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© 1. Auflage: September 2020
© Coverbild: Sina Blackwood
Umschlaggestaltung: Sina Blackwood
Layout: Sina Blackwood
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752677959
Ein Schrei durchschnitt die Stille. Urs erstarrte mitten in der Bewegung. Aus seinen Erinnerungen schälte sich ein Dezembertag hervor, welcher schon fünf Jahre zurücklag. Tränen, die er einfach nicht unterdrücken konnte, rollten über seine Wangen, erstarrten in der klirrenden Kälte und fielen als funkelnde Perlen in den Neuschnee. Er suchte mit den Augen die Flanke des Berges auf der anderen Seite des schmalen Tales ab.
Damals gellte ein ähnlicher Schrei durch den Morgen. Es lag auch fast genau so viel Neuschnee, der sich in Bewegung gesetzt hatte, als Lawine ins Tal gerast war und die vier Häuser verschüttete. Eltern, Brüder, deren Frauen und Kinder ... alle tot. Urs war der Einzige, der das Inferno überlebt, nach der Schneeschmelze die Leichen mit aus den Trümmern gezogen und sie bestattet hatte. Er war hiergeblieben, hatte die am besten erhaltene Ruine wieder aufgebaut und lebte von dem, was ihm die Natur gab. Selten verirrten sich Fremde in diese Einöde.
Da bewegte sich etwas auf der anderen Seite. Urs‘ scharfe Augen erkannten eine dunkel gekleidete Person, die sich aus dem Schnee wühlte und dabei einen kleinen Rutsch auslöste, der aber nach wenigen Metern zum Stillstand kam. Dann schien ihn der Fremde ebenfalls zu bemerken, denn er begann, verzweifelt mit beiden Armen Zeichen zu geben. Urs winkte zurück und lief los, den Fremden zu retten. Der verhielt sich glücklicherweise ruhig, sodass die Chancen recht gut standen, ihn zu bergen, denn darüber, dass er mit einer Schneewächte vom Felsen gestürzt war, gab es für Urs keinen Zweifel.
„Halte durch!“, murmelte der Eremit, Seil und Eispickel von der Wand hakend, ehe er über den freigeschippten Pfad zum Bach hinunter stieg, wo er einen gut begehbaren Steg zum anderen Ufer gebaut hatte. Urs zog den Schal vor den Mund, denn die schneidende Kälte ließ fast den Dampf vor dem Mund gefrieren. Hin und wieder schaute er nach dem Fremden, der noch immer am selben Fleck verharrte, entweder weil er wusste, dass er eine Lawine auslösen konnte oder weil er ganz einfach verletzt und am Ende seiner Kräfte war.
Es dauerte fast drei Stunden, bis sich Urs seinen eigenen Berg hinunter und durch den Tiefschnee auf der anderen Seite an den Verunglückten herangearbeitet hatte. Als er ihn endlich fand, war er bereits bewusstlos. Dass er noch lebte, verriet der kaum spürbare Puls der Halsschlagader.
Urs überlegte nicht lange, schlang ihm das Seil mehrmals unter den Armen hindurch und fierte ihn regelrecht den Hang hinunter vor sich her ab. „Tut mir leid, geht nicht anders“, brummte er. „Tragen muss ich dich drüben früh genug.“
Am Ufer des Baches kontrollierte er noch einmal den Puls des regungslosen Fremden, ehe er ihn sich mühevoll auf den Rücken huckte. Nach zwei weiteren Stunden stolperte er erschöpft in sein Haus, wo er den Mann mit allerletzter Kraft in sein Bett plumpsen ließ. Dann saß er minutenlang einfach nur da, um neue Energie zu schöpfen.
Seufzend raffte er sich schließlich auf, zog sich aus, hängte seine wertvollen Hilfsmittel wieder an die Wand, dann erst widmete er sich dem Verunglückten. Er begann, ihn aus der Kleidung zu schälen, löste die Verschlüsse an den Handgelenken, welche auch die dick gefütterten Handschuhe umschlossen. Zwar waren die Hände eiskalt, wiesen aber keine sichtbaren Erfrierungen auf.
„Junge, Junge, das wird jucken, wenn sie warm werden“, stellte Urs fest, sämtliche Reißverschlüsse öffnend. „Na, komm schon! Toter Mann spielen, gilt nicht. Mach irgendwas, auch wenn du nur die Augen verdrehst.“
Auf diesen Befehl öffnete sie der Fremde wirklich. Was ihm vor selbige kam, ließ sie groß und größer werden. Denn da war ein fast himmelblaues Augenpaar, das ihn neugierig aus einem wilden Gestrüpp von rabenschwarzem welligem Bart- und Haupthaar anschaute. So hatte er sich als Kind Rübezahl vorgestellt und nun schien die Legende, zum Leben erwacht zu sein.
„Wo tut es weh?“, fragte sein Retter, ihm die Jacke ausziehend.
„Überall“, quetschte der Unglücksrabe mühsam hervor, weil die aufgesprungenen Lippen wie Feuer brannten.
„Siehst auch nicht wirklich gut aus. Aber das kriegen wir wieder hin“, bekam er zur Antwort und gleichzeitig aus einem Näpfchen Salbe auf die Wunden im Gesicht. Die stank zwar fürchterlich, linderte aber sofort Schmerz und Juckreiz, der durch die Wärme im Haus rasch hervorbrach.
„Meine Hände!“, klagte der Verletzte, worauf Urs, dessen Finger mit Schnee abzureiben begann, bis die schlimmsten Symptome abklangen.
