Maria Publig
Waldviertelblut
Kriminalroman
Tödlicher Stoff Walli Winzer kann es kaum fassen! Das Herz der modebewussten Wiener PR-Agentin schlägt höher, als sie einen neuen lukrativen Auftrag übernimmt: Walli wird die neue Wohntextil-Kollektion einer türkischen Stardesignerin vorstellen. Sie ist begeistert! Bald allerdings nicht mehr, so wie einige verstörte Waldviertler. Denn während der Präsentation rollt plötzlich ein Toter aus dem kostbaren Teppich und landet direkt vor ihren Füßen. Oh Schreck, sie kennt ihn! Für diesen Sonderfall ist jedoch die Wiener Polizei zuständig. Der Täter scheint schnell gefunden, doch Walli Winzer und Dorfpolizist Sepp Grubinger zweifeln. Nicht zuletzt wegen der auffälligen Charmeoffensive des attraktiven Textilwerkdirektors. Als auch noch ein alter Bekannter der beiden in die Sache verwickelt wird, steht ihr Entschluss fest – es wird parallel ermittelt.
Maria Publig wurde in Wien geboren und verbrachte mit ihrer Familie viele Sommer im südlichen Waldviertel. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Journalistin für Tages- und Wochenzeitungen. Später wechselte sie als Moderatorin und als Redakteurin in den ORF. Bevor sie sich dem Krimischreiben zuwandte, schrieb sie Kultursachbücher, die international ausgezeichnet wurden. Wovon sie überzeugt ist: Für gute Gedanken und Kreativität muss man sich Zeit nehmen. Die gönnt sie sich zwischendurch – ziemlich oft im Waldviertel.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © fotofrank / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6810-0
Gib das, was dir wichtig ist, nicht auf,
nur weil es nicht einfach ist.
Albert Einstein
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Eine Frau mittleren Alters mit gepflegtem Äußeren ließ sich abrupt auf den Fahrersitz ihres geräumigen Autos fallen. Dabei hielt sie ihr linkes Bein weit von sich gestreckt, was für einen belustigenden Anblick sorgte.
»Was gibt’s da zu glotzen!«, schrie sie einer kleinen Gruppe von Teenies und einem älteren Paar unter einem Regenschirm entgegen. Sie hatten das Schritttempo verlangsamt, um dem unorthodoxen Treiben genauer zusehen zu können.
»Dieser verdammte Regen!«, fluchte Walli Winzer vor sich hin. »Da ziehe ich einmal flache Schuhe an und prompt lande ich in dieser Pfütze. Alles ist nass!«
Sie streifte den Schuh ab und leerte dessen Inhalt mit ausgestreckter Hand zurück in die vom Regenwasser aufgestaute Straßenkante.
Walli Winzer war in Eile, da sich ihre Fahrt aus dem Waldviertel über die Schnellstraße nach Wien durch den plötzlichen Regenguss verzögert hatte. Glücklicherweise fand sie sofort einen Parkplatz direkt vor dem Stadtbüro ihres neuen Klienten. Das war keineswegs selbstverständlich. Alles war in Wien dicht verbaut. Die Innenstadt der Autoflut überhaupt nicht mehr gewachsen. Weshalb man sie seit Kurzem auch sperrte. Doch Ausnahmen gab’s immer. Auch aktuell für Walli. Jetzt war aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Hauptsache, ein Parkplatz war da!
Walli Winzer holte schnell ein Papiertaschentuch aus ihrer neuen Mandarina-Duck-Umhängetasche und versuchte, das nasse Lederfutter ihres Halbschuhs, so gut es ging, zu trocknen. Ärgerlicherweise hatte sie sich heute Morgen für eine sandfarbige Valentino-Hose entschieden, zu der sie hellbraune, flache Lederpumps gewählt hatte. Da trug sie einmal nicht ihre geliebten High Heels, die sie sonst anhatte, und dann passierte gleich so etwas. Und das nur, weil sie ihrem Kunden entgegenkommen wollte.
Entgegenkommen. Dass sie nicht lachte!
Herbestellt hatte er sie. Regelrecht verfolgt hatte sie sich von seinen fast täglichen Anrufen gefühlt. Bis sie endlich zugesagt hatte. Und jetzt war sie da. In der Wiener Innenstadt. In der Singerstraße. Parkte vor einem alten, früheren Stadtpalais, in dem sich das Büro der Firma Bachwirken befand.
Walli Winzer hatte eigentlich vorgehabt, den Besuch bei dessen Geschäftsführer, Manfred Tuchner, erst mit anderen Wien-Terminen zu kombinieren, um die eineinhalbstündige Anreise aus Großlichten im Waldviertel effizienter zu gestalten. Aber dann war er eben so hartnäckig gewesen, dass sie in Absprache mit ihrer PR-Agentur beschloss, diesen Sondertermin einzulegen. Walli war neugierig auf das PR-Projekt, das Tuchner ihr am Telefon vage angedeutet hatte.
Doch shit! Das auch noch. Sie blickte genervt hoch.
Nein, heute war nicht ihr Tag.
Es reichte nicht, dass Walli Winzer mit ihrem triefenden, dunkelbraunen Halbschuh vor dem Lift stand und bereits merkte, dass sich ihre Zehen deutlich kühler anfühlten als jene im trockenen Nachbarschuh. Beide Exemplare sahen aus, als wäre sie morgens blind an ihren Schuhschrank gegangen und hätte wahllos nach einem linken und einem rechten Schuh gegriffen. Der eine beige und der andere dunkelbraun.
Nein! Jetzt funktionierte auch noch der Lift nicht. Walli stand vor dem Hinweisschild: Wegen Wartungsarbeiten ist der Lift derzeit außer Betrieb. Das Büro befand sich im ersten Stock, was für sie unter normalen Umständen keine Überforderung dargestellt hätte. Aber Walli Winzer wusste, dass sie jetzt de facto zwei Stockwerke vor sich hatte. Und die zogen sich durch jeweils drei gesondert gezogene Treppengänge, wie dies im 19. Jahrhundert üblich war. Das Mezzanin war nämlich eine Wiener Besonderheit. Die einstigen Erbauer erhielten durch diese Baudeklarierung ein Stockwerk an Höhe steuerfrei dazu.
