Danksagung der Autorin:

Ganz herzliches Dankeschön geht an alle, die mich immer so großartig unterstützt haben bei meinem Buch. Ein extra Dank geht dabei an meine Freundinnen Jenny, Laura, Julie C, Julie P und Kiara für die malerischen Zeichnung, die Ideengabe und die Ermutigung nicht aufzugeben. Ebenfalls ein Dankeschön geht an meine Mutter und Claude, die mir geholfen haben, dieses Buch zu veröffentlichen. Danke euch allen, ich habe euch lieb.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, handelnden Personen, Orte, Institutionen und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen wäre völlig unbeabsichtigt und reiner Zufall.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© 2014 Sarah Verlaine

Layout: Claude Peiffer

Titelbild: © Claude Peiffer / Sarah Verlaine

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN-13: 978-3-7386-9005-7

Kapitel 1

Königin Goldheart sah besorgt in die Kugel der Vorhersehung. Seit genau Mitternacht flackerte diese sehr stark in einem rot-weißen Licht. Das stete goldene Leuchten war erloschen.

„Meine Königin, Ihr haben mich rufen lassen. Wie kann ich Euch helfen?“, hörte sie eine dunkle kräftige Stimme hinter sich.

Goldheart drehte sich um. Lord Tallhelm kam zu ihr geflogen und kniete zu ihren Füßen nieder. Er senkte sein Haupt respektvoll vor ihr.

„Tallhelm, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich, wenn wir alleine sind, wie deine Freundin behandeln solltest?“, tadelte ihn die Königin mit einem Lächeln und trat näher an ihren guten Freund und Heerführer Lord Tallhelm heran.

„Aber Ihr seid die Königin und ich respektiere euch, so wie euer gesamtes Volk es tut“, sagte Lord Tallhelm höflich. Dabei glänzten seine grauen Augen.

„Und du bist mein Freund Tallhelm, deshalb erwarte ich auch, dass du mich dann auch wie deine Freundin behandelst und nicht wie deine Königin“, kicherte Goldheart und verwuschelte Lord Tallhelms rotes kurzes Haar. Er errötet leicht und wandte sich schnell wieder ihrem Anliegen zu.

„Wie Ihr wollt. Wie kann ich euch dienen?“

Königin Goldheart trat zur Seite.

Lord Tallhelm erblickte die flackernde Kugel.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er besorgt und atmete tief durch.

„So erschien sie uns zuletzt, als Lord Alfan die Erde und unsere Welt fast zerstört hätte“, erinnerte ihn Königin Goldheart. Ein eisiger Schauer lief ihr beim Gedanken an dieses Blutbad über den Rücken.

„Aber das ist unmöglich!“, stieß Lord Tallhelm aus. „Ich selbst habe dafür gesorgt, dass er auf Ewig in der Hölle schmort.“

„Nichts ist unmöglich“, sagte die Königin. „Die Kugel irrt sich nicht.“

Lord Tallhelm fluchte murmelnd und sprach: „Dann lasst die Kugel zeigen, was es zu bedeuten hat.“

Die Königin nickte. Sie wandte sich wieder dem säulenförmigen Sockel aus weißen Marmor zu.

„Ira, zeig mir die Zukunft!“, befahl die Königin, dabei berührte sie die Kugel leicht mit den Fingerspitzen. Ein goldenes Licht legte sich über die Kugel. Es war nur der Königin gestattet, die Kugel zu befragen. Sie war der goldene Engel. Der Einzige ihrer Art.

Die melonengroße Kugel erhob sich einen Meter von ihrem Sockel empor. Ihr Durchmesser wurde größer. Ihre goldene Erscheinung transparenter. Ein Bild entstand.

„Die Erde!“, stieß Lord Tallhelm hervor. Es war eindeutig die Welt der Menschen. Jedoch bot sie einen unerwarteten Anblick: abgebrannte Wälder, ausgetrocknete Meere und Seen. Städte lagen in Schutt und Staub. Alles war zerstört.

„Kein Lebenszeichen. Was hat das zu bedeuten?“, fragte die Königin, ihr schauderte es schon.

In Angesicht der trostlosen Erde, trat nun ein kahler Mann mit einen strubbligen grauen Kinnbart hervor. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht. In ihnen lag die Verdammnis der Finsternis. Ein hämisches Lachen kam über die Lippen der dunklen Gestalt.

„Lord Alfan!“, stießen die Königin und Tallhelm gleichzeitig aus. Ihnen blieb beim Anblick des gefallenen Engels vor Schreck fast das Herz stehen.

Zu den Füßen des Abtrünnigen lagen tote Menschen und Engel. Abgeschlachtet von den Kreaturen der Hölle. Das Lachen des bösen Lord klang aus und das Bild löste sich auf. Die Kugel nahm ihre ursprüngliche Größe wieder an und sank auf ihren Sockel zurück.

„Tallhelm, er wird wieder an die Macht kommen und alles und jeden zerstören, was wir in den letzten Jahrhunderten mühevoll aufgebaut haben!“, sagte die Königin niedergeschlagen. Goldschimmernden Tränen traten in ihre weißen Augen.

Lord Tallhelm nahm sie liebevoll in seine starken Arme.

„Wir werden bestimmt einen Weg finden!“, versprach der Lord seiner Königin. „Vielleicht kann Ira uns auch zeigen, wie wir ihn aufhalten können.“

Tallhelm fuhr ihr zärtlich über den Kopf und streichelte ihr langes platinblondes Haar.

Die Königin schöpfte Hoffnung aus seinen Worten. Langsam versiegten ihre Tränen. Erneut berührte sie die Kugel:

„Ira, zeig mir, wie Lord Alfan aufgehalten werden kann?“

Die Kugel erhob sich abermals in die Luft. Zunächst geschah nichts. Die Königin stutzte. So hatte Ira noch nie reagiert.

„Was ist…?“

Noch bevor Lord Tallhelm die Frage beenden konnte, passierte etwas, was selbst die Königin noch nie erlebt hatte.

Die Kugel stieß plötzlich ein grelles weißes Licht aus. Goldheart und Lord Tallhelm wurden geblendet. Eine Druckwelle riss sie von den Füßen, und schleuderte sie gegen eine der mächtigen goldenen Engelssäulen des Thronsaales.

Als sie ihre Sehkraft wieder erlangten, sahen sie ein etwa 17 Jahre altes Mädchen vor sich. Sie war hübsch, groß und schlank, besaß braunes langes Haar, grüne funkelnde Augen und ein einnehmendes Lächeln.

„Das ist ein Menschenmädchen“, sagte Lord Tallhelm überrascht.

Plötzlich verzog das Mädchen das Gesicht vor Schmerz und fiel auf die Knie. Aus ihrem Rücken sprossen zwei Engelsflügel. Weder Lord Tallhelm, noch die Königin hatten diese Art von Flügel je gesehen. Sie waren weiß wie Schnee und leuchteten heller und stärker als ein Stern.

