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Franziska Steinhauer

Spreewaldkohle

Nachtigalls 14. Fall

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Zum Buch

Narbengeflecht Ein glühender Befürworter des schnellen Kohleausstiegs verschwindet auf seiner Laufstrecke. Die Polizei sucht mit großem Aufgebot, kann aber Patrick Stein nicht finden. Morddrohungen sollten ihn mundtot machen, die hat er aber weder angezeigt noch ernst genommen. Hat einer der Bedroher seine Ankündigung in die Tat umgesetzt? Schon am nächsten Morgen wird die Leiche des Mannes in der Schaufel eines Kohlebaggers gefunden. Während das Team um Peter Nachtigall die Ermittlungen aufnimmt, meldet Christian Blum seine Frau als vermisst. Die entschlossene Wolfsaktivistin war nach einer Diskussionsrunde nicht heimgekehrt. Ihre Leiche entdecken Jäger in einem Ansitz. Politische Morde in Cottbus und Umgebung? Oder gibt es ein privates Motiv? Die Ermittler stellen Nachforschungen in alle Richtungen an, entdecken eine private Spende-Organisation, unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse, ins Stocken geratene Lebensentwürfe. Wird es weitere Opfer geben?

Franziska Steinhauer lebt seit mehr als 25 Jahren in Cottbus. Bei ihrem Pädagogikstudium legte sie den Schwerpunkt auf Psychologie sowie Philosophie. Ihr breites Wissen im Bereich der Kriminaltechnik erwarb sie im Rahmen eines Master-Studiums in Forensic Sciences and Engineering. Diese Kenntnisse ermöglichen es der Autorin den Lesern tiefe Einblicke in pathologisches Denken und Agieren zu gewähren. Mit besonderem Geschick werden mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Franziska Steinhauers Romane zeichnen sich vor allem durch gut recherchierte Details und eine besonders lebendige Darstellung der jeweiligen Figuren aus. Ihre Begeisterung am Schreiben gibt sie als Dozentin an der BTU Cottbus-Senftenberg weiter.

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © MPower. / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6800-1

 

 

1

Den Kopf frei bekommen.

Durch gleichmäßige, rhythmische Erschütterung die Gedanken neu sortieren.

Alles an seinen richtigen Platz ruckeln.

Das war jedenfalls der Plan.

Patrick Stein band die Schnürsenkel der Laufschuhe zu rutschsicheren Schleifen.

Ein schneller Blick in den bodentiefen Spiegel im Flur zeigte ihm einen nicht mehr ganz jungen Mann mit deutlicher Neigung zu Übergewicht. Die moderne Frisur mit Undercut über den Ohren und gescheiteltem, schwer zur Seite fallendem Haar ließ ihn zwar nicht schlanker, aber doch jünger wirken.

Auf jeden Fall im Spiegel!

Und von Weitem sowieso.

Er schob die Tolle zurück und lächelte sein Selbst zufrieden an.

Die wulstigen Lippen, wusste er, wirkten auf viele Frauen sinnlich, die dunklen Augen zum nicht ganz natürlich blonden Haar gaben ihm einen Touch von Besonderheit, Sinnlichkeit und geheimnisvollen Abgründen.

Entschlossen nickte er sich zu.

Trabte los.

Schon nach wenigen Schritten spürte er, wie sich der verspannte Schultergürtel lockerte, die Beine elastisch federten.

Gute Stimmung sich ausbreitete.

Es war eine kluge Entscheidung gewesen, dieses Haus am Rand der Stadt zu kaufen.

Branitz.

Direkt am Park des Fürsten Pückler.

Direkt am Wald.

Lauftrainingsstrecke unmittelbar vor der Haustür.

Perfekt.

Gerade jetzt, wo sein Leben ein wenig aus den Fugen zu geraten drohte.

Patrick Stein tauchte ein in die Kühle und Stille des Waldes.

Die Musik taktete seinen Schritt.

Überlagerte das Laufgeräusch.

Leider auch die schnellen Tritte eines anderen.

2

Doreen Stein brachte lachend Kinder und Einkäufe ins Haus.

Sah es sofort: Die Laufschuhe Patricks fehlten.

Sie schmunzelte mit dem Unverständnis derer, denen Essen nicht so wichtig war, deren Gedanken nicht ständig um irgendeine leckere Verführung kreisten, die nicht permanent von Appetit geplagt wurden.

Ihr Patrick stürzte sich immer wieder in Phasen sportlichen Aktionismus, die weder zu einer besseren Kondition noch zu einer Reduktion des Körpergewichts führten. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm das Ganze lästig, die Sportschuhe wanderten in den Keller, die Funktionskleidung im Schrank immer weiter nach unten, bis sie dort im Dunkel getrost vergessen werden konnte.

Na ja, dachte sie, einen Versuch war es wert. Vielleicht blieb er diesmal tatsächlich dabei.

Schon wegen Eric.

Aus dem Nachbarhaus.

Dem ewigen Konkurrenten auf der Suche nach dem richtigen Lebensentwurf.

Doreen trug die beiden vollgepackten Körbe in die Küche, griff nach der Fernbedienung für den CD-Player. Sofort war das Haus mit der angenehmen, sphärischen Musik Ólafur Arnalds erfüllt.

Zuerst scheuchte sie die Kinder ins Bad.

»So, ihr beiden! Erst die Hände waschen, dann umziehen – und danach sind die Hausaufgaben dran. Luise? Für Freitag ist noch ein Referat vorzubereiten. Hast du das Material schon durchgelesen? Und üben musst du den Text auch noch!«

Das Trappeln der Kinderfüße auf der Treppe ließ vermuten, dass zumindest der erste Arbeitsauftrag in Angriff genommen wurde.

Die Mutter lauschte zufrieden dem Giggeln der Mädchen nach.

Manche Tage, dachte sie, laufen eben besser – andere deutlich schlechter. Heute klang nach einem entspannten Nachmittag, sollten die beiden sich jetzt nicht noch wegen irgendeiner Nichtigkeit in die Haare bekommen.

Fröhlich verstaute sie die Einkäufe im Kühlschrank, fütterte den ungeduldigen schwarzen Kater, der empört maunzend behauptete, während der Abwesenheit der Familie dem Hungertod nahe gewesen zu sein und stellte zwei Gläser Orangensaft für die Mädchen auf den Tisch.

Wartete.

Zuerst auf Luise und Paula.

Etwa anderthalb Stunden später, zunehmend besorgt, auf Patrick.

Noch später begann sie zu telefonieren.