Walli keuchte. Immerhin musste sie nicht in die dritte Etage. Dennoch wusste sie: Es war bloß ein schwacher Trost, den sie sich selbst für alles Bisherige spendete.
Manfred Tuchner war nicht besonders groß. Von der Statur her Walli Winzer ähnlich. Seinetwegen hatte sie sich extra für diese unsäglichen Pumps entschieden, deren linker Schuh inzwischen richtiggehend an ihrer Fußsohle klebte. Sie wollte Tuchner nicht überragen. Walli wusste aus einer gemeinsamen früheren Beziehung, dass ihn das verunsichern könnte. Auf Augenhöhe würde er mit Sicherheit zugänglicher bleiben. Weicher. Kooperationsbereiter.
Einst hatte ihre PR-Chefin und Mentorin, Mara Süßkind, sie zu ihm geschickt. Lange war das her. Sehr lange, erinnerte sich Walli, während sie auf ihn wartete.
Walli hatte inzwischen Platz auf einem Lederfauteuil genommen. Es war einer der schönsten Vorräume einer Chefetage, die sie bisher gesehen hatte: ein sonst nicht besonders heller Raum, der durch passendes Lichtdesign Struktur und Farbe der perfekt aufeinander abgestimmten Stofftapeten als Gesamtkunstwerk wirken ließ. Also, Geschmack hatte er, der Manfred. Das musste man ihm lassen.
Walli Winzer genoss es, ihren Blick an der jungen Sekretärin vorbei durch den Raum schweifen zu lassen, und fühlte, wie sie der Anblick der kostbaren Textilwände mehr und mehr beruhigte. Schönheit und Ästhetik ließen sie alle Hektik des Alltags vergessen. Auch die Anstrengung von zuvor war vergessen. Apropos Anstrengung: Sie nahm sich wieder einmal vor, etwas mehr Sport gegen die überschüssigen Kilos machen zu wollen. Musste aber gleich darauf über ihr Vorhaben schmunzeln. Denn wie oft hatte sie sich das schon vorgenommen, bis doch wieder etwas dazwischenkam, was ihr Vorhaben vereitelte.
Die Tür ging auf und Manfred Tuchner trat ein. Er freute sich, Walli zu sehen. Ging auf sie zu, umarmte sie und wies die Blondine am Schreibtisch an: »Frau Wiesinger, bitte stellen Sie jetzt für eine halbe Stunde keine Telefonate durch.«
Dann wies er Walli Winzer den Weg in ein geräumiges, modernes, ebenso mit Designerstofftapeten und darauf farblich abgestimmten Teppichen ausgestattetes Büro.
»Ihr habt eure Linie gegenüber früher ziemlich verändert, nicht schlecht!« Walli Winzer blickte sich im Arbeitszimmer genauer um. Das Lichtdesign brachte bestimmte Bereiche wie im Vorraum besonders eindrucksvoll zur Geltung.
»Auch wir mussten mit der Zeit gehen. Da war nicht nur strukturell manches unausweichlich, sondern eine inhaltliche Neuausrichtung notwendig. Auch ein gediegenes Traditionsunternehmen, wie wir eines sind, muss sich den globalen Anforderungen stellen.«
»Ich glaube, das hast du gut hinbekommen. Nachdem es eine Zeit lang ruhig um euch geworden war, seid ihr jetzt wieder gut im Rennen. Oder?«
»Wie gesagt, alles brauchte seine Zeit. Währenddessen liefen wir wirtschaftlich auf Sparflamme, bis die ersten Kollektionen sogar internationale Beachtung fanden.«
»Das glaube ich. Es kann sich wirklich sehen lassen und passt, obwohl abstrakt gehalten, trotzdem in historische Wiener Gebäude.«
Walli Winzer wollte ihr frisch erworbenes Kunstverständnis ein wenig zur Schau stellen. Nicht, dass sie sich als Expertin verstand. So viel Realitätssinn besaß sie, dass sie wusste, dass ihr da einiges an Fachwissen fehlte. Aber als ehemalige Schaufensterdekorateurin mit Sinn für Ästhetik, als solche sie Manfred vor vielen Jahren kennengelernt hatte, konnte sie in der Zwischenzeit ihr Verständnis um Etliches erweitern. Walli Winzer hatte auch ihr Interesse an zeitgenössischer Kunst entdeckt, das sie neuerdings durch Galeriebesuche wachhielt.
Was Manfred Tuchner hier auf die Beine gestellt hatte, faszinierte Walli. Das musste sie unumwunden zugeben. Ja, es nahm sie gefangen. Sehr sogar. So, wie er sie vor Jahren zu beeindrucken verstand. Es war nicht nur seine Sensibilität, mit der es verstand, sein Gegenüber einzunehmen. Es waren auch die Nuancen seiner Mimik, womit er rasch Beziehung herzustellen verstand und zugleich die letzten Geheimnisse seiner Persönlichkeit verbarg.
In gewisser Weise strahlte sogar sein Arbeitszimmer dieses Verbindlich-Unverbindliche aus. Aber natürlich war es in erster Linie repräsentativ angelegt. Zeigte, was die Firma zu bieten hatte.
Walli Winzer betrachtete ihn jetzt im Spiegel der Erinnerung. Manfred Tuchner freute sich sichtlich ebenso, Walli nach Langem wieder in seiner Nähe zu wissen. Einige Sekunden verstrichen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen fiel. Walli fand als Erste die Sprache wieder: »Schön, dass wir uns wiedersehen. Aber, Manfred, erzähl mal. Was brauchst du von mir? Wie kann ich dir helfen?« Walli Winzer begann bewusst, das sinnliche Knistern, das zwischen ihnen lag, abzufangen und zum eigentlichen Grund des Treffens überzuleiten.
