Über das Buch

Nach dem philosophischen Bestseller »Die Wurzeln der Welt«: »Coccia definiert das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu.« Peter Wohlleben

Was ändert sich für uns Menschen, wenn wir uns nicht länger als Individuen betrachten, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde? Die Raupe baut einen Kokon, verwandelt sich in einen Schmetterling und verändert damit grundlegend ihre Form. Diese Beobachtung führt Emanuele Coccia zu der Annahme, dass auch der Mensch kontinuierlich Metamorphosen durchläuft: Der Fötus wird zum Erwachsenen, der sich am Ende seines Lebens in Atome auflöst und von anderen Lebewesen aufgenommen wird. Coccia verbindet Philosophie und Evolutionsbiologie in seiner Neuvermessung unserer Existenz. Und ermöglicht uns ein neues Verständnis davon, wie wir als Menschen mit der Welt verbunden sind.

Emanuele Coccia

Metamorphosen

Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung

Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Einleitung

Die Kontinuität des Lebens

Von den Gestalten in uns

I Geburten

Alles Ich ist Vergessen

Ein und dasselbe Leben

Geburt und Natur

Kosmisches Zwilling-sein

Gebären oder die Migration des Lebens

Der Karneval der Götter

Das Wort der Erde

Metamorphose als Bestimmung

Der Spiegel der Welt

II Kokons

Wandlungen

Insekten

Alles Lebendige ist eine Chimäre

Ein postnatales Ei

Verjüngungen

Eine neue Idee von Technik

Die Metamorphose der Pflanzen

Die Welt als Kokon

III Reinkarnationen

Ernährung und Metamorphose

Gefressen werden

Wanderung des Ichs und Reinkarnation

Genetik und Reinkarnation

Der Schatten der Spezies

IV Migrationen

Die planetarische Migration

Theorie des Vehikels

Die große Arche

Alle zu Hause

Das häusliche Leben der Nicht-Menschen

Invasionen

V  Zusammenschlüsse

Die multispezifische Stadt

Die interspezifische Architektur

Immer ist unser Geist im Körper der anderen Spezies

Die zeitgenössische Natur

Schluss

Das planetarische Wissen

Zukunft

Anhang

Register

Für Colette,

die Königin der Metamorphosen

»Ich bin alles, weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das; ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet, von dem des Stockfisches von vorhin bis zu dem von Zeus; in mir vereinigt werden sie wieder Leben, das nicht mehr persönlich und begrenzt ist, sondern panisch und daher frei.«

Guiseppe Tomasi di Lampedusa

Einleitung

Die Kontinuität des Lebens

Im Anfang waren wir alle ein Leben. Wir teilten uns denselben Körper und dieselbe Erfahrung. Seither hat sich nicht viel verändert. Wir haben unsere Lebensformen und Seinsweisen vervielfältigt. Und noch heute sind wir alle ein und dasselbe Leben. Seit Millionen von Jahren wird dieses Leben von Körper zu Körper, von Individuum zu Individuum, von Spezies zu Spezies, von Reich zu Reich weitergegeben. Gewiss, es wandert und wandelt sich. Und doch beginnt das Leben jedes einzelnen Lebewesens nicht mit der eigenen Geburt: Es ist sehr viel älter.

Betrachten wir unsere Existenz. Unser Leben, also das, was wir als das Intimste, am wenigsten Mitteilbare in uns begreifen, kommt nicht von uns, hat nichts Exklusives, nichts Persönliches: Es wurde uns von anderen weitergegeben, hat schon andere Körper belebt, andere Quäntchen der Materie als jene, die uns beherbergen. Neun Monate lang war das Unaneigenbare und Unzuschreibbare am Leben, das uns belebt und erweckt, eine physische, materielle Evidenz. Wir waren der Körper, die Stimmungen, die Atome unserer Mutter. Wir sind dieses Leben, das den Körper mit einem anderen teilt, das sich fortsetzt und versetzt wird.

In unserem Atem setzt sich der Atem eines anderen fort, in unseren Adern fließt das Blut eines anderen; die DNA, die wir von jemand anderem bekommen haben, modelliert und gestaltet unseren Körper. So, wie unser Leben lange vor unserer Geburt begonnen hat, endet es erst lange nach unserem Tod. Unser Atem versiegt nicht in unserem Leichnam: Er wird noch all diejenigen versorgen, die mit ihm einen Festschmaus feiern werden.

