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Dieses Buch erzählt die Geschichte des Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung (SIN). Das Institut wurde 1968 gegründet und ging 1988 ins Paul Scherrer Institut (PSI) über. Die Gründung des SIN erfolgte in einer Zeit, als die Physik weitherum als Schlüsseldisziplin für die technologische und gesellschaftliche Entwicklung galt. Der Schritt war für ein kleines Land wie die Schweiz ungewöhnlich und zeugte von Mut und Weitsicht. Ebenfalls ungewöhnlich waren in der Folge die Leistungen des SIN im weltweiten Vergleich sowie sein Einfluss auf die schweizerische, teils auf die internationale Wissenschaftspolitik.

Dass diese Geschichte nun in allgemein verständlicher Form vorliegt, ist das Verdienst einiger am Projekt beteiligter Physiker, welche die Initiative dazu ergriffen, solange noch Zeitzeugen befragt werden konnten. Wie immer zeigen die offiziellen Dokumente nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Will man den Menschen, die ihren Beitrag zum Gelingen leisteten, nahe kommen, braucht es persönliche Erinnerungen. Der Text stützt sich auf beides. Er hält zudem die Geschehnisse in zahlreichen Bildern fest.

Andreas Pritzker wurde 1945 in Windisch (Schweiz) geboren. Nach dem Physikstudium an der ETH Zürich arbeitete er zunächst als Forscher und beratender Ingenieur in der Industrie, dann als Forscher im Schweizerischen Institut für Nuklearforschung (SIN). Nach fünfjähriger Tätigkeit im Stab des Schweizerischen Schulrats (heute ETH-Rat) leitete er während fünfzehn Jahren zuerst die Verwaltung, später den Logistikbereich des Paul Scherrer Instituts. Seit 2003 ist er freischaffender Autor und Publizist. Er ist verheiratet und lebt in Küttigen (Schweiz).

Neben Beiträgen in Anthologien sind von ihm die Romane „Filberts Verhängnis” (1990, Neuausgabe 2001), „Das Ende der Täuschung” (1993, Neuausgabe 2004), „Die Anfechtungen des Juan Zinniker” (2007), „Allenthalben Lug und Trug” (2010) sowie die Erzählung „Eingeholte Zeit” (2001) erschienen. Er war Mitherausgeber der Geschichte der REFUNA AG und Herausgeber verschiedener Texte in erzählter Geschichte.

Dieses Buch erschien erstmals 2013 beim munda Verlag, Küttigen (Schweiz) unter dem Titel „Geschichte des SIN”.

Die neue Auflage enthält einige Korrekturen sowie im Hinblick auf eine elektronische Ausgabe eine Nummerierung der Abbildungen.

Umschlagbild vorn: Jean-Pierre Blaser

© 2014 Andreas Pritzker

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt (D)

ISBN 978-3-7357-1492-3

Für alle, die
zum Erfolg des SIN
beigetragen haben

Inhalt

Dank

Im Januar 2012 wurde ich zu einer Besprechung bei Jean-Pierre Blaser eingeladen. Dabei waren auch Werner Joho und Urs Schryber, welche die Initiative ergriffen hatten, die bemerkenswerte Geschichte des Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung (SIN) zu schreiben, solange noch Zeitzeugen befragt werden konnten.

Das SIN wurde 1968 als Annexanstalt der ETH gegründet und ging anfangs 1988, zusammen mit dem Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR), ins Paul Scherrer Institut (PSI) über. Jean-Pierre Blaser war der Gründer und einzige Direktor des SIN. Er leitete zudem die „Projektgruppe Fusion EIR-SIN” und wurde der erste Direktor des PSI. Werner Joho und Urs Schryber waren von Anfang an führend an Konstruktion und Bau, dann am Ausbau und Betrieb der Protonenbeschleuniger am SIN und am PSI beteiligt, ebenso an der Konzeption künftiger Grossanlagen, die auf Beschleunigern basierten. Ich selbst war von 1980 bis 1983 als Forscher am SIN tätig, danach bis 1987 im Stab des Schweizerischen Schulrats - heute ETH-Rat - für das Ressort „Annexanstalten” zuständig, und von 1988 bis 2002 leitete ich zuerst die Administration, dann den Logistikbereich des PSI.