Manfred Tuchner sammelte sich, erhob sich aus der Sitzgruppe und griff nach einer auf seinem Schreibtisch liegenden Mappe. Er schlug sie auf, blätterte darin, um sie ihr dann zu überlassen. »Das ist unsere neueste Kollektion. Die ist noch topsecret. Alle bei uns haben einen Maulkorb auferlegt bekommen, und es gibt eine Fotosperre. Das ist bei unseren Arbeiten immer so. Nur am Prozess Beteiligte erhalten Einsicht«, lächelte der erfolgreiche Geschäftsführer Walli an. Offensichtlich erwartete er ihre Reaktion als PR-Fachfrau.
Doch Walli Winzer hielt sich bedeckt. Sie sah sich jedes Foto genau an. Strich dabei mit dem Finger über die Stoffmuster auf dem Fotopapier. Einige waren, um eine bessere Betrachtungsmöglichkeit zu bieten, auch vergrößert abgebildet. Zuletzt blätterte sie das gesamte Album schnell durch, als wollte sie ihren Eindruck festigen. Ihre aufmerksame Mimik entspannte sich zusehends.
»Ich finde das großartig«, platzte es sichtlich bewegt aus ihr heraus. »Diese unglaubliche Leichtigkeit, mit der sich die Ornamentik spürbar im Abstrakten aufzulösen beginnt. Das befreit richtiggehend beim Hinsehen. Als würde man zugleich in völlig neue Dimensionen aufsteigen. Fremde Welten erklimmen.«
Tuchner strahlte. Er wusste bereits seit Langem, dass sich hinter Wallis mitunter recht unorthodoxer Direktheit eine sehr sensible Seite verbarg. Aber dass sie jetzt auch noch den künstlerischen Kern seiner Designerin aus Istanbul ohne Vorinformation ausmachen konnte, damit hatte er bestimmt nicht gerechnet. »Als ich die ersten Arbeiten von Lale Eser sah, war ich überwältigt. Als ich dann einige davon mit nach Wien nahm und in der Firma unseren Grafikerinnen und Grafikern zeigte, sprang der Funke der Begeisterung sofort auf sie über.« Er lehnte sich an seinem Schreibtisch an. »Es wird eine ungewöhnliche Kollektion, worin der Versuch gelingt, Tradition, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden. Es ist eine mögliche Bestandsaufnahme und zugleich der Blick in völlig Unbekanntes, Neues, das jede und jeder für sich selbst entdecken muss.«
Walli Winzer war von Manfred Tuchners Ausführungen fasziniert. Wie immer, wenn er sprach. Sie liebte es, seine Begeisterung zu spüren, in sich aufzunehmen. Seiner angenehmen Stimme zu folgen, seiner ihm sehr eigenen Wortwahl. Sie ließ die Stimmung auf sich wirken, die ihn in solchen Momenten regelrecht über sich selbst hinauswachsen ließ, weshalb Walli sich auch einst in ihn verliebt hatte, vermutete sie zumindest heute. Das lag schon eine gefühlte Ewigkeit zurück, wie sie, versunken in der Erinnerung, feststellte.
Walli bemerkte, dass auch er von seiner Ausführung überwältigt zu sein schien. Manfred Tuchner rang nach Luft, schien sich zu winden und zeigte so die Emotionalität, die ihn überkam.
Als er Walli Winzer schließlich einlud, Pressetätigkeit und Marketing-Aktionen zu übernehmen, war sie derart bewegt, dass sie nur noch ein überzeugtes Ja hauchen konnte.
Die einstige Verbundenheit vor Augen erklärte sie sich bereit, einen Termin wahrzunehmen. Tuchner hatte ihn zuvor, ohne ihre Zusage abzuwarten, fix gebucht.
»Für die Presse und ein ausgewähltes Publikum planen wir eine Präsentation. Gemeinsam mit unseren Stoffen wollen wir Teppiche kombinieren. Die Firma Halim-Istanbul hat das für uns übernommen. Gestern ist die Lieferung aus der Türkei eingelangt. Ich habe sie schon gesehen und bin neugierig, was du dazu sagen wirst.«
Walli war erstaunt, dass er an ihrer Meinung interessiert schien.
»Schau’s dir bitte gleich heute Nachmittag an«, wiederholte er. »Und ruf mich danach an.«
Rätselhaft war dieser Mann auf jeden Fall. Immer gewesen. Und auch jetzt. Aber so kamen Walli zeitweise die meisten Männer vor.
Als Walli Winzer wieder den Vorraum bei Bachwirken betrat, tat die Sekretärin so, als würde sie kaum Notiz von ihr nehmen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Computerbildschirm. Ihre Hand hielt sie allerdings nicht korrekt über der Funkmaus. Mit Kennerinnenblick vermutete Walli Winzer, dass die Fähigkeiten der flotten Blondine offensichtlich nicht primär auf der Sekretariatsebene lagen. Denn ein gewisser Geruch und das verräterisch offen stehende Nagellackfläschchen überführten sie. Durch das plötzliche Öffnen der Arbeitszimmertür musste sie sich ertappt gefühlt und die Position gewechselt haben.
Es war leider schon immer so gewesen, dass sich Walli Winzers Wachsamkeit nichts entziehen konnte. Ein Gedächtnis für Nebensächlichkeiten hatte ihr auch Manfred einmal vorgehalten, als sie ihn eines parallelen Abenteuers überführt hatte. Für Walli war es daher eindeutig, dass diese Plastikbusenschönheit wegen anderer Vorzüge als ihrer administrativen Fähigkeiten auf diesem Posten saß. Dass sie in solcher Frage die obligate politische Korrektheit verließ, war ihr klar. Doch was Sache ist, musste auch Sache bleiben. Durfte nicht schöngeredet werden. Walli war selbst keine Kostverächterin, konnte attraktiven, charmanten Männern nicht widerstehen. Aber sie gab es wenigstens zu. Spielte nicht die Moralische. Das machte eben den Unterschied zu anderen, wie sie fand.
Wie um ihre These zu erhärten, schlich eine unscheinbare, von Statur her eher zarte, junge Frau zur Sekretariatstür herein. Da sie zuvor nicht angeklopft hatte und gezielt zum leer stehenden Schreibtisch gegenüber der Büroschönheit schlich, fühlte sich Walli Winzer wieder einmal in ihrer Beobachtung bestärkt. Ja, so war das Leben. Unerwartet und doch vorhersehbar. In manchem. Zumindest, wenn es Personen wie Manfred Tuchner betraf, der auf einen bestimmten Frauentypus abfuhr.
