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Astrid Austerer, Oliver Radinger
Leben mit chronischen Krankheiten
Ein Lehrbuch für Gesundheitsberufe

Astrid Austerer, Oliver Radinger

Leben mit chronischen Krankheiten

Ein Lehrbuch für Gesundheitsberufe

Facultas

pg Mag. Astrid Austerer
DGKP, Studium der Pflegewissenschaft an der Universität Wien,
Lektorin im Hochschulbereich, akademische Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege.
pg Mag. Dr. Oliver Radinger
DGKP, Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege, Studium der
Pflegewissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Uni Wien,
Lektor im Hochschulbereich und Weiterbildungssektor.

Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wurde die männliche Form verwendet. Sie steht dabei stets für beide Geschlechter.

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Copyright © 2018 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, Österreich
Umschlagfoto: © BanksPhotos, istockphoto.com
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Druck: finidr
Printed in the E.U.
ISBN 978-3-7089-1589-0
e-ISBN 978-3-99030-702-1

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Teil I: Einführung in die Terminologie chronischer Krankheiten
1. Konzepte zu Gesundheit und Krankheit
1.1 Gesundheit
1.2 Krankheit
1.3 Chronische Erkrankung
1.4 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)
Teil II: Bedeutung chronischer Erkrankungen für das Gesundheitssystem, für den Betroffenen und für seine An- und Zugehörigen
2. Bedeutung und Kernkompetenzen der pflegerischen Versorgung chronisch Kranker
2.1 Aufgabenbereich und Bedeutung für das Gesundheitssystem sowie Faktoren für wachsende Kosten der Gesundheitsversorgung
2.2 Anforderungen einer alternden Gesellschaft an das Gesundheitssystem
2.3 Entwicklungsszenarien chronischer Erkrankungen
3. Die Bedeutung einer chronischen Erkrankung für den Betroffenen und dessen An- und Zugehörige
3.1 Wahrnehmung von Erkrankung und Krankheit
3.2 Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff als beeinflussender Faktor von Selbstmanagement
3.3 Krankheitsverläufe als Belastung
3.4 Komplexität als Belastung chronischer Erkrankungen für den Betroffenen und seine An- und Zugehörigen
3.5 Merkmale chronischer Erkrankungen
Teil III: Theorie- und Modellbildung im Zusammenhang mit Chronizität
4. Nutzen von Pflegetheorien im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen
4.1 Das Trajektmodell als Vertreter einer interaktionstheoretischen Perspektive
4.1.1 Phasenverläufe im Trajektmodell
4.1.2 Neue Grundgedanken im Krankheitsverständnis durch Trajekt und interaktionstheoretische Perspektive als Bedeutung für den Krankheitsverlauf
4.1.3 Phasenverläufe nach dem Trajektmodell
4.1.4 Bedeutung des Phasenverlaufs für den Krankheitsverlauf
4.1.5 Arbeitslinien nach dem Trajektmodell
4.1.6 Beispielhafte Darstellung einer Arbeitslinie zur Alltagsbewältigung
4.1.7 Aufgabenbereich der Praktiker und Möglichkeiten der Umsetzung des Trajektmodells
4.2 Ein Modell der Pflege chronisch Kranker von Mieke Grypdonck
4.2.1 Positive und negative Sichtweisen chronisch kranker Betroffener – ein Modell von Mieke Grypdonck
4.2.2 Zwei Arten, auf Krankheit zu reagieren
4.2.3 Gründe für eine negative Sichtweise nach Grypdonck und das Handeln einer Pflegeperson
4.2.4 Vier Aufgabenbereiche der Pflege und Betreuung nach Grypdonck
4.3 Familien- und umweltbezogene Pflege von Marie-Luise Friedemann
4.3.1 Umwelt
4.3.2 Mensch
4.3.3 Gesundheit
4.3.4 Pflege
4.3.5 Familie
4.3.6 Familiengesundheit
4.3.7 Zieldimensionen
4.4 Das „Illness-Constellation-Model“ nach Morse und Johnson
Teil IV: Phänomene und Ausprägungen chronischer Erkrankungen unmittelbar am Betroffenen sowie Einflussnahme von Phänomenen im Krankheitsverlauf und auf das Krankheitsempfinden
5. Phänomen Körperbild und zerbrochenes Selbstbild
5.1 Phänomen Stigma
5.1.1 Die beschädigte Identität bei Goffman
5.1.2 Auswirkungen von Stigmata
5.2 Phänomen Resilienz – was macht uns stark?
5.2.1 Resilienzverständnis
5.2.2 Schutzfaktoren zur Resilienzförderung
5.2.3 Ressourcen zur Unterstützung von Schutzfaktoren
5.2.4 Resilienz ist ein protektives Persönlichkeitsmerkmal
5.2.5 Resilienzförderliche Pflegebeziehung
5.2.6 Einschätzungsmöglichkeiten der Resilienz
5.2.7 Gedanken zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Resilienzkonzept
5.2.8 Fazit für die Betreuung chronisch Kranker
5.3 Phänomen der Adhärenz
5.3.1 Definitorische Abgrenzung der Adhärenz von der Compliance
5.3.2 Einflussfaktoren der Non-Adhärenz und ihre Bedeutung für den Betroffenen
5.4 Interventionen zur Verbesserung der Adhärenz und Bedeutung des Medikamentenregimes für den Betroffenen
5.4.1 Phasen der Medikamentenadhärenz
5.4.2 Bedeutung des Medikamentenregimes im Alter
5.4.3 Interventionen zur Verbesserung der Adhärenz
Teil V: Health Literacy oder die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Entscheidungen zu treffen
6. Selbstmanagement als Voraussetzung für Empowerment
6.1 Health Literacy zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
6.1.1 Interventionen und Selbstmanagementkompetenzen
6.1.2 Beispiel eines Interventionskonzeptes im Sinne des Selbstmanagements bei komplexen Medikamentenregimen
6.2 Selbstmanagementstrategien pflegender Angehöriger schwerkranker Menschen
Literaturverzeichnis