Mit Martin.

Mit gemeinsamen Freunden.

Sogar mit Eric, was richtig Überwindung kostete.

Viel später mit der Polizei.

3

Der erste Stoß traf ihn völlig unerwartet.

Er strauchelte, fing sich wieder. War irritiert, warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Weg, als habe eine Wurzel unfair nach ihm gepackt.

Ein zweiter Stoß folgte, hart, unerbittlich. Der Schmerz flutete langsam an. Breitete sich über die gesamte linke Seite aus. Die Rückenmuskulatur verkrampfte sich.

Er spürte, wie eine Flüssigkeit warm über seine Beine lief.

Tasten nah der Quelle war eher ein Automatismus.

Er betrachtete überrascht die Finger, die über die Stelle gestrichen waren.

Rötlichbräunliches Zeug. Klebrig.

Blut!

Mein Blut!, erschloss sich seinem Denken langsam.

Wie ein Sturm brausten Überlegungen, Theorien, Erklärungsversuche hinter seiner Stirn wild durcheinander.

Er verwarf sie alle.

Kam nun vollkommen aus dem Rhythmus.

Stürzte.

Der zweite, noch heftigere Schmerz erschien ihm wie eine logische Folge des ersten, wenngleich sich das dahinterstehende Denkschema dem Zugriff verweigerte.

Er war nicht einmal mehr überrascht.

Als er den Angreifer unscharf wie einen Schemen sah, der sich über seinen am Boden liegenden Körper beugte, war er sich sicher.

Vorbei und aus.

Schade, dachte er in der letzten Sekunde, bevor sich der kalte Stahl seinen Weg zwischen den Rippen hindurch in Richtung Herz bahnte, sehr schade.

4

»Du liebe Güte!« Maja Klapproth war wenig begeistert. »Der Mann hat sich vielleicht nur verlaufen. Da ist es möglicherweise etwas hoch angesetzt, wenn die Kriminalpolizei anrückt. Unser Schwerpunkt ist Mord!«, erinnerte sie den Kollegen scharf.

»Das ist alles wahr. Es erscheint aber auch möglich, dass ihm etwas zugestoßen ist. Politiker geraten schon mal in brenzlige Situationen. Vor Kurzem erst Farbbeutel gegen das Parteibüro – und nun ein verschwundenes, sehr aktives Parteimitglied. Er hat sich in letzter Zeit häufig exponiert. Alles ist denkbar.« Nachtigall war bereits aufgestanden, hatte die Jacke in der Hand und wartete ungeduldig. »Komm.«

Widerwillig schob die Kollegin ihren Stuhl zurück.

Folgte Nachtigall in den Gang hinaus.

»Ich habe schon organisiert, dass uns ein Suchtrupp bei der Familie erwartet. Möglicherweise ist der junge Mann gestürzt, liegt hilflos im Wald, hatte kein Handy dabei oder es ist kaputtgegangen. Ausschließen können wir nichts.« Er atmete tief durch. »Selbst die schlimmste Variante nicht«, ergänzte er düster.

»Jaja. Und am Ende ist er schlicht der häuslichen Enge entflohen. Soweit ich mich erinnere, ist er verheiratet und hat zwei Töchter. Möglich, dass er eine Flucht in den ewigen Sommer mit einem sexy Girl vorgezogen hat.« Klapproth zwinkerte dem Kollegen zu. »Sei ehrlich! Das ist eine viel schönere Vorstellung, als zu glauben, er läge irgendwo hilflos im Wald – oder sei tot.«

»Ja, stimmt. Mir fallen spontan viele bessere Varianten ein, als tot zu sein.« Nachtigall schlüpfte in seine Jacke. »Los!«

Klapproth schalt sich in Gedanken eine dumme Kuh. Wieder ein Fettnäpfchen erwischt. Schließlich war es nicht so lange her, dass der Kollege selbst um ein Haar gestorben wäre.

»Tut mir leid«, murmelte sie, wusste, dass er die Entschuldigung gar nicht gehört haben konnte, und beeilte sich, Nachtigall einzuholen.

Doreen Stein wirkte erstaunlich unaufgeregt.

Maja Klapproth war mehr als überrascht, hatte sie doch eine in Tränen aufgelöste, hysterische Ehefrau erwartet.

Sie versammelten sich um den Tisch, an dem die Kinder noch vor wenigen Stunden ihre Hausaufgaben erledigt hatten.

»Er hat verschiedene Laufstrecken. Und natürlich weiß ich nicht, für welche er sich heute entschieden hat. Das legt er spontan fest. Und er nimmt immer sein Handy mit. Aus Sicherheitsgründen. Aber auch, weil er gern jederzeit erreichbar sein will. Politikerkrankheit. Allerdings hat er sich bei niemandem aus seinem Freundeskreis gemeldet und meine Anrufe nimmt er nicht an.«

»Kommt das öfter vor? Also, dass er speziell Ihre Kontaktversuche unbeantwortet lässt?«, bohrte Klapproth.

»Sie meinen, dass er nicht rangeht? Aber sicher. Ich bin ja nicht über jeden Gesprächstermin informiert. Wenn ein Anruf stört, wird man direkt auf die Mailbox weitergeleitet.«

»Das ist doch sicher ziemlich kränkend.«

»Nein, ist es nicht. Es gehört zur Normalität unseres Alltags. Ich bin nicht über jeden seiner Schritte informiert und er nicht über all meine Termine.«

»Ihr Mann ist Lokalpolitiker. Aber er hat sicher einen Brotjob?«, fragte der Cottbuser Hauptkommissar freundlich.

»Ja. Er arbeitet bei einem privaten Bankinstitut, Bühler & Partner, ist Finanzberater für viele kleine Firmen in der Umgebung.«

»Und er ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Hat sich im letzten Wahlkampf sehr engagiert gezeigt. Vor wenigen Tagen wurden von Unbekannten Farbbeutel gegen das Parteibüro geworfen – soweit ich informiert bin, ist der Staatsschutz in die Ermittlungen einbezogen.«

Doreens Miene wurde unergründlich.

»Ja. Unschöner Vorfall. Aber vielleicht ein wenig zu hoch gehängt. Es handelte sich um Farbbeutel!«

»Frau Stein, hat Ihr Mann in der letzten Zeit Drohmails oder Briefe mit Drohungen gegen seine Person erhalten?«, fasste Nachtigall seine Frage weiter.