In diesem ersten Gespräch wurde eine Vielzahl von Informationen zum SIN genannt. Schon daraus ging hervor, dass dem SIN in der schweizerischen Wissenschaftsgeschichte eine bedeutende Stellung zukommt.

Im Lauf des Jahres 2012 sammelte ich die notwendigen Informationen zur Geschichte des SIN. Als wichtigste und systematische Quelle dienten mir dessen Jahresberichte. Diese waren anfänglich von Dr. h.c. A. Brunner redigiert worden, der sich als Wissenschaftsjournalist betätigte und in der NZZ allgemein verständliche Artikel beispielsweise über das CERN und das SIN schrieb. Einfach in der Aufmachung, vermitteln diese Jahresberichte jedoch alle wichtigen Informationen über das SIN.

Zur Vorgeschichte konnte ich mich auf die Schriften von Hermann Wäffler, Kurt Alder sowie Charles P. Enz et al. stützen. Jean-Pierre Blaser fasste wichtige Aktivitäten des SIN in Notizen zusammen und fügte Ergänzungen an. Werner Joho und Erich Steiner begleiteten die Entstehung des Textes aktiv und überliessen mir persönliche Erfahrungsberichte sowie Bilder. Da Erich Steiner am SIN beim Aufbau der experimentellen Einrichtungen beteiligt gewesen war – später leitete er den Hochstromausbau und schliesslich am PSI den Bereich Grossforschungsanlagen sowie das Projekt Spallationsneutronenquelle – vertraten Joho und Steiner die beiden anfänglichen Aufbaubereiche des SIN. Urs Schryber korrigierte und ergänzte eine frühe Version des Textes. Ralph Eichler kommentierte den Text und versah mich mit Unterlagen zu den Schulratsgeschäften über die Zukunft von EIR und SIN (inklusive Hayek-Studie) sowie zur B-Mesonenfabrik. Weitere Dokumente zur Hayek-Studie lieh mir Karsten Bugmann. Dieter Brombach lieferte der PSI-Bibliothek im Sommer 2012 wertvolle, teils verschollene Dokumente. Sehr hilfreich bei der Suche nach Unterlagen war Urs Brander, der Leiter der PSI-Bibliothek. Wichtige Hinweise und Korrekturen zum gesamten Text erhielt ich von Christoph Tschalär und Wilfred Hirt und zur Teilchentherapie von Eros Pedroni.

Auf allgemeine Informationen konnte ich mittels Internet zugreifen. Nutzbringend waren vor allem die Publikation der amtlichen Sammlung des Bundes, das Historische Lexikon der Schweiz sowie das Wissensportal der ETH-Bibliothek in Zürich.

Fotos stellten mir freundlicherweise das Bildarchiv des PSI, Werner Joho, Erich Steiner und Jean-Pierre Blaser zur Verfügung. Ebenfalls steuerte Christa Markovits Bilder bei. Verschiedene Bilder stammen aus den Jahresberichten des SIN. Einige Fotos konnte ich von der ETH-Bibliothek erwerben. Das CERN sowie das Lawrence Berkeley National Laboratory stellten mir Bilder in hoher Auflösung zur Verfügung. Verschiedene Fotos fand ich im Internet.

Alt Staatssekretär Heinrich Ursprung war bereit, in einem Vorwort seine Eindrücke zum SIN zu schildern – er hatte das Institut jahrelang begleitet als Präsident der ETH Zürich, dann als Präsident des Schweizerischen Schulrats (ab 1992 ETH-Rat). Schliesslich fasste Jean-Pierre Blaser, zusätzlich zu den vielen Informationen, die in den Text eingeflossen sind, seine Gesamtsicht des SIN sowie seine Betrachtung zur Wissenschaftspolitik in einem persönlichen Rückblick zusammen.

