeutung. Da nur Geld als Indikator ökonomischer Aktivität verwendet wird, kommt den häuslichen Arbeiten allerdings kein spezifischer Wert zu. Aus dieser Auslassung entwickelte sich mit der Zeit leider die Neigung der Wirtschaftswissenschaft, diese Arbeit als gänzlich wertlos zu behandeln. Feministische Ökonominnen und Aktivistinnen für die wirtschaftliche Ermächtigung und Stärkung von Frauen versuchen die Regierungen und deren Berater dazu zu bringen, den Wert dieser unbezahlten Arbeit zu berechnen und in ihre Modelle aufzunehmen.

Die XX-Ökonomie hat nie einen gleichberechtigten Anteil des von ihr hervorgebrachten Wohlstands erhalten. Das liegt vor allem daran, dass Frauen die Güter ihrer Familien nicht gleichberechtigt besitzen. Weltweit liegt der Anteil der Frauen am Grundbesitz bei unter 20 Prozent. Weil Frauen fast nie Land besitzen durften, Grundbesitz aber über lange Zeit die größte Wohlstandsquelle war, verfügen sie heute weltweit über weit weniger Kapital als Männer. Selbst wenn der Wohlstand steigt und einzelne Frauen zu Reichtum gelangen, erhalten sie noch immer keinen fairen Anteil.17

Ein weiterer Grund für den geringeren Wohlstand von Frauen in der heutigen Zeit ist, dass sie historisch gesehen weder die Möglichkeit hatten, Geld privat und sicher aufzubewahren, noch es zu investieren. Die XX-Ökonomie wurde jahrhundertelang aus dem Finanzsystem ausgeschlossen. Erst in den 1970er-Jahren erlangten Frauen im Westen das Recht auf Bankkonten und Kreditkarten unter ihrem Namen. Frauen in den Entwicklungsländern kämpfen heute um dieselben Rechte. In der Finanzwelt ist die Geringschätzung von Frauen leider immer noch an der Tagesordnung, obgleich die Branche ein Eigeninteresse daran haben müsste, Frauen mit offenen Armen aufzunehmen. Banker protestieren mit dem Argument, Frauen seien Risikoinvestments, kümmerten sich um Babys statt um Geschäftliches und seien keine profitablen Finanzkunden. Keines ihrer Argumente sollte jedoch ernst genommen werden, weil diese Institutionen ihre Daten nicht geschlechtsspezifisch aufschlüsseln und derartige Ansichten somit schlicht auf Stereotypen statt auf Fakten basieren.18 Sie wissen tatsächlich nicht, wovon sie reden.

In einer Welt, die sich allzu gerne für ihr offenes Finanzwesen und den Freihandel lobt, kämpft die XX-Ökonomie kontinuierlich mit geschlechterbasierten Hindernissen, die ihr den Markteintritt erschweren. In der westlichen Welt schlossen Gewerke, Gewerkschaften, Kooperativen und Wirtschaftsverbände Frauen über lange Zeit aus; in anderen Teilen der Welt ist das noch heute so. Doch vom weltweiten Finanzhandel, in dem die Märkte und Gewinne am größten sind, bleiben Frauen weiterhin fast gänzlich ausgeschlossen. Nur sehr wenige Frauen partizipieren am internationalen Handel oder ergattern große Verträge mit Institutionen – in beiden Wirtschaftsbereichen kontrollieren Männer unglaubliche 99 Prozent der Geschäfte. Dem IWF zufolge wäre ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis im Welthandel vorteilhaft, weil Diversität Volkswirtschaften besser gegen Konjunkturflauten schützt und ihre Innovationskraft stärkt.19

Das effiziente Funktionieren eines Marktes setzt den freien Austausch von Informationen voraus. Selbst im digitalen Zeitalter haben Frauen dennoch nicht den gleichen Zugang zu Daten. Frauen in hoch entwickelten Ländern nutzen Ressourcen wie das Internet und Mobiltelefone genauso häufig wie Männer, doch im Rest der Welt besteht hinsichtlich des Zugangs zu Informations- und Kommunikationstechnologien eine große Lücke zwischen den Geschlechtern. Sie gründet in alten Traditionen, nach denen die Frauen zu Hause bleiben sollen und ihre Kommunikation mit der Außenwelt kontrolliert wird.

