Michael Trümper

Nele und Glücksbär

Ein Kinderbuch, auch für Erwachsene

TR. 2006

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7322-2377-0

Gewidmet meiner Tochter Johanna, in Liebe

und allen, die Sorgen haben……

Das ist Nele

Nele war acht Jahre alt. Beinahe neun. In ihrem Zimmer gab es ein Metermaß. Papa hatte es an der Wand befestigt und immer nach einem halben Jahr stellte sich Nele davor und Papa machte einen kleinen schwarzen Strich über ihren Kopf, neben das Metermaß. Dann schrieb er das Datum daneben. Vor ein paar Tagen war ein weiterer Strich und ein weiteres Datum dazu gekommen. Neunzehnter Februar 2005 stand jetzt neben dem dünnen roten Strich, bei einem Meter und zweiunddreißig Zentimeter. Seit diesem letzten Strich fühlte Nele sich schon richtig groß.

Nele hatte langes, sehr langes, dunkelbraunes Haar, auf das sie sehr stolz war. Es reichte ihr fast schon bis zum Hinterteil. Ihr Haar war wie das von Mama und immer wieder sagte Papa, dass sie ihr schönes Haar von ihr geerbt hätte. Ebenso wie die dunkelbraunen Augen. Hast du von Mama geerbt, Nele. Und überhaupt, ihre ganze dünne Statur. Hast du von Mama geerbt. Sagte Papa.

Nele lachte viel. Liebte es Quatsch zu machen und albern zu sein. Grimassen zu schneiden, die Augen wild zu verdrehen, bis Papa und Mama lachen mussten, obwohl sie eigentlich mit ihr schimpfen wollten. Sie liebte es auf Papas Rücken zureiten, wie auf einem Pferd. Und sie liebte es, mit Mama zu tanzen. Am meisten aber liebte sie es zu schmusen oder besser schmeicheln, wie Nele es nannte, wenn sie sich in Papas große Arme schmiegte, vor allen Dingen Abends, wenn Papa ihr eine Geschichte vorlas und sie zu Bett brachte. Deine liebe Art, die hast du von Papa geerbt, sagte Mama dann immer. Alles in allem war Nele sehr zufrieden damit, wie sie war. Mamas schönes Aussehen, Papas fröhliche Art.

Neles wohnte in einem schönen großen Haus mit einem schönen und noch größeren Garten, der von einer niedrigen Mauer mit einem Holzzaun umgeben war und in dem viele alte Bäume standen, in denen es sich herrlich klettern liess und von denen sie im Herbst allerlei Obst ernten konnten.

Kirschen gab es da, dick und rot und süß. Und Birnen, Äpfel und Plaumen. Sogar einen kleinen Pfirsichbaum gab es da, auch wenn Nele sich nicht daran erinnern konnte, dass jemals ein Pfirsich daran gehangen hatte, obwohl Papa dies steif und fest behauptete. In einem von den Bäumen hatte sie mit Papa zusammen ein kleines Baumhaus gebaut, aus alten Brettern. Nele nannte es ihre hohe Burg.

Das Haus, der Garten und Neles Burg lagen auf einem kleinen Hügel in einem kleinen Dorf und unterhalb des Hügels lag eine kleine Stadt in der Nele zur Schule ging. Mama und Papa nannten das „auf dem Land wohnen“. Die nächste große Stadt hieß Dortmund und an der gefiel Nele eigentlich nur, dass es dort ein riesiges Spielzeuggeschäft gab, in das sie viel zu selten kam. Ansonsten fand Nele diese große Stadt nicht schön und irgendwie war auch sie froh „auf dem Land“ zu wohnen.

Neles Papa war Architekt. Er machte Pläne, aber nicht von Häusern, sondern von Banken. Für ihr eigenes Haus hatte Papa aber doch einen Plan gemacht und nach dem hatten Mama und Papa das Haus so umgebaut, wie es jetzt war. Nele liebte das Haus. Es war groß genug, dass man darin Fußball spielen konnte, auch wenn Mama das gar nicht mochte, weil dabei immer irgendwas kaputt ging.

