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Impressum:
© Copyright 2020 Anke von Platen
Alle Inhalte, insbesondere Texte, Skizzen und Tabellen sind urheberrechtlich geschützt.
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Konzeption, Text und Skizzen: Anke von Platen
Layout Buchumschlag: Andrea Lüpke
Porträtfoto: privat
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7519-2943-1
Laufen ist nicht alles. Doch ohne Laufen ist alles nichts – zumindest für mich. Laufen gehört für mich zum Leben und zu meinem Lebenslauf dazu. Mein Leben ist besser, wenn ich drei- bis viermal in der Woche meine Runden drehe. Die Bewegung strukturiert meine Gedanken und mein Leben.
Beim Laufen bin ich ganz bei mir. Gleichzeitig fühle ich mich sehr verbunden mit mir und allem um mich herum: mit meinem Körper, mit der Natur, mit meinen Mitläufern. Ich bin eins mit der Welt. Es ist die eine Sache für mich persönlich, die alles andere in meinem Leben leichter macht. Beim Laufen bewege ich mich nicht nur körperlich. Sondern auch mental. Ich bekomme einen gesunden Abstand zu Gedanken und Emotionen. Nach einem Lauf bin ich ausgeglichener und gehe dann leichter, selbstbewusster und fröhlicher in den Kontakt mit meinem Umfeld.
Laufen ist einfach und braucht nicht viel. Technische Ausrüstungen sind ein netter Schnickschnack, doch letztlich ist der Kern eine einfache Bewegung: Schritt für Schritt sich nach vorne bewegen. Laufen ist pur.
Das Laufgefühl lügt nicht. Wie ich laufe, spiegelt meine aktuelle Lebenssituation, meinen Energielevel sowie meine Einstellung wider. Ich spüre körperlich, wie ich mich selbst durch mein Leben führe, wie ich durch mein Leben gehe. Ob ich schwerfällig bin. Ich merke, was mich motiviert – brauche ich ein Ziel, einen Wettkampf, messe ich mich gerne oder freue ich mich am Prozess?
In schwierigen Phasen strukturiert mich mein Hobby. Egal, wie schlimm eine Phase oder auch nur ein Tag ist, ein paar Kilometer in Laufschuhen sind für mich die beste Therapie. Gleichzeitig ist ein stundenlanger, einsamer Lauf für mich die schönste Belohnung.
Laufen verkörpert für mich Leben. Zwischen Laufen und dem Arbeitsleben gibt es viele Parallelen, zum Beispiel:
Ich liebe langes Laufen, lange Strecken. Ab zwanzig Kilometer macht es mir erst richtig Spaß. Auch im Arbeitsleben geht es um Ausdauer. Beide Aktivitäten benötigen Energie – körperlich und psychisch. Den Energiestoffwechsel optimieren ist ein großes Ziel im Marathontraining. In der Zusammenarbeit ist eine positive Energie in den Beziehungen wichtig. Bei beiden Themenkomplexen kommt es auf die Haltung an. Die Laufhaltung wirkt sich direkt auf das Laufgefühl, die Effektivität und Geschwindigkeit aus.
Mit welcher Haltung ich im Arbeitsleben kommuniziere, beeinflusst unmittelbar die Stimmung und Zusammenarbeit in meinen Beziehungen. Bei beiden Themenkomplexen geht es sowohl um die innere, psychische Einstellung als auch die physische und körperliche Haltung. Beide Faktoren beeinflussen sich wiederum gegenseitig.
Auf den Aspekt der Laufhaltung bin ich vor knapp zwei Jahren aufmerksam geworden. Seitdem fasziniert mich, wie komplex und gleichzeitig einfach das Thema ist. Seitdem reflektiere und verbessere ich meine Haltung nicht nur läuferisch, sondern auch persönlich sowie beruflich. Das war zum Teil erschreckend, traurig und schmerzhaft. Gleichzeitig klärt, stärkt und erleichtert mich dieser Prozess. Parallel beschäftige ich mich intensiv mit zwei Themen aus der heutigen Arbeitswelt: Agilität und New Work.