Ebenso wenig ist unsere Menschheit ein originäres, autonomes Produkt. Auch sie ist eine Fortsetzung und eine Metamorphose früheren Lebens. Genau genommen ist sie eine Erfindung der Primaten — einer anderen Lebensform —, die sie aus ihrem Körper, ihrem Atem, ihrer DNA, ihrer Lebensweise abzuleiten vermochten, um das sie belebende und bewohnende Leben in einer anderen Weise existieren zu lassen. Sie haben diese Form an uns weitergegeben und leben durch die menschliche Lebensform weiter in uns fort. Im Übrigen sind die Primaten selbst nichts anderes als ein Experiment, ein Fehdehandschuh, den andere Spezies, andere Lebensformen hingeworfen haben. Die Evolution ist eine Maskerade, die in der Zeit abläuft, nicht im Raum. Der es, von Ära zu Ära, einer jeden Spezies ermöglicht, eine neue Maske aufzusetzen, die sich von der des Erzeugers unterscheidet; und allen Töchtern und Söhnen, nicht wiedererkennbar zu sein und die Eltern nicht wiederzuerkennen. Dennoch sind die Mütter-Spezies und die Töchter-Spezies, allem Wechsel der Masken zum Trotz, eine Metamorphose des einen Lebens. Jede einzelne Spezies ist ein Patchwork aus Teilen, die sie von anderen Spezies übernommen hat. Wir, die lebenden Spezies, haben nie aufgehört, uns Teile, Umrisse, Organe auszutauschen, und was wir sind, jede und jeder von uns, gemeinhin »Spezies« genannt, ist nichts weiter als die Gesamtheit aller Techniken, die ein Lebewesen von den anderen übernommen hat. Diese Kontinuität der Umwandlung ist der Grund, warum jede Spezies unendlich viele Züge mit Hunderten anderer Spezies gemein hat. Augen, Ohren, eine Lunge, eine Nase, warmes Blut zu haben, diese Tatsache haben wir mit Millionen anderer Individuen, mit Tausenden anderer Spezies gemein — und in all diesen Formen sind wir nur zum Teil menschlich. Jede Spezies ist eine Metamorphose all derer, die ihr vorausgegangen sind. Ein Leben, das sich einen neuen Körper bastelt, eine neue Gestalt, um auf andere Weise zu existieren.

Die tiefere Bedeutung der darwinschen Evolutionstheorie, von der die Biologie und der öffentliche Diskurs nichts wissen wollen, ist: Die Spezies sind keine Substanzen, keine realen Entitäten. Sie sind »Lebensspiele« (in demselben Sinne, wie man von »Sprachspiel« spricht), unbeständige und notwendigerweise ephemere Konfigurationen eines Lebens, das mit Vorliebe von einer Form zur anderen wandert und zirkuliert. Wir haben längst nicht alle Konsequenzen aus der darwinschen Eingebung gezogen. Die Behauptung, die Spezies seien durch eine genealogische Beziehung miteinander verbunden, bedeutet nicht nur, dass die Lebewesen eine Großfamilie oder einen Klan bilden. Sie bedeutet vor allem, dass die Identität einer Spezies ganz und gar relativ ist: Wie die Affen die Eltern sind und die Menschen, ihre Kinder, nur durch sie und im Vergleich zu ihnen menschlich sind, so ist jede und jeder von uns nicht im absoluten Sinne eine Tochter oder ein Sohn, sondern nur im Verhältnis zur Mutter und zum Vater. Die Formel der Kontinuität (und der Metamorphose) mit den anderen Spezies ergibt sich ausschließlich aus der spezifischen Identität.

Diese Betrachtungen lassen sich auf alle Lebewesen übertragen. Zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen besteht keinerlei Gegensatz. Nicht nur, dass alles Lebendige in einer Kontinuität mit dem Nicht-Lebendigen steht, es ist auch dessen Fortsetzung, Metamorphose und äußerster Ausdruck.

Das Leben ist immerzu Reinkarnation des Nicht-Lebendigen, ein Bastelwerk des Minerals, ein Karneval der irdenen Substanz eines Planeten — Gaia, der Erde —, der seine Gesichter und Seinsweisen im kleinsten Teilchen des eigenen, verschiedenartigen, heterogenen Körpers unablässig vervielfacht. Das Ich ist ein Vehikel für die Erde, ein Schiff, mit dem der Planet reisen kann, ohne sich fortzubewegen.