„Sie ist ein Engel! Aber wie ist das möglich?“, stieß Lord Tallhelm hervor.

Nun hielt das Mädchen ein Schwert aus Feuer – Engelsfeuer – in der Hand und stürzte sich damit auf Lord Alfan. Sie kämpften um die Erde. Das Mädchen schien dem bösen Lord unterlegen zu sein. Alfan schlug ihr das Schwert aus der Hand. Sie war ihm nun schutzlos ausgeliefert. Da schleuderte das Mädchen einen grellen weißen Lichtstrahl aus ihren Händen auf Lord Alfan, der durch die Wucht zurück geschleudert wurde.

Das Mädchen schnappte sich ihr Schwert, sprang hoch und führte einen tödlichen Schlag aus. Blut spritzte über ihr Gesicht. Langsam glitt der Kopf vom Lord von dessen Schultern und klatschte auf den matschigen Boden. Der Körper fiel schlicht zur Seite. Das Blut des gefallenen Engel sickerte in die Erde, die daraufhin von neuen erblühte. Die Meere und Seen fühlten sich wieder mit Wasser voller Leben. Die leblosen Körper verschwanden und zwischen den Bäumen traten Menschen hervor, die applaudierten und sich vor dem Mädchen verneigten. Aus dem Himmel sanken die Engel herab und taten es den Menschen gleich.

Das Mädchen hielt das Schwert hoch. Die Masse jubelte ihr zu. Jemand rief:

„Seraphim!“

Dann erlosch das Bild und Ira sank erneut auf ihren Platz nieder.

Die Königin sowie Lord Tallhelm waren sprachlos.

„Ein Menschenmädchen mit leuchtenden Engelsflügel wird uns retten!“, brachte Lord Tallhelm die Kurzfassung hervor.

„Dem scheint so“, sagte die Königin nachdenklich.

„Das ist unmöglich! Ira muss sich irren!“, sagte Lord Tallhelm. Wie konnte ein Menschenkind sie retten? Dies war seine Aufgabe. Schließlich war er der tapferste und mächtigste Engelkrieger. Er, der silberne Engel.

„Ira irrt sich nie“, stellte die Königin fest. „Seit Jahrhunderten sagte die Kugel die Zukunft voraus. Sie hatte noch nie falsch gelegen, warum ausgerechnet jetzt?“

Lord Tallhelm wollte etwas erwidern doch die Königin hob die Hand und er schwieg.

„Wir müssen sie herbringen. Nur hier ist sie sicher und kann sich richtig auf den Kampf vorbereiten“, überlegte die Königin während sie auf und ab lief. Ihr langer, goldener Rock schleifte über den Boden. Die Absätze ihrer Schuhe hallten durch den prächtigen Saal. „Hier ist sie in Sicherheit. Möglicherweise weiß Lord Alfan auch schon von ihr und wird alles tun, um sie zu töten.“

„Ihr möchtet einen Menschen in Euer Reich bringen?“, wunderte sich Lord Tallhelm. Die Empörung in seinen Worten war ihm deutlich anzuhören. Schnell jedoch begriff er, dass er sich im Ton vergriffen hatte. Er sank vor Goldheart auf die Knie. „Verzeiht mir meine Ausbruch, meine Königin. Ich kann nicht verstehen, wie dieses Mädchen uns retten soll, wenn selbst die besten Engel des Reiches an dieser Aufgabe scheitern.“

Liebevoll berührte die Königin seine leuchtend roten Haare und sagte: „Ist schon gut, ich verstehe dich. Aber gedenke, sie ist halb Mensch, halb Engel.“

Lord Tallhelm stand wieder auf und sprach: „Ich werde mich sofort auf den Weg zur Erde machen.“

Die Königin legte ihre Hand auf die Brust ihres Lords, welche von einer Rüstung aus Leder geschützt wurde. Lord Tallhelm war von stattlichem Körperbau. Goldheart blickte zu ihm hoch.

„Nein, ich brauche dich hier an meiner Seite. Schick deinen besten Schüler“, befahl sie.

„Verzeihung, meine Königin, aber meine Schüler sind noch nicht bereit, schon gar nicht für eine Mission auf der Erde“, verriet Lord Tallhelm ihr. Alleine schon der Gedanke an diese Idee, verursachte bei ihm Schweißausbrüche. Er stellte sich vor, wie August versagen würde, oder Talas die Erde in ein Chaos stürzen würde. Seine Kadetten waren einfach noch zu unreif für eine solche Aufgabe.

„Einer deiner Schüler wird sich bewähren“, behauptete die Königin überzeugt. „Sie hatten den besten Lehrer. Wähle einen aus, der uns das Mädchen herbringt. Ich möchte ihn morgen sehen.“

Ohne weitere Worte verließ die Königin den Thronsaal.

Bei seiner Rückkehr auf den Trainingsplatz fand Lord Tallhelm das reine Chaos vor. Keiner seiner Schüler verfolgte noch seinen Anweisungen. Sie standem im Kreis und schrieen laute Anfeurungsrufe. Lord Tallhelm flog über die Lärmenden hinweg. Schnell erkannte er den Grund des Kraches. Eine Schlägerei! Mit ausgebreiteten Schwingen fuhr er zwischen die Kämpfenden und packte sie grob am Kragen. Riss sie von den Füßen.

Storm und Talas versuchten vergeblich sich aus dem würgenden Griff ihres Ausbilders zu befreien.

„Was soll dieser Unsinn?“, schrie Lord Tallhelm sie wütend an. „Ihr wollt Soldaten der Königin sein, ihr Schwachköpfe!“

„Ich habe nichts getan, es war Storm, er hat angefangen!“, schrie Talas. Er hatte eine aufgeplatzte Lippe und ein blaues Veilchen. Seine Kleidung war zerrissen. Ein paar schwarze Federn von seinen Flügeln lagen am Boden.

„Gar nicht wahr, du Mistkerl! Fick dich!“, schrie Storm, dessen nackter Oberkörper Prellungen vorzeigte. Oberhalb des rechten Auges hatte er eine blutende Platzwunde und sein linker Flügel stand in einem unnatürlichen Winkel ab.

„Das reicht!“, beendete Lord Tallhelm das Geschrei der beiden Kontrahenten und warf die beiden Jungen rücksichtislos zu Boden. „Und ihr Anderen, schämt euch, dies als Unterhaltung anzusehen. Zur Strafe macht ihr mir 2000 Liegestütze! Und ihr Zwei kommt mit!“

Die anderen Schüler seufzten, wagten es jedoch nicht gegen die Anordnung ihres Ausbilders aufzumotzen.

Lord Tallhelm sah sich Storms geknickten Flügel genauer an.

„Ausgekugelt. Habt ihr ja gut hinbekommen!“, knurrte er.

Die beiden Jungs schauten sich etwas verdattert an und taten ganz unschuldig. Dennoch spürte Tallhelm deutlich, dass dieser Kampf noch nicht vorbei war.