»Ach, na ja«, druckste die Gattin, »schon. Aber so was hat er immer gleich gelöscht. Und wer bekommt denn keine solchen Mails? Früher hatte man wenigstens noch den Anstand, mit dem eigenen Namen zu unterzeichnen. Heute schreibt dir Dudeldidu oder Spidermousy!«

»Er hat sie gelöscht? Hm. Worum ging es denn in den Mails?«

»Umweltthemen. Die Absender nahmen kein Blatt vor den Mund. Manche haben sich über die Forderungen nach einer Kohlendioxidbepreisung aufgeregt und wollten ihm die Seele aus dem Leib prügeln, falls sie sich ihr Auto nicht mehr leisten könnten, andere regten sich über das geplante Tempolimit auf, wieder andere waren der Meinung, die Politik solle endlich dafür sorgen, dass die Kinder wieder in die Schule gehen, statt auf der Straße bei Fridays for Future rumzuhängen. Es könne nicht angehen, dass man ständig über Mängel im Bildungssektor debattiere und dann akzeptiere, dass die Angebote nicht genutzt werden, weil die Gören auf der Straße rumstehen. Man wollte ein Exempel an einem Politiker der ›dreckigen Umweltbande‹ statuieren – mit einem Messer ›ökologisch aus dem Verkehr ziehen!‹« Sie schüttelte vehement den Kopf und entschied: »So was nimmt doch keiner ernst!«

»Ihr Mann hat diese Drohungen für einen Scherz gehalten?«

»Nein«, räumte Doreen zögernd ein, »das nicht. Aber es waren keine konkreten Formulierungen. Eher so was wie: Mein Auto fährt, so schnell es kann! Freie Fahrt für alle! Tempo ist Spaß, Hände weg vom Limit! Einmal stand dort: Ich werde dich töten! Gut, da haben wir einen Schreck bekommen. Aber auch diese Nachricht wurde von den altbekannten Beschimpfungen begleitet. Das hat uns schnell beruhigt. Dieser Absender verdiente es nicht, ernst genommen zu werden.« Sie atmete tief durch. »Mein Mann will die Welt retten. Und muss sich sagen lassen, dass der Tod denjenigen findet, der gegen die Interessen der Bürger handelt. Als wäre der Versuch, das Klima zu retten, gegen die Menschen gerichtet, die und deren Kinder und Enkel in diesem Klima leben müssen. Absurd!«

»Er hat in keinem dieser Fälle Anzeige erstattet?«

»Nein. Am Ende käme eh nur raus, dass die Mails aus dem Ausland abgeschickt wurden – und man den Täter nicht verfolgen könne. Ein mulmiges Gefühl hatte er sicher, aber keine Angst.«

Sie verstummte.

»Hören Sie, wir reden über Patrick, als sei er gestorben! Wir beenden das jetzt sofort! Sie werden ihn finden, er ist gestürzt und kann nicht nach Hause kommen. Das ist passiert, basta!«

Die klare Ansage sollte die aufsteigende Panik überdecken. Nachtigall verstand diese Reaktion nur zu gut, nickte beruhigend.

»Unsere Leute suchen die Strecken ab, die Sie uns genannt haben.« Nachtigall checkte zum x-ten Mal sein Handy. »Bisher haben sie Ihren Mann nicht gefunden. Und selbstverständlich versuchen wir, sein Handy zu orten. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Wird er nicht gefunden, müssen wir seine Anrufe und Mailkontakte checken, die Suche nach ihm ausweiten.«

»Sie halten es für möglich, dass er uns verlassen hat?« Doreens Augen sprühten gefährliche Funken. »Das hat er nicht! Er liebt seine Familie. Das ist ausgeschlossen.«

»Wir werden ein Team bereithalten, das die Überwachung Ihrer Telefonverbindungen einleitet, sobald wir dazu einen richterlichen Beschluss haben. Kann ich bitte Ihren Briefkastenschlüssel bekommen? Ich möchte nachsehen, ob in der Zwischenzeit etwas zugestellt wurde.« Nachtigall streckte die Hand aus.

Doreen zögerte.

»Ich weiß, dass Sie beim Nachhausekommen nachgesehen haben. Es ist nur zur Sicherheit.« Das Bund klapperte in seine Hand.

»Leer«, verkündete der Hauptkommissar wenig später.

»Sie glauben an eine Entführung? Aber hätte mir der Kidnapper das nicht eher mitteilen müssen? Also, ich meine, bevor ich merke, dass etwas nicht stimmt, und die Polizei verständige? Normalerweise wollen diese Typen doch nicht, dass man die Ermittler informiert.« Die Ehefrau des Verschwundenen klang nun leicht hysterisch.

»Da haben Sie sicher recht. Aber wir müssen von allen möglichen Szenarien ausgehen.« Nachtigall legte Frau Stein die Hand auf den Unterarm, wollte beruhigen, doch die Frau schüttelte sie ab, trat sogar einen Schritt zurück, als fürchte sie eine weitere Berührung.

»Mein Mann wartet darauf, gefunden zu werden. Er ist gestürzt oder hat sich im Wald verlaufen. Ihm ist nichts zugestoßen«, stellte sie unterkühlt klar. »Es gibt keinen Grund, irgendwelche Schreckensszenarien zu entwerfen.«

Nur Stunden später hatte sich die Angst bei den Steins fest eingenistet.

»Das kann nicht sein! Das ist vollkommen ausgeschlossen.«

Nachtigall konnte hören, dass die Tränen nur knapp unter der zur Schau gestellten ruhigen Oberfläche nach oben drängten.

»Wie ist das möglich, dass so viele Polizeikräfte meinen Mann nicht finden können?«

»Unsere Leute sind alle von Ihnen genannten Laufstrecken abgegangen. Sein Handy wurde entdeckt – Ihr Mann aber nicht. Das Mobiltelefon ist bei den Kollegen der Technik, wir werden versuchen, alle Daten wiederherzustellen. Dann sehen wir, welche Nachrichten er verschickt und bekommen hat. Möglicherweise eine Verabredung? Hunde sind unterwegs. Frau Stein, wir sind im Hintergrund sehr aktiv, auch wenn Sie im Moment nicht diesen Eindruck …«

»Mein Mann ist durchaus risikobewusst. Er läuft auf dem Weg – nicht durchs Unterholz. Gebrochene Arme und Beine stützten nicht das von ihm vorgesehene Image des dynamischen Machers, der alle Probleme bewältigen kann. Gleitschirmfliegen, Ultraleichtfliegerausflüge – nein, niemals. Gelegentlich spielt er mit den Kindern aus der Siedlung Fußball. Das ist es dann aber auch schon.«

»Es ist also nicht vorstellbar, dass er querfeldein …«, begann Klapproth und wurde giftig unterbrochen.