Die Drucklegung dieses Buchs wurde von der ETH Zürich und vom PSI Villigen finanziell unterstützt.

Allen, die zum Gelingen dieses Werks beigetragen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Andreas Pritzker

Vorwort von Heinrich Ursprung

Planung und Fortentwicklung von Hochschulen sind anspruchsvolle Aufgaben. Die involvierten Zeitkonstanten sind gross. Will man etwa einen bestehenden Studiengang aus dem Angebot streichen, bemisst sich der Bremsweg in Semestern, zum Bachelor etwas weniger als zum Master, zum Doktor mehr. Will man eine neue Forschungsrichtung ins Sortiment nehmen, müssen Forschungsinhalte erarbeitet und Infrastrukturen projektiert werden. Weil man Wissenschaftspolitik nicht ohne Wissenschafter umsetzen kann, stellt sich früher oder später die Frage nach (neuen) Leitfiguren.

Geradezu exemplarisch ist an der ETH Zürich die Planung und Fortentwicklung der Physik erfolgt. In den 1950er Jahren lag der Schritt von der Kernphysik zur Teilchenphysik in der Luft. Auf der internationalen Ebene wurde das CERN gegründet. Vordenker in einzelnen Ländern dachten sich, Zugang zu dieser grossartigen Einrichtung würden Physiker finden, die sich an Beschleunigern zu Hause auf die gewaltigen experimentellen Möglichkeiten am CERN hätten vorbereiten können. Paul Scherrer war unter Schweizer Physikern früh tonangebend in der Frage des Übergangs von der Kernphysik zur Hochenergiephysik. Res Jost erkannte als Theoretiker das Potenzial der Teilchenphysik auch für die Theorie. Und Schulratspräsident Hans Pallmann, Professor für Agrikulturchemie, verfügte über die Entschlusskraft, 1959 sich für die grossen Pläne der Physiker einzusetzen. Gestützt auf seinen Antrag wählte der Bundesrat 1959 Professor Jean-Pierre Blaser zur Leitfigur.

*

Am 1. Oktober 1973 übernahm ich das Präsidium der ETH-Zürich. Fortan hatte ich das Vergnügen, SIN-Direktor Blaser regelmässig zu treffen, vor allem im Präsidialausschuss des Schweizerischen Schulrats. In diesem Gremium mit dem etwas despektierlichen Namen waren unter Leitung des Schulratspräsidenten die Präsidenten der beiden ETHs Zürich und Lausanne und die Direktoren der damals fünf Forschungsanstalten versammelt. Jeder vertrat die Interessen der ihm unterstellten Institution, soweit die Anliegen im Zuständigkeitsbereich des Schulrats lagen. Mehr als anderthalb Jahrzehnte lang wurde ich Zeuge der Art und Weise, wie Blaser Aufbau und Fortentwicklung des SIN gestaltete, leitete und vertrat. Seine Voten waren meistens kurz, immer folgerichtig. In Diskussionen hatte er als Schnelldenker auf jede Frage eine nachvollziehbare Antwort. Nicht alle Mitglieder des Gremiums verfügten über gleich hohe Dossier-Sicherheit wie er; das führte gelegentlich zu Spannungen, durch die er sich aber nicht beirren liess. Amtssprachen in diesen Sitzungen, wie auch im Schulratsplenum, waren Deutsch und Französisch, Blaser beherrschte beide.