„Ich brühe dir jetzt einen Kräutertee auf, dann wird es dir rasch besser gehen“, erklärte er, den kleinen Kessel in die Flammen des offenen Feuers der Kochstelle hängend. „Hunger wirst du ja auch haben. Wie heißt du überhaupt?“
„Andreas.“
„Ich bin Urs.“
Andreas versuchte zu lächeln. „Der Bär.“
Urs lachte. „Also sei vorsichtig, du hast mich in meinem Winterschlaf gestört.“
„Oh je. Dabei habe ich dir noch nicht einmal gedankt. Ohne dich wäre ich sicher schon erfroren!“, rief Andreas.
„Viel hat wirklich nicht gefehlt.“ Urs bereitete den versprochenen Tee, dann zog er sich einen Schemel neben das Bett. „Was ist passiert? Was hat dich bei derartigen Temperaturen in die Berge getrieben?!“
Andreas öffnete ein paar Mal den Mund, ohne etwas zu sagen. Urs hob die Augenbrauen. „Ich bin mit dem Flugzeug abgestürzt“, sagte Andreas schließlich.
„Du bist was?!“ Urs glaubte, sich verhört zu haben.
„Abgestürzt. Mit einem Kleinflugzeug.“
„Wann? Wo? Ich habe nichts gehört!“
„Vor zwei Tagen schon. Der tiefe Schnee hat wohl den Aufprall gelindert. Dann habe ich versucht, mit dem Handy Hilfe zu rufen. Dummerweise ist es beim Absturz beschädigt worden. Als ich merkte, dass ich in der Falle sitze, bin ich auf allen vieren losgekrochen, weil ich in der Ferne eine dünne Rauchfahne gesehen habe. Es muss wohl dein Schornstein gewesen sein. Denn hier ist ja sonst nur weiße Einöde.“
„Noch mal ganz langsam“, bat Urs. „Du bist hier im Gebirge herumgeflogen?“
Mühsames Nicken.
„Und dann abgestürzt.“
Wieder nickte Andreas.
Urs schüttelte ungläubig den Kopf. „Treibstoffprobleme?“
Andreas presste die Lippen aufeinander. „Dummheit. Ich bin ohne verdunkelte Brille geflogen und dann habe ich mir wohl die Augen verblitzt, als die Sonne die Kristalle explosionsartig funkeln ließ. Ich muss eine Bergspitze gestreift haben ... denke ich. Dann hat es gekracht und ich war erst einmal k.o.“, erzählte er weiter. „Den Rest kennst du bereits.“
„Stopp! Nicht ganz. Warum bist du hier herumgeflogen?“
Andreas schloss die Augen, ballte die Fäuste und flüsterte: „Aus blankem Großkotzgehabe und weil ich einer Frau imponieren wollte.“
„Aha“, machte Urs, der nicht wusste, wie er das Geständnis sonst hätte kommentieren sollen. „Dann musst du nun, Wohl oder Übel, bei mir bleiben, bis der Schnee taut, falls sie dich nicht vorher mit einem Hubschrauber suchen. Hoffen wir, dass deine Verletzungen keine bleibenden Schäden nach sich ziehen.“ Er schenkte den Tee ein und reichte Andreas etwas Schüttelbrot. „Die Beine kannst du aber bewegen oder bist du nur mit den Händen gekrochen?“
„Ich kann sie bewegen. Ich fühle sie auch. Hab mir aber sicher etwas verstaucht“, versuchte Andreas zu erklären.
„Oder gebrochen“, warf Urs ein. „Aber das könnte ich schienen. Gerades Holz habe ich zur Genüge.“
Ganz langsam dämmerte es Andreas, dass Urs hier wirklich fern von jeglicher Zivilisation lebte. Es gab keinen Strom und Licht kam von einem Öllämpchen. „Wovon lebst du?“, fragte er vorsichtig.
„Vom Berg, um es grob auszudrücken“, erhielt er zu Antwort. „Von Beeren, Pilzen, Kräutern.“
„Und das genügt?“
„Es muss, nachdem eine Lawine alle Nutztiere vernichtet hat.“ Urs erzählte Andreas, was sich fünf Jahre zuvor ereignet hatte.
„Was wäre dein größter Wunsch?“, fragte der nach langem Überlegen.
„Ein paar Ziegen. Dann könnte ich Käse machen, hin und wieder sogar Fleisch essen.“
„Möchtest du nicht irgendwohin, wo Menschen sind?“
Urs schüttelte ganz langsam den Kopf. „Hier, auf dem Berg, bin ich geboren. Hier will ich auch irgendwann sterben.“
„Du klingst wie meine Schwester!“, platzte Andreas heraus. „Die will auch lieber allein auf einer einsamen Insel leben und sich von der Natur ernähren.“
„Sie muss eine weise Frau sein“, schmunzelte Urs. ‚Im Gegensatz zu ihrem Bruder‘, setzte er in Gedanken hinzu.
Am nächsten Morgen wurden die Männer vom Knattern eines Helikopters geweckt, der schon im Morgengrauen über den Gipfeln kreiste. Urs rannte aus dem Haus und schwenkte eine brennende Fackel, die er in der Eile entzündet hatte. Es dauerte nicht einmal lange, bis der Pilot auf ihn aufmerksam wurde.
Ein Bergretter seilte sich ab und checkte die Lage. Ein paar Minuten später verabschiedete sich Andreas von Urs, wurde in eine Trage gebettet und in den Helikopter gezogen. Urs schaute dem Heli hinterher, bis er zwischen den Gipfeln verschwand.
