Es ist Frühling geworden in Wurzberg. Das Café in der Fußgängerzone stellt die Stühle auf den Gehweg. Die Leute laufen nicht wie sonst eilig von Geschäft zu Geschäft, sondern legen die Jacken ab, blinzeln in die Sonne und schlendern gemächlich an den Schaufenstern vorbei.
Etwas weiter außerhalb der Stadt, im Hortensienweg, werden an diesem Freitagnachmittag die Rasenmäher angeworfen, und aus den Beeten mit Tulpen und Hyazinthen wird fleißig das Unkraut gerupft.
Im Haus Nummer 15 sind die Fenster weit geöffnet.
»Wir winden dir den Jungfernkranz aus veilchenblauer Seide!«, singt ein Frauenchor.
»… aus vei-heilchenblauer Seide!«, trällert Viola Müller-Frohwinkel im Wohnzimmer und breitet ein weißes Tischtuch über den Esstisch. Als draußen ein Rasenmäher aufheult, stellt sie den CD-Player ab.
»Banausen!«, sagt sie und geht in die Küche.
Ein dicker schwarzer Kater springt auf den Tisch und beginnt, sich zu putzen.
Frau Müller-Frohwinkel kommt mit einem Sektkühler in der Hand zurück.
»Runter mit dir, Luzi, aber hopp, hopp!«, ruft sie, schubst den Kater vom Tisch und zieht das Tischtuch glatt. Der Kater sitzt derweil unter dem Tisch und sieht ziemlich beleidigt aus.
»Tom! Lisa!«, ruft Viola Müller-Frohwinkel in die Küche. »Bringt ihr mal bitte Besteck? Und das gute Geschirr.«
Lisa kommt herein und stellt weiße Teller mit Goldrand auf den Tisch.
»Was ist denn los, Mama?«, fragt sie. »Kommt Besuch?«
»Er kommt, er kommt, die Flagge der Liebe mag wehen!«, schmettert ihre Mutter als Antwort.
Tom lässt vor Schreck beinahe das Besteck fallen.
»Hochzeitstag, meine Lieben. Heute ist unser dreizehnter Hochzeitstag!« Viola Müller-Frohwinkel legt eine rote Rose auf den Platz ihres Mannes.
»Hoffentlich bringt das mal kein Unglück«, murmelt Tom und verteilt Messer und Gabeln.
»Den hat Papa doch garantiert wieder vergessen«, sagt Lisa. »Hat er doch immer.«
»Diesmal nicht«, sagt Viola Müller-Frohwinkel, holt zwei Sektgläser aus dem Schrank und reibt sie mit einem Zipfel ihres T-Shirts aus. »Ich hab ihm nämlich ein kleines Briefchen in seine Brotbox gelegt.« Sie schaut auf die Uhr. »Hilfe, ich muss mich ja noch umziehen!«, ruft sie und eilt aus der Tür.
Tom und Lisa sehen sich an und schütteln den Kopf.
»Wenn das nicht wieder eine totale Pleite wird«, sagt Tom düster. »Ich kenne doch Papa, der ist so zerstreut, dass er Mamas Zettel wahrscheinlich aufgegessen hat, statt ihn zu lesen.«
Lisa nickt. »Dann ist wieder miese Stimmung und das Wochenende total im Eimer.«
Der schwarze Kater ist unbemerkt auf den Tisch gesprungen, schnuppert an der Rose und fegt sie mit einem Hieb seiner Tatze quer über den Tisch.
»Nicht, Luzi!«, ruft Lisa und hebt ihn hoch. »Wir sollten ihn besser rausbringen, was meinst du, Tom?«
»Genau, wenn Papa ihn sieht, kriegt er womöglich wieder eine seiner Niesattacken, und das macht’s auch nicht besser.«
»Komm mit in die Küche, Luzifer!«, sagt Lisa. »Kriegst auch was Leckeres zu futtern.«
Der Kater folgt ihr lustlos aus dem Zimmer.
