Ein magisches Vorwort
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Liebe Schülerinnen und Schüler,
Als Direktorin am Palast der Träume - dem Internat für Magie, Hexen und Wächter in Österreich - ist es mir eine Ehre, dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen und dir somit die Möglichkeit zu geben, in die Welt der Magie einzutauchen. Über verschiedene Ecken haben wir erfahren, dass auch in dir eine Prise Magie schlummert und du in unserem Unterricht bestens aufgehoben bist.
Aber Achtung - ich muss dich warnen. Auch wenn unsere Wächter sehr liebenswert sind, ist die Liebe zwischen Hexen und Wächtern strengstens verboten. Solltest du also auf den Fluren etwas Unerlaubtes beobachten, bitten wir dich, sofort Bericht zu erstatten. Genauso solltest du uns sofort Bescheid geben, wenn du Hinweise auf Gestaltwandler oder Hexenjäger findest - nur so können wir dich vor ihnen beschützen!
In diesem Sinne freue ich mich sehr, dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen und verbleibe mit den besten Grüßen,
Kim Leopold
Direktorin am Palast der Träume
Black Heart
Die gesamte erste Staffel
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KIM LEOPOLD
I
EIN MÄRCHEN VON GUT UND BÖSE
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Ein Mann
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»Sie müssen das nicht tun.« Vorsichtig hebe ich die Hände in die Luft und fokussiere den Blick der verängstigten Frau. Ein paar Strähnen haben sich aus ihrer ordentlichen Frisur gelöst und fallen ihr in das verzweifelte Gesicht. Ihre blauen Augen schauen gehetzt von meinem Freund zu mir und wieder zurück und imitieren damit die Bewegung der Waffe in ihrer Hand.
»Ich weiß, dass Sie Angst haben«, spreche ich weiter und gehe auf sie zu. Die hohen Hauswände werfen unsere Stimmen zurück. »Aber ich weiß auch, dass Sie ein guter Mensch sind. Stecken Sie die Waffe weg.«
»Nein«, stößt sie hervor und weicht einen Schritt zurück. »Ich werd’ Sie erschießen. Sie beide. Ich kann nicht zulassen, dass Sie … dass Sie …«
Ich spüre, wie mein Freund neben mir unruhig von einem Fuß auf den anderen wechselt. Je länger wir in dieser Gasse festsitzen, umso wahrscheinlicher ist es, dass uns jemand entdeckt, der uns auf keinen Fall aufspüren soll. Uns und die Frau, die nichts verbrochen hat. Die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist.
»Wir könnten doch …«, setzt mein Freund an, aber ich schüttle den Kopf und bringe ihn damit zum Schweigen. Noch habe ich alles unter Kontrolle. Die Frau hat schon zu viel gesehen, da müssen wir uns nicht auch noch vor ihren Augen in Luft auflösen.
»Wenn Sie jetzt auf uns schießen, werden Sie sich das niemals verzeihen können«, rede ich auf sie ein und gehe noch einen Schritt auf sie zu. Dann noch einen und noch einen, bis sie die Wand im Rücken hat und sich der Lauf ihrer Pistole nur noch wenige Zentimeter vor meiner Brust befindet.
Die Angst vor Schusswaffen habe ich schon vor langer Zeit verloren.
Ich lächle sie mitfühlend an. »Sie sind ein guter Mensch«, wiederhole ich mit sanfter Stimme. »Das kann ich in Ihren Augen sehen. Schauen Sie mich an. Schauen Sie mir in die Augen. Bin ich wirklich einer von den Bösen?«
Sie begegnet meinem Blick und sucht nach der Antwort auf ihre Fragen. Einige Momente später werden ihre Gesichtszüge weich, sie lässt die Hände sinken und steckt die Pistole zurück in den Holster.
»Aber …«, flüstert sie und schaut an mir vorbei in die Gasse. In die Dunkelheit, in der eine ihrer Kolleginnen liegt. Womöglich sogar eine Freundin. Kein Wunder, dass sie uns am liebsten erschießen wollte.
»Wir haben sie nicht getötet«, verspreche ich ihr leise. »Sie lag schon dort, als wir vor ein paar Minuten hier entlanggekommen sind.«
Sie atmet laut aus und streicht sich die Haare hinter die Ohren, bevor die Angst in ihren Augen einer Entschlossenheit weicht, für die ich sie bewundere. Das muss an ihrer Arbeit liegen. So schnell könnte ich nicht umschalten, wenn die Tote meine Freundin gewesen wäre. »Haben Sie etwas Verdächtiges gesehen?«
Ich schüttle den Kopf. Die Leiche an sich ist schon verdächtig genug, aber die Polizistin ist ein Mensch und hat nichts mit all dem zu tun, also werde ich sie ganz sicher nicht auf die richtige Fährte setzen. Mein Freund räuspert sich und tritt neben mich.
»Ich glaube, ich habe einen Schatten verschwinden sehen«, fügt er hinzu und deutet in Richtung der belebteren Straße. »Er ist dort entlang.«
Die Frau nickt entschlossen und zückt ihre Waffe wieder. »Sie beide bleiben hier, bis meine Kollegen eintreffen«, erklärt sie mit fester Stimme, bevor sie sich an uns vorbeischiebt und die Gasse entlangläuft. Dabei fordert sie über ihr Funkgerät Verstärkung an.