Ein paar Monate später kreiste wieder ein Hubschrauber über Urs‘ Berg, ging tiefer und landete auf einem kleinen Plateau. Zwei Männer sprangen heraus, kamen zu ihm herüber. „Guten Morgen. Wir bringen Grüße und ein kleines Geschenk von Andreas. Er hofft, damit Ihren Geschmack getroffen zu haben.“ Einer drückte Urs einen Brief in die Hand, während der andere bereits die Seitentür öffnete, aus der penetranter Geruch hervordrang.
„Ziegen!“, stammelte Urs verdattert, die drei Tiere anschauend, als habe er gerade Geister erblickt.
Rasch ging er den Männern zur Hand, die froh waren, ihre stinkenden Passagiere loszuwerden. Wahrscheinlich hatte Andreas‘ Schwester die Hand mit im Spiel gehabt, denn es gab zu jedem Tier eine lange Kette und einen Pflock. Sie hatte wohl geahnt, dass der Retter ihres Bruders nicht auf tierischen Zuwachs eingerichtet war und improvisieren musste, bis Stall und Gatter gebaut waren.
Als er das letzte Tier angepflockt hatte, hob der Helikopter schon wieder ab und Urs stand da, als sei er soeben aus einem Traum erwacht. Er zwickte sich sogar in die Hand, schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah immer das gleiche Bild, drei wundervolle robuste Ziegen, die bereits die ersten Grashalme fraßen. Genau genommen waren es zwei Geißen und ein Bock, wie Urs mit tiefer Dankbarkeit feststellte. Er hatte nicht nach Andreas‘ Lebensumständen gefragt und demzufolge keine Ahnung, dass er einem Multimillionär das Leben gerettet hatte, für den die Ziegen nur eine kleine Aufmerksamkeit waren. Er erinnerte sich an den Brief und begann zu lesen:
‚Mein lieber Urs,
ich hoffe, den richtigen Zeitpunkt gewählt zu haben, Dir Deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Der Schnee müsste ja auch auf Deiner Alm inzwischen der Vergangenheit angehören. Abgesehen von ein paar Prellungen und ein paar Tagen Schneeblindheit habe ich mein Flugabenteuer, dank Dir, gut überstanden. Ich werde wohl ewig in Deiner Schuld stehen. Ich war nie sonderlich religiös, habe aber, weil der Himmel schwarz gewesen sein muss, vor lauter Schutzengeln, in der nächstgelegenen Kathedrale mehrere Kerzen entzündet, und Dir inbrünstige Dankgebete gewidmet. In der Hoffnung, dass es Dir gut geht,
Andreas.
P. S. Grüße von meiner Schwester, sie ist begierig, dich irgendwann kennenzulernen.‘
Urs las den letzten Satz gleich mehrmals, blinzelte vergnügt in die Sonne und murmelte: „Eine Insel habe ich zwar nicht, aber einen grandiosen Blick auf ein wundervolles Gebirge und viel Platz, um das Haus zu vergrößern. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt.“
Zuallererst viel Arbeit. Das stand fest, denn die Ziegen brauchten im Winter einen warmen Stall und ausreichend Futter. Urs kratzte sich am Kopf. Das allein zu schaffen, war eine echte Herausforderung. Die Wetterlage war seit zwei Tagen stabil und so entschied er sich, vor dem Bau von Pferch und Stall, möglichst viel Gras zu mähen, um gutes Heu zu haben. Die Ketten der Ziegen waren lang genug, sodass er sie nur einmal am Tag umpflocken musste.
Obwohl er versuchte, sich nicht zu überanstrengen, gab ihm am ersten Tag die viele ungewohnte Mäharbeit den Rest. Er saß an der Quelle, die ihm und seinen Tieren Trinkwasser spendete, fühlte sich wie zerschlagen und hätte am liebsten losgeheult. Der Ziegenbock kam heran und stupste ihn immer wieder tröstend mit der Nase an.
„Ist schon gut“, seufzte Urs. „Ihr könnt nichts dafür und ich werde es irgendwie schaffen, dass wir vier gut über den Winter kommen.“
„Mähähäääääää!“, machte der Bock, Urs noch einmal berührend.
„Bist ein guter Junge.“ Urs streichelte sanft das glatte braune Fell. „Ich werde dich Karli nennen. Das passt zu dir.“
„Mähähäääääää!“
„Na komm, hilf mir auf!“ Urs fasste nach den Hörnern und Karli zog ihn tatsächlich auf die Füße.
„So kräftig, wie du bist, kommt mir doch glatt eine Idee!“, schmunzelte Urs. „Wenn du mir ein bisschen hilfst, schaffen wir es wirklich, im Winter nicht Hunger leiden zu müssen.“ Er schöpfte mit beiden Händen Wasser, trank in langen Zügen, dann machte er sich trotz schmerzendem Rücken wieder an die Arbeit.
Am nächsten Morgen quälte er sich im Bett auf den Bauch, schob sich, die Beine voran, über die Kante, um schmerzgeplagt knien zu bleiben. „Jesus, Maria!“, stöhnte er. „Bin ich aus der Übung!“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich auf die Füße gestemmt hatte. Der ganze Körper schien aus Schmerzen zu bestehen.
Das Meckern der Ziegen trieb ihn schließlich voran. Die drei mussten dringend an einen neuen Futterplatz gebracht werden.