Tom pustet ein paar Katzenhaare vom Tisch und legt die Rose zurück an ihren Platz.
Viola Müller-Frohwinkel erscheint in einem frühlingshaft geblümten Kleid. Sie stellt den CD-Player wieder an. Eine hohe Frauenstimme singt schmelzend etwas von »Amore«.
»Die Callas ist einfach unvergleichlich, findest du nicht, Tom?«
»Hmm«, murmelt der. Für ihn klingen diese Sängerinnen alle gleich, aber das behält er für sich.
Seine Mutter hat einen silbernen Kerzenleuchter auf den Tisch gestellt und zündet die Kerze an.
»Fehlt nur noch eine Vase«, sagt sie. »Papa bringt sicher Blumen mit. Dreizehn rote Rosen, eine für jedes Jahr unserer Ehe.«
»Mama, du solltest vielleicht nicht damit rechnen, dass …« Aber weiter kommt Tom nicht, denn die Haustür wird aufgeschlossen.
»So ein Mist!«, sagt Herr Müller-Frohwinkel statt einer Begrüßung. »Der Halmackenreuther aus der Nummer 11 hat seine Biotonne so dämlich auf die Straße gestellt, dass ich dagegengefahren bin.«
»Hans-Helmut …«, beginnt seine Frau.
Aber Müller-Frohwinkel schimpft weiter. »Ja, ist denn heute Dienstag? Nein! Heute ist Freitag! Was also hat die Biotonne von dem Halmackenreuther am Freitag auf der Straße zu suchen? Kann mir das mal einer sagen?«
»Papa!« Tom verdreht die Augen und zeigt mit dem Kopf auf den gedeckten Tisch.
»Und nicht nur, dass ich jetzt einen Kratzer in der Stoßstange hab, wisst ihr was?« Müller-Frohwinkel stemmt empört die Arme in die Seite. Lisa, die aus der Küche gekommen ist, zupft ihn am Ärmel, aber er bemerkt es nicht.
»Wisst ihr, was der in seiner Biotonne hatte? Gartenabfälle! Jawohl! Und dabei weiß jeder, dass das verboten ist, aber der Halmackenreuther wollte mal wieder die paar Euro für einen Laubsack sparen, der Geizhals. Na, jetzt liegt alles verteilt auf der Straße und alle im Hortensienweg können sehen …«
»Papa, guck doch mal. Der Tisch!«, flüstert Lisa.
»Schön, schön, ist das Essen fertig? Muss mir nur noch die Hände waschen.« Müller-Frohwinkel geht aus der Tür.
Seine Frau löst sich langsam aus ihrer Erstarrung.
»Vielleicht hat er die Blumen vor Schreck im Auto vergessen und holt sie jetzt?«, sagt sie und zieht zum x-ten Mal die Tischdecke glatt.
»Los, lauf zu ihm und warn ihn vor!«, zischt Tom seiner Schwester zu. Aber Müller-Frohwinkel steht schon händereibend im Wohnzimmer.
»So, jetzt lassen wir uns aber nicht die Stimmung verderben, schließlich ist Wochenende.« Er geht zum CD-Player und stellt die Musik ab. »Bei diesem Gekreische vergeht einem ja der Appetit.«
Viola Müller-Frohwinkel schnappt nach Luft. Ihr Mann setzt sich an den Tisch und schiebt achtlos die Rose beiseite. »Was gibt’s denn heute Feines, meine Liebe?«
»Einen Scheißdreck gibt’s!«, ruft seine Frau und läuft schluchzend aus dem Zimmer.
»Kann mir mal jemand sagen, was mit eurer Mutter los ist?«, fragt Müller-Frohwinkel verwirrt. »So schlimm ist ein Kratzer an der Stoßstange ja nun auch wieder nicht.«
Lisa seufzt. »Du hast euren Hochzeitstag vergessen.«
Müller-Frohwinkel schlägt sich an die Stirn. »Ach, du grüne Neune! Hättet ihr mir ja mal sagen können.« Er sieht seine Kinder vorwurfsvoll an.