Einleitung

Noch immer ist das Versorgungssystem stark auf die Therapie und das Kurieren von akuten Erkrankungen ausgerichtet, obwohl die Zahl der chronisch Krankten stetig im Ansteigen ist. Die betroffenen Menschen müssen häufig Anpassungen in ihrem Leben vornehmen, dadurch kann es aber ebenso zu sozialen oder psychischen Belastungen kommen. Da chronische Erkrankungen zumeist nicht geheilt werden können, stehen die Reduktion der Symptome und die Anpassung an den Alltag an oberster Stelle. Dieses Buch richtet sich an Studierende in Aus-, Fort- und Weiterbildungen im Gesundheitsbereich, die sich mit den komplexen Phänomenen, Theorien und Modellen, die chronische Erkrankungen mit sich bringen, auseinandersetzen.

In diesem Buch wird versucht, die Komplexität chronischer Erkrankungen über das Theorieverständnis zu erklären. In den Hauptkapiteln werden verschiedene Themenbereiche in den Kontext der chronischen Erkrankung gestellt. Über ausgewählte Theorien, Modelle und Konzepte zu chronischen Erkrankungen sollen durch eine pflegewissenschaftliche Sichtweise die Auswirkungen auf die Bewältigung des Alltags identifiziert werden.

Es wurden auch Themenschwerpunkte und Aspekte unserer Lehrveranstaltung „Leben mit chronischen Krankheiten“ aufgegriffen, um eine Grundlage für den Umgang mit betroffenen Personen und deren Angehörigen zu schaffen.

Teil I
Einführung in die Terminologie chronischer Krankheiten

Im Zuge der Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit bzw. Erkrankung kommt man nicht daran vorbei, sich mit den einzelnen Begrifflichkeiten zu befassen. An erster Stelle wollen wir uns dem Begriff „chronisch“ widmen.

Das Wort „chronisch“ hat seine Wurzeln im Griechischen (chronikós = zeitlich) und im Lateinischen (chronicus = zur Zeit gehörig).

In der griechischen Mythologie stürzte der Gott Chronos (Kronos) seinen Vater Uranos vom Thron. Um demselben Schicksal zu entgehen, fraß er im Anschluss daran seine eigenen Kinder auf. Nur Zeus konnte gerettet werden und besiegte daraufhin seinen Vater. Chronos ist das Alte, das Mysterium der Zeit, und die Zeit frisst alle ihre Kinder auf. Die bildhafte Darstellung des Chronos findet man vor allem in der Barockzeit, oft auch zusammen mit der Gestalt des Todes. Vergänglichkeit und Todesnähe werden so oft in einen Zusammenhang gebracht.