Dem hatte einst auch Walli Winzer entsprochen. Mit ihrem Faible für Markenkleidung. Es war eines ihrer Hobbys: sich ungewöhnlich und hochwertig zu kleiden. Nicht nur, dass sie sich manchmal im Spiegel selbst gerne betrachtete, sondern sie fühlte sich darin eben ungemein wohl. Es hielt ihr vor Augen, dass sie es geschafft hatte. Sie, das Mädchen aus der Wiener Vorstadt, war oben angekommen. Ganz oben. Sie konnte sich solche Markenkleidung leisten und gönnte sie sich hin und wieder. Und das mit Recht! Sie hatte es weit gebracht. Aus einem Gemeindebau. In einer einfachen Wohngegend in Floridsdorf. Zwischen Fabriken angesiedelt. Mit damals noch unasphaltierten Nebenstraßen in einem Arbeiterbezirk am Wiener Stadtrand.
Vornehme Männer wie Manfred Tuchner sah man dort nicht. Stattdessen zuhauf solche Arbeiter wie ihren Vater, die das Familiengeld im Wirtshaus versoffen. Nicht selten kamen sie am Wochenende erst spätabends nach Hause und ließen ihre Aggression, die sich die Woche über in ihnen aufgestaut hatte, hemmungslos an ihren Familien aus. Diese hatten deren Launen über sich ergehen zu lassen. Die Ehefrauen ohne Job, ohne Zukunft. Aus dem Schlaf gerissene Kinder. Lautes und ungehemmtes Schreien ungeachtet der Nachbarn. Bis zum Verprügeln der heulenden Kinder. Bis alles ruhig war. Vor Erschöpfung.
Walli war dieser sozialen Hölle entkommen. So, wie sie sich das einst geschworen hatte.
Nicht nur die Schulungen des zweiten Bildungswegs, sondern auch Männer wie Manfred Tuchner hatten ihr dabei geholfen. Wenn eben auch nicht uneigennützig. Aber der Charme und diese Sinnlichkeit. Da sagte Walli, wenn’s für sie passte, niemals Nein. Sie lächelte in sich hinein.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte die blonde Schönheit und blickte erwartungsvoll in Wallis Richtung.
Die jüngere Farblose hatte inzwischen ihre Jacke ausgezogen und sie über den Kleiderständer neben der Tür gehängt. Aus ihrer Tasche holte sie eine angebrochene Mineralwasserflasche und stellte sie auf den Schreibtisch. In ein Glas, das offensichtlich bereits seit dem Vortag dastand, schenkte sie sich ein. Walli Winzer hatte inzwischen Fotos und Unterlagen, die sie erhalten hatte, verstaut und schloss ihre große Tasche.
»Danke, jetzt habe ich alles, was ich brauche«, sagte sie und schlüpfte in ihren Blazer. Walli hatte ihn zuvor ausgezogen, da sie dank ihrem verhandlungsstrategischen Geschick wusste, dass Männer – und vor allem solche wie Tuchner – Frauen in Blusen lieber gegenübersaßen. So ein Blazer schuf zwischenmenschliche Distanz, die Walli und Manfred nie gebraucht hatten, auch nicht wollten. Sie wusste, dass sich so auch die modernen Manager kleideten, sie ließen einfach das Sakko weg. Manfred Tuchner war noch vom Old-Fashioned-Männerschlag. Er trug eines. Aus bester Kaschmir-Qualität, wie Walli erkannt hatte.
Tuchner verlangte von Frauen, dass sie optisch Nähe zu ihm herstellten. Walli hatte bei diesem Rollenspiel durchaus Spaß. Sie setzte Strategie ein. Und es geschah danach immer, was sie wollte. Auch jetzt: Mit wenig Aufwand hatte sie einen top bezahlten Auftrag an Land gezogen! So what!
Walli Winzer verließ das Sekretariat und hielt abrupt am Gang inne. Sie bemerkte, dass sie ein gewisses Örtchen aufsuchen musste. Immerhin stand einiges an, das in Wien erledigt werden musste, bevor sie später in ihr altes Schulhaus nach Großlichten im Waldviertel zurückfahren wollte.
In Kürze würde sie sich mit ihrem Exmann treffen, der vorhatte, ihr über die Türkei zu erzählen, ihrem nächsten Reiseziel, wohin sie zu fliegen gedachte.
Als sie nach dem Gang zur Toilette den Weg zum Lift nahm, kam sie im Flur an einer halb geöffneten Tür vorbei. Walli stellte sich neugierig davor und lugte ins Zimmer. Niemand befand sich darin.
In einem dahinterliegenden Raum sah sie Manfred Tuchner neben einem Mann am Schreibtisch stehen. Ein weiterer stand mit dem Rücken zu Walli. Sie hatte den Eindruck, Tuchner musste sich vor beiden rechtfertigen. Walli achtete darauf, dass sie niemand sehen konnte.
Manfred Tuchner drohte. Er ballte seine Faust und erhob sie. Der Mann am Schreibtisch blieb ruhig. Der dritte hingegen war abwehrend und schüttelte verärgert den Kopf. Schließlich gab er Tuchner einen Brief, drehte sich grußlos um und ging übers benachbarte Zimmer auf den Gang.
Walli Winzer wartete inzwischen vor dem Lift und griff in ihre Handtasche. Gegen ihre Hüfte gedrückt hielt sie die sperrigen Unterlagen und wollte diese gerade anders anordnen.
Der aufgebrachte Mann ging wutschnaubend zu seinem Postwagen, der vor dem Eingang stand.
Das war doch allerhand gewesen! Was konnte er dafür, dass Briefe immer wieder verspätet von der Post hier in der Firma eintrafen. Schließlich konnte er nur das verteilen, was im Posteingang der Firma Bachwirken einlangte. Er war ja kein Zauberer und auch kein Hellseher. Also, wie sollte er dann etwas austragen können, was nicht da war? Er verstand ebenso nicht, warum man einen angeblich so wichtigen Brief nicht eingeschrieben aufgab. Was waren das für Geschäftspartner, die ein wichtiges Dokument ohne Sicherheitsvermerk verschickten? Dafür gab’s mittlerweile viele Möglichkeiten.