Auch in einer Reihe anderer Gremien erlebte ich Diskussionen über das SIN, allein oder mit Blaser, in Kommissionen der Eidgenössischen Räte bei der Vorbereitung von Parlamentsbeschlüssen, in Arbeitsgruppen von Bundesämtern bei der Beratung von Kreditvorlagen, in wissenschaftspolitischen Gremien. Oft stand die Frage im Raum, ob das SIN seiner Aufgabe als Benützerlaboratorium gerecht werde, oder ob beim einen oder anderen Ausbauvorschlag nicht Eigennutz im Vordergrund stand. Solche Fragen kamen meistens, direkt oder indirekt, aus Universitätskreisen, deren Bundeskredit-Töpfe ja in der Nähe der Töpfe für den ETH-Bereich standen. Meine Besuche am CERN, am DESY, in Grenoble, Los Alamos, Brookhaven, Oak Ridge hatten mir vor Augen geführt, dass gute Benützerlaboratorien solchem Argwohn halt ausgesetzt sind. Eine Direktion, die sich Exzellenz der an ihrer Institution betriebenen Forschung auf die Fahnen schreibt, handelt zu Recht elitär.

Für mich war bald klar, dass das SIN zu einer Forschungsstätte geworden war, die den Vergleich mit anderen international renommierten Institutionen nicht zu scheuen brauchte.

*

Ende 1987 beschloss der Bundesrat, die beiden Forschungsanstalten EIR und SIN im PSI zu fusionieren. Gesucht war eine Leitfigur. Als Schulratspräsident wurde ich mit gleich lautenden Ratschlägen überhäuft: Weder der EIR-Direktor noch der SIN-Direktor kämen als Leitfigur infrage, nein, nur eine neue Kraft von aussen könne „die beiden Kulturen” zu einem neuen Ganzen verschweissen. Ich hörte die Argumente, glaubte sie aber nicht. Blaser kannte doch diese „Kulturen” – so weit es sie gab – durch jahrelangen Anschauungsunterricht. Er hatte die Fusion unterstützt und dann minutiös vorbereitet. Er wusste, wie man bestehende Stärken zusammenführt, damit deren Wirkung sogar zunimmt. Er wusste, wie man Mitarbeiter zu Höchstleistungen motiviert. Blaser wurde vom Bundesrat zum Direktor des PSI gewählt.

Für die Schweizer Wissenschaft war das ein Glücksfall. Blaser hat auch diese Aufgabe mit Bravour gemeistert und damit die Grundlage geschaffen, dass aus den Stärken von SIN und EIR die Strahlkraft des PSI werden konnte.

*

Lieber Jean-Pierre: herzlichen Dank!

Heinrich Ursprung

1. Vorgeschichte

1.1 Die Einführung der Kernphysik an der ETH in Zürich

Die 1930er Jahre waren durch eine stürmische Entwicklung der Physik des Atomkerns gekennzeichnet. Die Entdeckung des Neutrons (die Fachausdrücke sind im Glossar im Anhang erklärt) durch James Chadwick im Jahr 1932 und die erstmalige Herstellung radioaktiver Isotope durch Frédéric und Irène Joliot-Curie 1933 führten zum Modell eines aus Neutronen und Protonen zusammengesetzten Kerns, auf dem eine systematische Forschung aufgebaut werden konnte. Paul Scherrer, der damals das Physikalische Instituts der ETH leitete, war von der neuen Forschungsrichtung fasziniert. Er erkannte schon früh ihre Zukunftsmöglichkeiten und beschloss, sie an seinem Institut einzuführen. Mit diesem Entscheid begann an der ETH eine in Europa herausragende Weiterentwicklung der Kernphysik.

Die kernphysikalischen Experimente folgten alle dem Schema, dass bestimmte Materialien mit schnellen Teilchen – zum Beispiel Protonen oder Deuteronen (schwere Wasserstoffkerne) – beschossen wurden. Die meist positiv geladenen Projektile mussten auf eine genügend hohe Energie beschleunigt werden, sodass sie trotz der elektrostatischen Abstossung mit den ebenfalls positiv geladenen Atomkernen kollidieren und dabei eine Reaktion auslösen konnten. Die Untersuchung der Reaktionen und ihrer Produkte ermöglichte es, neue Erkenntnisse in der Kernphysik zu gewinnen.