»Hören Sie mir eigentlich zu? Niemals würde mein Mann freiwillig durchs Unterholz joggen!«

Doreen Stein warf dem Hauptkommissar einen bitteren Blick zu. »Ich weiß, was Sie denken. Ein geheimes Treffen, ein Bett im Kornfeld, sexuelle Glückseligkeit mit einer anderen. Aber das ist undenkbar! Niemals hätte Patrick sich auf so etwas eingelassen. Auf einem Feld, teilweise oder völlig nackt, unter offenem Himmel, im Dreck, neben Regenwurm, Zecke und Co. … sehen Sie, es ist ein Unterschied, ob ich die Natur schütze oder mich in ihr bewege. Und zu viel Natur auf einmal ist nichts für meinen Mann! Krabbeltiere an den Körperöffnungen – nein. Niemals!«

»Was aber, wenn jemand um Hilfe gerufen hat?«, fragte Nachtigall nachdenklich. »Dann wäre er der Stimme nachgegangen, nicht wahr?«

Doreen tackerte ein Lächeln hinter den Ohren fest und begleitete die beiden Beamten zur Tür.

Grußlos schob sie die lästigen Frager in den Vorgarten.

Nachtigall zuckte mit den Schultern. »Das meint sie nicht persönlich«, murmelte er. »Ist eine schwierige Situation.«

Er griff nach dem Handy.

»Hallo, Silke. Heute können wir nichts mehr tun. Sollte Herr Stein bis morgen nicht auftauchen, läuft das volle Programm an. Familiärer Hintergrund, Gerüchteküche, berufliche Probleme, Kontobewegungen, EC- oder Kreditkartennutzung der letzten Stunden – das übliche Prozedere. Wir können nicht sicher sein, ob die Angaben zum Joggen stimmen. Hoffen wir, dass die Hunde morgen einen Politiker mit gebrochenem Bein finden, der es nicht bis zum nächsten Haus geschafft hat. Wenn nicht …«

Als er beim Einsteigen einen letzten Blick zum Haus zurückwarf, erkannte er Doreen Stein, die am Küchentisch saß und den Kopf auf die Arme gelegt hatte.

»Meinst du, sie weint?«, erkundigte er sich leise bei seiner Kollegin.

Maja Klapproth sah lange durchs Fenster, fixierte die Frau, so, als wolle sie eine bisher unbekannte Spezies näher bestimmen: Zwei, vier, sechs oder doch acht Beine? Aasfresser, Jäger oder Vegetarier? Giftig oder ungefährlich?

»Nein.« Das klang sehr entschieden. Überzeugt.

»Nein? Wieso bist du dir so sicher?«

»Weil ich nicht erkennen kann, dass ihre Schultern beim Schluchzen beben.«

5

Die Sonne blendete.

Schon um diese Zeit.

Schichtbeginn.

Timothy befreite die Sonnenbrille aus der Frisur und schob sie auf der Nase zurecht.

Nicht, dass ihn die Sonne gestört hätte.

Im Gegenteil.

Es war eine durchaus verlockende Vorstellung, sich auszuklinken, die Augen zu schließen und die warmen Strahlen auf dem Gesicht zu genießen.

Aber er hatte ja Dienst.

Krankheitsvertretung. Jürgen hatte Magen-Darm. Mist!

Nix mit seliger Träumerei.

Timothy seufzte genervt.

Es war ein anstrengender und verantwortungsvoller Job in langweiliger, öder Umgebung. Die Augen fanden, ob nun mit oder ohne Brille, keine anregenden Eindrücke, die sie als Beschäftigung ans Hirn hätten weiterleiten können.

Immerhin, dachte er, als ein Alarm ertönte und der Führer der Brücke sich meldete, irgendwas hatte sich verklemmt.

Wahrscheinlich nur ein Stubben.

Die hatten oft bizarre Formen und konnten einem ziemlich Arbeit machen.

Missmutig hielt er mit dem Jeep auf die großen Schaufelräder zu.

Seine Gedanken beschäftigten sich nicht mit dem anstehenden Problem, die Augen wanderten gewohnheitsmäßig das Flöz entlang.

Wo war es denn nun? Von allein rausgefallen? Unwahrscheinlich!

Dann entdeckte er das Unfassbare.

Impulse, ähnlich einem Feuerwerk in seinem Denken, wurden ausgelöst, die gesamte Maschinerie setzte sich mit spürbarem Ruck in Gang.

Über dem Band, das den Abraum transportierte.

Aus der Schaufel ragte ein menschlicher Arm!

Seltsam verdreht. Finger – soweit er es erkennen konnte – vollzählig. Zumindest an der Hand, die er sehen konnte. Über die andere war ihm eine Aussage zu treffen unmöglich, die war wohl tiefer in der Schaufel verklemmt. Hastig schob er die Sonnenbrille auf den Kopf zurück und nahm das kleine Fernglas zu Hilfe. Ächzte leise. Tippte auf eine der Kurzwahltasten.

»Ja, äh, Timothy hier. Ich weiß jetzt, was da in der Schaufel klemmt. Sieht aus, als bräuchten wir die Polizei vor Ort. Ich glaube, da steckt ein Körper im Eimer.«

Gestresst und kurzatmig wartete er auf die Antwort.

»Ja, klar. Ich bleibe hier stehen und warte auf die Leute. Und – ja! Ich passe auf, dass niemand aus Versehen in den Gefahrenbereich gerät und dort gedankenlos rumstapft. Logisch. Eine Leiche ist genug, ja, sehe ich genauso.«

Nachdenklich hob er den Kopf.

Wie war der Leichnam da wohl reingeraten? Von alleine?

War jemand hier rumgekraxelt, abgerutscht und tödlich verunglückt? Oder hatten sie eine historische Leiche ausgegraben? Lag hier in der Erde über einer Kohleschicht seit den Zeiten der Dinosaurier?

Nun gut, vielleicht nicht ganz so lange. Er schmunzelte, ertappte sich dabei und zog die Mundwinkel eilig in die Waagerechte. Dort oben lag ein toter Mensch.

Solch eine Entdeckung war kein Grund für Amüsement.

Die Beamten wurden von einem firmeneigenen Fahrzeug an den Fundort gebracht.

Aus Sicherheitsgründen. Das Terrain war gefährlich – Unkundige sollten sich hier besser nicht auf gut Glück bewegen.