Unglaublich, wie dilettantisch derzeit alles ablief. In der Administration und in den Postfilialen.
Deshalb hatte er ja auch vor einem halben Jahr seinen Dienst bei der Post quittiert. Das war keine leichte Entscheidung gewesen. Doch er war sich zunehmend überflüssig vorgekommen. Seine Ansprechpartner waren nur noch Maschinen gewesen, die im Postvertriebszentrum alle Briefe und Pakete elektronisch erfassten und auf die einzelnen Wiener Gemeindebezirke verteilten. Alles in einem Höllentempo.
Bei ihm landeten nur solche Fälle, bei denen Maschinen den Adressaten nicht genau erkennen konnten. Ja, im Gegensatz zu diesen Blechtrotteln und manch anderen Kollegen aus Fleisch und Blut konnte er wenigstens noch lesen und schreiben. Auch bei der Post war das nicht mehr überall selbstverständlich. Zumindest nicht in Wien. Daher setzte man bei kniffligen Fällen auf ihn, der dafür bekannt war, jede noch so unleserliche Handschrift entziffern zu können.
Irgendwann hatte es ihm schließlich gereicht. Nico Salmer hatte gekündigt. Dabei war er mit Leib und Seele Postler gewesen. Doch dann ging’s für ihn nicht mehr. Ohne Menschen, ohne Seele! Jetzt wickelte er die Post für die Firma Bachwirken ab. Manchmal mit Zoff wie heute.
Seinerzeit als zuständiger Postbediensteter in Großlichten im Waldviertel war alles so harmonisch abgelaufen. Alles und jeden hatte er gekannt. Manchmal war er von den älteren Bäuerinnen auf einen Vormittagskaffee eingeladen worden. Man hatte geredet, sich ausgetauscht. Er erfuhr dabei viel Neues. Im Wirtshaus dann steckte er das ein oder andere seinem Freund, dem Dorfpolizisten Sepp Grubinger. Der konnte sich seinen Reim darauf machen und präventive, also vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Ein gutes Team waren sie schon gewesen.
Der Sepp! Der ging ihm ab. Die Gespräche mit ihm. Ruhig und unaufdringlich. Menschlich eben. Gewalt hatte es deshalb nie bei ihnen im Dorf gegeben.
Halt! Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Wiener PR-Lady Walli Winzer aufgetaucht war. Vielleicht war’s ja auch ein Zufall, dass sie sich immer gerade dort aufhielt, wo etwas los war. Also genauer gesagt, wo ein Mord geschah. Kein Wunder, dass die Leute anfingen, langsam sauer auf sie zu werden und sie bald nirgends mehr gerne gesehen war.
Na ja, sauer waren die Großlichtenerinnen und Großlichtener schnell auf solche, die nicht aus dem Ort stammten. Das bekam sogar das Nachbardorf zu spüren. Und dann erst bei einer, die aus Wien hierhergezogen war.
Nur, er mochte sie. Er konnte sich zwar nicht erklären, warum. Aber vielleicht, weil sie eben nicht aus der kleinen Gemeinde stammte. Für ihn war sie eine aus der großen, weiten Welt gewesen. Wien, das er nur aus dem Fernsehen kannte.
Als Schüler war er mit der Klasse einmal in der Hauptstadt gewesen. Auf dem Stephansdom oben und beim Riesenrad im Prater. War schon toll. Das hatte ihm gefallen. Und die Menschenmassen, hinter denen man sich anonym verstecken konnte. Nicht gesehen wurde, obwohl man da war. Anders als im Dorf. In der Stadt erlebte man etwas, ohne dabei selbst etwas erleben zu müssen, stellte er entspannt fest.
Außerdem gefiel sie ihm, diese PR-Lady, mit all ihren Ecken und Kanten. Und mit ihrem großen Herz. Das sie versteckte, wenn ihr jemand zu nahe kam.
Unabsichtlich.
Das hatte er festgestellt. So für sich. Als er sie beobachtet hatte. Meist ohne dass sie es merkte. Heimlich. In ihrem Garten. Durch die Lücken in der Hecke. Gerne machte er sich so sein Bild von den Menschen. Unbeobachtet verhielten sie sich, wie sie eben waren. Sie verstellten sich nicht. Waren sie selbst. Wie diese Fremde in Großlichten es war. Mit ihrem frechen Kater Filou. Was er eben mochte. Etwas dafür übrig hatte. Fürs andere. Fürs Auffällige. Aus der Stadt, in die er deshalb selbst vor Kurzem gezogen war.
»Verdammt und zugenäht!«, polterte es vor der Lifttür. »Wann erwische ich dich endlich!« Walli Winzer riss fahrig an ihrer viel zu vollen Tasche und versuchte weiter, deren Innenleben einigermaßen in den Griff zu bekommen, was ihr unter größter Mühe noch nicht gelang.
Inzwischen hatte sich die Lifttür geöffnet und wieder geschlossen. Der Lift war ohne Fahrgast hinuntergefahren. Walli Winzer kramte weiter.
»Ah, endlich«, stieß sie einen Laut der Befreiung aus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und sah einer eleganten jungen Frau nach, die an ihr vorbeiging. Also, eigentlich war es weniger die Frau, der ihre Aufmerksamkeit galt, als vielmehr das Kleid, das sie trug. Es war schwarz mit einem weißen, spiralförmigen Muster, wirkte frisch und aufregend zugleich. Es hypnotisierte richtiggehend, stellte sie nach längerem Hinsehen fest.
Ihr Blick richtete sich wieder geradeaus auf den Lift, vor dessen geschlossener Tür sie weiterhin stand. Offensichtlich benutzten ihn jetzt auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um das Bürohaus in ihrer Mittagspause zu verlassen. Da hieß es sogar für die Chefetage: bitte warten.