Zum Laufen und zum neuen Arbeitsleben gibt es bereits viele Bücher, zum Beispiel welches Mindset nun gefragt ist, wie agile Führung geht oder wie wir die Laufhaltung mit Lauf-ABC-Übungen verbessern. Braucht es dieses Buch überhaupt? Wozu schreibe ich dieses Buch? Was ist meine Motivation?
Irgendwann dachte ich bei meinem Entwicklungsprozess: Das, was ich hier gerade mit mir erlebe, ist symptomatisch für den Wandel der Arbeitswelt. Für den wirklich inneren Wandel im Menschen. Ich selbst lerne am meisten durch ehrliche, biografische Geschichten. Ich glaube daran, dass persönliche und emotionale Erfahrungen wertvoller sind als Theorien und Modelle. Also entstand die Idee, meinen Prozess aufzuschreiben. Zugleich werde ich klarer in meinem Nachdenken über Themen, wenn ich darüber schreibe.
Und: Ich glaube daran, dass wir ein so theoretisches Thema wie die Haltung am besten begreifen, wenn es eine körperliche Verbindung hat. Abschließend habe ich einfach keine Lust, mich zu verbiegen und anzupassen und ein theoretisches Buch zu schreiben.
Was kannst du in diesem Buch erwarten? Du kannst das Beste von mir erwarten. Am besten skizziere ich Bilder, die komplexe Sachverhalte sehr einfach und dennoch tief sowie vielschichtig darstellen. Du bekommst ein Bild zum Wandel der Arbeitswelt und wieso wir eine neue Haltung benötigen. Das Bild hilft dir sofort, dich zu verorten.
Darüber hinaus liebe ich es, Geschichten zu erzählen und damit Menschen zu berühren und zu bewegen. In meinen letzten zwei Büchern erzählte ich über eine fiktive Person – in der natürlich ganz viel über mich drin war.
In diesem Buch erzähle ich wirklich von mir. Denn wenn ich über Haltung schreibe, muss ich über Laufen schreiben. Und wenn ich über Laufen schreibe, muss ich über mich schreiben. Du erfährst meine sehr persönliche Geschichte über meine Haltungsänderung. Sprich: Wie fühlte es sich für mich an? Was bedeutet eine gute Haltung für mich? Damit möchte ich die Lücke zwischen den vielen Theorien, Modellen, Buzzwords und der menschlichen Praxis schließen. Meinen individuellen Transformations- und Erfahrungsbericht erweitere und vertiefe ich fachlich, wo es mir sinnvoll erscheint. Ich habe mich sehr bewusst entschieden, all meine Erfahrung und mein Wissen so zu teilen. Ich bin überzeugt, dass dies zeitgemäßer und ermutigender ist, als es für mich zu behalten.
Das Buch ist für mich ein erster Abschluss meines Entwicklungsprozesses sowie einer thematischen Auseinandersetzung mit dem Thema Haltung. Als Leser oder Leserin gehst du mit mir auf diese Reise. Und wie immer auf einer Reise sieht jeder etwas anderes. Daher liefere ich keine fertigen Antworten oder Lösungen. Das ist nicht mein Anspruch. Schau dir die Themen an. Reflektiere dich ehrlich. Wenn du magst, finde deine Antworten auf die Fragen, die ich mir stelle.
Ein Marathon ist 42,195 Kilometer lang. Die Strecke gilt als Königsdisziplin unter den Läufern. Als ich mit dem engagierteren Laufen vor mehr als zwanzig Jahren anfing, dachte ich noch nicht an diese Distanz. 2005 lief ich das erste Mal einen vollen Marathon. Seit dieser Zeit lässt mich das Thema nicht mehr los.