Schon von Weitem erkannte Timothy den Ermittler. Einen Kollegen, der selbst im Sitzen so groß war, hatte er nicht.

Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war der Mann besorgt. Das war selbst auf die Entfernung deutlich zu sehen. Hm, überlegte Timothy, möglicherweise war aus der Stadt jemand abgängig, und nun musste man befürchten, ihn gefunden zu haben. Vielleicht so ein pubertierender Pickeltyp, der sein Glück in der Weite der realen Welt suchen wollte, dem das weltweite Netz nicht mehr ausreichte.

»Tja«, murmelte er betroffen, »die Realität hält ungeahnte Gefahren bereit. Sterben wolltest du sicher nicht.«

Der Wagen kam mit einem heftigen Ruck zum Stehen.

»Guten Morgen«, eine Frau kletterte aus dem Fond. »Mein Name ist Klapproth, dies ist mein Kollege Nachtigall. Kriminalpolizei Cottbus.«

»Sie haben den Leichnam gefunden?«, erkundigte sich der Ermittler mitfühlend, musterte dabei das blasse Gesicht Timothys kritisch. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Mein Name ist Timothy Weiler. Nun, ja, das war schon ein Schreck. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie einen Arm und eine Hand. Könnte also durchaus möglich sein, dass der Körper tiefer in der Schaufel liegt. Hochgeklettert bin ich nicht – wegen der Spuren und so. Aber wenn Sie möchten, können wir ihn runterlassen. Wir sollten versuchen, den Arbeitsbereich der Förderbrücke zügig zu verlassen. Hier ist es nicht ganz ungefährlich.«

Timothy unterstrich gestenreich, welche Gefahren er konkret meinte.

Wies auf seinen Helm und die Ermittler setzten ihren Kopfschutz widerspruchslos auf.

»Vielleicht erklären Sie uns zuerst, wie man da hineingeraten kann, während wir auf das Team des Erkennungsdienstes warten. Es wird doch Tag und Nacht an dieser Brücke gearbeitet. Es gibt sicher Überwachungskameras und solche Dinge. Eigentlich hätte ich gedacht, es sei unmöglich, unbemerkt so nah an die Maschinen heranzukommen.« Nachtigall sah an der beeindruckend hohen Wand aus Kohle und Erde, Lehm und Sand hinauf. Erkannte die Hand, von der Herr Weiler gesprochen hatte. Gehörten diese Finger zu dem vermissten Familienvater? Das wäre ein schwerer Schock für die Familie. Bei dem Gedanken daran, dass er die Nachricht überbringen müsste, kroch eine unangenehme Gänsehaut über seine Arme und den Nacken. Und wahrscheinlich war der Tote nicht von allein in die Schaufel geraten, mindestens eine weitere Person wäre involviert, Mord also nicht ausgeschlossen. Nachtigall seufzte.

Timothy zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, wie das zugegangen sein soll. Natürlich kann man diesen Bereich des Tagebaus nicht ohne Probleme erreichen, die Schaufel trägt in Schichten das Material ab. Sie müsste ihn also förmlich aus dem Erdreich gekratzt haben. Und wie sollte er dort hingeraten sein? Ne, das erscheint alles nur wie blühende Fantasie.« Er runzelte die Stirn. »Ist ja so, dass die Kohle hier nicht an der Oberfläche liegt. Es sind mehrere Schichten Erde darüber. Die werden abgebaggert und als Abraum gelagert. Das erledigt der eine Bagger, dieser hier zum Beispiel. Die Kohle selbst können wir erst mehrere Schichten tiefer abbauen.« Er zeigte dabei auf die Wände des tiefen Kraters, wo die Veränderung der Farbe deutlich zu sehen war. Von Braun zu fast Schwarz.

»Wieso sind Sie hier?«, fragte Klapproth und musterte Timothy eindringlich.

»Nun, manchmal verklemmt sich was, dann kommen wir und sehen nach, was es ist. Große Dinge zum Beispiel aus Metall könnten die Förderbrücke beschädigen. Manchmal finden wir Stubben in den Schaufeln. Eigentlich gehen Leute übers Gelände und suchen es nach solchen Dingen ab, bevor der Bagger an die Stelle weiterrückt, aber manchmal wird eben einer übersehen.«

»Während der Nachtschicht ist bestimmt der ganze Bereich gut ausgeleuchtet?«, mutmaßte Klapproth.

»Ja, klar. Aber Sie wissen sicher, dass es immer wieder Leuten gelingt auf unser Gelände vorzudringen. Zum Beispiel Demonstranten, die den Bagger besetzen. Ihre Kollegen haben dann immer alle Hände voll zu tun, bis wir wieder arbeiten können. Es ist eben unmöglich alle Ecken des Geländes im Auge zu behalten. Wenn Sie meinen, dass jemand einen Toten waagerecht im Flöz verstecken könnte, muss ich sagen, dass so was nicht möglich ist. Darüber habe ich beim Warten auch nachgedacht – aber nein, der Buddler bliebe nicht unbemerkt. Außerdem trägt diese Maschine den Abraum ab, also das, was über dem Flöz liegt. Und tatsächlich fällt man nicht einfach so in den Baggerbereich. Das passiert nicht.« Timothy legte den Kopf in den Nacken, sah zu der Hand hinauf. »Also ehrlich, für mich sieht die frisch aus. Nicht, dass ich jetzt Ahnung von solchen Dingen hätte, bewahre, aber ich denke, wenn hier was liegt, dann verwest es. Und eigentlich ist es sowieso vollkommen unmöglich!«

»Hm«, meinte Nachtigall. »Aber dennoch ragt hier ein Arm aus der Schaufel. Irgendwie hat es also funktioniert.«

Timothy Weiler nickte bedächtig. »Wenn Sie mich fragen, entweder sollte der Körper rasch gefunden werden oder derjenige, der ihn loswerden wollte, stammt nicht von hier. Jedes Kind weiß, dass Alarm ausgelöst wird, wenn ein Fremdkörper in der Schaufel steckt. Das lernt man schon in der Schule.«

»Wir sollten ihn runterlassen, damit wir einen Blick auf den Körper werfen können«, meinte Klapproth ungeduldig, zog die Augen schmal. »So kommen wir nicht einen Schritt weiter. Es ist zwar völlig ausgeschlossen und unmöglich, dass dort jemand liegt, Tatsache bleibt, dass es dennoch so ist. Wir müssen klären, wer derjenige ist. Runter mit der Schaufel.«

»Jaja«, maulte eine Stimme hinter ihr, und sie fuhr erschrocken herum. »Wir sind ja da und werden uns mit der Bergung beeilen, damit ihr einen Blick auf die Leiche werfen könnt.« Peddersen gab seinen Leuten ein Zeichen.