Von den Gestalten in uns

Lange vor dem Zeitalter der sozialen Medien waren Fotos von einem selbst selten: Sie retteten einige seltene Augenblicke vor dem Vergessen und schluckten die Farbe und das Licht des Lebens, das sie verkörperten. Sie wurden in dicken Alben aufbewahrt, die selten durchgeblättert und noch seltener gezeigt wurden — als wären es heilige Bücher, die nur Eingeweihten enthüllt werden durften. Diese Alben enthielten normalerweise nichts Schriftliches, sondern bedurften langer mündlicher Erklärungen. Denn sich in sie zu vertiefen, bedeutete jedes Mal, eine Evidenz wiederzuentdecken, die wir lieber vergessen würden.

Auf diesen Seiten nahm das Leben die Gestalt einer langen Parade autarker Silhouetten an, die breite dunkle Schattenkränze voneinander trennten. Ungeachtet der Unähnlichkeit der Gestalten fiel es mehr als leicht, sich in diesem seltsamen Defilee der Körperhüllen unserer Vergangenheit wiederzuerkennen. Trotzdem begleitete ein Schauder die Abfolge dieser Figuren, die sich anschickten, »ich« an unserer Stelle zu sagen. Das Album schien den Zeitunterschied aufzuheben und die Bilder wie in einem Polyptychon einer vielköpfigen Großfamilie auszustellen. Es verwandelte sie im Zuge einer seltsamen Dissoziation in fast eineiige Zwillinge, die ein Parallelleben zu führen schienen. Unsere Existenz kam uns plötzlich wie die titanische Bemühung vor, von einem Leben zum anderen, von einer Gestalt zur anderen zu wechseln, wie eine Reise der Reinkarnation in diese Körper und Situationen, obwohl sie so weit voneinander entfernt waren wie das Insekt vom menschlichen Körper des Gregor Samsa. Bei anderer Gelegenheit erzeugte seine Magie eine genau entgegengesetzte Wirkung: Das Album durchzublättern, bedeutete, den Rausch der vollkommenen Gleichwertigkeit zwischen den verschiedenartigsten Gestalten zu empfinden. Unser aktuelles Ich entpuppte sich, ohne identisch zu sein, als vollkommen gleichwertig mit unserem Ich als Kind von einem Meter Größe, das kaum über eine Wiese laufen konnte, oder mit unserem Ich als Jugendliche oder Jugendlicher mit dem Pickelgesicht und der Gammelfrisur. Die Unterschiede sind riesig, dennoch drückt jede dieser Gestalten das gleiche Leben gleich kraftvoll aus. Diese Alben waren der exakteste Ausdruck der Koinzidenz von Leben und Metamorphose.

Die Gestalt des Lebendigen im Erwachsenenalter macht uns immer noch perplex. Wir erkennen dieser Altersstufe eine Vollkommenheit und Reife zu, die wir den anderen absprechen. Als wäre alles, was davor war, nur die Vorbereitung für diese Silhouette, die für uns bestimmt war, und alles, was danach kommt, nur Verfall und Zerstörung. Dabei ist nichts irriger als das. Unser Erwachsenenleben ist nicht vollkommener, mehr das unsrige, menschlicher, erfüllter als das Leben des zweizellularen Embryos kurz nach der Befruchtung des Eies oder das Leben des Greises an der Schwelle zum Tod. Mehr noch, alles Leben muss, um sich zu entfalten, eine irreduzible Vielzahl von Gestalten durchlaufen, ein ganzes Volk von Körpern, mit denen es umgehen muss und von denen es sich mit derselben Leichtigkeit entledigt, wie es sein Kleid von einer Jahreszeit zur anderen wechselt. Jedes Lebendige ist Legion. Jede und jeder näht Körper und »Ichs« wie ein Modeschöpfer, wie ein Body Artist, der unentwegt an seiner Erscheinung feilt. Alles Leben ist eine anatomische Modenschau, die über einen variablen Zeitraum fortgesetzt wird.