Er packte Storm an der Schulter und riss kurz an dem geknickten Flügel. Storm schrie auf und verzog das Gesicht, als Lord Tallhelm den Flügel einrängte. Es tat höllisch weh.

„Was sollte das ganze überhaupt?“, fragte Lord Tallhelm.

„Ich habe Summer hinterher gepfiffen und Storm hat behauptet sie sei oberflächlich, da hab ich ihm eine geknallt und er mir und dann…!“, fing Talas an.

„Ja, ja, ich kann es mir schon vorstellen“, sagte Lord Tallhelm genervt. „Summer?“, fragte er jedoch, als ihm bewusst wurde, dass es um ein Mädchen ging und sah die Jungs überrascht an.

„Ja, die heiße Summer!“, stieß Talas hervor und betrachtete ein unsichtbares Bild über seinem Kopf.

„So heiß ist die gar nicht. Sie ist voll die Zicke“, knurrte Storm, als der Schmerz in seinem Flügel etwas abnahm.

Bevor die beiden Jungs sich jedoch wieder in den Haaren lagen, ob Summer nun heiß war oder nicht, ging Lord Tallhelm wieder dazwischen und sagte: „Mädchen sind kein Grund zum Streiten.“

Talas nickte schwach und sagte: „Ja schon, aber Storm findet keins der Mädchen toll, kein einziges.“

„Was soll das denn heißen?“, fuhr Storm ihn an.

„Das soll heißen, du hast die Richtige für dich noch nicht gefunden“, sagte Lord Tallhelm schnell um den Jungen wieder zu beruhigen. Er sah die Jungs enttäuscht an.

Er dachte, er hätte sie zu anständigen jungen Männern erzogen. Stattdessen führten sie sich immer noch auf, wie kleine Jungs. Eigentlich waren sie es ja auch noch. Storm war mit seinen 19 Jahren der Jüngste, der älteste seiner Schüler knapp unter 25.

„Talas, du läufst zur Strafe 200 Mal um den Trainingsplatz. Danach kannst du gehen. Ich will nie wieder sehen, dass ihr euch in den Haaren liegt. Kann nicht einmal ein Tag vergehen, wo ihr euch nicht gegenseitig verprügelt?“, fragte Lord Tallhelm.

Die Jungs musterten sich finster. Als ob sie sich jemals versöhnen würde. Dies würde wohl nie der Fall sein, denn dafür waren sie zu verschieden.

Lord Tallhelm tat so, als würde er die Blicke, die die Jungs sich gegenseitig zuwarfen nicht sehen.

„So Storm, bis morgen müsste dein Flügel wieder in Ordnung sein“, versicherte ihm Lord Tallhelm. „Belaste ihn nur nicht zu stark und mach keine Dummheiten. Du kannst gehen!“

Storm rührte sich nicht von der Stelle. Lord Tallhelm sah ihn verdutzt an.

„Ihr bestraft mich nicht?“, fragte er überrascht.

„Ich denke der Schmerz war Strafe genug. Geh und ruh dich aus. Morgen wird ein schwieriger Tag“, teilte ihm Lord Tallhelm mit und verließ grußlos den Trainingsplatz in die Abenddämmerung hinein.

Storm blieb stehen und stutzte. Was konnte denn morgen so wichtig sein? Es interessierte ihn nicht. Er machte sich auf den Weg nach Hause. Seine Mutter wird bestimmt sehr erfreut darüber sein, zu hören, dass er sich mal wieder geprügelt hat.

Lord Tallhelm saß auf einer Bank vor dem kleinen See. Er blickte in die untergehenden Sonne, welche sich im Wasser spiegelte. Es war ein friedlicher und ruhiger Ort. Bäume boten Schutz vor neugierigen Blicken. Hierher zog er sich gerne zurück um zu überlegen. Hier konnte er immer von allem abschalten und die richtige Entscheidung finden.

Ein paar welke Blätter fielen in den See und ließen das Wasser leicht Wellen schlagen. Die Teshes, Fische mit bunten Federn, sprangen aus dem Wasser um noch die letzten Sonnenstrahlen abzubekommen. Ihre Körper glitten so schnell durch das Wasser, dass man sie nur als kleine Regenbögen erkennen konnte. Erst wenn sie aus dem Wasser sprangen, erkannte man ihre wahre Gestalt.

Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die ganze Atmosphäre in ein Orange-Rot, bis schließlich alles dunkel wurde. Die Nachtblumen öffneten sich langsam und erstrahlten in ihrer Lichtpracht.

„Wen soll ich bloß auswählen?“, fragte Lord Tallhelm in die Stille hinein. „Alle meine Schüler sollten eigentlich qualifiziert für einen Aufenthalt auf der Erde sein. Aber ihnen fehlt die Erfahrung. Und dann diese Leichtsinnigkeit.“

Natürlich erhielt er keine Antwort auf seine Fragen. Der Mond ging auf und spiegelte sich im Wasser des Sees wieder, welcher nun in einem satten Grün leuchtete.

„Wenn einem von ihnen etwas passieren würde, ich könnte es mir nie verzeihen. Aber genau so wenig könnte ich es mir verzeihen die Königin zu enttäuschen.“

Lord Tallhelm blickte auf den Rasen zu seinen Füßen, welcher nun im Mondschein seine Farbe von grün zu violett umwandelt hatte. Die Nacht war angebrochen.

Königin Goldheart saß in ihrem Schlafgemach vor ihrem Spiegel und flochtete sich ihr Haar. Sie hielt plötzlich inne und malte das Gesicht von Seraphim aus goldenem Glitzerstaub in die Luft. Das Bild zeigte wie das Mädchen lächelte.

„Sie kommt mir so bekannt vor und doch wieder nicht. Wer ist sie? Sie lebt auf der Erde und ist trotzdem ein Engel. Wie kann das sein?“, fragte sie sich, doch das Bildniss des Mädchens gab ihr keine Antwort sondern lächelte sie nur weiter an. „Seraphim“, murmelte die Köningin.

So wurde nach dem Mädchen in der Prophezeiung der Kugel gerufen. Aber wer hatte ihn gerufen, es musste jemand gewesen sein, der dem Mädchen viel bedeutete, denn sonst hätte sie nicht darauf reagiert. Die Königin schüttelte leicht den Kopf, dann fuhr sie mit der Hand durchs Bild und es verschwand.

Es war bereits tief in der Nacht, doch Storm konnte nicht schlafen. Er blickte aus seinem Fenster zum Palast hin, wo die Wachen ihre Runden drehten.

Eines Tages werde ich auch dort sein“, dachte er, doch dieser Gedanke verflog sofort als ihm das Training von heute wieder einfiel, die Prügelei mit Talas und die Worte von Lord Tallhelm. Auch dachte er daran, wie seine Mutter ihn angesehen hatte, als er wieder mit zerrissener Kleidung, einem leicht angeschwollenen Flügel und einer Wunde auf der Stirn nach Hause gekommen war.

„Was hast du wieder angestellt?“, hatte sie ihn gefragt.