Der Enkel des Chronos, Kairos, wird in der griechischen Mythologie als Gott des richtigen Momentes und des günstigen Augenblickes bezeichnet. Kairos schleicht an den Menschen vorbei; einige schaffen es ihn zu erhaschen, anderen bleibt dies verwehrt. Ist er vorbei, kann er erkannt, aber nicht mehr ergriffen werden. Der Schatz des Chronos liegt dagegen in den Erfahrungen, die wir machen. Wer aber die Zeit nicht nützt, an diesen Erkenntnissen zu lernen und zu reifen, den beginnt demnach die Zeit zu verschlingen. Es kommt zur Chronifizierung von Zustandsbildern, oft in Verbindung mit psychischen und physischen Problemen. Kann die Ursache nicht behoben werden, führt dies oftmals zu einer chronischen Erkrankung. Schon aus dieser Schilderung heraus liegt die allgemeine Erkenntnis nahe, dass der Ausbruch einer chronischen Erkrankung gleichzeitig einen Schatten auf unser Leben wirft und es auch zeitlich begrenzt. Kairos ist dann durchaus Thema bei chronischen Erkrankungen: Der richtige Zeitpunkt der Diagnose wurde verabsäumt, falsche Wege in der Therapie wurden eingeschlagen, Vorzeichen nicht richtig gedeutet …

Es gibt demnach nicht „die chronische Erkrankung“ an sich, sondern viele Ausformungen, Variationen und unterschiedliche Typen, die eine verallgemeinerte Aussage schwierig machen. So werden auch nicht alle Erkrankungen die gleichen Anforderungen an Betroffene, ihre An- und Zugehörigen und an die Professionen aus dem Gesundheitswesen stellen. Chronische Krankheiten nehmen demnach viele Gesichter an, sie können plötzlich, langsam oder in Schüben intermittierend auftreten. Sie können sich bezüglich der Prognosen unterscheiden, durch schwerwiegende Krankheitszeichen charakterisiert oder auch latent und über längere Zeit symptomfrei sein. Die Chronizität einer Erkrankung ist oftmals mit Symptomkontrolle oder der Aufrechterhaltung des Gesundheitszustandes verbunden, aber nicht mit einer kurativen Therapie. Palliative Care wird hier auch immer mehr zu einem bedeutenden Thema.

Die anhaltende Krankheitsdauer als Zeitfaktor aber und nicht die Ausprägung der Erkrankung ist allen Ausformungen chronischer Krankheiten gemeinsam. Das Ziel in der Betreuung und Begleitung chronisch kranker Menschen liegt demnach im Wohlbefinden, in der Alltagsbewältigung und in der Lebensqualität. Wenn man sich mit den Definitionen von chronischer Krankheit auseinandersetzen möchte, kommt man an der Auseinandersetzung mit Krankheit und Gesundheit nicht vorbei.

1. Konzepte zu Gesundheit und Krankheit

Das menschliche Verlangen, Krankheiten zu verhindern, zu beseitigen und Gesundheit zu fördern, zieht sich durch alle Kulturkreise und ihre Geschichte. Paracelsus (1493–1541) bringt mit seinem Werk „De longa vita“ (übersetzt: Über das lange Leben) als einer der Ersten die Gesundheit mit einem langen Leben in Verbindung. Schon damals spricht er der Beeinflussung des menschlichen Körpers durch Medikamente eine entscheidende Bedeutung zu (Haug 1991).

1.1 Gesundheit

Eine der ersten Definitionen von Gesundheit aus der Neuzeit ist wohl die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1948: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen.“ (WHO 1948)

In der Neuzeit gewinnen aber nicht nur die medikamentösen Einflüsse an Geltung, sondern es fließen auch soziale, ökonomische, psychische und physische Dimensionen in die Definitionen von Gesundheit ein. Während die ursprüngliche Version sehr am Individuum orientiert war, wurde sie 1986 in der Ottawa-Charta um einen gesellschaftlichen und politischen Auftrag erweitert: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (WHO 1986)

Durch die immer umfassenderen Ansichten zum Thema Gesundheit veränderten sich auch die Definitionen in Richtung immer komplexerer Formulierungen. So entwickelte der deutsche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann 1988 eine abstraktere Definition von Gesundheit: „Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt oder nicht oder bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann sich, muss sich aber nicht, in Symptomen der sozialen, psychischen und physisch-physiologischen Auffälligkeit manifestieren.“ (Hurrelmann 1988)

Zusammenfassend kann man sagen, dass es keine einheitliche, fest umrissene Definition gibt. Die Definitionen unterscheiden einerseits eine subjektive Einschätzung (Wohlbefinden) und andererseits eine objektivierende Perspektive. Die Gesundheit bezieht sich nicht alleine auf physische und psychische Komponenten, sondern auch auf soziale und ökonomische (eventuell auch spirituelle) Dimensionen. Vor allem bei den neueren Definitionen findet sich auch der prozesshafte Charakter von Gesundheit widergespiegelt. Generell kann man aber festhalten, dass eine naturwissenschaftliche medizinische Abgrenzung zu kurz greift und eine Reduktion auf „Gesundheit ist Abwesenheit von Krankheit“ nicht der Komplexität eines umfassenden Verständnisses von Gesundheit Genüge tut.