Wir warten, bis sie um die Ecke verschwunden ist, bevor wir zur Leiche zurückkehren, um noch einen letzten Blick auf die Frau zu werfen. Sie liegt auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt, die langen, hellblonden Haare haben sich aus ihrem Zopf gelöst und sind wie ein Kissen unter ihren Kopf gebettet. Sie trägt noch ihre Uniform, was mich nicht wundert. Ihre Kollegin muss kurz nach ihr in die Gasse gekommen sein. Dem Angreifer blieb also nicht viel Zeit.
Ich hocke mich neben sie und taste nach ihrem Handgelenk. Ihre Haut ist noch warm.
Nichts davon wäre ungewöhnlich, wenn man ihr nicht mit Kohle Male auf die Haut gezeichnet hätte.
»War das eine von ihnen?«, fragt mein Freund und zieht sein Handy aus der Tasche, um Fotos vom Gesicht der Frau zu machen. Ich beobachte ihn dabei und frage mich, wieso jemand eine Polizistin ermordet und ihr Gesicht mit Kohlezeichnungen versieht.
»Möglich.« Ich zucke vage mit den Schultern und stehe auf. Nachdem er mit den Fotos fertig ist, steckt er das Handy weg. Wir schauen uns um, bevor wir unauffällig mit der Dunkelheit verschmelzen.
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»Ich werd' nicht schlau daraus.« Mein Freund wirft sein Handy mit etwas zu viel Schwung auf den Tisch und lehnt sich frustriert zurück. Wir sitzen im Schankraum des kleinen Hotels, in das wir vor drei Tagen eingezogen sind. Das Abendessen ist grauenvoll, aber immerhin stellt hier niemand Fragen. Was vielleicht auch daran liegt, dass wir nicht die einzigen zwielichtigen Gestalten sind, die in dem Halbdunkel des Raumes ein Bier trinken. »Ich dachte, ich hätte mittlerweile schon alles gesehen, aber das hier ergibt keinen Sinn.«
Ich nehme das Gerät in die Hand und aktiviere das Display, um das Gesicht der Frau zu betrachten. Was aussieht wie die Zeichen eines Rituals, vermischt mit einer Handvoll Zahlen, ergibt auch auf den zweiten Blick keinen Sinn. Ich habe zwar keine magischen Kräfte, aber genug Erfahrung mit diesen Dingen, um sagen zu können, dass diese Frau nicht für einen Zauberspruch gestorben ist.
Noch dazu kommt mir diese Frau so bekannt vor, dass es schon fast gruselig ist. Solche Zeichnungen habe ich schon mal gesehen … nur wo? Und wann?
»Meinst du, das ist eine Botschaft?«, fragt mein Freund und winkt dem Wirt zu, um noch eine Runde Getränke zu bestellen. Der Mann erhebt sich murrend von seinem Hocker, um zwei neue Gläser für uns fertigzumachen. Der Typ an der Bar schiebt ihm sein Schnapsglas entgegen und fordert ebenfalls eine weitere Runde.
»Für uns?« Ich zucke mit den Schultern und widme mich erneut dem Foto. Das Ganze ist ein Kauderwelsch aus Kohle, nichts, was irgendwie zusammenpasst.
Aber das muss es.
Niemand tötet eine Frau und malt ihr ohne Grund sinnlose Zeichen ins Gesicht.
»Wenn es eine Hexe war, wieso benutzt sie dann Kohle und kein Blut?«
Mein Freund runzelt die Stirn. »Ganz schön … unschuldig für eine Hexe.«
»Vielleicht war die Frau schon tot, bevor unsere Hexe sie gefunden hat«, überlege ich und denke darüber nach, wie die Frau in die dunkle Gasse gekommen ist. »Die wenigsten Hexen würden jemanden umbringen, um eine Nachricht zu übermitteln.«
»Sie hätte auch einfach eine SMS schreiben können.«
Der Wirt stellt noch eine Runde Bier auf den Tisch. Ich sperre den Bildschirm, bevor er die Fotos von der Leiche sehen kann. Sobald er zurück hinter seiner Theke ist, stecken wir die Köpfe zusammen und reden weiter.
»Vielleicht ist sie nicht der Typ für ein Handy«, gebe ich zu bedenken. »Nicht alle sind so vernarrt in diese Dinger wie du.«
Mein Freund lacht schnaubend auf und nimmt mir das Gerät ab. »Dieses Ding hat uns jetzt schon so oft geholfen. Du solltest dir auch eins zulegen.«
Das stimmt allerdings. Wenn er nicht so verdammt geschickt mit der neuen Technik wäre, würden wir vermutlich noch immer in Bulgarien hocken und darauf warten, dass die Lösung für unser größtes Problem vom Himmel fällt.
Ich denke an mein Zuhause, an die alten Teppiche, die Bilder, die Geschichten erzählen, und die Wände, die mir zuletzt immer mehr wie ein Gefängnis vorgekommen sind. Gerade in den letzten Monaten, da die Zeit zum Greifen nah war, und die Lösung so fern wie noch nie.
Wenn ich doch bloß wüsste, wo …
»Das ist es!«, stoße ich hervor. »Gib noch mal her.«
Mein Freund reicht mir das Handy. Dieses Mal konzentriere ich mich nicht auf die Zeichen, sondern auf die Frau selbst. Auf die langen, getuschten Wimpern und die weißblonden Haare, die feinen Gesichtszüge, die unter den Kohlezeichnungen beinahe untergehen. Wenn sie jetzt die Augen öffnen würde, …
Wie kann es sein, dass jemand ihr so ähnlich ist?