„Nichts! Lass mich!“, hatte er geantwortet und war sofort in seinem Zimmer verschwunden. Nun fühlte er sich wieder mies. Er hatte seine Mutter wieder einmal verletzt, ohne es eigentlich zu wollen. Doch es passierte einfach. Er tat Leuten, die ihm etwas bedeuteten weh, ohne es zu wollen und dies schon seit Jahren. Er versuchte an etwas Anderes zu denken und ihm fiel ein, was Talas gesagt hatte: er, Storm, würde keine Mädchen anziehend finden. Es war wahr, dass er keines der Mädchen, die hier lebten hübsch oder nur nett fand. Nicht einmal eine Freundschaft zu einer von ihnen konnte er sich vorstellen. Sie entsprachen nicht seinen Ansprüchen.

Dann kam ihm auch wieder in den Kopf, dass er nicht wie die anderen Engel war. Und was Lord Tallhelm damit gemeint hatte, dass Morgen etwas Besonderes wäre? Was denn? Lernten sie etwas Neues? Was war es? Obwohl er es nicht wahrhaben wollte, lassteten diese Faktoren schwer auf ihm. War er wirklich so anders?

Was wenn wirklich etwas nicht mit ihm stimmte? Was wäre wenn Lord Tallhelm ihn nicht mehr mit trainieren ließ, weil er anders war?

Storm hatte keine Antworten auf alle seine Fragen und auch niemand konnte ihm helfen. Irgendwann in der Nacht fiel er in einen unruhigen Schlaf. Ein furchtbaren Alptraum suchte ihn heim, einer vor dem er sich fürchtete und der ihn mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen ließ. Er handelte von der Rückkehr von Lord Alfan, dem Mörder seines Vaters.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Als Seraphim heute Morgen aufwachte, wusste sie noch nicht, was alles auf sie zukommen, welches Schicksal sie ereilen würde. Sie stand wie gewöhnlich um 6 Uhr auf und machte sich fertig für die Schule. Sie verabschiedete sich nicht von ihren Vorgesetzten im Heim. Warum sollte sie auch? Sie waren nicht einmal ihre Familie, geschweige denn Verwandte oder Freunde. Sie war ein Waisenkind und Mutterseelen alleine.

Sie ging die nasse leere Straße entlang. Es war noch sehr früh und Seraphim genoss die Stille. Ihr schulterlanges braunes Haar wehte im Wind und die Sonne, die versuchte sich durch die Wolkenbank zu drücken, glitzerte in ihren grünen Augen. Sie mochte es alleine zu sein. Sie hatte schon immer das Gefühl nicht hierher zu passen, nicht in diese Stadt, nicht in dieses Leben. Sie blickte hoch in den Himmel. Sie blickte gerne hoch und stellte sich dann immer vor, frei zu sein, zu fliegen, wie die Engel, und vielleicht eines Tages ihre Eltern zu finden.

„So Kadetten, ich hoffe ihr habt euch gut ausgeruht, denn nun machen wir einen kleinen Wettstreit!“, brüllte Lord Tallhelm über den Trainingsplatz. Seine 23 Schüler standen stramm an der Seite in einer Reihe. „Der Sieger bekommt einen wichtigen Auftrag von der Königin. Dieser ist unheimlich wichtig.“

Talas hob die Hand und fragte: „Wobei handelt es sich bei diesem Auftrag?“

„Auftrag!“, dachte Storm, das musste wohl die Mission sein, die Lord Tallhelm gestern erwähnt hatte.

„Derjenige von euch, der es schaffen wird, sich für diese Aufgabe zu qualifizieren, wird auf die Erde gehen und jemanden herholen müssen“, erklärte Lord Tallhelm. Ein Raunen ging durch die Reihe, die der Heerführer abschritt und dabei jeden seiner Schüler argwöhnisch musterte.

„Wir sollen einen Menschen herbringen?“, fragte Storm überrascht, er hatte zwar mit allem gerechnet, aber nicht damit.

„Keinen Menschen! Sie ist halb Engel, halb Mensch!“, sagte Lord Tallhelm und beruhigte seine Schüler wieder.

„Warum?“, fragte nun Fire, ein kräftiger Junge mit feuerroten Haaren und grünen Augen.

Lord Tallhelm schwieg. Er konnte seinen Schülern nicht verraten, dass es wegen Lord Alfan war. Die blanke Panik würde ausbrechen. Die Königin wollte die Wahrheit so lange wie möglich vor ihrem Volk geheim halten.

„Weil sie nicht auf die Erde, sondern hierhin gehört“, antwortete er schließlich.

Damit gaben sich seine Schüler zufrieden und Lord Tallhelm war dankbar, keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen.

„Warum kommt sie den nicht selbst hier her und warum muss ausgerechnet der Beste sie suchen gehen?“, fragte Talas dann doch noch.

„Weil sie vermutlich nichts von ihrem Engeldasein weiß. Die Menschen haben ihren Glauben an uns verloren. Die Erde ist ein gefährlicher Ort geworden, wo versucht wird mit Hilfe der Wissenschaft alles zu erklären. Nur der Beste von euch kann sich diesen Gefahren stellen. Und nun lasst uns beginnen“, mit diesen Worten wies er seine Schüler auf, auf den Trainingsplatz zu fliegen.

Augenblicklich flogen schon die ersten Pfeile durch die Lüfte. Schwerte klirrten laut aneinander, Engel rangen sich in der Luft und trieben ihre Gaben an ihre Grenzen.

Jeder Engel hatte eine Gabe.

„Die Königin!“, rief plötzlich jemand. Alle hielten mit dem Kämpfen auf und verneigten sich ehrfürchtig vor Goldheart.

„Bitte, fahrt fort!“, sagte sie und die Schüler gehorchten ihr.

Lord Tallhelm flog zu ihr und verneigte sich ebenfalls.

„Wer von deinen Schülern ist bereit?“, fragte sie ihn neugierig.

„Ich weiß nicht, wen ich auswählen soll“, gestand Lord Tallhelm und blickte stolz auf seine Schützlinge, die alle fleißig ihr Bestes gaben.

„Sie sind eindeutig alle gut, doch nur einer kann der Auserwählte für die Mission auf der Erde sein“, sagte die Königin.

„Sie haben einen Favoriten?“, fragte Lord Tallhelm etwas überrascht.

„So in etwa könnte man sagen“, lächelte die Königin und schritt langsam auf die kämpfenden Schüler zu. Ihr langes goldenes Kleid schlief sachte über den Rasen und hinterließ funkelten Goldstaub.

„Die Königin hat eine Entscheidung getroffen“, rief Lord Tallhelm. „Stellt euch auf!“

Augenblicklich gehorchten die Schüler.

In jedem einzelnen der Jungen keimte Hoffnung auf, dass er der Auserwählte wäre. Bei Talas, der ganz am Anfang der Reihe stand, blieb die Königin stehen und musterte ihn.

„Du scheinst mir ein würdiger Krieger zu sein. Was ist deine Gabe?“, fragte die Königin.