Vor diesem Hintergrund hat sich auch das salutogenetische Modell nach Aaron Antonovsky entwickelt. Aus dem Perspektivenwechsel heraus, was Menschen denn gesundhält – und nicht, was sie krankmacht –, stellt sich dabei die Salutogenese in Abgrenzung zur Pathogenese in den Mittelpunkt. 1987 entwickelt Antonovsky die These, dass es kein „absolut krank“ und kein „absolut gesund“ gibt, sondern dass die Menschen sich vielmehr auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum bewegen. Krankheit und Gesundheit befinden sich am jeweiligen Ende des Kontinuums und können nicht als isolierte Phänomene betrachtet werden. Dieser Ansatz „verhindert, dass wir der Gefahr unterliegen uns ausschließlich auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit zu konzentrieren“. Das beinhaltet, dass nicht nur die Krankheit, sondern immer die ganze Geschichte des Menschen einbezogen werden muss (Antonovsky 1997, S. 29). Dieser Ansatz gewinnt eine ganz wesentliche Bedeutung in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit chronischen Erkrankungen.

1.2 Krankheit

Während Gesundheit schwer zu beobachten, zu messen und einzuschätzen ist, können wir unterschiedlichste Krankheiten dagegen sehr wohl benennen und diagnostizieren. Nur Krankheiten sind für den Arzt von Bedeutung. „Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit“, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann. Die Krankheitsterminologien wachsen mit der Medizin, dagegen wird der Begriff der Gesundheit problematisch und inhaltsleer (Luhmann 1990, S. 179). Krankheit ist aber der notwendige Reflexionsbegriff von Gesundheit, auch wenn dieser schwer zu fassen ist. In Anlehnung an Heidegger argumentiert Medard Boss in der „Phänomenologie des Krankseins“, dass sich Gesundheit immer nur am Auftreten von Krankheit begreifen lässt (Boss 1971, S. 440).

Die Krankheit ist im Gegensatz zu Gesundheit über Symptome erfahrbar. Diese Krankheitszeichen zeigen somit auf, was Gesundheit nicht ist bzw. was wieder sein kann, wenn die Erkrankung ausgeheilt ist (Simon 2001, S. 23). Krankheiten sind auf diese Weise über ihre Symptome zu spüren, voneinander zu unterscheiden, zu klassifizieren, zu bewerten, zu diagnostizieren und zu erklären.

Marcel Proust beschreibt die Abhängigkeit von körperlichen Krankheitssymptomen in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ folgendermaßen: „Im Zustand der Krankheit merken wir, daß wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen ganz anderer Ordnung gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper.“ (Proust 2000, S. 1649)

So gesehen ist Gesundheit erst bei Anwesenheit von Krankheit erfahrbar.

1.3 Chronische Erkrankung

Chronische Erkrankungen sind aber keine „Errungenschaft“ oder Entwicklung der Neuzeit. So wird in einem Schaufenster des Naturhistorischen Museums Wiens neben einer akuten Verletzung an der linken Schulter auf die chronisch degenerativen Erkrankungen von „Ötzi“, dem „Mann aus dem Eis“, hingewiesen. Er litt an Arthrosen an der Lendenwirbelsäule, an Rheuma und einer Zyste am Rückenmark. Seine Lunge war durch langes Sitzen am offenen Feuer durch Rauchpartikel schwarz verfärbt. Der Darm war mit Eiern des Peitschenwurms kontaminiert, und die Beaulinien auf seinen Fingernägeln lassen möglicherweise auf akute Schübe einer chronischen Krankheit schließen (Naturhistorisches Museum Wien).

Chronische Krankheiten sind in der Regel abhängig von:

(Lubkin 2002, S. 21)

Die große Anzahl der Definitionen von chronischer Krankheit lässt schon auf die Komplexität der Thematik schließen. Die Commission of Chronic Illness legte 1949 die erste Definition vor, unter der alle Schädigungen oder Abweichungen vom Normalzustand beschrieben waren: „Alle Schädigungen oder Abweichungen vom Normalzustand mit folgenden Merkmalen: Dauerhaftigkeit, zurückbleibende dauerhafte Einschränkung aufgrund irreversibler pathologischer Veränderungen, Notwendigkeit von Rehabilitation oder ggf. Überwachung, Beobachtung oder Pflege über einen längeren Zeitraum.“ (Weisz 2014, S. 108)

Die Definition war jedoch schon aufgrund der Verwendung des Begriffs „Normalzustand“ kritisch zu hinterfragen. Ein neuerer Versuch, eine Definition zu finden, kommt von Ilene Morof Lubkin (2002). Für sie spielen neben der Krankheitsbeschreibung auch die Auswirkungen und Einflussfaktoren der Erkrankung auf die Fähigkeiten und Alltagsbewältigung eine Rolle.

