Um die Jahrhundertwende träumen die beiden Maler Otto Modersohn und Heinrich Vogeler ihre Märchen. Otto Modersohns dicker König sitzt mit Krone und Zepter unter dem Baume am Weg. Im purpurnen Mantel wartet er auf die Prinzessin im weißen Kleide. Er, der so unbeholfene König, harrt in einer Märchengewissheit auf das so ganz andersartige Mädchen im weißen Gewand.
Um 1901 sind sie alle am Scheideweg, wo sich die Märchenpfade verlaufen werden hinein in das Unwegsame, das Abgründige des Moors. Es gilt, Pfade zu finden, Dämme aufzuschütten, um darauf Wege zu bauen, die die Märchenwelt verlassen, in großräumigere, komplexere Wirklichkeiten führen.
Es sind ihre ganz persönlichen Märchen, die die Maler auf ihre Bilder bannen. Sie verschleiern das persönliche Bewusstsein, das Bewusstwerden und bringen es dennoch deutlich zu Tage. Es sind mächtige Gefühle, die sich hinter dem Mythos verbergen, häufig in einer scheinbaren Kindlichkeit und Leichtigkeit gesetzt, die die Tiefe dahinter verbergen möchte, sich ihrer nicht bewusst zu sein scheint.
Diese Märchen, vor allem die von Heinrich Vogeler, sind recht eigentlich in die Zukunft weisende Märchen. Sie beginnen nicht mit: "Es war einmal", sondern mit: "Es wird einmal" und enthalten den Zauber des Anfangs, des Frühlings, der Jugend.
Da steht der unerfahrene junge Prinz vor seinem Schloss und, seiner Prinzessin von weitem gewahr werdend, breitet er die Arme aus, steht aber weiterhin da wie versteinert. Die Prinzessin in halber Rückenansicht im Vordergrund nimmt fast die Höhe des Bildes ein. Sie hat ihre Hände, die aus fließenden weiten Ärmeln schauen, auf dem Rücken verschränkt. In ihnen hält sie einen Zweig, der sich bis fast an den Bildrand drängt. Sinnend schaut sie auf zu seinen Knospen. Doch sind ihr die Hände gleichsam gebunden: ein im Traume gefangenes Dornröschen. Den Prinzen nimmt sie nicht wahr. Zwischen ihr und ihm das Spielzeug, das Holzpferdchen auf Rädern, das doch so viel mehr einem Schaf gleicht. Es mag hindeuten auf die Unerfahrenheit des Prinzen, auf seine Kindhaftigkeit, auf ein Missverhältnis zwischen den beiden Menschen. Er hat nur Augen für die Prinzessin, sie dagegen erscheint überhöht in einer anderen Welt. Der Prinz aber ist ein Parzival, unwissend und wie dieser, in unangemessener Kleidung.
Und da ist das andere Bild aus dem Jahr 1900, in dem ein Ritter reglos auf seinem Pferd vor zwei Birken innehält. Diese Birken sind unterschiedlich groß, und der Ritter ist in gewisser Weise dem Don Quichotte ähnlich. Wie dieser verharrt er sinnend vor ihnen, eben wie ein Don Quichotte in einem letztlich vergeblichen, absurden Kampf, nur sind es hier keine Windmühlen. Der Betrachter aber erinnert sich an all die jungen Birken der Volkslieder, die in Bezug stehen zu Liebe und Versprechen, Vergänglichkeit und Tod.
Und 1901 dann begegnet der Ritter in voller Rüstung im dichten Märchenwald Melusine. Und wie auf dem ersten Bild mit dem kindhaften jungen Prinzen und der reifer wirkenden Prinzessin fällt auch hier das Paar auseinander, erscheint in einer Spannung, in einer Disharmonie.
Heinrich Vogeler scheint die Frau von vornherein zwiespältig zu empfinden, abgerückt, erhöht als Heilige, als Madonna und als ihn In-Frage-Stellende, ihn gefährdende Melusine. In seinen Bildern und Graphiken finden wir Faszination und Abwehr, Macht und Ohnmacht, die große Angst des Lebens in Schönheit verklärt. Er versucht seinem Paradiesgärtlein einen Rahmen zu geben, es abzugrenzen. Seinen wundersam schönen Graphiken gibt er in der Tat Rahmen, die zur zauberhaft in sich verschlungenen Märchenhecke werden, hinter der Dornröschen oder auch das Ungeheuer sich verbergen könnte, das Ungeheuerliche der biblischen Schlange, die er im Zeichen der Schönheit zu bannen glaubt.
Im Frühjahr 1901 heiraten drei Paare: Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke, Martha Schröder und Heinrich Vogeler, Paula Becker und Otto Modersohn.