Karlis: „Mähähäääääää!“, bei Urs‘ Anblick, klang fast fragend und aus den waagerechten Pupillen seiner großen Augen schien Sorge zu leuchten.
„Das wird schon wieder“, versprach Urs, die drei Ziegen streichelnd und zu einem Fleckchen mit saftigem Gras führend. Auf dem Rückweg zum Haus prüfte er das zukünftige Heu. Bloß nicht zu oft wenden, dachte er, sonst hast du nur noch harte Stängel und die leckeren Blätter sind Staub. Die sanfte Brise hatte in der Nacht schon gute Arbeit geleistet. Es sollte reichen, am nächsten Tag mit dem Wenden zu beginnen.
Zuerst Gatter oder Stall bauen, war auch keine Frage mehr. Das Heu musste ja irgendwo untergebracht werden. Da half es nur, eine große Scheune zu errichten, in welcher es auch Boxen für die Tiere gab. Urs begann, Bruchsteine zu schleppen, aus denen er den Sockel mauern wollte, und gleichzeitig nach Stämmen für die Wand- und Dachkonstruktion Ausschau zu halten. Das meiste Material holte er wieder von den Ruinen, denn es wäre Verschwendung gewesen, es verkommen zu lassen. Seine Erinnerungen blieben auch so. Dazu bedurfte es keiner eingestürzten Häuser. Er fühlte sich gut dabei, die Reste wie ein Mosaik zu etwas Neuem zusammenzufügen. Es würde ihnen allen sicher gefallen, könnten sie es sehen.
Sein ältester Bruder hatte die größte Scheune mit einer festen Tenne gehabt. Einen Teil der Balken hatte Urs bereits für sein Wohnhaus verbaut. Nun maß er mit einer Schnur ab, wie er die noch vorhandenen Teile mit denen der anderen Ruinen komplettieren konnte, um mit wenig Aufwand schnell ein brauchbares Ergebnis zu bekommen.
Jeden Nagel, jede Schraube, jedes Werkzeug, das er in den Trümmern fand, sammelte er sorgfältig ein, um es wiederzuverwenden. Bisher hatte er sich gescheut, gezielt in den verfallenen Mauern zu suchen, nun zwang ihn die Vernunft, alles mitzunehmen, was noch brauchbar erschien. Sogar Blumentöpfe und -kästen stapelte Urs sorgfältig hinter seinem Haus.
Karli machte: „Mähähäääääää!“
Urs blinzelte vergnügt. „Hmm, hmm, ihr seid schuld! Ohne euch würde ich weiter Wildkräuter sammeln und wie ein Bär den Winter verschlafen. Nun muss ich mich kümmern, dass es euch gut geht und mir für die kalte Zeit sinnvolle Beschäftigung suchen, von der wir alle etwas haben.“
„Mähähäääääää!“
„Richtig, mein Großer!“, lachte Urs. „Sonst nimmst du mich auf die Hörner.“
Das Wenden des halb trockenen Grases ging Urs ruhig an. Am Morgen pflockte er die Ziegen um, brühte sich Kräutertee, aß ein Löffelchen Wildbienenhonig, dann begann er, Bahn um Bahn das Heu mit der unteren, feuchteren Seite nach oben zu drehen. Hin und wieder fasste er eine Handvoll und roch daran. Es duftete herrlich und werde den Tieren sicher schmecken. Dabei hoffte er inständig, alles zu schaffen, weil das schöne Wetter höchstens noch zwei Tage anhielt.
Am Abend baute er am Heuboden weiter, der zumindest schon ein Dach hatte, um selbst den schlimmsten Regen abzuhalten. Die Wetterseite wollte er am nächsten Tag komplett schließen, damit auch die Ziegen im Trockenen stehen konnten, wenn es stürmte.
Petrus schien andere Pläne zu haben. Im Morgengrauen rumpelte es in der Ferne. Urs sprang aus dem Bett, checkte die Richtung und begann eilig, alles an Heu zusammenzuraffen, das er tragen konnte. Immer und immer wieder eilte er zwischen Wiese und Haus hin und her, bis eine alte Idee aus der Not heraus wirklich zum Durchbruch kam.
Er hatte eine große strapazierfähige Folie aus den Trümmern gezogen, die er nun auf beiden Seiten mit je einem Loch versah, durch das er ein festes Seil zog. Er schleppte sie auf die Wiese und packte so viel Heu hinein, dass er sie gerade noch zusammenbinden konnte. Dann holte er Karli und knüpfte die Seile an dessen Hörnern fest. Karlis Protestgemecker quittierte Urs mit einem breiten Grinsen, versüßte ihm den Weg zum Haus aber mit ein paar schmackhaften Wildrüben.
Um mehr leckere Fresserchen zu bekommen, zog Karli ohne Murren immer wieder den Folieschlitten hin und her und wurde fürstlich belohnt. Als es zu regnen anfing, hatten sie fast drei Viertel des gesamten Heus geborgen und Urs führte die Ziegen ins Trockene.
Die Geißen meckerten schlecht gelaunt, weil sie immer noch hungrig waren. Urs schnitt rasch ein wenig Gras, was sie vorerst zufrieden stellte. Karli döste ausgearbeitet, aber satt, vor sich hin. Ihn konnte nicht einmal der Donnerhall aus der Ruhe bringen.
