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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-219-8
»Frau Dr. Kern, bitte sofort in den OP!« schallte die Stimme durch den Lautsprecher.
Alena Kern seufzte tief auf. Sollte ihr heute wieder kein Feierabend vergönnt sein? Dabei hatte sie sich so darauf gefreut, zusammen mit Hartwig noch ein Gläschen Wein zu trinken. Immerhin waren sie heute auf den Tag genau drei Jahre verlobt. Und genausolange arbeiteten sie nun schon Seite an Seite in der modernen Frauenklinik in Leipzig, die Hartwigs Vater kurz nach dem Mauerfall hatte bauen lassen.
Alena hatte keine Zeit, weiter in Erinnerungen zu schwelgen. Man erwartete sie im Operationssaal. Bereits im Gehen streifte sie ihren weißen Kittel ab und schlüpfte dann in die grüne OP-Kleidung. Die Haube stülpte sie so über ihren Kopf, daß auch nicht die winzigste Strähne ihrer langen goldblonden Locken herausschaute. Sie wußte natürlich, daß sie in diesem Aufzug alles andere als attraktiv wirkte, doch sie ging viel zu sehr in ihrem Beruf auf, als daß sie daran Anstoß genommen hätte.
»Was ist los?« wollte Alena von der OP-Schwester wissen, die gerade einen Blick in den Waschraum warf, den Alena jetzt betrat.
»Fünfundzwanzigjährige Frau, Erstgebärende mit plötzlicher Wehenschwäche«, antwortete Schwester Hilde knapp.
Rasch, aber trotzdem mit der gebotenen Gründlichkeit wusch sich Alena die Hände.
»Wurde ein wehenförderndes Medikament verabreicht?« wollte sie nebenbei wissen.
Schwester Hilde nickte und nannte den Namen des Arzneimittels.
Alena runzelte nachdenklich die Stirn, dann wandte sie sich noch einmal der Schwester zu. »Wer ist außer dem Anästhesisten und mir noch im Haus?«
»Nur Dr. Weigand«, antwortete Schwester Hilde.
Alena hatte Mühe ein Lächeln zu unterdrücken. Sie konnte sich gut vorstellen, wie aufgelöst der junge Assistenzarzt angesichts dieser Notsituation war. Von der OP-Schwester ließ sich Alena jetzt die keimfreien Handschuhe überstreifen und den Mundschutz anlegen, dann trat sie an den OP-Tisch.
»Frau Doktor…«, stammelte die Patientin ängstlich. »Mein Baby…«
»Nicht aufregen«, bat Alena mit sanfter Stimme. »Wir kriegen das schon hin.« Vorsichtig untersuchte sie die junge Frau und kam zu dem Schluß, daß es für eine Saugglockengeburt noch zu früh war. Außerdem hatte sie den Eindruck, als würden die kindlichen Herztöne schwanken – kaum merklich, aber für Alena war das trotzdem Grund genug, sich für einen Kaiserschnitt zu entschließen. Schließlich wollte sie das Ungeborene nicht unnötig in Gefahr bringen. Sie gab dem Anästhesisten ein Zeichen, die Narkose einzuleiten, während sie die Handschuhe abstreifte und sich von der OP-Schwester frische anziehen ließ. Dann streckte sie die rechte Hand aus. »Skalpell.«
Kaum zwei Minuten später war das Baby geboren und schrie ganz jämmerlich nach seiner Mutter.
»Gleich, mein Spätzchen«, meinte Alena zärtlich, während sie das Neugeborene in die Arme einer jungen Säuglingsschwester legte. »Informieren Sie den Kinderarzt. Er soll die Kleine gleich untersuchen.« Dann lächelte sie. »Allerdings glaube ich nicht, daß ihr etwas fehlt. Bei dieser Stimme…«
Die anwesenden Schwestern, der Anästhesist und der junge Assistenzarzt nickten zustimmend, dann konzentrierten sie sich wieder auf ihre Arbeit. Der Anästhesist vertiefte die Narkose, damit Alena die Wunde schließen konnte, dann trat sie vom OP-Tisch zurück.