Eine der Frauen, Martha, ist früh zum Traumbild des Mannes Heinrich Vogeler geworden. Es ist der Versuch, einen Menschen zu prägen aufgrund einer traumhaften Präfiguration. Sie ist die geheimnisumwobene Schöne, die in seinen Bildern erhöht dargestellt, über dem Boden zu schweben scheint, die jungfräuliche Mutter und ebenso Melusine, und beides entspringt den Vorstellungen des Mannes, ist Projektion. Martha ist jung und zunächst völlig Teil von Heinrichs Paradiesgärtlein, das er vor dem chaotische Leben draußen zu bewahren wünscht. Martha soll die zentrale Figur dieses Kunstwerks sein, aus dem sie sich mehr und mehr entfernt, das sie schließlich verlässt. Denn allmählich wächst in ihr eigenes Bewusstsein, eigenes Wollen. Die Forderung der Frau nach der eigenen, ihr gemäßen Entwicklung, muss den Mann erschrecken. Vogeler möchte sie als Teil seines Paradieses. Aber alle Paradiese enthalten die Schlange, das Bewusstwerden der eigenen Identität, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt und Leiden schafft. Martha beginnt zu sehen. Eine ganze Weile lang kommt es nicht zum Bruch, Martha denkt nach, sie bedient sich der Lampe, die Licht wirft auf die Zustände im Paradies, erst später kommt das Messer ins Spiel, das verletzen muss und das sie schließlich zurücksteckt, da sie, nachdem sie sich selber gefunden hat, seiner nicht mehr bedarf. Sie findet ihr Ich außerhalb der Projektion im praktischen tätigen Leben, vielleicht eine wahre Martha, eine die mit der biblischen Frau verwandt scheint.
Martha, deren Ziele nicht so hoch gesteckt sind, ist vielleicht am ehesten in der Lage, die Diskrepanz von eigener Identität und Bindung, von Leben und Werk zu bewältigen. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Ziele mehr im Handwerklichen liegen, sich buchstäblich mit den Händen bewältigen lassen. Am Webstuhl verwirklicht sie die Entwürfe ihres Mannes. Im 'Haus im Schluh' baut sie sich allein eine eigene Existenz auf. Und sie findet schließlich Verständnis auch für den leidenden, suchenden Mann, der immer noch in einem Traum verhaftet ist, wenn sich auch die Inhalte verändert haben.
Auch die beiden anderen Paare sind auf dem Weg, unterwegs zu sich selber, zu einem nicht völlig geklärten Ziel, ob auch zueinander, das ist fraglich. Um 1900 stehen noch viele Wege offen, möchte man meinen. Doch Entscheidungen drängen sich auf, die Faszination des Offenen, des Werdenden, der bloßen Berührung ohne festzuhalten, der fruchtbare, der entscheidende Moment liegt zu rasch hinter ihnen. Im Jahr 1900 ist noch alles Hoffnung, Versprechen, Traum.
Paula Becker bricht auf in der Sylvesternacht der Jahrhundertwende, der Zeitenwende, ein symbolisch gemeinter Aufbruch. Sie fährt nach Paris. Sie will bewusst etwas Neues in Gang setzen. Sie will etwas erreichen, etwas werden. Sie scheint sich ihrer Sache sicher. Und vielleicht ist es das Wesentliche, seiner Sache sicher zu sein. Alle drei Männer, Modersohn, Vogeler und Rilke, hat sie beeindruckt. Sie heiratet den elf Jahre älteren Maler, Otto Modersohn, der ihr auch den Vater ersetzt und von dem sie größere Freiheiten für sich selber erwartet. Paula wird versuchen, ihren Lebensraum zu weiten, durch die Heirat mit dem Maler einen größeren Freiraum zu erhalten, doch wird sie sich rasch der Begrenztheit dieser Partnerschaft, der Enge bewusst. Sie versucht, ihn, Modersohn, und Worpswede hinter sich zu lassen, auszubrechen, sich dem Leben, den Eindrücken draußen auszusetzen. Und als sie dies endgültig zu tun im Begriffe ist, kehrt sie um, zurück zu Otto Modersohn, zurück nach Worpswede. Das Leben holt sie ein, das Kind - und kurz darauf - der Tod. Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst davor, dass ihr die Lebensbasis, die materielle wie auch die spirituelle, abhanden kommen könnte, haben ihr die Entscheidung zur Rückkehr wohl nahe gelegt. Sie ist es, die Züge ägyptischer Mumienbilder ins eigene Bildnis überträgt, hinüberfließen lässt: in Übereinstimmung mit den Worten Rilkes vom eigenen Tod, der aus dem Leben trete und ihm entspräche.
Die andere der zwei Frauen, Clara, ist Bildhauerin und stürzt sich in eine fragwürdige Gemeinschaft mit einem die Bindung scheuenden, die Einsamkeit suchenden Dichter. Sie versucht eine Anpassung und Einpassung, die zu ihren Ungunsten misslingt.