»Es reicht doch wohl, dass wir dir sagen, wann Mama Geburtstag hat«, sagt Lisa. »Außerdem hat sie dir extra einen Brief geschrieben.«
»Brief? Ich hab keinen Brief gekriegt.«
»Sie hat ihn dir in die Brotbox gelegt«, sagt Tom.
»Brotbox, Brotbox? Stimmt, da war was. Ein Käse- und ein Salamibrot, zwei Radieschen und …« Müller-Frohwinkel kramt in seiner Hosentasche. »… und dieser Zettel hier.«
Lisa nimmt ihn und liest vor:
»Es war vor dreizehn Jahren,
da kamst du angefahren
auf deinem Motorrad.
Ich lief dir in die Speichen,
du wolltest gar nicht weichen
und hobst mich auf so zart.
Dann tauschten wir die Ringe
und noch so manche Dinge,
die ich im Herzen wohl bewahrt.«
»Mama kann voll gut dichten!«, sagt Tom anerkennend.
»Aber ich verstehe das alles nicht«, sagt sein Vater. »Ich kann mich nicht entsinnen, jemals auf einem Motorrad gefahren zu sein.«
»Das hattest du dir doch ausgeborgt, von deinem Freund Willi …«, erzählt Lisa.
»… und weil du noch nie auf so einem Ding gesessen hast«, fährt Tom fort, »bist du gleich in Mama reingebrezelt.«
»Die Geschichte, wie ihr euch kennengelernt habt, hat sie uns zig Mal erzählt«, sagt Lisa.
Müller-Frohwinkel schüttelt den Kopf. »Irgendwie hatte ich es ganz anders in Erinnerung. Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«
Tom runzelt die Stirn. »Du könntest Mama eine Reise schenken. So ’ne Art zweite Flitterwochen.«
»Ach ja?«, Müller-Frohwinkel sieht seinen Sohn erstaunt an. »Und wohin soll ich mit ihr fahren?«
»Irgendwohin, wo man in die Oper gehen kann«, schlägt Lisa vor. »Mama liebt Opern.«
Müller Frohwinkel starrt missmutig auf den CD-Player. »Das ist mir nicht entgangen. Aber eure Idee ist nicht schlecht. Ich werde gleich am Montag ins Reisebüro gehen und mir mal ausrechnen lassen, was das kostet.«
»Aber sag ihr vorher nichts davon«, bemerkt Tom. »Du kennst sie ja, dann macht sie sich wieder Sorgen wegen uns und dem Haus und überhaupt.«
»Genau, was wird aus euch, wenn Mama und ich wegfahren?«
»Nach Pfingsten haben wir doch von der Schule aus die drei Projekttage zum Thema Wald«, sagt Tom.
Lisa nickt. »Da sind wir von Mittwoch bis Freitag den ganzen Tag draußen und kommen erst abends zurück.«
»Erinnerst du dich nicht, dass du den Zettel unterschrieben hast, wo alles draufstand?«, fragt Tom.
»Meine Güte, ihr bringt ständig irgendwelche Zettel mit, die man unterschreiben soll. Wie auch immer, das fügt sich jedenfalls bestens«, sagt Müller-Frohwinkel und bindet sich die Serviette um. »Und jetzt hab ich Hunger.«
»Ich hol schon mal das Hühnchen«, sagt Lisa.
»Und ich frag Mama, ob sie nicht doch wieder runterkommt«, sagt Tom.
Müller-Frohwinkel sitzt allein am Tisch und dreht nachdenklich die Rose zwischen den Fingern.
Plötzlich muss er laut niesen.
»Tom! Lisa! Haaatschiii! Schafft sofort den Kater raus, wie oft hab ich euch gesagt …«
Aber er muss gar nichts mehr sagen, denn Luzifer flitzt an ihm vorbei und durch die geöffnete Terrassentür hinaus in den Garten. Tom und Lisa laufen ihm hinterher.