Instrumente für die kernphysikalische Forschung waren also Teilchenbeschleuniger. Diese waren im wesentlichen Hochspannungsgeneratoren. Sie errichteten ein starkes elektrisches Feld, welches geladene Teilchen beschleunigte. Das Mass für die dabei erzielte Teilchenenergie war das Elektronenvolt (siehe Glossar).

Im Lauf der Jahre baute die ETH verschiedene derartige Einrichtungen. Die Erfahrungen zeigten bald, dass mit zunehmender Energie der Projektile mehr und komplexere Kernreaktionen erzeugt wurden, die wiederum mehr auszuwertende Informationen hergaben. Anfänglich erbrachten die Beschleuniger noch keine hohen Teilchenenergien. An der ETH war ab 1936 ein sogenanntes Kanalstrahlrohr im Gebrauch, welches bis zu 140 Kilovolt erzeugte. 1938 baute Hermann Wäffler auf Anregung von Paul Scherrer, der für die nötigen Mittel sorgte, im Physikgebäude an der Gloriastrasse auf zwei Stockwerken einen Bandgenerator nach van de Graaff, den er 1940 in Betrieb nehmen konnte. Dieser lieferte eine Beschleunigungsspannung von 800 Kilovolt. Wäffler und seine Kollegen nützten diese Anlage zehn Jahre lang vor allem für Messungen des Kern-Photoeffekts.

Die Landesausstellung von 1939 veranlasste das Physikalische Institut der ETH zusammen mit der Zürcher Firma Micafil, eine Anlage zur Erzeugung einer Hochspannung mittels Gleichstrom herzustellen, den sogenannten Tensator (Bild 1). Dieser beruhte auf dem Prinzip von Cockroft und Walton und benützte die vom Schweizer Physiker Heinrich Greinacher entwickelte Schaltung für die Spannungsvervielfachung. Er wurde an der „Landi“ ausgestellt und anschliessend in einer der von früheren Versuchen verbliebenen Kavernen beim Physikgebäude untergebracht. Federführend bei dieser Maschine war Werner Zünti. Der Tensator erreichte eine Spannung von rund 700 Kilovolt und wurde bis in die 1960er Jahre vor allem als Neutronengenerator verwendet.

Bild 1: Micafil-Tensator an der ETH

Bei den erwähnten Anlagen ging es um die Beschleunigung von Teilchen mit einer konstanten hohen Gleichspannung. Starteten die Teilchen bei Null, wurden sie durch die Hochspannung direkt beschleunigt und verliessen die Beschleunigerstrecke mit der gewünschten Energie. Mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten für die Hochspannung erreichten die Physiker in den 1930er Jahren mit 3 Megavolt eine vorläufige obere Grenze.

In den USA beschritt Ernest O. Lawrence, zusammen mit seinem Mitarbeiter M. Stanley Livingston, für die Erzeugung noch höherer Energien einen neuen Weg. Er baute anfangs der 1930er Jahre an der Universität Berkeley, Kalifornien, das erste Zyklotron. Mit der Weiterentwicklung der ersten Maschine erreichte er für Deuteronen bereits Energien von 6.3 MeV. Dies eröffnete weltweit neue Forschungsmöglichkeiten. Lawrence stellte damit viele zuvor unbekannte radioaktive Isotope der bekannten Elemente und zum Teil sogar vollkommen neue Elemente her. Mit einem noch leistungsfähigeren Zyklotron konnte er 1941 erstmals die aus der kosmischen Strahlung bekannten Mesonen erzeugen. Später beschäftigte er sich mit medizinischen und biologischen Anwendungen des Zyklotrons.