Was fasziniert mich? Es ist die Herausforderung. Am Anfang eines Trainingsplan ist es unvorstellbar, so eine lange Strecke zu laufen. Ich mag es, körperlich und psychisch fit zu sein. Für mich sind das Training und der Marathon selbst eine grandiose Lernerfahrung, wie Kopf und Körper zusammenspielen – oder nicht. Beim Marathon und bei seiner Vorbereitung lerne ich mich sehr gut kennen. Ich bewege mich dabei auf mich zu – anstelle von mir wegzulaufen. Übergeordnet ist die Frage Energie beziehungsweise die Energieeinteilung das, was ich spannend finde. Wie setze ich meine Energie bestmöglich auf allen Ebenen ein, damit ich gut ins Ziel komme?
„Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du dein Leben verändern willst, lauf einen Marathon.“ Mit diesem Zitat der Lauflegende Emil Zatopek steige ich oft in Veränderungsworkshops ein. „Was haltet ihr davon?“, frage ich die Teilnehmer. Für viele sind der Begriff Marathon und die damit verbundene Vorstellung abschreckend und weit weg von ihrer Lebensrealität. Sie verbinden das mit Quälen, „schaffe ich nie“, ein Marathon bedeutet, viel Training und es nicht schaffen zu können.
Recht schnell drehen die Diskussionen sich dann um die Parallelen zum eigenen Leben: „Das ganze Leben ist ja ein Marathon, sogar noch länger“, oder: „Ein Marathon ist endlich, manche Lebensprojekte enden nie!“ „Das ganze Leben ist doch Veränderung. Es geht doch darum, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Eine Meile nach der anderen – und irgendwann bist du dann am Ziel.“ Diese Diskussionen genieße ich sehr. Insbesondere, wenn ich beobachte, wie sich die Gespräche von „das ist viel zu anstrengend“ hin zu „ich bin auch in einem Marathon“ dreht. Die Gestik und Haltung verändern sich von zweifelnd und abwehrend hin zu selbstbewusst.
Ich bin überzeugt, dass wir alle einen Marathon bewältigen, auch wenn wir ihn nicht laufen. Jeder Mensch ist in seinem Lebensweg unterwegs und hat ein persönliches Marathonprojekt. So ist der Marathon nicht nur eine Laufstrecke. Es ist ein Lebensmotto.
Zum Marathontraining und zum eigentlichen Wettlauf gehören Faktoren, die ich auch im restlichen Leben wiederfinde. Zunächst ist ein Ziel wichtig, was zu mir und meinen Voraussetzungen passt. In der Vorbereitung gilt es, die Basics richtig zu machen. Das mehrmonatige Training ist auf den ersten Blick meist undramatisch. Ein langer Lauf am Wochenende. Zwei bis drei schnellere Einheiten in der Woche. Es ist ein Rhythmus. Konstanz ist wichtiger als aufregende und megamäßig tolle Trainings mit Bestzeiten. So ist es auch im übrigen Leben. Das meiste ist alltäglich und rhythmisch. Schlafen, essen, arbeiten, essen, schlafen. Dazwischen laufen. Es ist an mir, wie ich das bewerte. Ich entscheide mich meistens für eine positive Bewertung. Ein rhythmischer, strukturierter Alltag beruhigt mich. Der Marathon ist die Belohnung für diesen Alltag – die Aufregung, die Gänsehaut, die Zuschauer. Genauso wie es im sonstigen Leben besondere Tage und Momente gibt, auf die wir hin fiebern und uns vorbereiten.
Im Herbst 2004 laufe ich bei einer Marathonstaffel in Frankfurt am Main mit. Ich weiß noch, wie begeistert ich von der Stimmung und dieser besonderen Atmosphäre bin. Seit diesem Tag bin ich infiziert. Im Frühjahr 2005 laufe ich direkt meinen ersten Marathon in Mainz in 4:00:27 Stunden. Eine sehr gute Zeit. Dennoch, die 28 Sekunden, die mich von einer 3 in der Zielzeit trennen, fuchsen mich.