Alle den Frauen unterstellten kognitiven Defizite waren demnach offenbar nicht durch unterlegene weibliche Gehirne begründet, sondern durch Gesellschaften, die den Frauen die Bildung verweigerten.

 

 

Quelle: Weltwirtschaftsforum, Global Gender Gap Report (2017)

Man stelle sich vor, wie viel in die Ausbildung dieser Frauen investiert wird: Familienersparnisse, Ausbildungsförderungen vom Staat und Stipendien, Spenden für Universitäten, Steuergelder. Diese Staaten leisten hohe Aufwendungen, um Frauen auszubilden, nutzen aber deren Talente zu wenig.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist allerdings genauso wichtig, um Kosten zu reduzieren, die das Wachstum bremsen. Häusliche Gewalt beispielsweise steht in enger Verbindung mit der ökonomischen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern innerhalb von Gemeinschaften und ist für ein Land extrem teuer. Unabhängig vom Preis des menschlichen Leids, der nicht beziffert werden kann, fallen Polizeieinsätze, Aufenthalte in Notaufnahmen, Frauenhäuser, Krankschreibungen und psychologische Beratung an. All diese Faktoren können preislich beziffert und zur Berechnung der Kosten herangezogen werden. 2014 schätzte das Copenhagen Consensus Center, dass »Gewalt gegen Frauen durch Intimpartner« die Weltwirtschaft jährlich 4,4 Billionen Dollar kostet – das sind 5,2 Prozent des BWP. Das entspricht etwa dem Prozentsatz, den Nationen für Vor- und Grundschulbildung ausgeben, oder dem Dreißigfachen der weltweiten Ausgaben für internationale Hilfsleistungen. Weil Übergriffe im häuslichen Umfeld so häufig von Kindern miterlebt werden – und Jungen dazu neigen, das Verhalten als erwachsene Männer nachzuahmen –, setzen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen in der Zukunft fort. Dieses Phänomen wird jedoch dramatisch verzerrt, weil die Gewalt durch Intimpartner in ärmeren, krisengeschüttelten Ländern mit der geringsten Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern höher ist: In Schweden beispielsweise haben 24 Prozent der Frauen häusliche Gewalt erlebt, während es in Afghanistan 87 Prozent sind.21

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Obwohl der internationale Handel zunahm und der Lange Frieden hielt, führte der Kalte Krieg zu einem massiven Wettrüsten. Die Welt gibt noch immer sehr viel Geld für Waffen aus: Die Vereinigten Staaten wenden mehr als die Hälfte ihres frei verfügbaren Budgets für das Militär auf. Unter Präsident Trump ist dieser Anteil stark gestiegen. Man stelle sich vor, wie viel Gutes mit nur einem Teil dieses Geldes bewirkt werden könnte. In diesem Buch diskutiere ich häufig Verbindungen zwischen Kriegerökonomie, männlicher Dominanz, allen Formen von Gewalt und der Verteilung wichtiger Ressourcen.

Diese Fakten zwingen uns, zwischen zwei Gruppen von Männern zu unterscheiden: jenen, die Gleichberechtigung unterstützen, und jenen, die es nicht tun. Umfragen zeigen, dass vor allem in den westlichen Ländern die meisten Männer Grundprinzipien wie gleichberechtigtem Zugang zum Arbeitsmarkt, gleicher Bezahlung und gleichen Aufstiegschancen zustimmen. Dennoch gibt es weiterhin Männer, die der Präsenz von Frauen in der Wirtschaft und dem daraus folgenden Statusgewinn von Frauen ablehnend gegenüberstehen. Sie neigen dazu, wütend zu werden, wenn das Thema zur Sprache kommt, was wiederum das Verhalten anderer Männer in ihrer Umgebung beeinflusst. Derart reizbare Männer sind, anders als vernünftigere Geschlechtsgenossen, oft in Führungspositionen, weil ihre Arbeitgeber Aggression immer noch als Kernmerkmal einer Führungspersönlichkeit betrachten. Ich bin der Überzeugung, dass solches Gruppenverhalten und derartige institutionelle Normen die ökonomische Lücke zwischen den Geschlechtern deutlich vertiefen – doch weil jeder sofort den Fehler bei den Frauen sucht, geschieht dies unbemerkt. Im Folgenden werde ich deshalb die Rolle von Gruppen betonen und zwischen einigen und den meisten Männern differenzieren.