Das Tatortfahrzeug des Erkennungsdienstes war von einem der LEAG-Jeeps eskortiert worden, dessen Fahrer sich mit Timothy kurz verständigte, umkehrte und wegfuhr.

»Er meinte, zwei Begleitfahrzeuge seien wohl nicht notwendig. Und wir sollten uns beeilen, jeder Ausfall kostet.«

»Guten Morgen erst mal«, brummte Nachtigall. »Wir müssen nicht nur klären, um wen es sich handelt. Spannend ist, wie er in die Schaufeln gelangen konnte. Sollte es sich um den Vermissten handeln, wissen wir, dass dieser Ort fernab aller genannten Joggingstrecken liegt.«

»Wir können sicher schnell die ersten Antworten geben. Fotos, dann Spuren und Fotos, dann die Bergung.« Peddersen gab Anweisungen, und sein Team machte sich an die Arbeit.

»Lassen Sie um Himmels willen die Helme auf!« Timothy war sehr beunruhigt. »Auch wenn es für Sie nicht so aussieht: Es ist gefährlich.«

»Yupp!« Damit war Peddersen verschwunden.

»Längere Arbeitsausfälle sind in den Abläufen nicht vorgesehen. Leichenfunde natürlich auch nicht. Ich muss mal eben mit dem Schichtleiter sprechen.« Weiler trat zur Seite und begann aufgeregt zu telefonieren.

Einige Zeit später lag der Leichnam in einer Transportvorrichtung, wurde in einen Sarg gelegt.

Klapproth und Nachtigall hatten keine Probleme, Patrick Stein zu erkennen, trotz des dunklen Staubs, des Sandes und der Erde, die an ihm hafteten.

»Er ist es, kein Zweifel.« Klapproth drehte sich zu Timothy Weiler um, der seinen Hals gereckt hatte, damit er einen Blick auf den Toten werfen konnte. »Damit ist eine unserer Fragen geklärt. Die Kollegen sind noch nicht fertig, aber wir müssen die Angehörigen informieren. Bitte geben Sie keine Informationen an die Presse oder andere Neugierige weiter. Wir sind nicht daran interessiert, dem Täter mitzuteilen, dass wir sein Opfer bereits gefunden haben.«

»Ja, logisch!«

Er ließ die beiden in seinen Jeep einsteigen, klemmte sich hinter das Lenkrad. »Hey, macht keinen Blödsinn!«, rief er Peddersen und seinen Leuten zu. »Ich bin gleich zurück.«

Wortlos brachte er die beiden Ermittler zu ihrem Wagen zurück.

Stirnrunzelnd sah er ihnen nach, kehrte dann zu der Fundstelle zurück.

»Das war doch dieser Politiker«, murmelte er, als er neben dem Fahrzeug der Spurensicherung hielt, »dieser Kohleausstiegsbefürworter. Klar doch!«

6

Nachtigall atmete tief durch, drückte dann vorsichtig auf die Klingel, als könne er so das schrille Geräusch im Haus abmildern.

Wieder würde er eine Nachricht überbringen, die Trauer, Entsetzen und Tränen über eine ganze Familie schwappte.

Maja Klapproth beobachtete sein Mienenspiel voller Interesse. Schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ihrer Meinung nach ließ der Kollege all die beruflichen Dinge viel zu nah an sich heran. Inzwischen wusste sie allerdings, dass er das anders sah. Er nannte es »empathisches Denken«.

Sie warteten.

Wortlos.

Regungslos.

Beiden stand das Bild des Toten in der Schaufel deutlich vor Augen. Wollte so gar nicht zu der Idylle des Gartens vor der Tür passen.

Aus dem Haus war Kinderlachen zu hören.

»Nein, das ist natürlich nicht der Weihnachtsmann«, wusste die ältere der Schwestern, »der kommt doch nicht im Sommer!«

»Na und?«, gab die andere schlagfertig zurück, »Mama hat gesagt, nach Ostern beginnt die Vorweihnachtszeit!« Offensichtlich war sie nicht leicht zu beirren.

»Kinder, hört auf zu zanken. Es hat geklingelt! Macht mal die Tür auf!«, rief die Mutter aus dem Obergeschoss.

»Jaha!«, antworteten die Schwestern unisono.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier?«, erkundigte sich die Kleine überrascht, was ihr einen rüden Stoß der großen Schwester einbrachte.

»Wir möchten mit eurer Mama sprechen. Lasst ihr uns bitte rein?«

Die Schwestern nickten unsicher.

Während die Kleine die Treppe nach oben polterte und »Mama! Mama! Das sind die beiden von gestern!«, rief, bot die Ältere den Besuchern einen Platz am Küchentisch an.

»Ich sehe mal nach, wo sie ist. Vielleicht hat sie uns nicht gehört.«

»Deine Schwester wird sie finden. Ich gehe nicht davon aus, dass sie sich vor uns versteckt.« Klapproths Ton war schroff, ihre Miene abweisend.

Über ihren Köpfen patschten Schritte durch Räume. »Mama?«

»Fällt heute die Schule aus?«, erkundigte sich Klapproth bei der Großen, die sich wieder zu den Gästen umwandte. »Wie heißt du eigentlich?«

»Das sind gleich zwei Fragen auf einmal«, stellte das Mädchen fest. »Meine Mutter meint, es sei klüger, erst die Antwort auf die erste abzuwarten, bevor man die zweite stellt. Sonst verwirrt man den Gefragten.«

»Okay, dann möchte ich zuerst deinen Namen wissen.« Altkluges Gör, dachte Maja gereizt, versuchte, sich den Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Luise. Meine Schwester heißt Paula. Und wir dürfen heute zu Hause bleiben. Mama hat in der Schule angerufen.« Luise warf einen sehnsüchtigen Blick Richtung Treppe.

»Schon gut, Luise. Das weiß Herr Nachtigall sicher schon.« Frau Stein umklammerte das Geländer, die Knöchel traten weiß hervor.