Ganz oben, unter dem Dach, hatte Nele ihr eigenes Zimmer. Wenn sie aus dem kleinen Fenster schaute, konnte sie das Haus der Nachbarn sehen, in dem Danni wohnte, ihre beste Freundin. Neben der saß sie auch in der Schule. Wenn sie aus dem mittleren Fenster sah, konnte sie den großen Wald sehen in dem sie mit Danni zusammen eine kleine Hütte gebaut hatte. Und wenn sie aus dem großen Fenster blickte, sah sie unten im Tal die kleine Stadt und auf dem nächsten kleinen Hügel ein weiteres Dorf. Dieser Ausblick war ihr am liebsten, denn hier konnte sie sehen, welches Wetter es geben würde. Am schönsten war es, wenn sie ein Gewitter kommen sah.

Weit in der Ferne konnte sie dann die Blitze sehen, den Donner hören, lange bevor der Regen auf ihre Fenster im Dach niederprasseln würde. Dann war noch genug Zeit, sich eine Tasse heißen Kakao zu holen um das Gewitter so richtig zu genießen.

Mama hatte ihr Zimmer wunderschön ausgemalt, mit roten und gelben Farben und Papa hatte ihr ein Bett hineingestellt mit einem durchsichtigen weißen Vorhang darüber. Er nannte es das Prinzessinenbett und das obwohl sie ja gar keine Prinzessin war.

Papa war oft ganz schön albern und nannte sich selbst den König, Mama seine Königin. Dann wurde das Haus zu einem Schloß und das Grundstück war das kleine Königreich.

Außer ihrem Papa und ihrer Mama und ihr selbst lebte noch Pippo mit in dem Haus. Der war ein Hund. Papa hatte ihn vor zehn Jahren aus einem Tierheim mitgebracht und ihr gesagt, dass Pippo der Rasse „Mischling“ angehörte und seitdem fand Nele die Rasse Mischling sei die schönste, denn Pippo war der schönste Hund, den sie je gesehen hatte. Er war nicht allzu groß, hatte einen weißen Körper mit braunen Flecken, kurze spitze Ohren und einen kleinen Stummelschwanz, der sich immerfort bewegte.

Dazu zwei tiefschwarze Augen und eine ebenso tiefschwarze Nase die ebenso wie die Augen immerfort glänzte. Pippo war ungeheuer schlau, vor allen Dingen dann, wenn es darum ging, etwas zu fressen zu bekommen. Einmal hatte Pippo sogar die Weihnachtsgans aufgefressen, noch bevor sie im Ofen gewesen war. Jedenfalls hatte Papa das erzählt, denn es war gewesen, bevor Nele auf die Welt gekommen war. Nele liebte den alten Pippo sehr und auch wenn es ihr manchmal auf die Nerven fiel mit ihm Gassi gehen zu müssen, würde sie ihn für nichts auf der Welt hergeben. Nachts schlich er sich oft ganz leise in ihr Zimmer und sprang zu ihr ins Bett, etwas was er nicht durfte. Aber Pippo beim Schlafen im Arm zu halten war sehr angenehm, auch wenn er oft so heftig und laut schnarchte, dass Nele kein Auge mehr zu tun konnte. Außer Mama, Papa, Pippo und ihr lebte noch Bär in dem Haus, genauer in ihrem Zimmer. Bär war etwas ganz Besonders. Nicht irgendein Bär wie die vielen, die sich im Laufe der Jahre in ihrem Zimmer eingefunden hatten. Dieser Bär konnte sprechen. Richtig sprechen. Und außerdem war dieser Bär ein Glücksbär. Mama und Papa lächelten sie immer mit diesem wissenden Erwachsenenblick an, wenn sie ihnen erzählte, was Bär ihr gesagt, was für einen Rat er ihr gegeben hatte. Denn dummerweise konnte nur sie ihn verstehen. Kein anderes Kind hatte je seine Stimme gehört und erst recht nicht ein Erwachsener. In diesem Punkt war Bär sehr eigen. Er mochte nur mit Nele reden, mit niemandem sonst.

Nele hatte den Bären auf der Straße gefunden. Vor einiger Zeit. Mitten in einem heftigen Regen war er mit einem Male dagelegen. Ganz nass und schmutzig. Vorsichtig hatte sie ihn aus dem Rinnstein aufgehoben und wärmend in ihre Arme geschlossen.

Nele war heftig erschrocken als sie Bär das erste Mal hatte reden hören. Das war, als er sich bei ihr dafür bedankt hatte, dass sie ihn aus dem Rinnstein aufgehoben hatte. Vorher hatte er noch kräftig geniesst und sie hatte schon befürchtet, dass er sich eine Erkältung geholt hatte. Von einem Bären der reden konnte hatte sie zwar schon gelesen, dass es so einen aber wirklich gab, hatte sie nicht für möglich gehalten. Ganz zerwuselt hatte er ausgesehen, ein Auge war halb herausgerissen gewesen. Bär hatte ihr unsagbar leid getan.