»Bringen Sie die Patientin in den Aufwachraum«, ordnete sie an. »Ich kümmere mich dann persönlich um sie.«
Alena ging in den Waschraum hinaus, streifte die Handschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer, bevor sie sich die Hände wusch, dann zog sie die grüne Kappe vom Kopf und schüttelte ihre dichten Locken. Mehr war nicht nötig, denn ihr Haar war zu widerspenstig, um sich in irgendeine Form zwingen zu lassen.
Während Alena noch in ihren weißen Kittel schlüpfte, ging sie schon in den Aufwachraum hinüber, doch die Patientin schlief noch.
»Was war hier los?«
Die tiefe Stimme, die jetzt hinter Alena erklang, ließ sie erschrocken herumfahren.
»Meine Güte, Hartwig, mußt du dich immer so anschleichen?« entfuhr es ihr. »Ich habe gedacht, du wärst längst zu Hause.«
»Das war ich auch«, entgegnete Dr. Hartwig Simon, der Chefarzt der Klinik und überdies Alenas Verlobter. »Und da du vor…«, er warf einen raschen Blick auf seine goldene Armbanduhr, »vor mittlerweile einer Stunde ebenfalls zu Hause sein wolltest, habe ich hier angerufen. Immerhin hätte dir etwas passiert sein können.« Die Worte klangen besorgt, doch Hartwigs fast sachliche Stimme paßte nicht dazu.
»Ich wäre pünktlich gewesen«, meinte Alena, und es klang fast entschuldigend, »aber ein Kaiserschnitt kam dazwischen.«
Hartwig warf einen kurzen Blick auf die Patientin, die wohl in Kürze aus der Narkose erwachen würde.
»Soso, ein Kaiserschnitt«, erklärte er in herablassendem Ton. »Und warum?«
Alena fühlte sich wie ein Schulmädchen, das vor den Rektor zitiert wird, um Rechenschaft über ihr Tun abzulegen, und nur zu deutlich war sie sich der Anwesenheit der OP-Schwester Hilde und zweier Pfleger bewußt. Jetzt kam zu allem Überfluß auch noch der Assistenzarzt Dr. Weigand hinzu.
»Bei der Patientin trat während der Geburt eine plötzliche Wehenschwäche ein«, erklärte Alena. »Ich wurde über Lautsprecher gerufen, weil…«
Noch während Alena sprach, zog sich Hartwigs Stirn in bedrohliche Falten. »Und da hast du nichts Eiligeres zu tun, als einen Kaiserschnitt vorzunehmen?«
Alena errötete tief, zwang sich aber dennoch dazu, sachlich zu bleiben. »Der Kaiserschnitt war nötig, um das Baby nicht zu gefährden.«
»Bestand für das Kind denn eine Gefahr?«
»Zum Zeitpunkt des Kaiserschnitts noch nicht«, gestand Alena, »aber…«
»Ich weiß schon, wie gern du dich am OP-Tisch profilierst«, fiel Hartwig ihr grob ins Wort. »Doch soweit ich es beurteilen kann, war dieser Kaiserschnitt völlig unnötig. Wenn eine Wehenschwäche eintritt, gibt es auch die Möglichkeit, der Patientin wehenfördernde Medikamente zu geben, falls dir das entfallen sein sollte.«
Wieder errötete Alena. Wie brachte Hartwig es fertig, in diesem ironischen Ton mit ihr zu sprechen? Er liebte sie doch. Und außerdem war Alena sicher, daß er in derselben Situation die gleiche Entscheidung getroffen hätte wie sie.