Die Verbindung zwischen den vielzähligen Gestalten nicht in Begriffen von Evolution, Fortschritt oder deren Gegenteil zu denken, sondern als Metamorphose, bedeutet nicht nur, sich von jedweder Teleologie zu befreien. Es bedeutet auch und vor allem, dass jede dieser Gestalten dasselbe Gewicht, dieselbe Bedeutung, denselben Wert hat: Die Metamorphose ist das Prinzip der Gleichwertigkeit zwischen allen Naturen und der Vorgang, durch den diese Gleichwertigkeit hergestellt werden kann. Alle Gestalt, alle Natur kommt vom anderen und ist dort gleichwertig. Jede von ihnen existiert auf derselben Ebene. Jede hat, was die anderen gemeinsam haben, aber auf unterschiedliche Weise. Die Variation ist horizontal.

Es fällt schwer, dem Anblick dieser Liturgie der Silhouetten standzuhalten, von denen keine einzige das an sie weitergegebene Leben aufzuhalten und abzuwandeln scheint. In diesem endlosen Karneval der Figuren nebeneinander und nacheinander kippen die Gestalten ineinander und verschwimmen, bringen die einen die anderen hervor. Jede von ihnen ist ein Fremder, der von anderswoher zu kommen scheint und, sobald wir uns mit ihm vertraut machen, alle anderen zu Fremden macht. Was wir »Leben« nennen — egal ob vom Standpunkt des Individuums, der Spezies oder der Gesamtheit aller Reiche —, ist nichts anderes als ein Vorgang der Domestizierung aufeinanderfolgender Gestalten. Wir domestizieren Tag für Tag den Fremden, bis wir uns endgültig in seinem Körper verlieren.

Metamorphose ist diese doppelte Evidenz: Alles Lebendige ist an sich eine Pluralität der — gleichzeitig präsenten und aufeinanderfolgenden — Gestalten, doch keine dieser Gestalten existiert auf eine wirklich autonome, getrennte Weise, da sie in unmittelbarer Kontinuität mit einer unendlichen Zahl anderer Gestalten vor ihr und nach ihr steht. Metamorphose ist die Kraft, vermöge derer alles Lebendige sich gleichzeitig und nacheinander in verschiedentlicher Gestalt entfaltet, und zugleich der Atem, vermöge dessen die Gestalten sich untereinander verbinden und von der einen in die andere übergehen.

I

Geburten

Alles Ich ist Vergessen

Ich habe, wie wir alle, vergessen. Den Geschmack und den Geruch jenes Moments, die Menschen um mich herum, die Gegenstände im Raum. Ich habe den Tag und die Stunde vergessen, meine Gedanken und Gefühle, die Intensität des Lichts in den allerersten Augenblicken. Vielleicht blieb mir nichts anderes übrig, als zu vergessen? Alles sah ich zum ersten Mal: Es war zu anders, zu neu, zu intensiv, um es zu speichern. Ich musste vergessen, alles vergessen. Leere schaffen, um Raum zu schaffen für alles Übrige: für die zukünftigen Dinge, für das, was schon bald meine Vergangenheit sein würde, für die ganze Welt. Leere schaffen, um jegliche Erfahrung möglich zu machen. Ich musste vergessen, alles vergessen, um mich selbst wahrnehmen zu können.

Die Geburt ist die absolute Grenze der Wiedererkennbarkeit. Sie ist die Schwelle, auf der das »Ich« mit einem anderen verschwimmt. Unmöglich zu sagen, ob der Atem, der uns erlaubt, diese Silbe auszusprechen, wirklich uns gehört oder ob er die Fortsetzung des Körpers unserer Mutter ist; unmöglich zu sagen, ob diese Silbe unseren Körper bezeichnet oder den, aus dem wir gekommen sind. Die Geburt ist die Kraft, durch die wir »ich« nur sagen können, wenn wir alle Erinnerung verleugnen. Wir müssen vergessen, woher wir kommen, müssen den anderen Körper vergessen, der uns so lange beherbergt hat, müssen uns von ihm ent-identifizieren.