»Ich glaube, ich weiß, worum es hier geht.« Ich lege das Handy auf den Tisch. »Die Frau erinnert mich an jemanden. An eine Hexe, um genau zu sein. Ihr Name ist Freya.«
Mein Freund runzelt die Stirn. »Die Freya?«
Ich nicke und werfe noch einen Blick auf die Kohlezeichnungen, die plötzlich einen Sinn ergeben. »Und das hier, mein Freund, ist eine Karte zu ihrem Aufenthaltsort.«
Ein kleines Dorf in Norwegen, 1768 n. Chr.
Freya
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Das Gefühl von rauem Backstein unter meinen Fingerspitzen wiegt mich in Sicherheit. Ich lasse meine Finger an der Hauswand entlanggleiten, bis ich schließlich den kleinen Vorsprung spüre und die Wand loslasse, um vierunddreißig Schritte geradeaus zu gehen. Mein Weg führt mich vom Schatten in die Sonne, und ich verharre einen Augenblick bei dreiundzwanzig Schritten, um das warme Gefühl auf meinem Gesicht zu genießen. Anschließend setze ich meinen Weg fort, elf Schritt vor, zehn nach links, dann zwanzig nach rechts, bis ich nur noch die Hand ausstrecken muss, um die gewohnten Steine des Brunnens unter meinen Händen zu-
Ein Ruck reißt mich zu Boden. Dumpfe Schmerzen jagen durch meinen Oberarm und mein Eimer fällt mit einem lauten Poltern zu Boden.
»Oh nein, entschuldige bitte.« Eine angenehme Stimme füllt mein Ohr, während ich mich aufrichte. »Habe ich dir wehgetan?«
Ich schüttle den Kopf und reibe meinen Oberarm. Die Stimme ist tief und männlich, und ich würde gerne das Gesicht dazu sehen. Jemand, der klingt wie er, muss einfach hübsch sein.
»Es geht schon«, murmle ich verlegen.
»Ich«, setzt der Mann an und scharrt mit den Füßen. Mir wird bewusst, dass mein Anblick ihn nervös machen muss, also schließe ich die Augen.
»Ich bin Mikael«, stellt er sich plötzlich vor.
Verwundert öffne ich die Augen wieder, obwohl ich ihn sowieso nicht sehen kann. Wieso läuft er nicht weg? Wieso bleibt er hier und stellt sich vor? Hat er keine Angst vor einem Krüppel wie mir?
»Freya«, erwidere ich schüchtern und erstarre, als er nach meiner Hand greift. Seine Finger sind schlank und lang, die Haut weich und trocken. Sein Griff verleiht mir ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit, und als ich dann noch seine zarten Lippen auf meinem Handrücken spüre, ist es um mich geschehen. Noch nie hat sich ein Mann die Mühe gemacht, sich mir vernünftig vorzustellen, geschweige denn, mir einen Handkuss zu geben. Für alle anderen bin ich nicht viel besser als Garall, der mit seinem fehlenden Bein ein noch größerer Krüppel ist.
»Du bist nicht von hier«, stelle ich fest, während er sich wieder von mir löst. »Ich … ich erkenne deine Stimme nicht.«
»Du hast gute Ohren. Ich bin aus Christiania«, antwortet er. Seine Stimme entfernt sich kurz. Er hebt den Eimer auf, bemerke ich verblüfft. Ohne seine Hilfe hätte ich mich auf den Boden hocken und jeden Zentimeter absuchen müssen, bis ich den Eimer wiedergefunden hätte. Und dann hätte ich vielleicht die Orientierung verloren und wäre noch weiter umhergeirrt.
Plötzlich spüre ich seine Hand an meinem Ellbogen. Zögernd wartet er darauf, dass ich ihm die Erlaubnis gebe, mich zu begleiten. Mein Herz klopft schneller, während ich die Kontrolle in seine Hände übergebe und mich von ihm zum Brunnen leiten lasse.
»Was verschlägt dich hierher?«, frage ich ihn, um mich von meiner Aufregung abzulenken.
»Der Dienst am königlichen Hof.« Seine Stimme ist genau die richtige Mischung aus sanft und männlich. Wenn ich mir den Menschen dazu vorstelle, sehe ich einen hochgewachsenen, schlanken Mann, ein paar Jahre älter als ich vielleicht. Mit blondem Haar und blauen Augen, wie das hier im Norden so üblich ist. Wie blondes Haar aussieht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie es sich anfühlt, wenn ich meine eigenen Haare bürste und flechte.
»Du kennst den König?«, frage ich aufgeregt. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der dem Hof so nah war. »Ist es wahr, was man über ihn sagt?«
Er lässt meinen Ellbogen kurz los, um den Eimer mit Wasser zu füllen, bevor er mir wieder seine Führung anbietet, um mich zurück zum Haus zu bringen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich nicht die erste Blinde bin, die er führt. Er wirkt erfahren, was das angeht.