»Luzi! Luzi! Bleib sofort stehen!«
»Was ist denn jetzt schon wieder los?«, schimpft Müller-Frohwinkel.
Seine Frau knallt eine Bratenplatte auf den Tisch. »Das ist los!«
Müller-Frohwinkel starrt fassungslos auf einen Haufen sauber abgenagter Knochen. »Ein Gerippe? Ein Hühnergerippe … Hat etwa dieses Katzenvieh …?«, stammelt er.
»Erraten! Während ihr hier nett geplaudert habt, hat der Kater das Huhn angenagt, und jetzt ist er mit dem Rest auf und davon.« Viola Müller-Frohwinkel lässt sich auf einen Stuhl fallen. »Genau so hab ich mir unseren dreizehnten Hochzeitstag vorgestellt«, schnieft sie. »Du fährst Halmackenreuthers Biotonne um und der Kater frisst den Braten!« Sie zieht die Nase hoch, ihre Mundwinkel zittern, und plötzlich beginnt sie, laut zu lachen. »Ach, Hans-Helmut, ist das nicht alles furchtbar komisch?«
Das findet ihr Mann zwar nicht, aber er ist froh, dass seine Frau anscheinend nicht länger schmollt.
»Ärgere dich nicht, meine Liebe, ich lade dich zum Essen ein«, sagt er.
»Aber nur, wenn ich das Restaurant aussuchen darf«, sagt Viola Müller-Frohwinkel.
Ihr Mann nickt gequält.
Tom und Lisa kommen mit hochroten Köpfen aus dem Garten.
»Hier!«, ruft Tom atemlos und schwenkt ein Hühnerbein, an dem noch etwas Fleisch hängt. »Das haben wir gerettet.«
»Danke, ich verzichte«, sagt seine Mutter. »Papa lädt mich zum Essen ein.«
Während ihre Eltern im Ratskeller sitzen, dem teuersten Restaurant von ganz Wurzberg, und sich Herr Müller-Frohwinkel beim Studium der Preise auf der Speisekarte vor Verzweiflung die Haare rauft, sitzen Tom und Lisa in der Küche und essen gebackene Kartoffeln ohne Huhn.
»Luzifer lässt sich nicht blicken, der Satanskater«, sagt Lisa.
»Der hat sich irgendwo gut versteckt und verdaut vor sich hin«, meint Tom.
Lisa zeigt zum Fenster. »Wahrscheinlich drüben im zettelbaumschen Garten.«
»Der verwildert auch immer mehr«, sagt Tom kauend. »Das Haus ist schon fast zugewachsen.«
»Wir sollten da mal wieder Rasen mähen, findest du nicht? Serafina hat uns schließlich gebeten, dass wir uns ein bisschen um alles kümmern.«
»Hab ich doch!«, erwidert Tom böse. »Ich hab mich den ganzen Herbst gekümmert. Laub geharkt, die Rosen beschnitten. Und im Winter hab ich sogar Schnee geschippt! Wozu das alles? Serafina kommt ja eh nicht zurück.«
»Vielleicht ist ihre Tante noch immer krank und sie kann nicht weg.«
»Ein halbes Jahr lang?«, ruft Tom und schiebt den Teller weg. »Das glaubst du doch selbst nicht. Nein, nein, die hat uns schlicht und einfach vergessen in ihrem komischen Zauberwald.«
Lisa schaufelt sich Kartoffeln auf den Teller. »Willst du noch?«
Tom schüttelt den Kopf.
»Vielleicht hast du ja recht, und sie hat uns wirklich vergessen, aber doch nicht Luzifer, ihren Kater. Bestimmt fehlt er ihr.«
Tom seufzt. Ihm fehlt auch jemand. Serafina nämlich, diese ulkige kleine Hexe, die das Leben der Müller-Frohwinkels für ein paar Wochen so wunderbar durcheinandergewirbelt hatte. Ein Tag war aufregender als der andere gewesen. Ewig scheint das her zu sein. Jetzt ist jedenfalls alles wieder so langweilig und eintönig wie zuvor. Na ja, vielleicht nicht ganz.