Urs lag auf dem Bett, um neue Kraft zu schöpfen. Traurig dachte er an das viele schöne Heu, das nun noch einmal nachtrocknen musste. Er hoffte auf Sonnenschein und leichten Wind, damit es nicht schimmelig wurde. Er hatte nicht zu kurz gemäht und so standen die Chancen recht gut, weil genügend Luft unter dem Grasschnitt zirkulieren konnte. „Wird schon werden“, murmelte er, für ein halbes Stündchen die Augen schließend.
Er träumte von früher, als seine Welt noch in Ordnung war. Wie man sich gegenseitig bei der Mahd geholfen hatte. Auch die Obsternte sah er vor seinem geistigen Auge und wie die Frauen Früchte eingelegt oder eingeweckt hatten ...
Urs schreckte auf. „Aber ja doch! Der Keller könnte intakt sein!“, rief er, sofort aus dem Bett springend. Das Haus eines Bruders war das einzige gewesen, das wirklich auf einem Keller errichtet worden war, der aus einer natürlichen Höhle im Gestein bestanden hatte.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört, das Gewitter grummelte in der Ferne vor sich hin und Urs brachte die Ziegen auf die Wiese. Von da lief er gleich hundert Meter weiter, weil er den Eingang zur alten Höhle suchen wollte. Die Last des einstürzenden Hauses konnte durchaus die Decke der Grotte durchschlagen haben.
Auf den Resten der Tenne stehend, schloss er die Augen, um sich zu erinnern. Schließlich schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. Der Eingang war im Haus, der Keller komplett außerhalb der Mauern gewesen. Er räumte fast eine Stunde lang mit bloßen Händen den Gesteinsschutt beiseite, den die Lawine mitgebracht hatte und wurde fündig. Zwischen den Brocken tauchte der große Eisenring auf, mit dem man die einfache Klappe aus dicken Holzbohlen aufziehen konnte.
„Genug für heute“, seufzte er. Doch mit leeren Händen wollte er nicht heimkehren und so schleppte er einen Balken auf der Schulter nach Hause. Mit dem hoffte er, seinen Heuboden verstärken zu können. Dort hackte er ein Loch in den Boden, richtete mühsam den Balken auf, den er mittig fest unter dem Querbalken verspannte. Er stampfte die Erde glatt und fertigte sich zwei kurze schräge Stützen, die er mit großen Holzsplinten an Balken und Träger befestigte und zusätzlich mit je zwei langen Schrauben sicherte. Eine Konstruktion für die Ewigkeit, solange keine Lawine andere Pläne hatte.
Wie er so am Hacken und Glätten war, fiel ihm ein, dass er doch den ganzen Boden mit den Geröllbrocken wie mit Pflaster auslegen konnte. Er hatte tonnenweise Gestein, konnte sich die passenden Brocken aussuchen und die Arbeit notfalls sogar im Winter ausführen, wenn ihn der Schnee zwang, im Haus zu bleiben.
„Mähähäääääää!“, machte Karli wie zur Bestätigung.
„Eine Schubkarre wäre nicht schlecht“, überlegte Urs. Er nahm sich vor, sämtliche Schuttberge nach Brauchbarem zu durchforsten. Aber erst, nachdem er ergründet hatte, wie es in der Kellergrotte aussah.
Karli ließ ein paar Knödel fallen. Urs kniff die Augen zusammen. Das würden alle drei Ziegen natürlich auch im Winter im Stall tun. Er musste sich schleunigst einen Platz für den zu erwartenden Misthaufen einfallen lassen. Logischerweise unterhalb des Hauses, nicht gerade im Sichtbereich und möglichst da, wo der Wind die Gerüche wegtragen konnte. Daran, dass Karli, als Bock, nun mal nach Bock stank, und nicht gerade wenig, hatte er sich rasch gewöhnt. Wer das eine begehrte, musste das andere in Kauf nehmen.
Mit dem Dünger der Ziegen wollte er versuchen, ein paar Beete für robustes Gemüse anzulegen. Für dieses Jahr zu spät, aber der nächste Frühling kam gewiss. Hochbeete mit gutem Boden konnte man sicher auch in den Hang einpassen. „Semiramis lässt grüßen“, kicherte Urs vergnügt.
Weil es ein herrlicher Sommerabend war, setzte er sich vor dem Haus auf die provisorische, aber urgemütliche Bank aus zwei Felsbrocken und einem dicken Brett, lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand und trank Wildkräutertee.
Unzählige Bündel seiner Lieblingskräuter hingen zum Trocknen unterm Vordach, verströmten einen herrlichen Duft und ließen ihn zufrieden lächeln. Seine drei Mitbewohner kamen heran, so weit es ihre Ketten zuließen. Sie warteten auf das allabendliche Streicheln. Dabei konnte sich Urs auch stets einen Überblick über die körperliche Verfassung der drei verschaffen und blutsaugende Parasiten entfernen, die versuchten, die einzunisten.
Trine und Trudi, wie seine Geißen hießen, gediehen genau so prächtig wie Karli. Dessen imposante Hörner und die aparte Fellzeichnung verrieten, dass er der Pinzgauer Rasse angehörte. Seine beiden Mädels unterschieden sich nur durch die Hörner. Trudis Kopfschmuck war im Durchmesser etwas geringer als der von Trine, die auch die Dominantere war.
Urs wusste, dass diese Ziegenrasse selten geworden war. Umso höher schätzte er das wundervolle Geschenk von Andreas. Er hoffte sehr, im nächsten Jahr vielleicht ein oder zwei Zicklein zu haben.
„Mähähäääääää!“
„Es ist deine Aufgabe, dafür zu sorgen“, lachte Urs, weil Karlis Gemecker genau zur passenden Zeit einsetzte.