»Hm«, macht Mikael belustigt. »Was sagt man denn über ihn?«
»Du weißt schon.« Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. Hätte ich doch bloß nicht von dem Thema angefangen. Jetzt denkt er, ich bin eins von diesen Klatschweibern. »Man sagt, er wäre … geistig nicht ganz beisammen.«
»Ich wusste nicht, dass sein Zustand sich schon so weit herumgesprochen hat.« Mikael spricht in gedämpftem Ton weiter: »Seine Verwalter haben mich hergeschickt, um nach jemandem zu suchen, die ihm vielleicht helfen kann.«
»Bei uns?« Erstaunt horche ich auf und gehe die Menschen des Dorfes in Gedanken durch. Die Einzige, die Krankheiten heilen kann, würde diese Grenze niemals überschreiten. Es ist unmöglich, dass er am Hof von ihr gehört hat.
»Vielleicht fällt dir jemand ein.« Er bleibt stehen. »Mir ist gerade klargeworden, dass ich keine Ahnung habe, wo ich dich hinführen soll.«
»Es ist das rote Haus«, erwidere ich und unterdrücke ein Lächeln. Meinetwegen hätte er mich gerne noch ein bisschen länger durchs Dorf führen können. »Mutter hat es rot gestrichen, damit ich immer weiß, wie ich unser Haus beschreiben soll.«
»Das hört sich nach einer sehr lieben Mutter an«, antwortet er ernst und führt mich zur Haustür. Er stellt den Eimer ab, bevor er nach meiner Hand greift. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Freya.«
Freude durchströmt meinen Körper, weil ich spüre, dass er seine Worte ehrlich meint. Auf meinen Lippen breitet sich ein Lächeln aus. »Die Freude ist ganz meinerseits, Mikael.«
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Drinnen lege ich Holz nach und bringe anschließend etwas altes Brot hinters Haus, um es für die Hühner zu verteilen, die nie genug davon kriegen können. Danach räume ich die Kräuter und Tücher auf dem Esstisch weg, die Mutter dort liegen lassen hat, weil sie heute Morgen zur Geburt gerufen wurde. Ich weiß genau, dass sie sich über ein aufgeräumtes Haus und eine heiße Tasse Tee freuen wird, um ihre angestrengten Glieder aufzuwärmen.
Während ich schließlich ein einfaches Abendessen zubereite, wandern meine Gedanken wieder zurück zu Mikael und seinen sanften Händen. Der melodische Klang seiner Stimme geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, ob er nach meiner Mutter sucht. Wenn es eine Frau in diesem Dorf gibt, die Krankheiten heilen kann, dann ist es meine Mutter. Aber sie wird ihm nicht helfen. Sie hat ja nicht einmal Vater geholfen, als er vor ein paar Jahren krank geworden ist und schließlich starb.
Krankheiten und der Tod gehören zum Leben dazu, hat sie gesagt. Mit dem Schicksal soll man nicht spielen, um das Leben von Menschen zu verändern.
Bauchschmerzen kurieren, Schwangere untersuchen und sie bei der Geburt begleiten – das sind die Dinge, für die sie im Dorf bekannt ist. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn ich so viel wüsste wie sie. Würde ich dem König helfen? Hätte ich meinen Vater gerettet? Was hätte das geändert? Wäre mein Leben dann grundsätzlich anders verlaufen?
Ein Rumpeln an der vorderen Tür lässt mich aufhorchen. Kurz darauf stößt jemand die Haustür auf und stolpert ins Haus. »Freya? Freya!«
»Mutter?« Überrascht über den panischen Ausruf stehe ich auf und gehe meiner Mutter entgegen. Sie fällt mir um den Hals und drückt mich fest an sich. Sie riecht nach dem Schweiß anderer und ihren eigenen Sorgen.
»Den Göttern sei Dank, dir geht es gut.«
»Was ist passiert?«, frage ich beunruhigt. Mutter lässt mich los und eilt durch den Raum, um einige Sachen zusammenzusammeln.
»Wir müssen verschwinden.«
»Was? Wieso?«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Fragen. Nimm, was du tragen kannst. Na los!«, feuert sie mich an. Mir liegen tausend Fragen auf der Zunge, doch ich befolge ihre Anweisung und eile zum Alkoven, um meinen Geldbeutel und das Märchenbuch einzupacken, aus dem sie mir immer vorgelesen hat. Der Geldbeutel fällt klimpernd zu Boden. Ich gehe auf die Knie, um danach zu tasten. In dem Augenblick höre ich die ersten Stimmen vor dem Haus. Aufgeregtes Getuschel, das sich schnell zu einem Singsang aus Anklagen erhebt.
Mörderin.
Hexe.
»Mutter, was ist passiert?«, frage ich. Meine Hände schließen sich um den Geldbeutel. Schnell springe ich auf.
»Jetzt nicht, mein Schatz«, erwidert Mutter, deren Schritte immer noch durch den Raum trippeln, während sie weitere Sachen einpackt. Sie drückt mir ein weiteres Buch in die Hand.
»Hedda, wir wissen, dass du da drin bist!« Jemand pocht mit der Faust gegen die Haustür. Einmal, dann noch einmal, immer lauter. Schon bald verschwimmen die Geräusche zu einer undurchdringlichen Wand aus Lärm. Ich kneife die Brauen zusammen, überfordert damit, die Stimmen den Personen zuzuordnen, und versuche mich auf meine anderen Sinne zu verlassen, während Mutter mich zur Hintertür führt.
Anders als erwartet laufen wir nicht sofort los, sondern bleiben stehen. Mutter umarmt mich und drückt mir einen hektischen Kuss auf die Stirn, der sich zu sehr nach Abschied anfühlt. »Das Buch, das ich dir gegeben habe. Verlier es nicht.«
»Aber …«, setze ich an. Die Stimmen werden immer lauter.