Bild 2: M. Stanley Livingston und Ernest O. Lawrence vor dem 27-Inch-Zyklotron am alten Radiation Laboratory der Universität Berkeley, Kalifornien, 1934

Lawrence war auf die Idee des Zyklotrons gekommen, nachdem er die 1928 publizierte Arbeit von Rolf Wideröe über einen Linearbeschleuniger gelesen hatte. Er realisierte, dass in einem homogenen Magnetfeld die Umlauffrequenz der Teilchen unabhängig ist von ihrer Energie (Isochronie). Damit können mit einer konstanten Frequenz der Hochspannung kontinuierlich alle Teilchen beschleunigt werden, die gleichzeitig durch die Beschleunigungsstrecke fliegen, unabhängig von ihrer radialen Position. Dies führt zu einem kontinuierlichen Strahl und damit zu einer viel grösseren Intensität als bei einem gepulsten Strahl wie z.B. beim später entwickelten Synchrotron.

Das neue Beschleunigerprinzip fand weltweit grosses Interesse. In Europa begannen Ende der 1930er Jahre verschiedene Institute mit dem Bau von Zyklotronen. Auch Paul Scherrer, der derartige Entwicklungen mit wachem Interesse verfolgte, wünschte ein solches Instrument für die ETH.

Die Hauptkomponenten des Zyklotrons, nämlich ein grosser Elektromagnet und ein starker Hochfrequenzsender, waren teuer. Ihre Herstellung erforderte zudem Professionalität, was einen Eigenbau ausschloss. Ausserdem konnte eine derartige Anlage wegen des Strahlenschutzes nicht in bestehenden Institutsräumen untergebracht werden, sondern brauchte ein eigenes Gebäude.

Das Zyklotron

Das klassische Zyklotron besteht aus einem grossen Elektromagneten, zwischen dessen Polen sich eine flache, runde Vakuumkammer befindet. Im Innern der Kammer hängen zwei hohle, halbkreisförmige Metallkammern, die wegen ihrer D-ähnlichen Form „Dee“ oder Duanden genannt werden. Zwischen den Kammern befindet sich der Beschleunigungsspalt. Am äusseren Rand der Kammer ist ein Ablenkkondensator (Septum) angebracht, der zur Herausführung (Extraktion) des Teilchenstrahls in Richtung auf ein bestimmtes Ziel dient.

Die Ionen – beispielsweise Protonen – werden mit geringer Energie aus ihrer Quelle in eine der Kammern injiziert. Das Magnetfeld leitet sie auf eine kreisförmige Bahn. Da die Ionen bei jeder Durchquerung des Spalts beschleunigt werden, nimmt ihr Bahnradius im Magnetfeld zu. Daraus resultiert eine spiralförmige Bahn, die vom Zentrum bis zum äusseren Rand führt. Das elektrische Feld im Spalt wird durch eine hochfrequente Wechselspannung von Grössenordnung 100’000 Volt erzeugt. Die Frequenz der Hochspannung muss der Bahnumlauffrequenz der Ionen oder einem Vielfachen entsprechen, damit diese beim Durchlaufen des Spalts immer mit der passenden Phase der Hochfrequenz übereinstimmen und somit beschleunigt (statt gebremst) werden.

Pro Umlauf werden beim klassischen Zyklotron somit jeweils zwei Beschleunigungsstrecken wirksam. Wegen der Mehrfachnutzung der Beschleunigungsstrecken sind Kreisbeschleuniger (Zyklotrone, Synchrotrone) effizienter als Linearbeschleuniger und zudem viel kompakter.

Bild 3: Schema eines Zyklotrons (Aufsicht auf die Mittelebene) mit den zum Rand hin abnehmenden Abständen zwischen den Teilchenbahnen sowie der Extraktion des Strahls mittels eines gekrümmten Plattenkondensators.