»Als ich gerufen wurde, war die Patientin bereits im Operationssaal«, erklärte Alena und fühlte dabei, wie schwach dieses Argument war, aber angesichts der Demütigung, die Hartwigs Vorwürfe für sie darstellten, herrschte in ihrem Kopf gähnende Leere. Sie hatte keine Kraft, sich wirksam zu verteidigen. »Anscheinend hatte die Hebamme…«
»Ach so, treffen an meiner Klinik jetzt die Hebammen die Entscheidung, ob ein Kaiserschnitt nötig ist oder nicht«, unterbrach Hartwig sie, und dabei triefte seine Stimme vor Sarkasmus. »Und du bist in den OP gekommen, hast dieser armen Frau den Bauch aufgeschnitten und das Baby geholt.« Er schüttelte den Kopf. »Alena, ein solches Verhalten dulde ich an meiner Klinik nicht, und wenn du irgendeine Ärztin wärst, dann würde ich dir jetzt kündigen. So aber weise ich dich nur in aller Deutlichkeit zurecht.Und jetzt fahr nach Hause. Ich werde mich um die Patientin kümmern.«
Alena machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Aufwachraum. In ihren schönen smaragdgrünen Augen brannten Tränen. Hastig lief sie den schmalen Flur entlang. Noch nie war sie so gedemütigt worden wie heute, und dabei war sie überzeugt, das Richtige getan zu haben.
»Frau Doktor!«
Alena blieb stehen und blickte zurück, wobei sie versuchte, den Kopf so zu halten, daß ihre dichten Locken die tränenfeuchten Augen verdeckten, doch die erfahrene Hebamme sah sofort, was mit ihr los war. Sie kannte auch den Grund für diese Tränen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, aber…« Die Hebamme stockte kurz. »Schwester Hilde hat mir erzählt, was gerade vorgefallen ist.« Mit einer sanften Geste berührte sie Alenas Arm. »Sie haben vollkommen richtig gehandelt. In Absprache mit Dr. Weigand hatte ich der Patientin bereits ein wehenförderndes Medikament verabreicht, doch es hat nichts genutzt. Und dann schwankten die Herztöne des Ungeborenen. Ein Kaiserschnitt war nicht zu umgehen.«
Alena senkte den Kopf. »Und warum hat das niemand dem Chefarzt gesagt?«
Die Hebamme zögerte. Sie wußte natürlich, daß Alena mit Dr. Simon verlobt war, und gerade aus diesem Grund widerstrebte es ihr, einen Keil zwischen die beiden zu treiben. Andererseits wollte sie nicht lügen.
»Der Herr Chefarzt weiß das alles«, bekannte sie leise. »Bevor er in den Aufwachraum ging, hatte er mit mir gesprochen.«
Völlig fassungslos starrte Alena sie an. »Er hat…« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Das war ja wirklich ungeheuerlich! Hartwig hatte gewußt, wie dringend nötig der Kaiserschnitt gewesen war, und trotzdem hatte er sie zusammengestaucht wie ein unmündiges Kind. Alena errötete tief, doch diesmal war es der Zorn, der ihr die Hitze ins Gesicht trieb.
Damit kommst du mir nicht durch, mein lieber Hartwig, schwor sie sich insgeheim. Vor allen, die heute anwesend waren, wirst du dich bei mir entschuldigen.
*
Dr. Hartwig Simon war mit sich und der Welt zufrieden. Heute war ihm ein entscheidender Schlag gegen Alena gelungen. Natürlich wußte er, daß er seiner Verlobten Unrecht getan hatte. Der Kaiserschnitt, den sie vorgenommen hatte, war mehr als nötig gewesen. Damit hatte sie dem kleinen Mädchen, das jetzt friedlich auf der Säuglingsstation schlief, das Leben gerettet. Andererseits hatte sich Hartwig eine solche Gelegenheit doch nicht entgehen lassen können.
Er war sicher, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis Alena freiwillig auf ihre Karriere als Ärztin verzichten würde. Und das war es ja schließlich, was er mit seinen Demütigungen ihr gegenüber zu erreichen hoffte. Und wenn sein Plan aufging, dann würde Alena künftig nur noch Hausfrau sein – und bald auch Mutter seiner Kinder. Schließlich wurde es für ihn mit seinen neununddreißig Jahren allmählich Zeit, einen Erben für die Klinik zu zeugen. Und auch einen für das riesige Krankenhaus seines Vaters in Düsseldorf.
Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck schritt Hartwig durch den Flur der modernen Frauenklinik und gelangte schließlich zum rückwärtigen Ausgang. Von hier bis zum Privatparkplatz waren es kaum mehr als zehn Schritte. Er bestieg den schnittigen Sportwagen, schaltete das Autoradio ein und pfiff den Schlager, der gleich darauf erklang, fröhlich mit.