»Und vergiss nicht, was ich dir über das Schicksal beigebracht habe.«
Die vordere Tür fliegt mit einem lauten Knall auf. Die schweren Schritte auf dem Holz lassen mich zusammenzucken. So viele Menschen.
»Ich liebe dich, mein Schatz«, flüstert sie noch, bevor man meine Mutter von mir reißt. Ich kann die Geräusche nicht mehr zuordnen, das Klatschen, das Reißen und Zerren, die Schreie, all die Wut und die Angst … Alles, was ich weiß, ist, dass meine Mutter in Gefahr ist. Sie werden ihr wehtun.
»Du hast sie getötet«, erhebt sich schließlich eine Stimme aus dem Pulk. Ich erkenne sie sofort. Isak. Der Vater, dessen Kind heute das Licht der Welt erblicken sollte. »Du hast sie mit deinen Kräutern umgebracht.«
»Ich war das nicht.« Mutter weint, was mir nur noch mehr Angst einjagt. Sonst ist sie immer die Stärkere von uns beiden. »Bitte, Isak. Du kennst mich. Ich habe Thea wie eine Schwester geliebt.«
Mir wird klar, dass die Geburt nicht gut gelaufen ist. Das Kind und seine Mutter haben es nicht überstanden und ihr Vater gibt meiner Mutter die Schuld daran. Ich muss zu ihr, ich muss ihm sagen, dass sie nichts dafür kann. Dass das Schicksal ihm einen miesen Streich gespielt hat.
Aber jemand packt meinen Arm und hält mich zurück.
»Lass mich los«, fauche ich und reiße an meinem Arm.
»Hexe!«, brüllt jemand. »Sie soll brennen für ihre Taten!«
Der Pulk übernimmt den Ausruf, um daraus einen Gesang zu machen. Entsetzen breitet sich in meinen Gliedern aus, weil sich unser Wohnraum mit dem schrecklichen Wunsch füllt, Mutter für ihre Taten hinzurichten.
Als sich die Stimmen der anderen entfernen und man meine weinende Mutter auf den Dorfplatz trägt, schiebt mich jemand vor sich her. Ich stolpere mehrmals über meine eigenen Füße und werde schließlich unsanft zu Boden gestoßen.
Um mich herum sind so viele Geräusche, dass es mir schwerfällt, die Orientierung zurückzugewinnen und aufzustehen. Immer wieder rempelt mich jemand an und ich stolpere zurück zu Boden, während sich die Schreie meiner Mutter in meinen Kopf fressen.
Es könnten Sekunden vergangen sein, Minuten oder sogar Stunden, bis ich schließlich den Geruch von Feuer vernehme.
Mir wird schlecht. Das können sie nicht ernst meinen. Sie wollen sie nicht wirklich brennen lassen.
Die Schreie werden schriller, schmerzvoller. Setzen sich in meiner Erinnerung fest, bis mir der Atem wegbleibt und die Galle hochkommt. Als sie plötzlich ganz verstummen, muss ich mich übergeben. Der Singsang der Menge lässt nach … sie merken, was sie getan haben.
Ich kauere mich zusammen, die beiden Bücher meiner Mutter an meine Brust gepresst, mein Tuch um den Kopf geschlungen, um mich so vor dem Zorn der Dorfbewohner zu verstecken. Oder vor den Todesqualen meiner Mutter.
Es funktioniert nicht, denn es dauert nicht lange, da reißt mich jemand auf die Füße. Die Bücher fallen zu Boden, während er mich zum Feuer zerrt. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch frisst sich in meine Schleimhäute. Ich würge.
»Was machen wir mit ihrer Tochter?«, fordert derjenige zu wissen, der mich festhält.
Jonas.
»Lass mich los«, fauche ich ihn an und reiße mich los. Hilflos versuche ich einen Ausweg zu finden, doch in meinem Rücken spüre ich das knisternde Feuer und vor mir wütet die Menge. Entschlossen wähle ich den Weg nach vorne. Ich werde nicht kampflos sterben.
»Nein!«, schreie ich. Mehrere Hände greifen nach mir, um mich festzuhalten. Mein Schrei ist so laut, dass er von den umliegenden Hauswänden zurückgeworfen wird. Die Hände verschwinden, die Stimmen verblassen. Es wird still um mich herum, so still, dass sich die Härchen auf meinem Rücken aufstellen.
Ich strecke meine Hände aus, um nach den Körpern zu tasten, die gerade noch mein Gefängnis waren, doch ich greife ins Leere. Mein Fuß stößt gegen etwas Warmes. Entsetzen breitet sich in mir aus. Meine Beine geben nach, und ich stürze zu Boden. Meine Hände landen auf einem weichen Gegenstand.
Nein, kein Gegenstand.
Ein Mensch.
Meine Fingerspitzen gleiten über den Stoff, das Leder seines Gürtels, die warme Haut an seinem Hals und die kratzigen Barthaare, aber seinen Herzschlag fühle ich nicht.
»Oh Gott«, flüstere ich und rapple mich auf, weg von dem leblosen Körper, weg von dem Grauen, das sich um mich herum ausgebreitet hat. Ein anderer regungsloser Körper beendet meine Flucht. Hilflos falle ich erneut auf die Knie und raufe mir die Haare. Noch nie in meinem Leben habe ich mir dringlicher gewünscht, sehen zu können.