Als ob Lisa Toms Gedanken erraten hätte, sagt sie: »Seit wir Luzi haben, finde ich es viel lustiger bei uns. Weißt du noch, wie er Papa die tote Maus ins Bett gelegt hat?«
Tom muss lachen. »Papa hat fast einen Herzschlag gekriegt vor Schreck. Und Heiligabend hat Luzi den Baum umgerissen und beinahe wäre alles abgebrannt.«
Lisa lacht. »Das Lametta hat ihn total verrückt gemacht.« Dann seufzt sie. »Dieses Jahr gibt’s bestimmt kein Lametta und dafür elektrische Kerzen.«
»Erst mal ist Frühling«, sagt Tom. »Hoffentlich wird das Waldlager halbwegs lustig.«
»Na klar«, sagt Lisa. »Überleg doch mal, keine Schule, dafür sind wir den ganzen Tag draußen, machen Feuer und grillen Würstchen. Das wird bestimmt super.«
Serafina liegt auf dem Rücken im Gras und schaut hinauf in den strahlend blauen Himmel und ein paar plustrigen weißen Wölkchen hinterher.
Ein Marienkäfer lässt sich auf ihrem kleinen Finger nieder. Serafina haucht ihn vorsichtig an, er klappt die gepunkteten Flügel auseinander und schwirrt davon.
Serafina dreht sich auf den Bauch und beobachtet die großen roten Waldameisen, die emsig hin und her laufen und Stöckchen oder Blätter zu dem großen Haufen an der Tanne schleppen. Jetzt zerren drei an einer toten Grille.
»Ihr seid immer so fleißig«, murmelt Serafina. »Schlaft ihr überhaupt mal?«
Die Ameisen geben keine Antwort.
Serafina richtet sich auf. »Ich werde auch mal wieder fleißig sein, höchste Zeit für Urgroßtante Alfonsines Tee.«
Serafina geht in das alte Haus mit den bemoosten Schindeln und den schief in den Angeln hängenden Fensterläden. Sie stellt einen Kessel auf den Herd, öffnet die Klappe und hält ein Streichholz an die Holzscheite.
Das Holz glimmt nur ein wenig und verlischt. »Verflixt und zugenäht!«
Nach dem vierten vergeblichen Versuch sieht sich Serafina um, als befürchte sie, beobachtet zu werden. Dann pustet sie kurz auf das Holz, das sofort brennt und fröhlich knistert.
»Manchmal geht’s einfach nicht anders«, sagt Serafina und füllt eine Handvoll Kräuter in eine Kanne. Wie durch Zauberei brodelt jetzt das Wasser im Kessel und dann erfüllt der Geruch von Kamille, Minze und Tausendgüldenkraut die rußige Küche.
Serafina stellt die Teekanne, eine Tasse und ein Schüsselchen Gebäck auf ein Tablett und trägt es in das angrenzende Zimmer.
In dem Bett mit den gedrechselten Bettpfosten liegt eine alte Frau. Eine uralte Frau. Das lange graue Haar liegt zu zwei schnurdünnen Zöpfen geflochten auf dem Kissen. Ihr faltiges Gesicht ist eingefallen und reglos, nur ihre Nasenflügel zittern ein wenig.
»Hmm, ich rieche Tee«, sagt die alte Frau mit erstaunlich kräftiger Stimme. »Stell das Tablett hier hin, mein Kind. Und hol dir auch eine Tasse.«
In die trüben Augen der Alten tritt ein warmer Schimmer, während sie dem Mädchen mit den wirren rotbraunen Locken zusieht, wie es das Tablett auf einen Stuhl stellt und diesen näher ans Bett rückt. Dann schwebt Serafina in ihrem weiten, bunten Rock aus dem Raum und kehrt mit einem Becher wieder zurück.