Mama hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen als sie ihr Bär das erste Mal gezeigt hatte. Doch irgendwie hatte Bär es geschafft auch Mamas Mitleid zu erregen. Mama hatte Bär in die Waschmaschine gesteckt- es war ganz furchtbar in so einer Maschine, hatte ihr Bär später erzählt - und Nele hatte ihm das sofort geglaubt. Und dann hatte Mama sogar Bärs kaputtes Auge wieder heil gemacht und sein loses Bein wieder richtig angenäht.

Seitdem mochte Bär ihre Mama sehr. Bär mochte auch Neles Papa, aber nicht ganz so, wie Neles Mama. Vielleicht, weil er ein wenig eifersüchtig auf Neles Papa war.

Bär hieß mit richtigem Namen Hubert. Hubert! Als Bär ihr das gesagt hatte, hatte Nele erst gelacht, dann heftig den Kopf geschüttelt. Hubert war doch kein Name für einen putzigen kleinen Bären wie ihn! Schnuffi, das war ein Name. Oder Wuschel. Oder Kuschel. Aber Hubert? Doch Bär war in dieser Beziehung sehr stur. Den Namen hatten ihm seine Eltern gegeben. Seine Mutter hatte Käthe geheißen, sein Vater Fridolin. Genauso bescheuerte Namen.

Manchmal dachte Nele Bär wollte sie an der Nase herumführen, seit wann hatten Stoffbären überhaupt Eltern? Stoffbären kamen doch aus der Fabrik! Wenn sie solches zu Bär sagte, wurde er richtig sauer und sagte ihr dann immer, sie hätte ja keine Ahnung!

Aber weil Nele und Bär dicke Freunde waren und über alles miteinander reden konnten hatten sie noch nie wirklich über Bärs wahre Herkunft gestritten.

Bär war ohnehin etwas merkwürdig und erzählte allerlei Geschichten und wundersame Sachen über das, was er in seinem Leben so erlebt hatte. Zum Beispiel behauptete er steif und fest aus einer Familie von Glücksbären zu stammen.

Glücksbären, hatte Nele ihn leise flüsternd gefragt, denn meist unterhielten sie sich des Nachts miteinander wenn Nele eigentlich schlafen sollte. Sie sprachen deswegen so leise, damit Mama und Papa sie nicht hörten und auch um den schnarchenden Pippo nicht zu wecken.

Glücksbären? Was soll das denn sein, hatte Nele also in jener Nacht gefragt.

Na das, was es heißt, hatte Bär leise zurückgeflüstert. Bären aus meiner Familie bringen ihren Besitzern Glück. Und auch den Leuten, die sich einem Glücksbär anvertrauen.

Anvertrauen, hatte Nele nachgefragt, denn dieses Wort kannte sie nicht. Na ja, hatte Bär geantwortet. Wenn ein Mensch einen Kummer hat und diesem Kummer einem Glücksbären erzählt, dann passiert gleich darauf etwas, dass diesen Kummer wegnimmt. Einfach so? Genau, hatte Bär geantwortet, einfach so, vorausgesetzt…..

Vorausgesetzt? Na ja, vorausgesetzt, dass dieser Mensch seinen Kummer wirklich loswerden will und vorausgesetzt, dass er wenigstens ein bisschen an Wunder glaubt.

Wieso sollte ein Mensch seinen Kummer denn nicht wirklich loswerden wollen, hatte Nele Bär verständnislos gefragt.

Wenn sie traurig war, wünschte sie sich nichts sehnlicher als wieder glücklich zu sein, und wenn jemand wütend auf sie war, aus welchen Grund auch immer, wünschte sie sich nichts sehnlicher als das dieser Mensch sie wieder lieb hatte.

Manche Menschen lieben und pflegen ihren Kummer, hatte Bär gesagt. Das liegt daran, dass sie recht haben wollen. Nele verstand kein Wort. Bär hatte sichtlich nach den richtigen Worten gesucht.