»Ist da jemand?«, presse ich schließlich hervor. Die aufkeimende Panik legt sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz. »Irgendjemand?«
Düsseldorf, 2018
Louisa von Stein
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Es vibriert.
Schon wieder.
Mit einem leisen Seufzen ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und schaue aufs Display. Mama – wer hätte das gedacht? Ich drücke ihren Anruf weg und schalte das Handy auf stumm, bevor ich es auf den Sitz neben mir werfe, und mich erneut auf das konzentriere, was sich vor mir befindet.
Ich atme tief ein, schließe die Augen und strecke die Hände aus, um sie vorsichtig über die Instrumente gleiten zu lassen. Im Kopf benenne ich jedes einzelne Teil: Höhenmesser, Variometer, Kompass. Tankmengenanzeige, Funkgerät. Die Kreiselinstrumente, den künstlichen Horizont, Wendezeiger und Kurskreisel. Die Rundungen fühlen sich unter meinen Fingerspitzen so gewohnt an, dass ich zufrieden die Augen aufschlage. Ich kenne das Cockpit der kleinen Maschine besser als meinen eigenen Kleiderschrank.
Dass ich durch die Prüfung falle, ist mehr als unwahrscheinlich. Ich kenne jedes Bauteil meines Babys auswendig, weiß, wie ich sie im Ernstfall reparieren kann oder mit ihr eine Notlandung hinbekomme. In den Bergen und auf dem Wasser!
Noch besser war nicht mal mein Vater auf seine erste Flugprüfung vorbereitet.
Durch die Scheibe kann ich in den Hangar schauen. Das große Tor ist geöffnet und lässt einen Blick auf das Rollfeld zu, das im Regen glänzt und einsam und verlassen daliegt. Mein Blick bleibt an der Reflexion meines Gesichts hängen. Unter meinen Augen liegen tiefe Schatten und erinnern mich daran, dass ich viel zu viele Emotionen in diesen Teil meines Lebens investiere. Wenigstens habe ich die Prüfung bald hinter mir und kann mich anderen Dingen widmen.
Ich nehme mein Handy, steige aus dem Cockpit und verschließe das Flugzeug, bevor ich durch den menschenleeren Hangar gehe. Helmut sitzt noch immer im Büro und arbeitet an der Steuererklärung für das letzte Jahr. Er hört mich kommen, hebt den Blick und schaut mich neugierig an. »Du bist ja immer noch hier. Solltest du dich nicht auf einen Neujahrsball vorbereiten?«
»Du kennst mich doch«, erwidere ich belustigt. »Ich konnte ihr nicht widerstehen.«
Helmut blickt an mir herab. »Deine Mutter wird mich umbringen, wenn sie erfährt, dass ich hier war und dich nicht nach Hause geschickt habe.«
»Von mir wird sie es nicht erfahren.« Ich grinse ihm zu, bevor ich seinem Blick folge und mein Äußeres aufnehme. Mein weißes Shirt ist ölverschmiert, die Hose zerrissen. Mama würde einen Herzinfarkt bekommen, dessen bin ich mir sicher. »Ich beeile mich besser, bevor sie mich noch als vermisst meldet.«
»Genieß den Abend, Lou.« Er zwinkert mir zu. »Denk mal für ein paar Stunden nicht über Flugzeuge nach, sondern tanz dir die Nacht um die Ohren und trink einen Schluck für mich mit.«
Ich schmunzle und nehme meinen Rucksack aus dem Spind, um damit ins angeschlossene Badezimmer zu gehen. Seinen Wunsch zu befolgen wird schwierig. Ich war noch nie besonders begabt im Tanzen, und Alkohol trinke ich normalerweise auch nicht. Aber morgen ist mein achtzehnter Geburtstag. Vielleicht sollte ich mal eine Ausnahme machen und ein normaler Teenager sein. Das wird den Schatten unter meinen Augen zwar auch nicht guttun, aber vielleicht hilft es dabei, die Sorgen mal für ein paar Stunden zu vergessen.
Ich stelle die Tasche auf der Bank ab und packe mein Duschzeug und die frische Kleidung raus, bevor ich meiner Mutter eine kurze SMS schicke, damit sie weiß, dass ich bald nach Hause komme. Immerhin haben wir noch zweieinhalb Stunden Zeit, bevor der Neujahrsball beginnt. Kein Grund, jetzt schon in Panik zu verfallen.
Am Waschbecken beuge ich mich hinunter, um etwas zu trinken. Im Spiegel betrachte ich mein von Öl verschmiertes Gesicht. Meine blauen Augen funkeln mir aufgeregt entgegen. So einen Gesichtsausdruck habe ich nur, wenn ich den ganzen Tag auf dem Flugplatz gewesen bin. Wenn ich an Motoren schrauben darf und Lehrbücher über Flugzeuge wälze. Für mich gibt es nichts Schöneres auf dieser Welt.
Mit einem Lächeln auf den Lippen springe ich unter die Dusche und beeile mich damit, meinen Körper von unnötigen Haaren zu befreien und die notwendigen mit Shampoo und Pflegespülung zu verwöhnen, damit Mama später nichts zu meckern hat. Nach der Dusche trockne ich mich ab und schlüpfe in meinen dünnen Kaschmirpullover, die feinen Jeans und meine Stiefeletten mit dem Absatz, der mich eines Tages noch umbringen wird.