»Wie geht es dir heute, Urgroßtante Alfonsine?«, fragt sie und gießt Tee ein.
»Jeden Tag ein wenig schlechter«, sagt die alte Frau und richtet sich ächzend auf. Serafina stopft ihr schnell ein Kissen in den Rücken.
»Wenn du mich nicht die ganze Zeit gepflegt hättest, läge ich schon längst unter der Erde.«
»Ich pflege dich doch auch weiter, dann musst du noch lange nicht sterben«, sagt Serafina.
»Ach, Kind.« Alfonsine trinkt schlürfend den heißen Tee. »Meine Zeit ist um, ich spüre es.«
»Aber gibt es denn kein Mittel dagegen? Einen Verjüngungszauber oder so etwas?«
»Serafina, ich bin fast hundert Jahre alt und viel zu müde, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Und der größte Zauberer ist der Tod, gegen den kommt auch eine Hexe nicht an. Wen er holen will, den holt er sich. Wenn nicht heute, dann morgen.«
Serafina wischt sich eine Träne aus dem Auge.
Die Alte beugt sich vor, verzieht den Mund zu einer Art Lächeln und streicht mit ihrer knochigen Hand dem Mädchen über den Arm.
»Nein, nein, lass gut sein. Ich bin bereit, das Einzige, was mir Sorgen macht, bist du.«
»Ich?«
»Du bist noch sehr jung, mein Kind, und ich weiß nicht, ob du so ganz allein zurechtkommst.«
Serafina schluckt. »Wenn ich nur Luzi nicht in Wurzberg gelassen hätte.«
»Er fehlt dir sehr, nicht wahr? Ich persönlich kann ja nicht verstehen, was du an diesem fetten Vieh für einen Narren gefressen hast, aber sei’s drum. Wenn ich … Also, wenn ich nicht mehr bin, dann darfst du noch einmal nach Wurzberg zurückkehren und ihn holen. Aber dann bleibst du hier im Wald, das musst du mir versprechen!«
Serafina nickt. »Ich verspreche es dir, Urgroßtante Alfonsine.«
Die alte Frau nimmt einen Schluck Tee und stellt die Tasse hin. »Außerdem sind ja noch Aloisia und Sigmunde da.«
Serafina verzieht das Gesicht.
»Jaja, ich weiß, du magst die beiden nicht besonders, aber es sind nun mal die Töchter meines Neffen Theobald und deine Cousinen. Ich hab Kasimir mit einer Nachricht für die beiden losgeschickt und sie für heute Nachmittag herbestellt. Sie müssten längst hier sein.«
»Da kannst du lange warten, Alfonsine«, krächzt eine Stimme. Auf dem Fensterbrett lässt sich ein großer Rabe nieder.
»Hast du ihnen nicht gesagt, dass es eilt?«, fragt die Alte.
»Hab ihnen gesagt, dass du’s nicht mehr lange machst und dass es was zu erben gibt, aber Sigmunde hat nur gesagt: ›Auf den Plunder von dem alten Gerippe lege ich keinen Wert.‹ Und Aloisia war so mit Essen beschäftigt, dass sie überhaupt nichts mitgekriegt hat.«
Die Augen der alten Frau blitzen vor Zorn.
»Du fliegst jetzt noch einmal zu ihnen, Kasimir, und holst sie her. Sag ihnen, wenn sie nicht auf der Stelle an meinem Sterbebett erscheinen, entziehe ich ihnen für immer und ewig ihre Zauberkraft!«
»Bin ich ein geflügeltes Telefon, oder was?«, krächzt der Rabe empört, breitet die Schwingen aus und fliegt davon.
»Kannst du das denn, Urgroßtante Alfonsine?«, fragt Serafina. »Ich meine, ihnen die Zauberkraft nehmen?«