Sie blickte inzwischen auf ihr ungleiches Paar Schuhe. Der linke Fuß war immer noch kühler als der andere. Klar, schließlich war der Schuh noch nicht getrocknet. Sonst führte sie immer ein Reservepaar in ihrem Auto mit. Doch gestern wollte sie das Modell wechseln und hatte das neue Paar im Waldviertler Haus gelassen.
Ihr Kater Filou hatte wieder einmal Unfug getrieben. Sie war sofort hinter ihm her gewesen, hatte die Schuhe ins Vorzimmer geworfen und vergessen, danach die Neuen ins Auto zu legen.
Walli Winzer seufzte und beschloss, das Treffen mit ihrem Ex, Thomas, auch gleich dahin gehend zu nutzen, eines ihrer Lieblingsschuhgeschäfte in der Wiener City aufzusuchen, um für Nachschub zu sorgen.
Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Es war das Hochklappen der Radfixierung am Postwagen gewesen. Der Mann, der zuvor im Zimmer mit dem Rücken zu ihr gestanden war, hatte sie an diesem gelöst und setzte sich mit seinem Rad langsam in Bewegung.
»Nico? Nico Salmer?«, fragte sie erstaunt. »Das gibt’s doch nicht!«
»Hallo, Frau Winzer«, freute sich dieser sichtlich über die unvorhergesehene Situation. Er verließ den Wagen und kam auf sie zu.
Walli Winzer streckte ihm die Hand entgegen. Sie freute sich in dem Moment tatsächlich, ein vertrautes Gesicht aus Großlichten zu sehen. Obwohl: Nico Salmer hätte sie hier nie vermutet.
»Es ist schon lange her, dass wir einander das letzte Mal gesehen haben.«
»Fast a Jahr wird des jetzt her sein«, behielt er den Überblick.
»Dass Sie so plötzlich aus dem Dorf weg sind, hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Aber nicht nur mich.«
Nico Salmer hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Ma muass amoi aus der gewohnten Umgebung ausse. I wollt wissen, wie’s da in der Stadt is.«
»Und wie ist es?«, fragte Walli verschmitzt und genoss es, ihr Gegenüber durch ihre Anwesenheit ein bisschen verlegen zu sehen.
Eine Antwort blieb er ihr schuldig, denn die Lifttür öffnete sich. Walli Winzer ging darauf zu und stellte sich wenig damenhaft zwischen die Aufzugstüren. »Nico, wir sehen einander jetzt öfter. Ich werde nämlich die PR-Kampagne für die neue Produktlinie von Bachwirken betreuen und daher ab und zu vorbeikommen.«
An seiner Mimik konnte sie erkennen, dass er angenehm überrascht war. Er hätte sicher gerne etwas länger mit ihr geredet, aber der Augenblick schien wenig geeignet zu sein. Daher sagte er wie so oft – nichts.
Walli Winzer blieb noch kurz stehen. Sie wartete auf eine weitere Reaktion. Doch als sie merkte, dass er wie angewurzelt stehen blieb und keine Antwort von ihm kommen würde, stieg sie ohne abschließendes Wort ein. Mit ihren Gedanken war sie längst anderswo – bei Thomas, der schon auf sie wartete.
Was für eine Schnapsidee das von ihr war, mit dem Auto in Wien herumzufahren. Walli ärgerte sich. Bereits das dritte Mal war sie erfolglos um denselben Häuserblock im 18. Wiener Gemeindebezirk gekurvt. Kein Parkplatz weit und breit.
Nur ruhig bleiben. Irgendwo würde sich schon etwas finden, hoffte Walli Winzer. Auch, wenn ihre Geduld bereits an einem seidenen Faden hing.
Sie beobachtete bereits zum zweiten Mal, wie ein Mann versuchte, sein Motorrad zu starten, dessen Zündung offenbar streikte. Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ein Kleinkind an der Hand hielt, war während ihrer Runden auch nicht viel weiter gekommen. Und ein alter Mann, der zuvor auf der einen Straßenseite gestanden war und versucht hatte, mit dem Feuerzeug seine Zigarette anzuzünden, hatte es aktuell nur auf die gegenüberliegende Seite geschafft.
Endlich! Walli Winzer war erleichtert, als schließlich jemand vor ihr aus einer Parklücke fuhr. Diese kleine Freude des Alltags hob gleich ihre Stimmung. Das war auch notwendig. Vor allem, wenn sie an die Moralpredigt von Thomas dachte, die demnächst auf sie niedergehen würde. Er wartete immerhin schon eine halbe Stunde auf sie. Und eines wusste Walli mit Sicherheit: dass er das ganz und gar nicht mochte.
Zu warten. Auf sie zu warten.
Wie er das früher, während ihrer Ehe, so oft getan hatte. Das von ihr hinnehmen musste, als sie noch verheiratet waren.
Walli hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und begonnen, ihre Agentur aufzubauen. Viel Unvorhersehbares trat natürlich in den ungeeignetsten Momenten ein. Eh klar! Walli musste darauf reagieren und hatte Berufliches immer vor ihre Ehe mit Thomas Drexler gestellt. Ja, und? Okay, das geht mit einem bürgerlichen Mann nicht. Auf Dauer hatte sich das gerächt. Ihre Ehe zerbrach. Sicher nicht nur daran.
Thomas war letztlich kein einfacher Charakter. Spröde und voll hoher Erwartungen an seine Umgebung. Natürlich war er das in gewisser Weise bis heute geblieben. Denn keiner konnte seine Persönlichkeit um 180 Grad ändern. Schließlich war bei jedem nur so viel da, wie eben da war. Auch wenn Mentaltrainer und Psychiater einem das mehr oder weniger anders verklickerten.
Zugegeben, Thomas war in den letzten Jahren etwas nachsichtiger geworden. Musste er wohl auch, denn welche Frau ließ sich heutzutage von einem moralisierenden Spießer auf Dauer gängeln und sich permanent sagen, wo’s langginge?
Walli Winzer nahm den Weg zum Café quer über den Platz.
Bemängelte Walli einst Schrulliges an Thomas, reagierte der jedes Mal eingeschnappt. Irgendwann wurde es ihr zu bunt. Nämlich dann, als sie bemerkte, dass sie im Beruf immer erfolgreicher wurde und sich die charmantesten Männer für sie zu interessieren begannen.