Also, denk dir mal einen Menschen, der auf einen Berg klettern will. Wieso sollte der das tun, hatte Nele Bär unterbrochen. Bär hatte seine Stoffaugen verdreht. Ich sag ja nur, denk dir so einen Menschen. Er will auf einen Berg klettern, der unheimlich hoch ist. Er steht unten im Tal, schaut nach oben und denkt sich, puh, das schaffe ich nie. Und dann geht er los und auf der Hälfte des Weges zum Gipfel hat er keine Kraft mehr und kehrt wieder um. Und unten im Tal sagt er zu sich, siehst du, ich habe recht gehabt. Ich hab es nicht geschafft, habe ich doch gleich gewusst. Und dann sehnt er sich noch mehr danach, ganz oben auf dem Berg zu stehen und sein Kummer, dass er dies niemals schaffen wird, wird noch größer.

Nele hatte Bär noch irgendwas fragen wollen, denn so ganz klar war ihr das noch nicht mit den Menschen, dem Kummer, den Glücksbären. Aber dann war sie eingeschlafen mit dem Gefühl, wie beruhigend es doch war, einen Glücksbären in der Nähe zu haben.

Und in den nächsten Wochen hatte sie ihr Gespräch schnell wieder vergessen, denn Nele war ein glückliches Kind und so etwas wie Kummer kannte sie nicht.

Bär war für sie ihr bester Freund, ihr Vertrauter. Einer, dem sie alles erzählen konnte. Bär war auch ungeheuer schlau, wohl weil er schon so viel erlebt hatte. Und wenn sie eine Frage an Bär hatte, wusste er immer die Antwort und Nele war sehr zufrieden, auch wenn sie seine Antworten manchmal nicht so richtig verstand, weil sie oft so schrecklich erwachsen klangen.

Bär war immer bei ihr und überall nahm sie ihn mit hin. Zum Reiten, ins Ballett, in den Musikunterricht und auch in das kleine Theater, in dem Nele mitspielte. Nun ja, es war eigentlich kein Theater, in Wahrheit war es die Turnhalle der Schule, aber egal, Bär fand es sehr schön. Nur in die Schule selbst, in den Unterricht, durfte sie Bär nicht mitnehmen, denn ihr Lehrer, Herr Stoffel, mochte es gar nicht, wenn die Kinder Spielzeug mitbrachten. Als wenn Bär ein Spielzeug gewesen wäre! Dass Bär nicht mit in die Schule durfte, war schlecht. Gerade hier hätte Nele ein wenig mehr Glück gebrauchen können. Sie war keine schlechte Schülerin, aber auch nicht eine ganz Gute. Eher irgendwo mehr in der Mitte.

Vor allem das Rechnen war ihr oft ein echtes Rätsel. Vielleicht lag es daran, dass Nele gar nicht wissen wollte, wie man es ausrechnete, wie viele Schüler noch im Bus waren, wenn es am Anfang dreißig gewesen waren, an der ersten Haltestelle fünf ausgestiegen waren, an der zweiten drei und an der dritten noch mal drei. Wozu sollte es dann gut sein, wenn man ausrechnen konnte, wie viele dann noch im Bus waren? Hauptsache war doch, dass sie noch einen Sitzplatz bekam, denn der Bus schaukelte oft wild hin und her und Nele wurde dann immer leicht schlecht. Herr Stoffel verstand nicht, dass Nele es nicht verstand, wie wichtig Rechnen im Leben war. Denk dir doch nur, sagte er manchmal, du gehst ins Kino und lädst zwei Freundinnen ein. Und der Eintritt kostet pro Kind vier Euro. Du hast aber nur zehn Euro. Dann ist es doch gut, wenn du ausrechnen kannst, wie viel Euro du noch brauchst, um die beiden Anderen einladen zu können. Das Nele vonihren Großeltern einen Gutschein für zehnmal Kino zu Weihnachten bekommen hatte und das deswegen gar nicht ausrechnen musste, liess er nicht gelten.

Heute aber war Neles Glückstag. Auch ohne die Hilfe von Bär hatte sie das erste Mal eine glatte Zwei in der Rechenprobe geschrieben. Eine Zwei! Neles Herz hatte einen Hüpfer gemacht, als sie die Note gesehen hatte. Erst war sie furchtbar erschrocken, denn sie hatte erst eine vier gesehen. Eine Vier! Mama würde toben! Doch dann hatte sie gesehen, dass die vier nur die Anzahl ihrer Fehler war und mit diesen vier Fehlern hatte sie eine schöne Zwei bekommen.

Mama würde sich freuen, Papa würde sich freuen und mit etwas Glück würde ihr Mama dafür eine kleine Überraschung bereiten.