Ich habe, wie wir alle, vergessen. Ich habe mich selbst vergessen, aber ich habe auch und vor allem alles vergessen, was in mir lebte und auch jetzt noch lebt. Ich habe zum Beispiel vergessen, dass ich neun Monate lang der Körper meiner Mutter war. Ich war nicht bloß in ihr drin: Ich war im wahrsten Sinne ihr Körper. Ich war ein Teil ihres Bauches, materiell nicht von ihm zu trennen. Fleisch ihres Fleisches, Leben ihres Lebens. Dieses Vergessen kommt nicht von ungefähr, vielmehr ist es die Bedingung der Möglichkeit, um damit anzufangen, sich selbst anders zu sehen. Es ist das kognitive Gegenstück zu dem Akt, ein anderer zu werden als unsere Mutter, ihr Leben und ihren Atem anderswo als in ihrem Bauch und Bewusstsein fortzusetzen.

Ich habe, wie wir alle, vergessen, dass ich der Körper meines Vaters war. Ich war es und bin es immer noch, nicht nur in materieller Hinsicht. Qua Geburt trage ich die Gestalt meines Vaters und die Gestalt meiner Mutter in mir: Genetisch gesehen bin ich der unwahrscheinliche und lautstarke Dialog zwischen ihren Körpern und Gestalten. Dieses mit der Geburt einhergehende Vergessen ist der Grundstein der Erinnerung. Im Übrigen sind auch meine Eltern eine Frucht dieses Vergessens und dieser Mischung. Die Körper meines Vaters und meiner Mutter, ihre Gestalten, ihr Leben in mir zu haben, bedeutet also, die Körper und das Leben einer unzähligen Reihe von Lebewesen in mir zu haben, alle geboren von anderen Lebewesen, bis an die Grenzen der Menschheit und darüber hinaus, bis an die Grenzen des Lebendigen und darüber hinaus. Die Geburt ist nicht bloß das Auftauchen von etwas Neuem, sie ist auch das Abtauchen der Zukunft in eine grenzenlose Vergangenheit.

Ich habe, wie wir alle, vergessen. Ich hätte gar nicht anders gekonnt. Ich musste alles vergessen, um zu werden, was ich war. Geborenwerden bedeutet zu vergessen, was wir vorher waren. Zu vergessen, dass der andere in uns weiterlebt. Wir waren vorher schon, nur anders: Die Geburt ist kein absoluter Anfang. Es gab schon etwas vor uns, wir waren schon etwas, bevor wir geboren wurden, es gab schon etwas von mir vor mir. Die Geburt ist allein dies: die Unmöglichkeit, außerhalb eines Kontinuitätsverhältnisses zwischen unserem Ich und dem Ich der anderen, zwischen dem menschlichen und dem nichtmenschlichen Leben, zwischen dem Leben und der Weltmaterie zu stehen.

Ich wurde geboren. Ich transportiere immer etwas anderes als mich selbst. Das Ich ist nichts anderes als ein Vehikel mit fremder Materie, die von anderswo herkommt und dazu bestimmt ist, über mich hinaus weiterzuziehen. Ob es sich um Worte, Gerüche, Visionen oder Moleküle handelt, spielt dabei keine Rolle.

Ich wurde geboren. Die Materie, aus der ich gemacht bin, hat nichts rein Gegenwärtiges. Ich transportiere uralte Vergangenheit und bin für eine unvorstellbare Zukunft bestimmt. Ich bin eine heterogene, unversöhnliche Zeit, keiner Epoche und auch keinem bestimmten Moment zuzuordnen. Ich bin die Reaktion der mehreren Zeiten auf der Oberfläche von Gaia.

Ich wurde geboren, und das ist fast eine Tautologie. Ein Ich werden heißt geboren werden, und Geborenwerden ist die jedem Ego innewohnende Dynamik. Ein »Ich« gibt es nur für Geburtswesen, oder andersherum, das Ich ist nur ein Vehikel: etwas, das immer anderes transportiert als sich selbst.

Ein und dasselbe Leben

Wir beschreiben es als Vorgang, der Eltern und Kinder miteinander verbindet. Wir stellen uns darin die Körper vor, wie sie sich gemäß spezifischer Beziehungen anordnen. Wir beschreiben die Resultate als Generationenfolge — von den Müttern und Vätern zu den Töchtern und Söhnen. Wir stellen es uns als etwas vor, das einen gigantischen Baum ergibt, der sich über Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten, Großeltern und all jene Verwandten erstreckt, für die wir keine Bezeichnung des Verwandtschaftsgrades haben und die wir vage »Verbündete« nennen. Wir sprechen von Blutsbande. Aber das Seltsamste an der Geburt vergessen wir dabei: Das Leben konstituiert sich auf eine viel wildere und zugleich viel intimere Weise, als es unser begriffliches Bastelwerk möchte.