Als Thomas allerdings anfing, eine Reptiliensammlung anzulegen, und diverse Schlangen und Leguane zeitweise ihren Käfig verließen, um über ihre Bettdecke zu huschen, wurde es Walli Winzer zu viel. Sie musste raus. Raus aus diesen sie einengenden Verhältnissen. Raus aus der kleinbürgerlichen Lehreridylle. Und raus aus diesem Unverständnis gegenüber ihrer Gesamtsituation.
Überall hieß es: Frauen ran an die Schaltstellen der Macht! Kam frau dem nach, gab es nicht nur diesen einen Thomas, der einen daran hinderte, obwohl man ihn sogar liebte.
Viele machten es wie er. Als Lehrer erzogen sie die nächsten Generationen, manchmal noch nach längst überholten Gesellschaftsmustern. Auch Konzernbosse tickten nicht anders – außer man zog sie ganz schnell mit weiblicher Strategie ins Vertrauen – dazu gehörte auch Sex.
Selbst dieser fehlte Walli irgendwann in ihrer Beziehung. Doch wie hieß es später so oft: Alles war mittlerweile Geschichte, und Walli Winzer war eine der mächtigsten PR-Ladys in Österreich geworden.
»Hallo, Thomas!« Walli sah ihn, gebeugt über seinem Handy mit einer Tageszeitung neben sich. Er blickte auf und sein Gesicht verriet bereits eine gewisse Angespanntheit.
»Sorry! Aber du weißt, der Verkehr in Wien, vor allem seit Corona …« Walli ersparte sich weiterzusprechen. Thomas würde ihr sowieso kein Wort glauben.
Er sagte auch nichts, stand hingegen auf, küsste sie auf die Wangen und wies ihr den Platz.
»Komm setz dich!« Vorher nahm er seine Jacke vom gegenüberliegenden Stuhl und wartete darauf, dass Walli ihr Cape auszog. Damit machte er sich auf den Weg zum Kleiderständer, der sich neben der Eingangstür befand.
Walli sah ihm nach. Sie konnte es nicht glauben. Wo war seine Moralpredigt? Gut, über seine Belehrungen war sie altersmäßig hinausgewachsen. Aber wo blieben seine Vorwürfe? Gift hätte sie darauf genommen, dass er seinen Ärger nicht für sich behielt. War das wirklich Thomas? Ihr Thomas, den sie seit nunmehr 30 Jahren kannte?
Irgendetwas war da im Busch, dessen war sie sich sicher. Irgendetwas, worüber sie nicht informiert war. Sie spürte es förmlich. Was war es nur?
Die Spannung stieg. Augenblicklich würde sie es erfahren. Erfahren wollen! Was überlegte sie da überhaupt noch. Thomas würde damit sowieso nicht hinter dem Berg halten. So gut kannte sie ihn. Gleich würde er es ihr sagen, es sozusagen aus ihm heraussprudeln.
Thomas Drexler kam an den Tisch zurück. Walli schaute ihn vielsagend an. Er erwiderte ihren erwartungsvollen Blick und sagte: »Erholt schaust du aus! Das Waldviertel tut dir wirklich gut. Die Ruhe, die Stille.« Er musterte sie weiter.
Walli sagte nichts und wartete ab, was noch kommen würde. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Etwas hatte er noch in petto, da war sie sich sicher.
Aber was?
Es kam nichts. Auch weiterhin.
Stattdessen verhielt sich Thomas wohlwollend und friedlich. Schenkte ihr Beachtung. Er lächelte sie sogar an. Und das, obwohl sie zu spät gekommen war.
Die Situation war Walli nicht geheuer.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Eine Idee. Eine Eingebung. Ja, langsam wurde sie sich dessen immer sicherer. Nur das konnte es sein. Er wirkte so ausgeglichen, so in sich ruhend. Yoga machte er bestimmt nicht. Das konnte sich Walli nicht vorstellen. Also blieb nur eins: Thomas war einer Sekte beigetreten.
Ohne ihn weiter anzusehen, griff sie sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfen und begann dort einen Punkt zu massieren. Nicht zu fest und nur langsam. Walli schloss dabei die Augen. So hatte ihr Erna Reisinger, Hebamme und Kräuterexpertin in Großlichten, es gezeigt. Die Spannungen würden sich dadurch lösen, die Sauerstoffzufuhr im Gehirn angekurbelt und die Atmung langsamer werden.
Tatsächlich.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Thomas besorgt. Er griff nach ihrer Schulter und wartete auf eine Reaktion.
Walli Winzer verharrte in ihrer Position und änderte diese nur langsam. Sie richtete sich auf und blickte in Thomas’ erwartungsvolles Gesicht. Gleich darauf starrte sie auf das kleine Blumenarrangement neben der Getränkekarte auf dem Kaffeehaustisch. Sie atmete tief ein, ohne die Luft hörbar wieder abzugeben. Walli war sich nicht sicher, wie und ob sie Thomas in seiner Lebenskrise würde beistehen können. Denn nur so etwas konnte es sein, wenn er bereit sein würde – obwohl katholisch –, sich jetzt für eine Sekte zu interessieren.
Nun ja, verklemmt war Thomas allemal. Auch wenn man es ihm auf den ersten Blick nicht gleich ansah. Aber seine Liebe zu strikter Regelmäßigkeit, zu Ritualen und seine Starrheit waren schon Hinweise darauf, dass er in einer immer komplexeren und unvorhersehbareren Welt nach Ankern suchte. Und das besonders in einer Chaoswelt, wie sie es mancherorts an Wiens Schulen war.
Orientierung verkündeten die neuen Heilsbringer aus den Sekten. Zufriedenheit und Gemeinschaft versprachen sie. Gaben esoterische Ziele vor. Emotionalisierten. Stimulierten unter ihrem Einfluss mehr Lebenszufriedenheit, um danach ihre jeweilige Ideologie besser durchsetzen zu können.