Wie Hermann Wäffler in seiner Geschichte über die Kernphysik an der ETH schreibt, waren die Voraussetzungen günstig, um anfangs der 1940er Jahre ein derartiges Grossprojekt zu starten. Mittlerweile waren im Beschleunigerbau Erfahrungen gesammelt worden, welche die Aussichten auf eine Lösung der mit dem Projekt verbundenen technischen Probleme erhöhten. Zudem hatte die ETH die Anstellungsbedingungen am Physikalischen Institut verbessert, und da der inzwischen ausgebrochene Krieg eine wissenschaftliche Karriere im Ausland auf unbestimmte Zeit verunmöglichte, waren junge Physiker bereit, sich auf längere Zeit für den Bau eines ETH-Zyklotrons zu engagieren

Allerdings fehlten die Mittel für das Projekt. Scherrer beschloss daher, durch eine Reihe von Vorträgen Persönlichkeiten aus der Wirtschaft als Donatoren zu gewinnen. Der Erfolg war dank Scherrers hoch entwickelter Kunst der allgemein verständlichen Darstellung physikalischer Vorgänge überwältigend. Das Institut erhielt namhafte Zuwendungen für den Fonds zum Bau des Zyklotrons. Walter Boveri, der Delegierte des Verwaltungsrats der BBC, ein Freund und Gönner von Scherrer, unterstützte das Projekt tatkräftig: Die Firma übernahm den Bau des Hochfrequenzsenders und stellte zudem Fachpersonal zum Aufbau der Anlage am Institut zur Verfügung. Die Maschinenfabrik Oerlikon führte Konstruktion und Bau des 40 Tonnen schweren Elektromagneten durch.

Die meisten übrigen Komponenten konnten am Physikalischen Institut entworfen und gefertigt werden, wobei zum Teil neue Wege beschritten wurden. Federführend waren dabei die Doktoranden Peter Preiswerk, Pierre Marmier und Jean-Pierre Blaser. Die ETH finanzierte den Bau des Zyklotrongebäudes. Dieses bestand aus einem quadratischen Raum von 240 Quadratmetern Grundfläche und drei Metern Innenhöhe. Des Strahlenschutzes wegen wurde es drei Meter tief ins Erdreich eingelassen und durch einen unterirdischen Gang mit dem Institutsgebäude verbunden.

Bild 4: Das ETH-Zyklotron

Das ETH-Zyklotron (Bild 4) ermöglichte Kernreaktionen mit Protonen und Deuteronen und war für eine Energie von 15 MeV projektiert. Bei der Inbetriebnahme zeigte sich ein unerwarteter und nicht verstandener Effekt. Der Umlaufsinn der Teilchen in der Zyklotronkammer hätte symmetrisch sein und somit beide Richtungen erlauben sollen. Er war jedoch asymmetrisch und entsprach nicht der Konstruktion der Maschine, sodass sich der Strahl nicht auslenken liess. Vorerst konnten nur Proben im Innern der Kammer bestrahlt werden. Da es nicht gelang, diese Asymmetrie zu verstehen und zu beseitigen – damals gab es noch keine Computer! –, mussten die Physiker die Anlage umbauen, indem sie die Zyklotronkammer wendeten. Hierauf liess sich der Teilchenstrahl extrahieren.

Das ETH-Zyklotron diente von 1944 bis 1964 ausschliesslich der Beschleunigung von Protonen. Es zeigte sich nämlich, dass die bei Protonenreaktionen auftretenden Phänomene zu so vielseitigen und interessanten Fragestellungen Anlass gaben, dass die Zyklotron-Arbeitsgruppen damit voll ausgelastet waren.

Als sich die Nutzungsmöglichkeiten des ETH-Zyklotrons langsam erschöpften, war die Zeit gekommen, um sich über eine leistungsfähigere kernphysikalische Anlage Gedanken zu machen. Zu diesem Zweck gründete Scherrer eine Zyklotronplanungsgruppe (siehe Abschnitt 2.1).