Die gute Laune verging ihm aber, als er das hübsche Einfamilienhaus betrat, das er seit nunmehr drei Jahren mit Alena bewohnte. Bereits auf dem Flur kam ihm seine Verlobte entgegen, und ein Blick in ihre smaragdgrünen Augen sagte ihm, daß sie genau wußte, was heute in der Klinik vorgefallen war.
»Das werde ich dir nie verzeihen!« schleuderte sie ihm entgegen, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte.
»Ach komm, Liebes…«, begann Hartwig, doch sie ließ ihn gar nicht aussprechen.
»Sag nicht Liebes zu mir!«
herrschte sie ihn an. »Was du mir angetan hast, ist der Gipfel der Unverschämtheit! Du hast mich ja schon oft in Gegenwart von Schwestern und Ärzten gemaßregelt, aber…«
»Die Vorwürfe, die ich dir machte, waren gerechtfertigt«, fiel Hartwig ihr kühl ins Wort. »Natürlich war der Kaiserschnitt nötig, aber du hast dich auf das Urteil einer Hebamme verlassen, und so etwas darf einem Arzt nicht passieren.«
»Das habe ich nicht!« widersprach Alena energisch. »Ich habe die Patientin untersucht und…«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?« wollte Hartwig wissen. »Das hätte die Sachlage grundlegend verändert.«
»Weil du mir zu einer Verteidigung gar keine Gelegenheit gegeben hast«, hielt Alena ihm vor. »Außerdem hast du mich mit deinen Vorwürfen dermaßen überfahren, daß ich kaum noch klar denken konnte. Und überdies befand sich Klinikpersonal im Aufwachraum. Ich fühlte mich so gedemütigt…«
»Aber, Liebes, das habe ich nicht gewollt«, behauptete Hartwig und versuchte, seine Verlobte in die Arme zu nehmen, doch Alena wich geschickt aus.
»So nicht, Hartwig«, erklärte sie entschieden. »Du wirst dich bei mir entschuldigen – vor allen, die heute dabei waren, als du mir ungerechtfertigterweise einen Fehler unterstellen wolltest.«
In Hartwigs Hirn arbeitete es fieberhaft. Zu dieser Entschuldigung durfte es nicht kommen! Wenn er tat, was Alena verlangte, warf ihn das um Monate zurück, und das konnte und wollte er sich nicht leisten. Schließlich hatte er ein Ziel vor Augen.
»Tut mir leid, Liebling«, wehrte er ab. »Das kannst du von mir nicht verlangen. Ich werde mich entschuldigen – hier, in unseren eigenen vier Wänden, aber niemals vor dem Personal. Als Chefarzt kann ich mir so etwas nicht erlauben, das wirst du einsehen.«
»Nein, das sehe ich nicht ein«, entgegnete Alena. »Du konntest mich ungerechtfertigterweise vor dem Personal demütigen, also kannst du dich auch bei mir entschuldigen. Immerhin wußtest du von Anfang an, daß ich keinen Fehler gemacht hatte. Du hast dich vorher von der Hebamme über den Fall informieren lassen. Und trotzdem hast du es für nötig gehalten…«
»Ich sagte dir bereits, daß ich der Annahme war, du hättest dich auf das Urteil einer Hebamme verlassen«, fiel Hartwig ihr erneut ins Wort, dann setzte er eine bedauernde Miene auf. »Sieh mal, Lenchen…«
»Sag nicht Lenchen!« verlangte Alena wütend. »Du weißt, daß ich diesen Kosenamen nicht ausstehen kann!«
»Entschuldige, Liebes.« Hartwig seufzte leise. »Was ich dir jetzt sagen muß… ich tue es ungern, glaub mir, aber… du denkst, eine ganz passable Ärztin zu sein, doch leider…« Er zuckte die Schultern. »Arzt zu sein ist nicht nur ein Beruf. Es ist auch eine Berufung, und – so leid es mir tut – die fehlt dir.«