Einen neue Kassette vielleicht, irgendwas von Bibi Blocksberg, da fehlten ihr noch sehr viele. Aber eigentlich war ein Geschenk gar nicht so wichtig, wichtig war nur, dass sie einen Zweier hatte. In einem Jahr wollte Nele unbedingt auf das Gymnasium gehen, auch wenn sie noch nicht so richtig wusste, was dies eigentlich bedeutete. Gymnasium? Ein seltsamer Name für eine Schule. Mama hatte ihr gesagt, dass man dorthin gehen müsse wenn man eines Tages Tierärztin werden wollte und das war Neles sehnlichster Wunsch. Oft spielte sie mit Pippo Tierarzt und keiner in der ganzen Familie konnte dem kleinen Hund im Sommer besser Zecken rausmachen als sie. Pippo wusste das auch schon, denn so oft er eine hatte kam er zu ihr und legte sich so vor sie hin, dass sie die Zecke sehen konnte. Was Pippo gar nicht gefiel, war, wenn sie mit ihm gebrochene Pfote spielte und ihm mit langen Binden einen schicken Verband anlegte. Einmal hatte er sie sogar angeknurrt. Aber sicher nur, weil er da gerade seinen Bauch in die Sonne gelegt und ganz tief geschlafen hatte, als sie mit ihren langen Verbänden über ihn hergefallen war. Manchmal verstand Pippo gar keinen Spaß.

Nele kam um ein Uhr von der Schule zurück und legte ihren gewaltigen, schweren Schulranzen gerade auf den Boden als Pippo auch schon angerannt kam und sie so überschwänglich begrüßte, als hätte er sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Dabei drehte er sich immer so wild im Kreis, dass Nele schon vom Zusehen fast schlecht wurde. Liebevoll strich sie ihm über das kurze struppige Fell und sofort liess sich Pippo zur Seite fallen, damit sie ihm den Bauch streicheln konnte. Pippo liebte das. Jeden Tag wenn sie von der Schule heimkam, veranstaltete er dieses Spiel.

„Hallo, mein Schatz!“. Das war Mama. Sie hatte ein Tuch in der Hand und wischte sich gerade die Finger daran ab. Aus der Küche roch es schon ganz lecker und Nele merkte erst jetzt, dass sie großen Hunger hatte. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie schon wieder vergessen hatte, das Pausenbrot zu essen. In den Pausen waren sie viel zu beschäftigt, spielten fangen oder Jungs ärgern. Irgendwie war da nie Zeit für das Pausenbrot.

Vielleicht konnte sie es heimlich Pippo geben. Nur dumm, dass Pippo immer nur die Wurst vom Brot fraß, das Brot selbst aber liegen liess.

„Hallo, Mama!“, gab Nele freudig zur Antwort, liess Pippo liegen, stand auf und genoss es sich von Mama in die Arme nehmen zu lassen.

Mama hieß Sabine, auch wenn Papa sie immer nur Bine nannte oder Binchen oder Hübsche. Wenn Papa Mama Hübsche nannte, lächelte sie immer. Mama war die schönste Mama auf der ganzen Welt und wenn es nicht gerade um die Schule und ganz besonders um das Rechnen ging, auch die Liebste.

„Und?“, fragte Mama neugierig. Nele hatte noch nie so richtig verstanden, woher die Erwachsenen immer wussten, dass ihre Kinder eine Probe herausbekommen hatten. Manchmal hatte sie schon gedacht, dass Herr Stoffel die Eltern heimlich in den Pausen anrief und die Kinder verpetzte. Heute aber war es ja eh egal.

„Warte!“, sagte Nele grinsend, ging an ihre Schultasche, öffnete sie, holte die Probe hervor und hielt sie Mama direkt vors Gesicht.

„Hey!“, rief Mama erfreut aus. „Hey, Nele! Das ist ja klasse!“.

Mama nahm sie ganz fest in ihre Arme. Das war viel besser als das enttäuschte Gesicht, dass Mama machte, wenn es wie sonst immer ein Dreier gewesen war.

Nele genoss Mamas Umarmung. Mama war immer so schön weich und warm und heute roch sie noch dazu nach Tomaten und nach leckerer Soße.

„Hopp!“, sagte Mama und liess Nele wieder los, „das musst du gleich dem Papa zeigen“.

Papa hatte sein Büro gleich neben dem Haus in einem kleinen Anbau. Ein kleiner Flur verband das Haus mit dem Büro. Dort hingen unzählige Zeichnungen und noch mehr Fotos von all den Banken die Papa gebaut hatte.