Der nächste Morgen begann mit Nebel. Urs versorgte die Tiere, dann eilte er schnurstracks zu seiner Schatzhöhle, wie er den wiederentdeckten Keller bezeichnete. Die Scharniere der Klappe ließen sich anstandslos bewegen, als er den restlichen Schutt weiträumig abgetragen hatte. Inzwischen lugte auch die Sonne durch den dünnen Wolkenschleier. Urs spähte die hölzerne Stiege hinab. Der Handlauf war noch in Ordnung. Er erinnerte sich, dass es einst sogar kleine Glühlampen gegeben hatte. Sein Bruder hatte zwei Windräder gehabt, die genug Strom für alle lieferten, zumal es ja kaum elektrische Geräte hier oben gab. Die Lampen waren bei genauer Betrachtung auch noch da, nur der Strom fehlte, um sie zum Leuchten zu bringen.
Urs zog sein Öllämpchen hervor und begann, im Schein der kleinen Flamme hinabzusteigen. Auf dem Boden liegende Glasscherben spiegelten das Licht. Urs hob die Lampe, um herauszufinden, woher sie stammten. Starr vor Staunen blieb er mit erhobenem Arm stehen – das winzige Licht ließ nur annähernd erahnen, wie groß das Regal sein musste, das Urs mit glänzenden Augen betrachtete. Dicht an dicht reihten sich Einweckgläser und Töpfe mit Eingelegtem. Kästen voller Saftflaschen ließen sein Herz höher schlagen. Es gab sogar ein Weinregal, das Dutzende Flaschen beherbergte. Die Scherben stammten von hier, denn das Beben des ganzen Berges beim Lawinenabgang hatte das Regal zur Seite kippen lassen, wodurch einige Flaschen herausgerutscht und auf dem Boden zerbrochen waren. Weil es müßig war, das schwere Ding aufrichten zu wollen, zog Urs die Flaschen von oben nach unten heraus und stellte sie sicher hinter der Treppe ab.
Er widmete sich lieber den Lebensmittelvorräten, die er noch vor dem Herbst in sein Haus zu bringen gedachte. Weiter hinten fand er alle Gerätschaften, die man benötigte, um Käse machen zu können. Die konnte er auch noch holen, wenn wirklich Zicklein geboren waren. Vorher hatte es nicht viel Sinn, Zeit und Kraft zu verschwenden. Hocherfreut hakte er die drei großen Kiepen von der Wand ab, die er sofort mit dem Wichtigsten zu füllen begann. Die konnte er auch beim Heutransport und Feuerholzsammeln nutzen. Bis in die Mittagsstunden schleppte er Nahrungsmittel in seine Speisekammer, die am Ende fast aus den Fugen platzte.
Zu Mittag genehmigte er sich ein halbes Glas Apfelmus, das zwar farblich, aber nicht an Geschmack verloren hatte. Die zweite Hälfte hob er sich für den Abend auf. Ein prüfender Blick auf das Heu, dann stand fest, dass es eingelagert werden konnte. Karli beobachtete Urs sehr skeptisch. Dann siegten die Erinnerung und Fressgier: „Mähähäääääää! Mähähäääääää! Mähähäääääää!“
Urs brach in schallendes Gelächter aus. Er nahm das unerwartete Angebot natürlich an, schnitt eine wilde Rübe klein und spannte Karli vor die Rutsche mit dem Heu, nachdem er sich die volle Kiepe aufgehuckt hatte. Trine und Trudi äugten immer wieder herüber, wenn Karli seine Leckerchen bekam. Da hätten sie gern mit ihm getauscht. Nur die Rutsche hätte keine von ihnen ziehen mögen.
Als die Sonne hinter dem Kamm auf der anderen Talseite verschwand, hängte Urs die Kiepen an die Wand seiner Scheune, rollte die Folie zusammen und schob sie auf den Querbalken. Langsam nahm sein Refugium das Aussehen eines richtigen Bergbauernhofs an. Er aß das restliche Mus, schmuste mit den Ziegen und ärgerte sich ein kleines bisschen, nicht wenigstens eine Flasche Wein eingepackt zu haben. Ein Becherchen voll hätte er sich nach all der Plackerei wohlverdient gehabt. Also zog er eine Saftflasche hervor, um sich trotz allem etwas Besonderes zu gönnen.
Nach dem ersten Schluck musste er grinsen. Aus irgendeinem Grund war der ehemalige Obstsaft einer alkoholischen Gärung anheimgefallen, wie es immer wieder mal vorkam, und schmeckte auch noch ganz passabel.
Karli schnüffelte, rümpfte die Nase ... „Mäh!“
Urs kraulte ihn zwischen den Hörnern. „Keine Sorge, ich werde bestimmt nicht zum Trinker mutieren.“ Er verkorkte die Flasche wieder und brachte sie in die Speisekammer. Ein Becher am Abend genügte vollends. Nur musste er sie nun auch leertrinken, bevor der Inhalt verdarb. Also gab es ein paar Tage lang einen Fingerhut voll als Schlummertrunk.
Trotz der ganzen Vorräte aus dem Keller sammelte Urs weiter Pilze und wildes Getreide, aus dem er ein wenig Mehl zum Fladen backen gewinnen konnte. Luftig gelagert und gut getrocknet, war das Schüttelbrot über viele Monate genießbar.