Schauen wir auf unsere Kinder: Ein Teil unseres Körpers ist zu etwas anderem geworden. Zuerst hat er sich mit einem fremden Körper vereint und ein anderes, autonomes, von uns getrenntes Leben hervorgebracht. Dasselbe ließe sich vom Bewusstsein sagen. Ein Teil unseres Ichs ist uns entwichen und zu etwas anderem, Unverfügbaren geworden. Unser Ich existiert jetzt außerhalb von uns, deutlich unterschieden, für uns niemals mehr aneigenbar. Dieses andere Leben, das unseres war, sagt genauso »ich« wie wir, und es ist genau dasselbe Quäntchen Materie und Geist, das unser »Ich« und das unseres Partners, unserer Partnerin war. Dennoch entfaltet sich dieses Leben anderswo: auf, in, mit einem anderen Körper oder, um es in anderen Worten zu sagen, in unserem Körper und Geist, die zu etwas anderem geworden sind.

Jedes Kind ist ein nicht wiedererkennbares Ich. Jedes Kind ist ein Körper, der seiner Ursprungsmaterie eine Verwandlung aufgezwungen hat. Die Vervielfältigung der Körper und Ichs — was wir Geborenwerden nennen — ist zuerst ein Prozess der Umwandlung der existierenden Körper. Was wir als Vergessen empfinden, als unüberwindbare Grenze der Wiedererkennbarkeit und der Erinnerung, ist eine Metamorphose. Dank der Geburt ist jeder lebende Körper, unabhängig von seiner Gestalt, Größe und Situation, aber auch von der Spezies und des Reiches, dem er angehört, eine Metamorphose: eine Umgestaltung der vorangegangenen Körper, die Modifizierung einer vor ihm existierenden Gestalt, die Mutation eines Blicks, der die Welt bereits gestreift hatte.

Wir werden geboren, weil jede und jeder von uns in seinem Körper wie in seiner Seele nur ein Teil der Welt ist. Geborenwerden ist, kurz gesagt, der Beweis, dass wir nichts anderes sind als die Metamorphose, eine kleine Modifizierung eines winzigen Teils des fleischlichen Leibes der Welt. Wobei der Teil des Körpers unserer Mutter, den wir dem eigenen einverleibt haben — ebenso wie der anscheinend kleinere Teil unseres Vaters — nur eine Etappe in einer endlosen Kette von Umwandlungen und Einverleibungen ist. Wir sind Teil ihres Körpers, bevor wir zu dem werden, was wir sind, aber auch davon, was jeder dieser beiden Körper war, bevor wir gezeugt wurden. Wir haben eine uralte Vergangenheit, die unseren Körper zu einer begrenzten und unendlichen Portion der Erdgeschichte, der Geschichte des Planeten, seines Erdreichs, seiner Materie macht.

Alle Lebewesen sind in gewisser Weise ein einziger Körper, ein einziges Leben und ein einziges Ich, das endlos von Gestalt zu Gestalt, von Subjekt zu Subjekt, von Existenz zu Existenz wechselt. Dieses eine Leben belebt den Planeten und ist selbst aus einem existierenden Körper — der Sonne — geboren worden, ihr entwichen, vor 4,5 Milliarden Jahren durch Metamorphose ihrer Materie entstanden. Wir alle sind ein Quäntchen davon, ein Lichtsplitter. Sonnenenergie, Sonnenmaterie, die anders zu leben versucht als in ihren unzähligen früheren Existenzen. Dennoch, dieser gemeinsame Ursprung, oder besser gesagt die Tatsache, dass wir das Fleisch der Erde und das Licht der Sonne sind, die eine neue Weise »ich« zu sagen erfinden, verdammt uns nicht zu einer Identität. Im Gegenteil, wegen dieser Verwandtschaft, die viel tiefer und inniger ist (wir sind die Erde und die Sonne, wir sind ihr Körper, wir sind ihr Leben), sind wir dazu bestimmt, unsere Natur und unsere Identität laufend zu verleugnen, und können nicht umhin, neue Identitäten zu formen. Der Unterschied liegt in der Bestimmung und in der Aufgabe, niemals in der Natur. Wir können nicht vermeiden, unterschiedlich zu werden, wir können nicht vermeiden, uns zu verwandeln.