Lou bei Tag, Louisa von Stein bei Nacht.
Ich wische mit dem Handtuch über den Spiegel und erstarre. Hinter mir bewegt sich etwas! Jemand! Ein blasses Gesicht, ernste braune Augen. Nervös drehe ich mich um und blicke durch den Raum.
Mein Herz rast wie verrückt. Da ist niemand.
Was war das? Habe ich mir das bloß eingebildet?
Unsicher drehe ich mich zurück zum Spiegel und schaue hinein. Nichts zu sehen. Trotzdem ist es mir nicht geheuer. Gestalten zu sehen, die nicht existieren … das hatte ich schon. Dahin will ich nicht zurück.
Schnell packe ich meine Sachen in die Tasche, flechte meine nassen Haare zu einem Zopf und verlasse das Badezimmer. Helmut sitzt noch immer an seinem Platz.
»Mach nicht mehr so lange«, rufe ich ihm zu und winke. Er hebt eine Hand zum Abschied, löst sich aber nicht noch einmal von seinen Unterlagen. Ich gehe durch den Hangar, schlüpfe dabei in meine Jacke und werde das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtet. Meine Schritte werden immer schneller, bis ich schließlich draußen bin.
Gott sei Dank ist es noch nicht dunkel, denke ich und ziehe mir meine Kapuze auf, um meine nassen Haare vor der Kälte und dem Regen zu schützen. Mama wird mich umbringen, wenn sie mich im Januar mit nassen Haaren nach Hause kommen sieht. Besser, ich schleiche mich hinein und begegne ihr erst, wenn ich aussehe wie die Dame, die sie sich als Tochter wünscht.
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Außer Atem biege ich in unsere Straße ein und winke Lina und Justus zu, die gerade ihrer Mutter dabei helfen, die Einkäufe reinzutragen. Von meinem besten Freund Thomas keine Spur, aber da er uns in zwei Stunden abholen soll, wird er sicher gerade im Bad stehen.
Bei unserer Auffahrt bremse ich überrascht ab und steige vom Fahrrad. Vor der Garage parkt ein Auto. Ein schwarzer Porsche Cayenne mit dem Logo eines Mietwagenverleihs.
»München«, murmle ich und präge mir das Kennzeichen ein. Aber das sagt ja nichts über die Herkunft des Besuchers aus.
Ich schiebe mein Fahrrad zur Garage und stelle es abgeschlossen an die Seite, um es später auf seinen angedachten Parkplatz zu bringen und meine Mutter nicht mit dem Krach des Garagentors auf mich aufmerksam zu machen. Ein kurzer Blick in das Innere des Mietwagens verrät mir nichts über den Besucher, aber ich vermute, dass es ein Kunde meines Vaters ist. Wer sich einen Stellplatz für sein Flugzeug in unserem Hangar leisten kann, für den ist auch ein Porsche als Mietwagen kein Problem.
Immer noch fest entschlossen, mich hineinzuschleichen, schiebe ich vorsichtig den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn langsam um. Die Haustür geht auf und ich schlüpfe ins Innere des Hauses. Zuerst ist es still, aber dann höre ich die Stimmen aus dem Wohnzimmer.
Erfreut darüber, dass ich noch nicht aufgefallen bin, schlüpfe ich aus meinen Stiefeletten und der Jacke. Die Garderobe zu öffnen, wäre jetzt viel zu laut, also nehme ich die Sachen lieber gleich mit hinauf.
»Louisa?«
Mist. Ertappt drehe ich mich um und sehe Mama in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Neben ihr steht ein mir fremder Mann mit verstrubbeltem braunen Haar.
Die Missbilligung in Mamas Blick füllt den Raum mit stickiger Luft. Ich öffne den Mund, bringe aber keinen Ton hervor. Mich für mein Äußeres zu entschuldigen, bringe ich allerdings auch nicht übers Herz.
»Tja, das ist dann wohl meine Tochter Louisa«, stellt sie mich dem Unbekannten vor. »Louisa, das ist Alexander Romanovic. Ein Freund der Familie.«
Der Mann neben ihr hebt eine Braue und mustert mich neugierig. Ich trotze seinem Blick und verschränke die Arme vor dem Oberkörper, weil ich mich wie ausgezogen fühle. Das muss an diesen grünen Augen liegen oder den geschwungenen Lippen oder … vielleicht auch an seinem Bartschatten oder der Narbe auf seiner Wange, die von einem Messer stammen könnte. Er kann nicht viel älter sein als ich und stammt aus ähnlichen Verhältnissen, denn er trägt eine elegante Jeans und einen blauen Pullover, der teuer aussieht. Und doch ist er anders als die anderen Männer in seinem Alter. Seine Haltung ist nicht nur elegant und angemessen, sie ist gleichzeitig so viel mehr.
Wachsam beinahe. Fast so, als wäre er jederzeit bereit, es mit einer Horde wilder Tiere aufzunehmen.
Irritiert über meine Gedanken reibe ich mir durchs Gesicht. Als ich meinen Arm sinken lasse, fällt mir auf, dass der Stoff schwarz gefärbt ist.
»So ein Scheißdreck«, fluche ich und beiße mir sofort auf die Lippen. Gott, ich hätte mehr Zeit mit anderen Mädchen und ihren Barbies verbringen sollen und weniger mit den Männern vom Flugplatz. Aber Alexander hebt einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln und hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Er ist einer dieser Menschen, über die man alles wissen möchte.