Talas neigte sein Haupt und antwortete:

„Meine Gabe ist es immer ins Ziel zu treffen, meine Herrscherin.“

Die Königin nickte und ging weiter zum nächsten Schüler.

„Fire, deine Gabe ist es, das Feuer zu kontrollieren!“, stellte die Königin fest.

„Jawohl!“, antwortete der kräftige Junge.

Die Königin schritt weiter und sprach alle andere Schüler auf ihre Gabe an. Die meisten von ihnen waren in der Lage, die Elemente zu beschwören. Andere waren extrem schnell, oder stark. Viele Gaben kamen öfters vor. An Storm jedoch ging die Königin einfach vorbei, als würde er nicht existieren. Sie würdigte ihm nicht einmal eines Blickes. Dies verletzte Storm sehr.

Schließlich ging die Königin zurück in die Mitte zu Lord Tallhelm.

„Hat sich einer gefunden, denn Ihr aussenden möchtet?“, wollte Lord Tallhelm wissen.

Die Königin nickte.

„Wir haben einen Auserwählten!“, rief Lord Tallhelm festlich.

„Ich werde es nicht sein“, dachte Storm verärgert. Er hatte es satt immer ignoriert zu werden.

Mit lauter Stimme sprach die Königin:

„Ihr seid alle durchaus würdig, aber ich kann nur einen auswählen, deshalb wähle ich…“

„Warum habt Ihr mich nicht nach meiner Gabe gefragt?“, platzte es aus Storm raus. Er konnte sich nicht zurückhalten. Dazu war seine Wut zu groß. Entsetzt sahen ihn seine Kameraden an, sie konnten nicht glauben, dass er gerade die Königin unterbrochen hatte.

Lord Tallhelm lief rot vor Zorn an und schrie:

„Wie kannst du es wagen, die Königin zu unterbrechen, Storm! “

Lord Tallhelm stampfte auf den Jungen zu, doch die Königin hielt ihn zurück. Ihr Interesse war geweckt.

„Was ist denn deine Gabe, mein Junge?“, fragte sie liebenswert.

Storm schluckte. Seine Kehle wurde ganz trocken. Er hasste es, was er nun antworten müsste:

„Ich habe keine!“

Seine Kameraden brachen in ein spöttisches Lachen aus. Die Königin zog fragend eine Augenbraue hoch und tat so, als hätte sie sich verhört.

„Du hast keine Gabe?“

Storm schüttelte betreten den Kopf. Dies war es, was ihn von allen anderen Engel unterschied, das Fehlen einer Gabe.

„Er wurde bereits so geboren“, flüsterte Lord Tallhelm der Königin ins Ohr. Er fühlte sich verpflichtet den Jungen in Schutz zu nehmen. Das Fehlen einer Gabe war so gesehen unmöglich. Es machte einen Engel erst zu einem Engel. Wie, die Flügel und die Unsterblichkeit. Lord Tallhelm blickte nervös zur Seite, er fühlte sich etwas unbehagen, die Königin darüber nicht in Kenntnis gesetzt zu haben.

Storm blickte betreten zu Boden und bereute es, die Königin unterbrochen zu haben. Das gehässige Lachen der Anderen schallte immer noch in seinen Ohren, wie der Klang einer riesigen Glocke. Es war unerträglich. Er begann zu zittern. Er konnte jeden Moment in die Luft gehen, wie eine tickende Bombe. Was konnte er denn dafür? Er hatte es sich nicht ausgesucht, so geboren zu werden! Selbst seine Mutter wusste keine Antwort. Wegen seiner fehlenden Gabe hätte Lord Tallhelm ihn beinahe nicht bei den Kadetten aufgenommen. Er war bloß aufgenommen worden, weil sein Vater ein guter Freund des Lords war und dieser seiner Mutter half, nachdem sie keinen Mann mehr hatte.

„Wie kann es einen so nutzlosen Engel nur geben?“, hörte Storm Talas lachen.

Dies brachte das Fass zum Überlaufen. Storm ballte seine Hände zu Fäusten und blickte Talas verhasst an.

„Das reicht!“, brüllte Storm und schwang sich mit einem einzigen kräftigen Flügelschlag in die Luft, wo er sein Schwert aus Engelsfeuer entfachte.

Wutentbrannt stürzte er auf Talas herab, bereit ihn zu töten. Talas reagierte rechtzeitig. Er wich gekonnt der Gefahr aus und schwang sich ebenfalls in die Luft, wo er sein Feuerschwert entfachte.

Feuerschwerte waren die gefährlichsten und tödlichsten aller Waffen. Deshalb war es verboten, sich gegenseitig mit ihnen zu bekämpfen. Dies war eines ihrer obersten Gesetzte, die jeder Engel einhalten musste. Wer es nicht tat, musste mit einer Verbannung rechnen.

Die beiden Jungen jedoch ignorierten dies und kämpften, als ginge es um ihr Leben. Lord Tallhelm wusste, Talas konnte sein Ziel nie verfehlen und Storm, er hatte zwar keine Gabe, die er einsetzten konnte, doch er war unberechenbar und furchtlos, genauso wie sein Vater. Er wollte schon in diesen unsinnigen Kampf eingreifen, doch Goldheart hielt ihn am Arm zurück.

„Nicht!“, sagte sie und sah dem Schauspiel in der Luft interessiert zu.

Storm versetzte Talas gerade einen gewaltigen Stoß mit der Faust ins Gesicht, dass dieser das Gleichgewicht verlor und auf den Boden krachte. Doch Talas hielt einiges aus und schwang sich sofort wieder in die Lüfte, wo er Storm von hinten an seinem verletzten Flügel packte. Storm schrie vor Schmerzen auf. Er gab jedoch nicht auf, sondern kämpfte mutig weiter. Er schlug so fest mit dem anderen Flügel, dass er förmlich nach oben in die Luft schoss und Talas gezwungen wurde, Storms Flügel los zulassen.

„Die beiden bringen sich noch gegenseitig um!“, dachte Lord Tallhelm. „War es Goldheart denn nicht bewusst, dass die beiden Jungs in diesem Kampf sterben könnten?“, fragte er sich.

Die Königin hielt ihn jedoch weiter an seinem Arm zurück. In ihren weißen Augen glitzerte das Licht des Engelsfeuers, so als hätte dies etwas Wichtiges zu bedeuten. Die Jungen kämpften brutal. Schwerter schlugen klirrend aneinander. Das Engelsfeuer kam ihnen bedrohlich nahe.

Lord Tallhelm war hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen von Pflicht und Treue. Alles passierte plötzlich so schnell.

Talas holte weit mit seinem Schwert aus. Storm wich geschickt aus. Das was ihm an Gabe fehlte, ersetzte er durch seine Fähigkeiten im Kampf. Er war der Einzige, bei dem Talas nicht ins Ziel treffen konnte. Storm verpasste Talas einen weiteren Schlag mitten ins Gesicht. Talas geriet ins Wanken und verlor kurz die Orientierung. Er fand jedoch schnell sein Gleichgewicht zurück und schaffte es Storm das Schwert, mit einem getäuschten Stoß nach vorne, aus der Hand zu schlagen. Storm wich zwei Flügelschläge zurück, um eine sichere Distanz zwischen sich und Talas zu bringen. Er blickte zu seiner Waffe am Boden, sah nervös zu Talas, der sein Schwert noch immer in der Hand gegen ihn gerichtet hielt.