»Woher?«

»Herr Nachtigall sucht nach Papa. Ihr wisst ja, dass er nicht hier ist. Und du gehst bitte rauf zu Paula. Ihr dürft euch ein Video ansehen, es läuft schon. Und keinen Streit!«

Wütend stampfte Luise davon, maulte hörbar: »Immer, wenn es interessant wird!«

Im Blick von Doreen Stein lag ängstliche Gewissheit, gepaart mit der Hoffnung, sie könne sich irren.

»Sie haben ihn gefunden?«, erkundigte sie sich leise im Näherkommen, schwankte erkennbar.

»Ja. Heute Morgen. Es tut uns sehr leid, aber …«

Doreen hob abwehrend die Hände gegen den Sprecher. »Schon gut. Wo?«, hauchte sie.

»Im Tagebau … Er lag in der Schaufel eines Baggers, der die Erdschicht entfernt. Die Todesursache ist noch unbekannt.«

Doreen fiel auf einen der Stühle. Zitterte. Am ganzen Körper.

»In einer Schaufel? Aber dann muss mindestens eine weitere Person involviert gewesen sein. Sie glauben doch nicht, mein Mann habe sich da allein reingelegt.«

»Nein, das glauben wir nicht. Das ist auch technisch gar nicht möglich – ganz abgesehen davon, dass es unwahrscheinlich ist«, stellte Klapproth klar. »Wir gehen von einem Unfall oder einem Tötungsdelikt aus.«

Doreen nickte langsam, so vorsichtig, als habe sie Angst, der Kopf könne sich sonst vom Körper lösen.

»Wir benötigen ein paar Angaben von Ihnen, damit wir …«, begann Nachtigall, wurde von der Witwe unterbrochen.

»Ja. Natürlich. Logisch. Sie wollen sofort mit den Ermittlungen beginnen. Am besten fragen Sie im Büro nach seinen letzten beruflichen Terminen und im Parteibüro ebenfalls. Und«, sie zögerte auffällig, »bei seiner Mutter. Mag sein, dass er ihr bei seinem letzten Besuch erzählt hat, er fühle sich bedroht oder Ähnliches.«

»Wie erreichen wir seine Mutter?«

»Sie wohnt in einem Seniorenstift. Ich suche Ihnen die Nummer raus.« Sie griff nach ihrem Handy, präsentierte nach kurzem Scrollen den Eintrag im Adressbuch. »Ich habe sie bei mir gespeichert. Patrick hatte die Nummer nie parat, wenn er sie brauchte. Irgendwie hat er den Kontakt wohl immer versehentlich am Ende des Telefonats gelöscht. Muss was Psychopathologisches gewesen sein. Offensichtlich wollte er sein Handy vor zu viel Nähe mit seiner Mutter schützen.« Tränen schwappten über den Lidrand, kullerten über die schmalen Wangen. Hektisch fischte Doreen nach einem Taschentuch, wischte energisch über ihr Gesicht. »Wenigstens kann keine Schminke verlaufen. Sieht ja grässlich aus, wenn Mascara sich über und über verteilt. Aber soweit war ich heute noch gar nicht gekommen.«

Nachtigall zuckte bei diesem Kommentar merklich zusammen, was die Witwe offensichtlich nicht bemerkte.

»Gibt es Freunde, die etwas wissen könnten?« Klapproth übernahm wieder.

»Vielleicht bei der Partei.«

»Der Staatsschutz ist an den Ermittlungen beteiligt. Bei den Kollegen, die in dem Fall nachforschen, fragen wir nach.«

»Die Leute sind nervös. Gereizt. Das Thema Kohleausstieg treibt ganze Familien um. Manche glauben, diese Entscheidung treibe sie in den persönlichen Ruin, und die Grünen mit ihren Forderungen nach immer schnellerem und früherem Ausstieg trügen die Schuld daran. Patrick hat versucht, den Menschen zu erklären, dass es eine Umkehr im Denken und Handeln eines Jeden geben muss, damit der Klimawandel aufgehalten werden kann. Aber es ist schwierig. Es gibt ja auch eine Partei, die vehement leugnet, dass der Mensch mit den Veränderungen etwas zu tun hat. Wenn sich nicht einmal die Politiker einig sind, sehen die Menschen nicht ein, dass sie eine Neuorientierung privat und beruflich hinnehmen sollen. Seit dem Mord an Dr. Lübke sind alle besorgt. Es spricht nur keiner gern darüber.«

»Aber hier in der Region wurde Ihr Mann für den Kohleausstieg persönlich verantwortlich gemacht?«

»Nun ja … Wenn man so will, war er wohl das Gesicht der Energiewende in der Region.« Sie schwieg abrupt. Ihre bebenden Finger strichen über die Haare, flatterten um die Lippen, fuhren durchs Gesicht. »Wie soll ich das bloß den Mädchen erklären?«

»Können wir jemanden anrufen, der zu Ihnen kommt? Sie sollten jetzt besser nicht allein sein.« Nachtigall warf Frau Stein einen besorgten Blick zu. »Wir haben ein sehr kompetentes Kriseninterventions-Team.«

Klapproth machte dem Kollegen ein Zeichen und verließ das Haus, um zu telefonieren.

Frau Stein fixierte die Augen des Cottbuser Hauptkommissars kalt. »Wir brauchen niemanden. Wir kommen klar«, behauptete sie mit wankender Stimme trotzig und warf den Kopf zurück.

»Möglicherweise wäre es eine gute Idee, die Mädchen zu Bekannten oder Freunden zu bringen, bevor das Team des Erkennungsdienstes hier herumstöbert. Für Kinder kann so etwas sehr verstörend sein.«

»Was will denn der Erkennungsdienst … ach so, Laptop, Kalender, Notizen. Das Handy haben Ihre Kollegen ja schon, alles andere finden Ihre Leute in seinem Arbeitszimmer.«

»Sein Adressbuch würde ich gern sofort mitnehmen, ebenso den Kalender.«

Doreen deutete auf eine Kommode. »Dort drinnen, oberste Schublade, linke Ecke. Alles andere ist in seinem Arbeitszimmer. Patrick war sehr ordentlich, fast schon zwanghaft. Es wird alles dort liegen, wo Ihr Team es vermutet.«

Nachtigall hielt einen lang gestreckten Wochenkalender und ein schmales schwarzes Büchlein hoch.

Die Witwe nickte.

Klapproth kehrte zu Nachtigall zurück.

»Sein Bruder Eric van Worten wohnt nur zwei Häuser weiter! Warum haben Sie das weder gestern Abend noch heute auch nur einmal erwähnt?«, fragte sie in aggressivem Ton, der ihr einen mahnenden Blick des Kollegen eintrug.