Walli wusste nicht, mit welchen Personen ihr Ex gerade abhing, wer Teil seines Freundeskreises war. Oder dirigierte ihn jetzt Alma, seine Frau, die bisher allerdings als eher aufgeschlossen gegolten hatte? Vielleicht war sie es, die Thomas so weit gebracht hatte? Na ja, nicht dass Walli Alma ablehnend gegenüberstand. Im Gegenteil! Sie war einst froh gewesen, dass Thomas eine Neue gefunden hatte. Und das, obwohl er zuletzt besonders anstrengend gewesen war.
Walli mochte ihren Ex ja nach wie vor. Aber anders eben. Auf Distanz. Na, war das schlecht, fragte sie sich, wenn man Jahre später einem vertrauten Menschen auf einer neuen Ebene begegnen konnte? Dabei auch all seine positiven Eigenschaften kannte und schätzte, die einem ja immerhin einmal etwas wert gewesen waren? Gewissermaßen in einem anderen Leben, aber eben doch. Zumindest einen Lebensabschnitt lang.
Thomas schaute Walli an. Er kannte ihren verhaltenen Blick. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen. So, wie sie jetzt vor sich hin schaute und ihn dabei aus den Augenwinkeln heraus beobachtete, wusste er, dass sie sich eindeutig über etwas Gedanken machte. Nur worüber? Er erinnerte sich, dass sie das auch früher gerne gemacht hatte. Manchmal. Ihn heimlich beobachten. Das war aber schon lange her. Damals waren sie beide noch sehr jung gewesen.
Er erinnerte sich an den Sommer vor vielen, vielen Jahren, als er mit einer Gruppe von Freunden abhing. Lustig und frei ging’s damals unter ihnen zu. Sie besuchten den Prater. Genauer gesagt: den Wurschtlprater, den Wiener Vergnügungspark.
Ausgelassen waren sie gewesen.
Damals.
Ihr spärliches Taschengeld hatten sie zusammengekratzt und wollten unbedingt etwas erleben. Hoch hinaus! All die Träume, Hoffnungen, Wünsche! Die ganze Welt schien ihnen offenzustehen. Würde ihnen noch offenstehen.
Welches Hochgefühl! Mutprobe im Wurschtlprater war damals wie heute die Hochschaubahn. Diese riesige Achterbahn mit den vielen Kurven. Erst hoch – dann tief und steil nach unten.
Gut, dass sie alle vom Leben noch nichts gewusst hatten. Wie es sein konnte. Kommen würde. Kommen konnte. Nicht eben nur Sonnenschein, den sie damals erlebten, sondern auch trübere Tage. Solche, die sie noch nicht kannten. Worüber sie nie nachdachten, weil sie wohlbehütet aufgewachsen waren. Ihre Eltern Sorgen vor ihnen fernhielten. Sie innerhalb der Gruppe voller Übermut ihre Kräfte maßen. In Freundschaft natürlich. Meistens jedenfalls.
Thomas mochte es, an seine Jugendzeit zurückzudenken. Unbeschwert. Auch wenn er dabei einige unangenehme Lümmel aus seiner Klasse ausblendete. Doch all das hatte ihn ermutigt, ein Lehramtsstudium zu beginnen. Er liebte seinen Beruf. Auch heute noch. Viel hatte er für Kinder übrig. Obwohl sie tatsächlich anders als früher waren: anstrengender, fordernder, individueller, kurz gesagt: nerviger.
Aber an diesem Punkt konnte er sich schon während seiner Ehe mit Walli abarbeiten. Dieser Unsteten, Wechselhaften und nur in einem Punkt Beständigen: in ihrem Anstrengend-Sein!
Sei’s drum. Trotzdem war’s das alles wert gewesen. Sie beide – ein Team. Wie Walli damals schreiend und lachend in der Gondel der Hochschaubahn gesessen hatte, die Arme voller Begeisterung in die Höhe gerissen und danach schwankend, aber glücklich zum Ausgang getorkelt war. Dies alles hatte Thomas plötzlich wieder deutlich vor Augen. Wie er sie dabei beobachtet hatte.
Damals. Sie ihn aber nicht wahrgenommen hatte. Nicht bemerkte.
Vorerst.
Er sie schon. Denn sie gefiel ihm. War sexy, schlank, sinnlich.
Sie war auch lustig. Er hatte sie angesehen und sich in ihren Anblick vertieft. Die junge Frau berührte sein Herz. Sehr. Damals. Just in diesem Moment hatte sie seinerzeit zu ihm herübergeblickt. Eine Welt war für ihn aufgegangen.
In diesem Augenblick spürte er – nur sie.
Walli wurde langsam unrund. Sie bereitete sich darauf vor, Thomas sein Geheimnis zu entlocken. So behutsam sie konnte. Dabei sah sie ihn freundlich an. Überlegte vorerst aber, was sie beim Ober bestellen sollte. Es fiel wenig originell aus. Sie bestellte: »Einen Caffè Latte, bitte!«
»Auf dich ist eben Verlass, zumindest dabei«, witzelte Thomas gut gelaunt.
Walli war erstaunt. Er zeigte Humor. Auch wenn der gerade auf ihre Kosten ging. Aber immerhin. Ein neuer Zug an ihm. Thomas bestellte eine Melange. Das war ein Espresso mit doppelt so viel Wasser und Milchschaum. Sie wusste, er liebte diese klassische österreichische Kaffeespezialität.
»Du bist ja so gut drauf. Gibt es da etwas?«, fragte Walli Winzer vorsichtig.
Thomas sah sie offen an und schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Ich freu mich, dass wir einander wiedersehen. Das ist alles. Ist ja schon eine Ewigkeit her.«
»Ja, ich weiß gar nicht, wann’s das letzte Mal war?«
»Ein halbes Jahr ist das mindestens her«, war sich Thomas Drexler sicher.
Walli begann erst gar nicht nachzurechnen. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, die für sie ungewöhnliche Situation unter Kontrolle zu halten. Sie sah daher ihren Ex mild und verständnisvoll an.
Da Thomas die gedankliche Abwesenheit Wallis nicht erklären konnte, beschloss er, ihr von seiner letzten Reise zu erzählen: »Eine beeindruckende Reise und ein unglaublicher Gegensatz, diese Türkei, damals zu heute …«
»Pass doch auf!«