„Verdammt!“, dachte er. „Was mach ich jetzt?“

Ihm wurde plötzlich bewusst, dass Talas ihn töten würde.

Mit einem Kampfschrei stürzte sich Talas auf Storm. Ein Todesstoß. Nun würde Storm sterben.

Was nun passierte, geschah so schnell, dass man es beinahe nicht verfolgen konnte.

Storm schloss die Augen und zog seine Flügel an, wodurch er in die Tiefe stürzte. Talas raste hinterher, wütend, dass sein Todesstoß ins Leere gegangen war. Er wollte nur noch Storm tot sehen.

Talas sauste ihm mit hoch erhobenem Schwert hinterher. Storm kam dem Boden immer schneller näher und näher, doch dann schlug er die Augen auf und blickte Talas geradewegs ins Gesicht. Er öffnete seine Flügel und wirbelte wieder in die Luft, vorbei an Talas. Dieser versuchte Kehrt zu machen und Storm zu folgen. Doch es gelang ihm nicht. Er brachte es nicht fertig seine Flügel zu einem umkehrenden Schlag zu bewegen, der ihn wieder in die Luft hätte bringen sollen. Stattdessen konnte er seinen Fall nicht verhindern.

Storm war ein gutes Stück in die Höhe geflogen, nahm Schwung auf, stürzte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit auf Talas und katapultierte ihn, mit der zugewonnen Kraft des Schwungs, mit einem einzigen Schlag zu Boden.

Eine riesige Wolke aus Erde und Staub trat auf. Plötzlich wurde es still, niemand kämpfte mehr.

Die anderen Schüler, Lord Tallhelm und Königin Goldheart stockte der Atmen und sie eilten zur der Stelle, wo Talas und Storm auf die Erde geprallt waren. Langsam verflog der Rauch und vor ihnen befand sich ein Schlagloch, von gut 5 Meter Durchmesser. In ihm lagen Talas und Storm. Talas mit ausgebreiteten, leicht geknickten Flügel rücklings und Storm in leicht gebeugter Haltung über ihm. Er hielt Talas Schwert gegen dessen Hals. Talas war ihm nun bedingungslos ausgeliefert. Storm hatte die Oberhand gewonnen, trotz des Fehlens einer Gabe.

„Schau hin!“, forderte die Königin den Lord auf. Offenbar hatte sie eine Vorahnung, von dem, was nun passieren würde. Nur war es für die Anderen unverständlich. Alle hielten den Atem an. Würde Storm Talas nun töten?

Talas wimmerte leicht. Sein Blick ging ängstlich vom Schwert an seiner Kehle in Storms von Hass durchzogenes Gesicht. Storms eisblaue Augen blitzten auf. Den Drang Talas töten zu wollen sah man ihm an. Talas fürchtete sich sehr. Sein Atem, wie auch sein Puls begannen sich zu überschlagen.

Die Zeit schien sich plötzlich furchtbar in die Länge zu dehnen. Alle schauten gebannt auf das Schauspiel. Auf das flackernde Schwert an Talas Kehle, gehalten von Storm, welcher nur noch den Gnadenstoß ausführen musste.

Storm schnaufte vor Wut und Anstrengung, seine Hand mit dem Schwert zitterte. „Schlag zu!“, sagte er sich. „Mach schon! Er hat es verdient!“ Doch er wusste, dass dies Konsequenzen hatte. Trotzdem wollte er nichts sehnlicheres, als Talas nun zur Strecke bringen.

„Tu es!“, schrie die Stimme in seinem Kopf. Storm holte zum entscheidenden Schlag aus. Talas kniff die Augen zusammen. Alle schrien erschrocken auf. Dann wurde es ganz ruhig.

Das Schwert wurde in die Erde gerammt. Nur wenige Zentimeter von Talas Gesicht weg.

Talas öffnete langsam die Augen und blickte zuerst das Schwert neben sich, dann Storm verwirrt an. Er konnte nicht verstehen, warum Storm ihn verschonte. Storm hätte ihn ohne weiteres töten können, doch er verschonte ihn.

„Du bist es nicht wert!“, zischte Storm, schwang sich in die Luft und war weg.

Einige Sekunden war Stille am Trainingsplatz. Niemand wagte etwas zu sagen oder gar zu atmen. Lord Tallhelm fasste sich als Erster und sprang ins Loch. Er half Talas hoch, der unter Schock stand.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lord Tallhelm, bekam aber keine Antwort. Er wies ein paar andere Schüler an, Talas nach Hause zu führen und eilte zur Königin.

„Es tut mir leid, dass Ihr das sehen musstet, aber…“, fing Lord Tallhelm. Er wollte versuchen, die Fehler seiner beiden Schüler irgendwie wieder gerade zu biegen.

Königin Goldheart jedoch legte ihre Finger sachte auf seine Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Ohne etwas zu sagen, flog sie davon. Lord Tallhelm blieb verdutzt stehen, er wusste nicht, was nun passieren würde.

„Verfluchte Scheiße!“, schrie Storm. Er trat mit aller Kraft gegen einen Baum, dass einige Blätter abfielen.

Eine der ersten Regeln der Kadetten war es, niemand der eigenen Leute anzugreifen! Schon gar nicht mit Engelsfeuer! Diese Regel galt für alle Engel, aber ganz besonders für die, die eine Kampfausbildung hatten. Die Strafe, wenn man gegen diese Regel verstieß, kannte jeder.

Die Kräfte verließen ihn und er sank zu Boden. Stützt den Kopf in den Händen. Was sollte er nun tun? Seine Mutter würde nun alleine bleiben, er würde ins Exil geschickt werden und warum? Alles nur, weil er sich wieder einmal von diesem Vollidioten Talas provozieren gelassen hatte! Weil er seine Aggression nicht im Griff hatte!

Tränen wollten über sein Gesicht laufen, er schaffte es aber, sie zurückzuhalten. Er schluckte und sie versiegten.

„Kadetten weinen nicht!“, sagte er sich. Sein Blick wanderte den Hügel hinab. Von hier aus konnte er auf den Trainingsplatz sehen. Es würde das letzte Mal sein, dass er hier war. Hier, an seinem Platz, wo er sich zurückziehen konnte, wenn er seine Ruhe brauchte oder wenn er wieder mal etwas ausgefressen hatte. Von hier aus konnte er fast das ganze Reich der Engel sehen. Es war so ein schöner Ort. Doch er wusste, er würde es nie wieder sehen.