Paula und Clara verfolgen Ziele, ganz offensichtlich verwandte Ziele. Welcher Zufall, welche Fügung ließ sie in Worpswede Zusammentreffen? Paula malt die Kinder mit den großen tiefen Augen. Beide tun tiefe Blicke, vermögen ins Innere, gewissermaßen in die Seele ihrer jungen Modelle zu schauen und rühren an etwas allgemein den Menschen Betreffendes, seine Verletzbarkeit. Sie begreifen weit mehr, als es ihre Jugend, ihre zu Zeiten ungestüme Fröhlichkeit erwarten ließe. Clara gestaltet in-sich-geschlossene Figuren, ein Stille-Sein, ein Sich-Aushalten, ein Mit-sich-selber-eins-Sein. Beide Künstlerinnen sehen in diesen Kindern, diesen Menschen, das Leben, das Einsamkeit, Leid und Tod umfasst und zugleich und vor allem die Würde, die im Leben dieser einfachen Menschen zu Tage tritt. Vielleicht ist es vor allem diese Würde, die die verhaltene Schönheit dieser Kinderbilder, dieser Skulpturen ausmacht.
Clara ist wohl zunächst die selbständigere der beiden, die kühnere, die emanzipiertere. Ihre Gesichtszüge sind eindrucksvoll und wie von einem Bildhauer geformt und über das wirkliche Leben hinausgehoben. Rilke, der gerade aus Russland zurückkommt, wo er in Begleitung von Lou Andreas-Salomé dem Märchenhaften, Archaischen, Mythischen begegnet war, mag in Clara Züge der älteren Freundin wahrgenommen haben, die im Begriffe war, sich von ihm zu lösen und in Rilke eine Sehnsucht nach Heimat zurückließ. War da eine Vertrautheit Clara gegenüber, die aus der Erfahrung mit der anderen Frau gewonnen war, die älter war und dem jungen Mann gegenüber größeren Abstand hielt, die erfahrener war und zudem schon bei sich selber angekommen war? Es sind vor allem die Augen, der Mund, die Paula in dem späteren Porträt der Freundin Clara ins Zentrum rückt, die von Eigenwilligkeit und da schon von Trauer geprägt sind.
Rilke erkennt in beiden Frauen, in Paula und Clara, etwas, das ihn anspricht, das ihn fasziniert. Von dieser ersten Begegnung muss ein Zauber ausgegangen sein, denn er schreibt: „[…]ganz in Weiß kamen die Mädchen vom Berg aus der Heide. Die blonde Malerin zuerst […] Als wir eben in der dunklen Diele standen und uns aneinander gewöhnten, kam Clara Westhoff. Sie trug ein Kleid aus weißem Batist ohne Mieder im Empirestil. […] Um das schöne dunkle Gesicht wehten die schwarzen, leichten, hängenden Locken […] Das ganze Haus schmeichelte ihr, schien sich ihr anzupassen, und als sie oben bei der Musik in meinem riesigen Lederstuhl lehnte, war sie die Herrin unter uns. Ich sah sie an diesem Abend wiederholt schön. Im Lauschen, wenn die manchmal zu laute Charakteristik des Gesichts gebunden ist an Unbekanntes […].“ 1)
Aber seine Bereitschaft, sich auf Menschen einzulassen, ist eine begrenzte. Er ist nur solange gefesselt, als da etwas Fremdes bleibt, das ihn berührt und ihn doch zugleich unberührt lässt.
Im Buch der Bilder spricht er selbst so von den Mädchen:
Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen
das zu sagen, was ihr einsam seid […]
Keine darf sich je dem Dichter schenken
wenn sein Auge auch um Frauen bat;
denn er kann euch nur als Mädchen denken:
das Gefühl in euren Handgelenken
würde brechen von Brokat.2)
Welche Fremdheit kommt zum Ausdruck, wenn er später von seinem eigenen Kinde spricht, auch, vor allem später, von Clara, zu der er in wechselnden Beziehungen gestanden haben muss. Und doch begann einmal alles 'einmalig':
Nur die Mädchen fragen nicht,
welche Brücke zu Bildern führe;
lächeln nur, lichter als Perlenschnüre,
die man an Schalen von Silber hält.
Aus ihrem Leben geht jede Türe
in einen Dichter
und in die Welt.3)
Begeistert ist er später von Claras Briefen aus Ägypten, wo sie einen ihm verwandten Ton trifft, ihn anregt. Und es sind bezeichnenderweise die ägyptischen Mumienbilder, die Paulas Selbstporträts befruchten, Tod ins Leben tragen, Leben in den Tod. Die Brücken brechen nicht völlig ab. Allerdings ist Rilke überzeugt: „[…] Jeder muß in seiner Arbeit den Mittelpunkt seines Lebens finden und von dort aus strahlenförmig wachsen.“ 4) Im Requiem an Paula Modersohn-Becker wird es dann heißen: „Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft / zwischen dem Leben und der großen Arbeit.“ 5) Hierin dürfte er in der Tat weitgehend mit Paula Modersohn-Becker übereinstimmen, in deren Beziehung zu Otto Modersohn sich eine ähnliche Problematik entwickeln wird. Wir wissen allerdings mehr von der Malerin, die Tagebuch schrieb, als von Rilkes Frau.