1.2 Der Schritt zur Hochenergiephysik: Die Gründung des CERN in Genf

Die Forschungsergebnisse der 1930er und 1940er Jahre in der Kernphysik ermutigten die Physiker, die Energie der beschleunigten Teilchen um Grössenordnungen zu steigern. Dieser Trend zur Hochenergiephysik ging übrigens, wie damals alle derartigen Entwicklungen, von den USA aus. Er brachte es mit sich, dass die Teilchenbeschleuniger immer grösser und technisch komplexer wurden. Nicht nur ihr Bau, sondern auch ihr späterer Betrieb wurden aufwendiger und stellten zunehmend professionelle Anforderungen. Diese überstiegen das Niveau von einzelnen Hochschulinstituten. Verschiedene Länder gründeten zu diesem Zweck daher nationale Forschungsinstitute. Für die Teilchenphysik bei höchsten Energien mit sehr grossen und teuren Maschinen zeichnete sich gar ein internationales Zusammengehen als sinnvoll ab.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Wissenschaft im meist kriegsversehrten Europa nicht mehr an der Weltspitze. Eine Anzahl von bekannten europäischen Wissenschaftern aus dem Bereich der Atom- und Kernphysik – darunter Louis de Broglie, Pierre Auger und Lew Kowarksi in Frankreich, Edoardo Amaldi in Italien und Niels Bohr in Dänemark – ergriffen daher die Initiative zur Gründung einer europäischen Organisation für Forschung in Kernphysik. Mit einem europäischen Forschungslabor würde einerseits die Zusammenarbeit zwischen den Forschern verschiedener Länder gefördert, und anderseits würden die Kosten der immer teureren kernphysikalischen Apparaturen gemeinsam getragen.

Im Rahmen einer UNESCO-Konferenz von 1951 in Paris unterzeichneten elf europäische Länder ein Abkommen zur Gründung eines „Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire“ (CERN). Der Rat nahm seine Planungsarbeit auf. Bereits an der dritten Sitzung (Bild 5) – die übrigens von Paul Scherrer präsidiert wurde – 1952 bestimmte er Genf zum Sitz des zukünftigen Labors. 1953 stimmte der Kanton Genf diesem Vorhaben in einer Volksabstimmung zu, und im gleichen Jahr wurde der CERN-Vertrag verabschiedet. Nachdem ihn die inzwischen zwölf beteiligten europäischen Länder, darunter die Schweiz, ratifiziert hatten, wurde 1954 die Europäische Organisation für Kernforschung gegründet. Sie behielt den Namen CERN.

Schweizer Gruppen waren am CERN von Anfang an vertreten, da die Schweiz den Anschluss an die Hochenergiephysik nicht verpassen wollte. Sie beteiligte sich mit jährlichen Beiträgen von anfänglich rund 3 Millionen Franken an dieser europäischen Forschungsgemeinschaft.

Bild 5: Dritte Sitzung des provisorischen CERN-Rats am 4. Oktober 1952 in Amsterdam. Neben dem Entscheid für Genf als Standort beschloss der Rat, ein 25-30 GeV-Protonensynchrotron zu bauen. Links hinten ist als Vorsitzender Paul Scherrer zu sehen, rechts daneben am selben Tisch Pierre Auger, Niels Bohr, Lew Kowarski und Peter Preiswerk.

Im Jahr 1957 nahm das CERN mit dem 600 MeV-Synchrozyklotron seinen ersten Teilchenbeschleuniger in Betrieb. Dieses erlaubte Experimente nicht nur in Kern-, sondern auch in Teilchenphysik. Nach 1964 wurde es vor allem für Kernphysik genutzt, da seit 1959 für die Teilchenphysik das neue Protonensynchrotron mit 28 GeV zur Verfügung stand. Beide Maschinen hatten eine lange Nutzungsdauer. Das Synchrozyklotron lieferte später, von 1967 bis 1990, Protonen für die ISOLDE-Anlage. Diese diente der Produktion einer grossen Vielfalt von instabilen, radioaktiven Ionen für Experimente, die von reiner Kernphysik bis zur Festkörperphysik und zu medizinischen Anwendungen reichten. Das Protonensynchrotron seinerseits war für kurze Zeit weltweit der Beschleuniger mit der höchsten Teilchenenergie. Nachdem das CERN in den 1970er Jahren neue Beschleuniger baute, diente es vor allem als Injektor für die neuen Maschinen.

Wie kam die Schweiz zum CERN?