Gleichzeitig im Palast der Königin: Lord Tallhelm sauste durch die langen Flure aus massivem Gold. Er flog wie von der Tarantel gestochen. Er musste verhindern, dass die beiden Jungen ins Exil geschickt wurden! Talas war doch erst 21 und Storm mal gerade eben 19! Er traf auf eine junge Palastdienerin und fragte:

„Wo ist die Königin?“

Doch die Dienerin zuckte mit den Schultern. Lord Tallhelm suchte weiter. Er musste die Königin so schnell wie möglich antreffen, denn er konnte es nicht zulassen, dass sie die Beiden ins Exil schickte. Er musste es verhindern, egal wie!

Vor allem Storm konnte er nicht gehen lassen. Er hatte seinem Vater – einem guten Freund – versprochen, auf den Jungen aufzupassen und sich um seine Frau zu kümmern. Dieses Versprechen konnte er einfach nicht brechen! Sonst hätte er seinen Freund enttäuscht, sowie sich selber.

Endlich traf er die Königin im Kreissaal an.

„Meine Königin!“, rief er. Er kam so schnell geflogen, dass er nur knapp vor ihr zum stehen kam. Goldheart blickte ihn erstaunt an. So aufgebracht erlebte sie ihren Lord nur allzu selten.

„Meine Königin“, sagte er und versuchte sich zu beruhigen. „Ich bitte euch! Ihr dürft die Beiden nicht ins Exil schicken! Bitte! Ich flehe euch an!“

Sie blickte ihn überrascht an und fragte: „Warum sollte ich sie ins Exil schicken?“

„Ja, aber, das Gesetz sagt…“, stotterte Lord Tallhelm.

„Das Gesetz bin ich!“, sagte die Königin. „Und ich sage, sie können bleiben“

Lord Tallhelm blieb der Mund offen stehen. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

„Aber, ich dachte,…“, begann er.

„Bitte bringt doch den Jungen Storm hierher, ich möchte mit ihm reden“, sagte die Königin, drehte sich um und sah nachdenklich zu ihrer Kugel. „Talas ist von seiner Schuld, was das Gesetz betrifft befreit. Er hat sich ja nur verteidigt.“

Lord Tallhelm wollte noch etwas erwidern, schwieg jedoch. „Es ist wohl das Beste“, sagte er sich selber. „Jetzt nichts zu sagen und zu tun, was die Königin befiehlt.“ So ging er.

Kurz später, kam Tallhelm mit Storm zurück. Er hatte ein paar Suchwachen ausgesendet ihn zu finden. Deren Gabe war es Verschwundenes wieder zu finden. So auch Personen. Obwohl dies bei Storm etwas dauerte.

Betreten kam Storm neben Lord Tallhelm in den gigantischen Thronsaal. Der Junge hatte wahnsinnige Angst und zitterte. Er ließ es sich aber nicht ansehen, er wollte stark wirken. Er wusste nicht was in erwarten würde. Er wusste nur, dass es schlimm sein würde und dass es ihm nicht gefallen würde. Die Königin drehte sich zu ihm, kam auf ihn zu. Langsam. Ihre Mine war ausdruckslos.

Storm fiel auf die Knie und flehte:

„Bitte schicken sie mich nicht ins Exil! Meine Mutter hat bloß noch mich! Sie würde es nicht verkraften. Ich schwöre ich tue auch alles, aber schicken sie mich bitte nicht fort!“

Wieder brannten Tränen in seinen Augen, doch er konnte sie zurück halten. Lord Tallhelm sah ihn verblüfft an. So erlebte er Storm nur selten. Genau genommen, war es das erste Mal, dass er ihn so erlebte. Es war aber auch verständlich: Storm vermutete immerhin, er würde verbannt werden.

„Mein lieber Storm, ich habe gar nicht vor dich zu verbannen“, kicherte die Königin. Sie hatte sich dieses Verhalten von Storm ebenfalls nicht erwartet.

Verwirrt blickte Storm sie an, dann zu Lord Tallhelm. Dieser grinste ihn amüsiert an. Diese Seite kannte niemand von Storm. Sie kam offenbar nur ganz selten zum Vorschein, eigentlich nie. Storm kam sich lächerlich vor und er stand schnell wieder auf.

„Aber, warum habt ihr mich dann rufen lassen?“, fragte er verdattert

„Ich habe gesehen, was du geleistet hast“ sagte die Königin und sah in ihre Kugel, wo sie nur das Spiegelbild des Jungen hinter sich sah. „Das war sehr beeindruckend. Wenn auch gefährlich und unvernünftig. Aber du hast mich gelernt zwei Mal hinzusehen, bevor man sich entscheidet.“

„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Storm leicht verwirrt.

„Ich hatte bereits einen ausgewählt, Talas. Doch dann habe ich gesehen was du geschafft hast!“, fuhr die Königin weiter.

„Sie meinen, wie ich ihn fast umgebracht hätte?“, fragte Storm etwas geknickt. Er war nicht besonders stolz auf seine Tat.

„Nein. Umgebracht hätte er dich.“, erklärte die Königin und wendete sich Storm wieder zu. „Du hast dich zurück gehalten, obwohl du ihn hättest besiegen können, obschon du keine Gabe hast. Du hast sehr klug und weise gehandelt. Du hättest ihn töten können, doch du hast es dir anders überlegt. Das hat mir gezeigt dass man immer zwei Mal überlegen sollte.“

Storm verstand noch immer nicht ganz, was das nun alles mit ihm zu bedeuten hatte. Warum wollte die Königin nun ihn sprechen und nicht Talas?

Die Königin lächelte ihn zufrieden an und sagte:

„Du wirst die Mission erfüllen!“

„Was?“, entfuhr es Lord Tallhelm erschrocken.

Storm blieb der Mund offen stehen.

„Er ist dafür geeignet“, sagte die König überzeugt. Sie blickte Tallhelm in die Augen. Dieser nickte bloß, obwohl ihm diese Idee total hirnlos vorkam. Er wusste jedoch, was die Königin beschloss, war beschlossene Sache. Sie wusste es besser als jeder Anderer.

„Ich?“, fragte Storm ungläubisch. Die Königin nickte, ihrer Entscheidung sicher. Storms Blick schweifte zu Lord Tallhelm, dann wieder zurück zu der Königin. Die Beiden schienen sich dabei sicher zu sein, dass er der Auserwählte für die Mission sein würde. „Wenn das so ist“, dachte Storm, noch etwas unsicher, ob er sich nicht verhört hatte. „Das wäre eine riesige Ehre!“

„Ich bin sehr geehrt, meine Königin. Wie soll meine Mission aussehen?“, fragte Storm.

„Du wirst die Person auf die Erde suchen gehen und sie herbringen.“, sagte die Königin und führte Storm aus dem Saal, Lord Tallhelm folge ihnen. „Jetzt. Folge mir, wir haben keine Zeit zu verlieren“

Als sie aus dem Palast gingen, wartete schon eine Menge vor den Toren. Diese folgte ihnen nun neugierige. Storms Kampf mit Talas hatte sich schneller verbreitet als ein Lauffeuer.

Ihr Weg führte sie zu dem Tor von Itbry Vevah, dem Portal zur Erde.