Geburt und Natur

Die Geburt ist der denkbar individuellste und individualisierendste Vorgang, den ein Lebewesen erfahren kann. Sie ist die Schwelle zur Innigkeit, aber mehr noch ermöglicht sie erst Innigkeit und steckt ihre Grenzen ab. Es gibt nichts Universelleres: Alle Menschen werden geboren — gestern, heute, morgen —, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Klasse, ihrer Kultur und Orientierung. Dasselbe gilt für alle Lebewesen: Sie werden unabhängig von Spezies, Klasse und Reich geboren. Ob Eiche, Katze, Pilz oder Bakterie, sie sind alle Wesen, die qua Geburt bestimmt wurden.

Unter allen Erfahrungen ist die Geburt unsere erste und deren transzendentale Form. Sie ist aber auch etwas, das wir mit jedem einzelnen Wesen auf diesem Planeten gemeinsam haben: die Erfahrung, die unser Ich ununterscheidbar macht von dem der anderen Lebewesen, unabhängig von der Position im großen Stammbaum der Evolution. Was wir alle miteinander gemeinsam haben, ist keine gleiche Wurzel, kein ferner Ursprung, sondern im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit und die Form der Kontinuität alles Lebendigen, aller lebenden Spezies sowie des Lebens und seines Milieus. Die Geburt ist ein Korridor: ein Transformationskanal, der das Leben von einer Form zur anderen, von einer Spezies zur anderen, von einem Reich zum anderen überführt.

In diesem Korridor können Individuum, Spezies und Planet kommunizieren und die einen sich in den anderen verwandeln. Qua Geburt werden alle Individuen einer Spezies, alle Spezies untereinander und alle Lebewesen insgesamt von der Erde ununterscheidbar. Unsere Genealogie ist also keine rein familiäre, sondern immer von kosmischer Natur. Der Nabel ist das Zeichen unserer Verbundenheit mit der Erde und mit allem Lebendigen, nicht nur mit dem Körper unserer Mutter.

Dies geschieht so, wie wir es im Bauch der Mutter empfunden haben. Dies geschieht im Innern einer Kugel, deren Wände mitunter aus Kalk sind. Dies geschieht an der freien Luft, im Meer oder durch die Verschmelzung von zwei Einzellern, die ihr genetisches Erbe teilen. Dies geschieht, wie bei Viren, in Form einer Belagerung und Manipulation der chemischen Substanz eines Fremdkörpers. Wir werden immer in einem Körper geboren, der anders ist: Genau das nennt man Natur. Geborenwerden bedeutet, mehr noch als Blutsbande mit den Eltern zu knüpfen, der Transformationskette des Lebens ein zusätzliches Glied hinzuzufügen. Geborenwerden bedeutet also, Natur zu sein, und mit Natur wird die Seinsweise alles Geborenen bezeichnet. Natürlich ist alles, was einzig durch und dank Geburt existiert. Natur ist nicht gleichbedeutend mit Essenz. Wir, die natürlichen Wesen, sind durch den langsamen Prozess der Migration und Anverwandlung der Körper auf die Welt gekommen.

Geborenwerden bedeutet nichts anderes, als eine Neukonfiguration, eine Metamorphose von etwas anderem zu sein. Geborenwerden, also Natur zu sein, bedeutet, ausgehend von der Erde, ausgehend von der verfügbaren Weltmaterie auf diesem Planeten den eigenen Körper konstruieren, bauen zu müssen — einem Planeten, dessen Abwandlung und Ausdruck wir sind. Geborenwerden bedeutet, dass wir aus der gleichen Materie gemacht sind wie alle Dinge, die wir vor uns haben.

Geborenwerden bedeutet für alle Lebewesen, die Erfahrung zu machen, ein Teil der unendlichen Weltmaterie zu sein, die eine andere Form erfindet, »ich« zu sagen. Wir müssen den Globus nicht durchpflügen, um die Welt zu spüren, sie zu sehen, sie in ihrer ganzen Unendlichkeit zu erfahren. Wir müssen nicht mehr tun, als das materielle und geistige Gedächtnis unseres Körpers zu erkunden. Jede und jeder von uns ist die Geschichte der Erde, eine eigene Fassung davon, eine mögliche Schlussfolgerung.