Mama schnalzt mit der Zunge. »Tut mir leid, Alexander«, sagt sie an unseren Besucher gewandt. »Louisa ist manchmal …« Sie hebt hilflos die Hände.
»Sehr sympathisch«, fällt Alexander ihr ins Wort. Die Überraschung über seine Worte übertrumpft die Enttäuschung darüber, dass Mama sich schon wieder für mich entschuldigen will. Ich schaue zu ihm und erkenne in seinem Blick, dass er es vollkommen ernst meint.
Ohne auf Mama zu achten, kommt er zu mir und streckt mir eine Hand entgegen. Ich ergreife sie misstrauisch. Sie ist warm und trocken, trotzdem entgehen mir die rauen Stellen nicht, die von körperlicher Arbeit zeugen. Damit hätte ich bei dem Outfit und dem Auto vor der Tür nicht gerechnet.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Louisa.« Der Klang meines Namens jagt mir einen Schauder über den Rücken. Ich vergesse tatsächlich meine Erziehung und bringe kein Wort hervor. Er hat eine angenehme Stimme, sein leichter Akzent zeigt, was sein Name längst aussagt: Seine Wurzeln liegen irgendwo im Osten. Mama seufzt enttäuscht, sodass ich meinen Blick wohl oder übel von Alexander lösen muss, um sie anzusehen. Sie hebt eine Braue und erinnert mich an gutes Benehmen.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, schieße ich hervor, bevor sich unsere Hände voneinander lösen.
»Du solltest dich frischmachen.« Mama verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre sonst so sanften Züge sind angespannt, ihre Augen funkeln mich wütend an. »Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«
»Ich glaube, Louisa ist eine von den Frauen, die bei jeder Gelegenheit gut aussehen – auch mit Öl im Gesicht«, meldet sich Alexander verschmitzt zu Wort. Ich erstarre und werde knallrot.
Er zwinkert mir zu, bevor er sich meiner Mutter zuwendet und sie in ein Gespräch verwickelt, um sie von mir abzulenken. Ich schaue seinem breiten Kreuz hinterher und unterdrücke ein irres Kichern, während ich mir einrede, dass das Gefühl in meiner Magengrube an seinem östlichen Akzent liegt oder daran, dass sein Lächeln so sympathisch ist. Aber in Wahrheit muss es wohl daran liegen, dass mich gerade zum ersten Mal ein Mann vor meiner Mutter verteidigt hat.
Kurz vor Österreich, 2018
Ein Mann
❤
»Alles okay?« Mein Freund wirft mir einen besorgten Blick zu, bevor er seine Konzentration wieder auf die Straße richtet.
»Geht schon«, presse ich hervor und versuche das irritierende Gefühl in meiner Magengrube zu unterdrücken.
Er lacht. »Solltest du dich nicht nach all den Jahren an Autos gewöhnt haben?«
Ich grummle verstimmt und halte mich fest, während er die nächste Serpentine mitnimmt. »Du fährst ja auch wie ein Rennfahrer.«
»Ein paar Vorteile muss unser Leben doch haben«, erwidert er und beschleunigt, bevor er kurz vor der nächsten Kurve wieder abbremst. Jedem anderen hätte ich schon den Kopf abgerissen, aber er ist nun schon so lange mein Freund, dass wir fast wie Brüder sind. Da fällt es mir schwer, ihn zur Sau zu machen, weil er Spaß hat.
Ich versuche mich abzulenken, in dem ich über Freya nachdenke und darüber, ob wir sie wirklich mitten in den Alpen finden werden. Ich bezweifle, dass wir den Hinweis auf ihren Aufenthaltsort richtig gedeutet haben, denn laut Internet befindet sich dort … nichts.
Nur Berge, Blumenwiesen und Geröll.
Nicht, dass Hexen sich nicht vor den Augen neugieriger Menschen schützen könnten, aber vor Satelliten und GPS? Irgendwann erreicht auch Magie ihre Grenzen.
»Meinst du, Freya befindet sich wirklich dort?« Mein Freund verliert den Spaß daran, mich mit seiner Fahrerei zu ärgern, wenn ich nicht darauf reagiere. Gut so. »Ich meine, müsste sie nicht längst … tot sein?«
»Sie ist eine Hexe«, erwidere ich, als würde das alles erklären. Aber das tut es nicht. »Wenn jemand das Geheimnis der Unsterblichkeit kennt, dann ist es Freya.«
Mein Freund seufzt. »Das hört sich alles ganz schön verrückt an. Aber andererseits ist unser Leben sowieso nicht normal. Wieso also nicht auch noch unsterbliche Hexen?«
Ja, wieso nicht? Wenn Gestaltwandler es schaffen, ewig zu leben, muss es auch für Hexen oder sogar Menschen möglich sein … oder? Was ist an uns schon großartig anders? Abgesehen von den offensichtlichen Dingen natürlich.
»Was machen wir, wenn wir angekommen sind? Haben wir einen Plan?«
Ich lache auf. »Du kennst mich doch. Hatte ich jemals einen Plan?«
Mein Freund schüttelt mit dem Kopf, ein leichtes Grinsen auf den Lippen, und damit scheint alles gesagt. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Natürlich gibt es einen Plan, und der ist einfach: Freya finden, das zurückholen, was mir gehört, und mit ein bisschen Glück dabei sterben.
Endgültig.