Die XX-Ökonomie wird zudem ständig durch omnipräsente Ideologien gehemmt. Unternehmen und andere Organisationen sehen dieser Tatsache nicht gerne ins Gesicht, verstecken sich lieber hinter schicken, aber nicht ehrlich gemeinten Förderprogrammen für »Diversität« und beschönigen die Ideologien als »unbewusste Vorurteile« (unconscious bias). Unbewusste Vorurteile sind bestimmte kognitive Phänomene, bei denen, salopp gesprochen, Wahrnehmungsgewohnheiten zu Kurzschlüssen in der mentalen Verarbeitung führen. Solche Kurzschlüsse führen zwar manchmal zu unbewusst unfairem Verhalten, gehen letztlich aber selbst darauf zurück, dass derartige Verbindungen im Gehirn bereits jahrelang geprägt wurden, nämlich durch die konstante Behauptung, Frauen seien weniger wert. Dennoch wird der Begriff inzwischen weithin verwendet, um – unbewusste oder offene – Diskriminierung zu beschönigen. Alle Formen der Diskriminierung als »unbewusste Vorurteile« zu bezeichnen erlaubt jenen, die bewusst Vorurteile pflegen, damit unbehelligt fortzufahren.

karōshi Die ungesunde Arbeitsumgebung in diesen Firmen gründet zum Teil in der Gruppendynamik unter den Männern, die bei steigender Anspannung oft zu höherer Aggression und stärkerer negativer Einstellung gegenüber Frauen führt.

Regierungen und die Öffentlichkeit profitieren von divers zusammengesetzten Unternehmensführungen, weil die verbesserte Transparenz und die Reduktion der Risiken die Stabilität der Wirtschaft insgesamt schützen. Auch viele Vorteile für Gesellschaft und Umwelt lassen sich auf Werte zurückführen, die Frauen in die Unternehmensführung einbringen. Eine Studie der kalifornischen Universität Berkeley aus dem Jahr 2012 zeigte, dass Firmen mit mehr weiblichen Aufsichtsratsmitgliedern eher in erneuerbare Energien investieren, die Umweltfolgen ihrer Produktion und Verpackungen eher messen und reduzieren, Programme zur CO2-Reduktion bei ihren Zulieferern implementieren, den Einfluss des Klimawandels in ihren Planungen und finanziellen Entscheidungen berücksichtigen, den Kunden beim Umgang mit den Risiken des Klimawandels helfen und Störfaktoren für Biodiversität minimieren oder umgehen.27

In den reichen Ländern führt die Berücksichtigung der XX-Ökonomie zu mehr Effizienz und besserer Leistung, und sie reduziert zugleich Risiken und Verschwendung. In den ärmsten Ländern kann die Ermächtigung der XX-Ökonomie als Gegengewicht zu den desaströsen Tendenzen fungieren, die in Gesellschaften mit extremer männlicher Dominanz entstehen. Doch ihr größtes Potenzial könnte dazwischenliegen: die Schwellenländer (wie Brasilien, Indien und die Türkei) sind alle irgendwo zwischen den vergleichsweise besseren Gleichstellungsbedingungen der reichen Länder und der schwierigen Lage in den Konfliktgebieten angesiedelt. Diese Volkswirtschaften mittlerer Stärke arbeiten erfolgreich auf Stabilität und Wohlstand hin, bleiben aber angreifbar – nicht zuletzt, weil die Hälfte ihrer jeweiligen Bevölkerung durch die diskriminierende ökonomische Praxis so stark benachteiligt ist. In Schwellenländern kann die wirtschaftliche Ermächtigung von Frauen innerhalb der Haushalte Entscheidungsprozesse in der Familie gleichberechtigt machen, den Lebensstandard erhöhen, interpersonellen Stress vermindern und allen Familienmitgliedern neue Möglichkeiten eröffnen.

Nie zuvor hatten wir eine so deutliche Blaupause für die Reduzierung von Leid, das Erreichen von Gerechtigkeit und die Sicherung des Friedens. Nie zuvor war es möglich, mit der Lösung eines Problems gleichzeitig so viele andere zu beheben. Was wir erreichen können, ist jede Mühe, jedes Hilfsmittel und jede Investition wert. Für alle Frauen und Männer ist jetzt die Zeit gekommen, sich der Bewegung anzuschließen und der XX-Ökonomie zu mehr Einfluss zu verhelfen.