„Ich muss mein Leben umorganisieren“, seufzte Urs. „Vielleicht werde ich Mehl und andere Dinge kaufen müssen, wenn ich hier vernünftig leben will.“
Ja, klar besaß er ein Bankkonto, wie jeder andere auch. Sehr gut gefüllt sogar, durch die traurigen Erbschaften. Er hatte ganz einfach seit fünf Jahren menschliche Gesellschaft gemieden. Das wollte er ändern. Ein wenig zumindest. Aber auch nicht mehr in diesem Jahr. Er musste seinen Stall winterfest bekommen, Streu für die Ziegen sammeln und all die Nahrung aus der Natur, die er immer für den Winter zusammengetragen hatte.
Wenn er jetzt mit seiner Kiepe auf Tagestour ging, lief immer die Sorge mit, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Kehrte er wieder, führte der Weg immer sofort zu den Tieren, erst dann setzte er seine Last ab.
So machte er sich schließlich doch die Mühe, aus dünnen Baumstämmen einen großen Pferch zu zimmern, den die Ziegen weder überspringen noch trickreich überklettern konnten. Eine Ecke wurde überdacht, um die drei vor Regen zu schützen und ein Wassereimer festgebunden, damit sie ihn nicht umwarfen. Gegen wilde Tiere gab es Trine, die recht schnell dabei war, die Hörner zu senken, wenn ihr etwas nicht passte.
Bei Karli hatte sie es auch schon versucht, aber gnadenlos Prügel von ihm bezogen, denn seine Hörner waren um einiges länger und es steckte geballte Kraft dahinter. Zudem stand er der ruhigen Trudi stets bei, wenn Trine stänkerte. Irgendwann begriff Trine, die Chance verspielt zu haben, die Lieblingsfrau des Bocks zu werden. Seitdem herrschte Frieden im Ziegentrio.
In den letzten Tagen war es merklich kälter geworden. Nachts sogar bis tief unter den Nullpunkt. Die Wände des Stalls waren dicht, dort, wo sich die Tiere aufhielten, hatte er zwei Lagen Bretter geschichtet und gut befestigt, weil er nicht genug Einstreu hatte. Die vernünftigste Notlösung für diesen einen Winter. Im nächsten Jahr musste er beizeiten schauen, dass er seine weiter entfernten Wiesen mähte, um nicht zukaufen zu müssen. Er brauchte ja keine Scheune mehr vom Nullpunkt aus dem Boden stampfen. Mit einigen Wochen Zeitplus für alle Vorhaben konnte er schon richtig was anfangen. Tagsüber werkelte er jetzt vorwiegend in den Schutthaufen, fand einen zerborstenen Handwagen, dessen vier Felgen noch in Ordnung waren.
Nach dem ersten Flockenfall kam Urs eine geniale Idee, wie er auch im Tiefschnee das Kellergewölbe wiederfinden konnte. Er trieb zu beiden Seiten des Weges in kurzen Abständen drei Meter lange Stangen in den Boden, wie man anderorts im Gebirge die Straßenränder markierte. Nun konnte der Winter ruhig beginnen. Er hatte die bestmöglichen Vorkehrungen für alles Erdenkliche getroffen. Als letzte Aktion versetzte er das Ziegengatter genau vor das Tor, sodass die Tiere bei milder Witterung den Stall nach Gutdünken verlassen konnten.
Drei Tage später lag der Schnee bis an die Fensterbretter und keiner hatte Lust, hinaus zu gehen. Urs schaufelte sich unverdrossen den Weg zu seinen Lieblingen frei. Die dicke Flockenpackung isolierte die Gebäude von außen und hielt den Stall frostfrei. Der Ziegenurin sickerte durch die Bretter, den Kot kehrte Urs zusammen, beste Voraussetzungen, die Kältewochen ohne Verluste zu überstehen. Wie er es sich vorgenommen hatte, fing er an, den Boden der Scheune zu pflastern. Die Ziegen freuten sich über seine Anwesenheit und er genoss es ebenfalls, nicht allein im stillen Kämmerlein zu hocken. Zwischendurch nahm er hier und da kleine Änderungen vor, plante größere Umbauten und sogar Anschaffungen, um sich das Leben zu erleichtern. Am meisten wünschte er sich eine Schubkarre, um nicht ständig die schweren Kiepen schleppen zu müssen. Ob er den defekten Handwagen je wieder zum Laufen bringen werde, stand in den Sternen. Vielleicht konnte er im nächsten Ort Schläuche und Reifen kaufen. Bis dahin blieb das marode Gefährt in der Ecke stehen.
Urs grinste. Dass es den nächsten Ort überhaupt noch gab, verrieten ihm die Kirchenglocken, die er bei günstigem Wind hören konnte. Während die im nächsten Ort sicher keine Ahnung hatten, dass es ihn noch gab. So wie er deren Schornsteine nicht rauchen sehen konnte, war es umgekehrt bestimmt genau so. Ob sie ihn heimlich beobachteten, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch herzlich wenig.
Karli gab ein schmetterndes „Mähähäääääää“ von sich, als wolle er kundtun, dass ihm andere auch an seinem fellbedeckten Hintern vorbei gingen.
Urs streichelte seine Rasselbande, beendete die Arbeiten in der Scheune und trollte sich in seine warme Küche, die im Augenblick der einzige beheizte Raum war. Sorgfältig wählte er die Kräuter für seinen Abendtee aus, spähte in die Speisekammer, stellte fest, dass er sich auch wieder einmal ein Stück Schüttelbrot gönnen könne, und steckte schließlich die hochgelegten Füße behaglich dem Herdfeuer entgegen.