Doreen schüttelte stumm den Kopf. Abwehrend.

»Vielleicht hat er etwas bemerkt. Einen Verfolger zum Beispiel«, schob Nachtigall sanfter nach.

»Und warum Eric van Worten und nicht Eric Stein?«, wollte Klapproth wissen.

»Eric! Van Worten ist sein Pseudonym. Er ist Lyriker. Und bemerkt hat er sicher nichts. Eric hat einen Vogel und gut! Mehr muss man dazu nicht sagen.«

Die Ermittler warfen sich in stillem Einverständnis einen kurzen Blick zu.

Es wäre wohl besser, die Witwe nicht weiter zu behelligen.

»Unsere Nummern haben Sie. Sollten Sie Hilfe benötigen oder Ihnen etwas Wichtiges einfallen, melden Sie sich bitte sofort bei uns. Wir brechen jetzt auf.«

»Können Sie mir bitte die Mädchen schicken? Besser, sie erfahren gleich von mir, was passiert ist, als später von irgendwelchen mitfühlenden Nachbarn, die die Fakten nur aus den Nachrichten kennen.«

»Ich warte im Auto«, erklärte Maja entschieden und nahm dem Kollegen Kalender und Adressbuch ab. »Kinder sind nicht mein Ding!«

Nachtigall ging über die Treppe ins Obergeschoss.

Hinter einer der Türen hörte er laute Stimmen. Ah, das Video!, fiel ihm wieder ein. Er klopfte sanft an, öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Vier fragende Augen tobten über sein Gesicht.

»Wir dürfen das ansehen! Mama hat es erlaubt!«

»Ja. Ich habe das gehört. Aber nun möchte eure Mutter, dass ich euch zu ihr hinunterschicke. Sie möchte etwas Wichtiges mit euch besprechen. Man kann doch sicher irgendwo auf Pause schalten?«

Als er leise das Haus verließ, hörte er Frau Stein sagen: »So, meine beiden, wir haben etwas zu besprechen. Ihr müsst mir gut zuhören …«

Er beneidete die Mutter nicht um diese Aufgabe, huschte nach draußen, zog die Tür geräuschlos hinter sich zu.

7

Eric trällerte fröhlich.

Er war schon immer ein großer Fan von Queen.

Eigentlich seit dem Moment, in dem er zum ersten Mal Musik bewusst gehört hatte.

Deshalb lief bei ihm grundsätzlich den ganzen Tag über gute Musik seiner Lieblingsband – nicht dieses seichte Gedudel, auf das seine Schwägerin so stand. Klar, sphärisch war seltsam entspannend. Aber die Musik von Queen war eine mit Anspruch! Einem echten Anliegen! Musik ohne Text war seiner Meinung nach eben nur Musik. Die Aussage Interpretationssache. Wie schon bei den klassischen Stücken, Sinfonien, Fugen, Tänzen. Der Hörer brauchte eine schriftliche Begleitanalyse, um sie herauszufiltern.

Queen dagegen: deutlich, kraftvoll, unmissverständlich.

So wie Erics eigene Texte.

Freddy sah das genauso.

Er wippte im Rhythmus mit, machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

Eric schnippelte Gemüse und Obst fürs zweite Frühstück.

Eine Tradition, die ihnen beiden gefiel. Und gesund war das Ganze auch.

Als er am Fenster vorbeikam, spiegelte sich sein Gesicht in der Scheibe, und er zuckte unwillkürlich zurück.

Ja, dieses Gesicht war gewöhnungsbedürftig.

Schon in der Schule hatte es ihm nur Probleme und Hänseleien eingebracht. Prügel auf dem Heimweg waren normal.

Heute würde man sagen er sei gemobbt worden.

Die eine Hälfte des Gesichts hatte nichts mit der anderen gemein. Während die rechte ganz passabel aussah, war die linke gröber, sprang hervor. Das Auge auf dieser Seite war glubschig, quoll dem Betrachter entgegen, weit aufgerissen, als sei das Oberlid zu kurz, um es zu bedecken. Und die Pupille war fehlfarben. Also zumindest dann, wenn man davon ausging, dass zwei Augen in einem Gesicht dieselbe Farbe haben sollten. Das normale Auge war blau, das glubschige fast orange und es starrte selbst Eric aus spiegelnden Flächen an wie das Auge eines Fremden, das sich in sein Leben biss und darin herumspionierte, sich an seinen Fehlern ergötzte und triumphierte, wenn etwas gründlich misslang. Früher hatte er versucht, es mit einer Tolle zu verdecken. Doch das war sinnlos. Er spürte sein Starren zu jeder Zeit, durch die Locken, durch eine tiefgezogene Mütze, durch eine Augenklappe. Es war ein Alien in seinem Körper.

Schnell sah er zur Seite.

Diesem Blick konnte niemand lange standhalten.

Nur Freddy hatte kein Problem damit.

Als es klingelte, warfen sie sich einen schnellen Blick zu, Eric legte seinen Zeigefinger über die Lippen, Freddy nickte verstehend, und so beschlossen die beiden, dass sie nicht zu Hause waren. Störungen um diese heilige Zeit des Tages waren unerwünscht.

Wenn man etwas Wichtiges von ihnen wollte, würde der Klingler sich später noch einmal herbemühen müssen.

Nach schnellem Seitenblick, der ihr gegenseitiges Einverständnis besiegelte, schnitt Eric ein Stück Birne klein.

Damit war die Angelegenheit beendet.

Waren die beiden überzeugt.

Doch unerwartet fiel ein spektakulärer Schatten auf den Tisch!

Erschrocken wandten Eric und Freddy sich zur Terrasse um.

Erstarrten!

Dort stand ein riesiger schwarzer Mann!

8

Fabian Klapproth, Majas Bruder, besprach mit seinem Freund und Betreuer die letzten Details ihres Ausflugs.

»Und was genau ist dieser Drehpunkt Göritz?«

»Eine Art Wendepunkt für die großen Bagger in der Kohle. Um diesen Punkt herum drehten sich die riesigen Kohleförderanlagen. Im Grunde ist es ein Industriedenkmal. Es wird als Restaurant betrieben, man kann die Räume für Feierlichkeiten oder Vorträge mieten.«

»Wie heute Abend! Ich bin schon sehr gespannt. Es werden Welten aufeinanderprallen – und erfahrungsgemäß geht das nicht ohne Beschädigungen auf allen Seiten ab.« Fabian rieb sich erwartungsfroh die Hände. »Menschengucken! Wunderbar!«