„Unter chronischer Krankheit versteht man das irreversible Vorhandensein bzw. die Akkumulation oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen, wobei im Hinblick auf unterstützende Pflege, Förderung der Selbstversorgungskompetenz, Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Prävention weiterer Behinderung das gesamte Umfeld des Patienten gefordert ist.“ (Lubkin 2002, S. 26)

Fachleute im Gesundheitswesen können Chronizität auf zweierlei Weise betrachten:

(Lubkin 2002, S. 22)

Chronische Krankheiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie langfristig, umfassend und zumeist irreversibel sind. Dementsprechend wirken sie sich bei den Betroffenen (aber damit auch bei ihren Zu- und Angehörigen) aufgrund ihrer körperlichen, sozialen und psychischen Beeinträchtigungen auf viele Lebensbedingungen aus.

Dieser Umstand macht in vielen Fällen eine unterstützende Pflege, eine flächendeckende Betreuung, eine Förderung der Selbstversorgungskompetenz und Prävention erforderlich. Im Vordergrund stehen oftmals die Linderung der Symptome und die Stabilisierung des Gesundheitszustandes, aber auch die Erhaltung der Alltagstauglichkeit und die Förderung des Wohlbefindens der Betroffenen. Die Einschätzung der Lebensqualität ist stark an das Auftreten von chronischen Krankheiten gekoppelt. Daraus resultiert als Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Zu- und Angehörigen zu erhalten bzw. wiederherzustellen.

Die Lebensqualität gibt Auskunft über das körperliche, psychische, soziale und umweltbezogene Wohlbefinden. Sie gewinnt vor allem im Kontext einer steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitigem Ansteigen chronischer Krankheiten, aber auch einer verbesserten medizinischen Versorgung, an Bedeutung (Ellert/Kurth 2013, S. 643).

Das Vorhandensein von chronischen Krankheiten ist ein wesentlicher Parameter zur Bewertung von Lebensqualität, der auf einer äußerst subjektiven und individuellen Einschätzung basiert.

So leiden laut dem Wiener Gesundheitsbericht 2016 37% der Wiener Bevölkerung ab 15 Jahren an zumindest einer dauerhaften Krankheit. Das Ausmaß von chronischen Krankheiten nimmt mit dem Alter zu. So sind es bei den 15- bis 29-Jährigen 22%, aber bei der Altersgruppe ab 60 Jahren 56% (Stadt Wien 2017, S. 19).

1.4 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)

Die „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ hat die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)“ von 1980 abgelöst.

Im ICIDH wurde eine Klassifizierung chronischer Krankheiten anhand der Differenzierung zwischen „impairment“, „disability“ und „handicap“ vorgenommen. Diese Begriffe wurden folgendermaßen definiert:

Das ICIDH wurde mit dem bio-psycho-sozialen Modell des ICF erheblich erweitert und entspricht eher der Lebenswirklichkeit der Betroffenen, indem der gesamte Lebenshintergrund berücksichtigt wird. Ein weiterer Grund für die Veränderung war, dass der Terminus Handicap selbst in den USA ein negativ besetzter Begriff ist und sich in diesem Zusammenhang als ungünstig erwiesen hat.

Da es für den englischen Begriff „functioning“ im Deutschen keine entsprechende Übersetzung gibt, wurde er in Abstimmung mit Österreich und der Schweiz mit „Funktionsfähigkeit“ übersetzt, sollte aber nur als klassifikationstechnischer Begriff verwendet werden. Die Übersetzung des englischen Begriffs „participation“ ist „Teilhabe“. Dieses Wort hat in der Schweiz aber eine engere Bedeutung als in Deutschland. Daher ist der englische Originalbegriff mit „Partizipation [Teilhabe]“ in der deutschen Übersetzung der Klassifikation wiedergegeben. Der englische Begriff „health condition“ wurde mit dem etwas engeren Begriff „Gesundheitsproblem“ übersetzt. Die „Funktionsfähigkeit“ eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Der Behinderungsbegriff der ICF ist der Oberbegriff zu jeder Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen. Eine Person gilt als funktional gesund, wenn unter Einbeziehung ihrer Kontextfaktoren