Geborenwerden bedeutet für alle Lebewesen das Unvermögen, die eigene Geschichte von der Weltgeschichte zu trennen, und das Unvermögen, zwischen lokal und global zu unterscheiden. Wir werden in einem spezifischen, unersetzlichen Körper geboren, der seinerseits von einem anderen spezifischen, unersetzlichen Körper gezeugt und geboren wurde, und doch ist jedes einzelne Lebewesen Ausdruck des Lebens des gestrigen, heutigen und morgigen Planeten als Ganzes.

Es ist immer Gaia, die »ich« in uns sagt. Wir sind Welt und jede und jeder von uns ist auf ihre und seine Weise weltlich. Alle zusammen sind wir ihr Inhalt, aber auch und vor allem ihre Gestalt. Das »Ich« ist niemals eine rein persönliche Eigenschaft oder Tätigkeit: Es ist eine tellurische Kraft.

Kosmisches Zwilling-sein

Die Geburten gestalten die Welt. Erst bei der Geburt, und nur weil wir geboren werden, können Orte, Luft, Wasser, Feuer, Leute, Erinnerungen, Träume und Lügen einander gehören, kohärent werden, Fleisch werden. Nur weil wir geboren werden, gibt es eine Welt und nicht bloß eine Menge verschiedenartiger Dinge. Die Geburt ist ein doppelter, paralleler und simultaner Vorgang, den Ich und Welt vollziehen. Nicht nur das Lebendige wird geboren: Immer, wenn ein neues Individuum erscheint, wird auch die Welt auf andere Weise geboren. Jede Geburt ist zwillinghaft: Welt und Subjekt sind heterozygote Zwillinge, die gleichzeitig geboren werden und sich nicht ohne den anderen definieren können. Umgekehrt definiert sich alles in der Welt über ein Zwillingsverhältnis zu allem Übrigen.

Die Geburt ist ein Ereignis der Unterscheidung und Trennung. Aber nicht nur das, sie ist auch eine Bewegung kollektiver Konfluenz und Assimilierung. Jede Geburt ist ein Eindringen in einen Fremdkörper: dessen Domestizierung und Eingewöhnung. Die Geburtsordnung nimmt lediglich eine Neuverteilung des Erdenkörpers vor. Diese Ordnung, die Natur, ist der Grund, warum alle geborenen Wesen, alle Lebewesen heute, gestern und morgen aus demselben Stoff gemacht sind, waren und sein werden. Die Farne, die unsere Waden streicheln, wenn wir durch den Wald laufen, die Hühner, die wir verspeisen, die Pappeln und Platanen, die unsere Straßen in den Städten säumen, die Insekten, die uns belästigen, und die Mikroben in unserem Darm — all diese Wesen verbindet eine kosmische Blutsverwandtschaft. Es sind siamesische Zwillinge, die nicht aufhören können, den Körper der anderen zu nutzen, aufzunehmen oder sich im Körper der anderen zu reinkarnieren. Geborenwerden bedeutet Mal für Mal, einen Körper, der einer oder einem anderen gehörte (Mutter, Vater, und über sie auch alle anderen), zu nehmen und zu unserem eigenen Fleisch und Blut zu machen. Wir sind niemals einfach nur Töchter und Söhne, wie wir auch niemals einfach nur Schwestern und Brüder sind. Wir teilen dasselbe Gesicht. Wir müssen uns nicht ähnlich sehen. Die Bäume sehen uns nicht ähnlich, ebenso wenig wie eine Mikrobe oder ein Zebra. Und dennoch leben wir, weil wir alle die Geburt miteinander teilen, vom selben Körper.

Dieses miteinander Teilen der transzendentalen Struktur unseres In-der-Welt-seins erklärt sich nicht nur durch die Notwendigkeit, in einen gemeinsamen Körper einzudringen und ihn sich anzuverwandeln. Es bedeutet vor allem, ein Zwillingsverhältnis zu allen anderen Lebewesen zu haben. Natur zu sein bedeutet, ein Zwilling alles Lebendigen zu sein.

Das Zwilling-sein wird nicht durch eine physische oder genetische