Die Leute tuschelten wild. Sie dachten, Storm würde nun verbannt werden.

„Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich habe großartige Nachrichten für euch!“, verkündete die Königin mit herrschender Stimme. Die Schüler von Lord Tallhelm drückten sich durch die Massen. Sie dachten, nun würde die Königin einen von ihnen auswählen, nachdem Storm und Talas dies ja unterbrochen hatten. Zu ihrem Erstaunen aber, sahen sie Storm neben der Königin stehen. „Ich habe mich dazu entschlossen, Storm auf eine Mission zu schicken.“

Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge.

„Aber er hat mich beinah umgebracht!“, schrie Talas heraus. „Das ist doch ein schlechter Scherz!“, dachte er. „So einen kann man doch nicht auf eine Mission schicken! Ich sollte gehen! Wenigstens als Entschuldigung, oder so.“

„Ja, aber er hat es nicht getan, sonst wärst du ja nicht hier.“, sagte die Königin böse funkelnd. „Und überlege dir einmal, Talas, warum er es fast getan hätte!“

Talas schämte sich, sah weg und trat in die Menge zurück. Auch für die Leute kam dies überraschend, doch die Worte der Königin hatten etwas an sich, was vernünftig klang.

Sie alle kannten Talas und wussten wie sehr er Leute provozieren konnte, dass man ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte. Und sie alle kannten Storm und wussten, wie schnell er an die Decke gehen konnte. Aber dieser Gedanke, ausgerechnet Storm gehen zu lassen, machte die Leute doch etwas skeptisch. Storm konnte seine Aggression nicht unter Kontrolle bringen und außerdem war er anders. Das war kein Geheimnis.

„Aber er hat doch gar keine Gabe!“, rief jemand aus der Menge.

„Nicht die, die besonders aussehen sind direkt auch etwas besonderes!“, meinte die Königin.

Alle schwiegen.

Die Königin hatte Recht. Das Volk der Engel wusste Kleinigkeiten zu schätzen, doch sie vergaßen es gerne immer wieder.

Plötzlich stürzte eine Frau aus der Menge und fiel Storm um den Hals. Es war seine Mutter.

„Oh Gott, mein Junge. Bitte komm heil wieder nach Hause!“, schluchzte sie unter Tränen. Sie hatte genauso schwarzes Haar wie ihr Sohn, nur hatte sie lila Augen und weiße Flügel, wie alle weiblichen Engel, mit Ausnahme der Königin.

„Mam!“, nuschelte Storm verbissen. „Alle können uns sehen!“

Seine Mutter ließ ihn sofort los, sie wusste wie sehr er es hasste, wenn sie ihn so verhätschelte. Doch er war nun einmal ihr einziges Kind. Den Einzige, den sie noch hatte.

Nervös blickte Storm die Menge an. Ihm war es peinlich, wie seine Mutter ihn vor den Anderen immer behandelte, außerdem konnte er es nicht ausstehen.

„Tut mir leid, es ist nur, ich habe solche Angst um dich“, sagte seine Mutter.

„Ich schaff das schon Mam!“, sagte Storm genervt. „Ich bin kein kleines Kind mehr!“ Er wandte sich der Königin zu, die amüsiert lächelte.

„Ich bin bereit“, sagte Storm felsenfest überzeugt.

„So soll es sein“, meinte die Königin und überreichte ihm einen kleinen gefalteten Zettel. Er war aus goldenem, dünnem Papier.

„Dieser Zettel enthält eine Skizze, wie die Person aussieht und wie sie heißt“, sagte die Königin. „Es soll dir helfen das Mädchen zu finden. Mehr konnte mir Ira nicht verraten“ Storm nickte und steckte den Zettel in seine Jeans.

„Noch etwas“, sagte Lord Tallhelm hastig, als Storm an das Portal trat. Der Junge blickte ihn an.

„Die Menschen sind es nicht mehr gewöhnt uns zu sehen“, sagte Lord Tallhelm. „Das heißt du musst deine Flügel vor ihnen versteckt halten und auch sonst nichts tun, was Menschen nicht tun können. Sonst wird es gefährlich.“

„Wie soll ich meine Flügel denn verstecken?“, fragte Storm. Denn es erschien ihm unmöglich.

„Konzentration!“, antwortete Lord Tallhelm und klopfte Storm auf die Schulter. „Du schafft das schon.“

„Das Portal bringt dich in die Nähe des Mädchens. Zurück kommst du, indem du einfach dem Himmel entgegen fliegst. Erneut wird ein Portal erscheinen“, sagte die Königin. „Wenn du nun bereit bist, kann es losgehen.“

Storm blickte noch einmal auf die Menge. Alle sahen ihn erwartungsvoll an, seine Mutter weinte. Er hob zum Abschied die Hand und ein Freudenjubel ging auf. Er blickte noch einmal Lord Tallhelm an, dieser stand nun nahe der Königin.

„Viel Glück Storm“, sagte er und fast hätte man meinen können, ihm lege etwas an dem Jungen.

Storm blickte in das Portal.

Die wässerige Oberfläche zeigte sein Spiegelbild. Er nahm tief Luft und mit einem Schritt ging er durch das Portal und war verschwunden. Die Menge klatschte begeistert, denn der Junge hatte Mut. Langsam löste die Menge sich auf und jeder gingen wieder zu seiner Arbeit oder Training, was sie eben zu tun hatten. Lord Tallhelm begleitete Königin Goldheart zum Palast. Sie hatten vor dort auf Storm und das Mädchen warten.

Kapitel 3

Storm fiel, schnell, sehr schnell, doch er konnte seinen Sturz nicht verhindern. Zuerst sah er nichts als helles Licht, dann sah er langsam Asphalt auftauchen, auf das er sich rasend schnell zu bewegte. Er versuchte mit den Flügel seinen Fall zu bremsen, doch es ging nicht, er fiel einfach zu schnell.

„Komm schon, komm schon“, stöhnte er und stemmte seine Flügel mit aller Kraft gegen den Fall an, doch es war ihm unmöglich, gegen den Fall anzukommen. Nur wenige Zentimeter, bevor er auf den Boden aufschlug, kam er zum stehen. Eine unsichtbare Kraft verhinderte Schlimmeres. Einige Sekunden schwebte er über den Boden, bevor er plump aufsetzte. Storm sprang sofort auf und begann augenblicklich, bei den ersten Atemzügen auf der Erde zu husten. Es war, als würde er in einer Gaskammer sein. Seine Lungen brannten wie Feuer. Er hatte das Gefühl zu ersticken.

Nach wenigen Atemzügen jedoch ließ der Schmerz nach.

„Die haben ihre Luft ja komplett verpestet. Gott, was ist das?“

Die Ursache dieser Luftverpestung war ihm ein Rätsel. Er blickte sich um. Er befand sich auf dem Gehweg neben einer Straße, daneben war eine weite Wiese und ein paar Bäume. Alles sah so anders aus, als im Reich der Engel.