Großvater hatte das auch so getan, aber dazu noch geruhsam sein Meerschaumpfeifchen geraucht. Dem Rauchen hatte Urs nie etwas Gutes abgewinnen können, genau wie maßlosem Trinken, und so war es kein Wunder, dass die Zufriedenheit mit in seinem Haus zu wohnen schien. Großmutter hatte im Winter Schafwolle versponnen und später für alle warme Socken, Handschuhe und Mützen gestrickt. Oh, wie hatte das manchmal auf der Haut gejuckt! Sein Vater schaffte später vier Ziegen an und borgte sich jedes Jahr einen Bock zum Decken, weil er den penetranten Gestank nicht immer um sich haben wollte. Urs hätte Karli jedenfalls nicht mehr hergegeben, egal wie streng er roch.
Als der Winter den Scheitelpunkt überschritten hatte, bemerkte Urs, dass beide Geißen rundlich wurden. Dann war es irgendwann nicht mehr zu übersehen, dass sie trächtig waren, denn Breite und Länge ihrer Körper nahmen sich nicht viel. Er erinnerte sich, dass die elterlichen Ziegen immer nur ein Junges bekommen hatten und ein Fest gefeiert wurde, als es einmal Zwillinge waren. Bei Klassenkameraden hatte er sogar erlebt, dass drei Zicklein von einem Muttertier zur Welt kamen.
Klassenkameraden ... Urs schürzte die Lippen, als er an seine Schulzeit dachte. Die ganze Woche im Internat und nur am Wochenende bei der Familie. Er hatte es gehasst. Ein besser betuchter Vater fuhr ihn freitags immer mit dem Geländewagen nach Hause und brachte ihn sonntags wieder zurück ins Internat. Soweit sich Urs erinnern konnte, wurde er dafür in Naturalien bezahlt, was hieß, er bekam wagenradgroße Laibe Ziegenkäse.
Als Urs endlich eine Lehre als Schreiner begonnen und wirklich Spaß daran hatte, störte es ihn kaum noch, nur Samstag und Sonntag zu Hause zu sein. Kam er Freitagabend heim auf seinen Berg baten ihn alle um kleine und große Reparaturen. Es war eine schöne Zeit gewesen. Man hatte seine Gesellenfreisprechung feuchtfröhlich gefeiert, tausend Pläne gemacht, weil er gern Meister werden wollte ...
Urs zog die Nase hoch. Es war einmal. Es war auch einmal, dass er ein Moped hatte, auf dem er rasch von A nach B gekommen war. Dessen Reste hatte er noch nicht gefunden. Vielleicht war es ja sogar ins Tal gestürzt und das tosende Frühjahrswasser hatte es mitgerissen. Er zog den Schub des Küchenschrankes auf, nahm das Portmonee heraus und betrachtete wehmütig seinen Führerschein. In ein paar Tagen würde er 25 werden. Ein Geburtstag, den er mit seinen Ziegen auf jeden Fall feiern wollte.
Urs strich mit den Fingerspitzen über seinen Gesellenbrief. Nicht ohne Stolz. Er hatte viel gelernt und war so in der Lage gewesen, ganz allein das Haus wiederzuerrichten, sich Möbel zu fertigen und die Scheune zu bauen.
Eine Woche später begann es zu tauen. Die Ziegendamen wurden unleidlich, weil sie sich nicht zum Werfen ihrer Zicklein verstecken konnten, wie es arttypisch gewesen wäre. Urs ließ sie deshalb in der Scheune frei laufen. Mochte sich jede ein passendes Plätzchen suchen. Karli suchte indes Urs‘ Nähe, sodass der ihn einmal sogar mit in seine Küche nahm. Nicht wirklich alltagstauglich, weil der Bock schneller über Tische und Stühle sprang, als Urs bis drei zählen konnte.
„Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man den Bock zum Gärtner macht“, grinste Urs.
„Mähähäääääää!“ Selber schuld, sollte das sicher heißen.
Irgendeiner von Karlis Vorfahren musste wohl ein Hund gewesen sein, meinte Urs mit lustig verdrehten Augen. Der trottete nämlich ständig hinter ihm her. Also erließ er ihm die Kette, weil ziemlich sicher war, dass der Bock abends freiwillig zum Haus zurückkommen werde. Ein hoher Weidezaun wäre nicht übel, überlegte Urs, dies auf seine Wunschliste für die Zukunft setzend.
Als Karli am nächsten Morgen jämmerlich meckernd vor der Haustür stand, machte sich Urs auf alles Mögliche gefasst. Mit einer angenehmen Überraschung hatte er nicht gerechnet. Die stille Trudi hatte Zwillinge geboren und die Kleinen staksten auf wackeligen Beinen durch die Scheune. Urs füllte die Futterraufe auf, schmolz Schnee für den Wassertrog und freute sich buchstäblich tierisch über den Zuwachs seiner Herde.
Trine setzte, wie immer, noch eins oben drauf, um Trudi zu übertrumpfen. Sie gebar einen Tag später drei kerngesunde Zicklein. Urs blieb den halben Tag in der Scheune, um zu schauen, dass auch wirklich jedes von ihnen Milch bekam. Diva Trine war eine fürsorgliche Mutter und wahrscheinlich die Ziege, welche die meiste Milch für den zukünftigen Käse liefern werde. Eines der Kleinen bekam immer seine Ration, wenn die anderen getrunken hatten, wurde aber dennoch satt. Urs konnte sich beruhigt wieder den Arbeiten auf dem Hof widmen.