So habe ich gefühlt immer eine Rechnung mit dem Marathon offen. Es dauert dreizehn Jahre, bis ich das Projekt wieder angehe. In dieser Zeit laufe ich, doch für eine gute Vorbereitung fehlen mir der Kopf und die Zeit. Das Leben mit diversen Jobwechseln, Selbstständigkeit, Umzügen und meiner großen Liebe, meinem Ehemann Christian, kommt zum Glück dazwischen. Zudem zwingen mich zwei Bandscheibenvorfälle in die Waagerechte. Ende 2016 liege ich wochenlang mit Schmerzen auf dem Sofa und träume vom Gehen und Laufen. Im März 2017 bin ich endlich wieder schmerzfrei. Am Strand von Domburg, in den Niederlanden, laufe ich ein paar Schritte, nur dreißig Meter, und bin so glücklich! Es folgt ein langsamer Aufbau. Ich verspreche meinem Körper, dass ich mit ihm zusammen lebe, laufe und arbeite – statt gegen ihn. Beste Ernährung, fast tägliches Stabilisations- und Stretchingprogramm und Ruhephasen gehören zum Programm. Das empfinde ich meistens als selbstverständlich und als Wertschätzung meines Körpers – selten als Pflicht. Er dankt es mir mit viel Energie, Gesundheit und Freude am Laufen. Im Sommer schaffe ich bereits wieder zehn Kilometer am Stück. Im September starte ich überglücklich bei meinem liebsten Halbmarathon – dem Rübenlauf. Nach 1:51:30 Stunden komme ich noch glücklicher ins Ziel, denn ich habe meine Bestzeit von 2005 um ein paar Sekunden verbessert. Euphorisch fahre ich nach Hause. Ein paar Tage später beschließe ich: Ich will nächstes Jahr den Hannover Marathon laufen. Kurz vor Weihnachten startet die sechzehnwöchige Vorbereitung. Die Woche vor dem Marathon bin ich voller Energie. Ich fokussiere mich mehr als sonst darauf, positiv zu denken. Selbstzweifel werden sofort entsorgt. Ich bin so produktiv wie selten. Kann das nicht immer so sein?
Am Tag vor dem großen Lauf heißt es: Beine hoch, Lieblingsmusik hören, viel trinken, viel essen, Selbstbewusstsein stärken. Mittags hole ich meine Startunterlagen ab. Ich mag die kribbelige Stimmung unter uns Läufern. Gleichzeitig steigt damit die Nervosität – bald geht es los. Nachmittags liege ich in der Sonne, schaue mir alle Trainings an und spüre, dass ich super gut trainiert habe. Visualisiere mit der inneren Laufmusik-Playlist die 42 Kilometer und meinen inneren Leitgedanken. Christian kommt am späten Nachmittag von einer Dienstreise zurück. Wir essen noch ein paar Nudeln, und dann geht es früh ins Bett.
Dann, am 8. April 2018, ist es so weit. Ich laufe meinen zweiten Marathon. In meiner Heimat Hannover. Ein großer Tag. Ausgeschlafen wache ich um 6:00 Uhr auf. Fahre mit der U-Bahn in die Innenstadt. Verlaufe mich auf dem Weg zum Start und komme mit einem Pacemaker ins Gespräch. Wozu diese Mitläufer bei einem Marathon wichtig sind, erkläre ich etwas weiter hinten. Er ist eigentlich Ultraläufer und läuft längere Strecken als den Marathon. Heute will er ganz entspannt 4:15 Stunden laufen. Mich entspannt es, mit ihm zu reden und aus meiner inneren Nervositätswolke herauszukommen.
Dann treffe ich Michael, einen Laufkameraden aus meinem Lauftreff. Wir sitzen ein paar Minuten gemeinsam im Rathaus angemessen nervös beieinander. Also ich bin nervös. Er nicht. Es ist schon fast dreißig Marathons gelaufen. Wir beobachten die anderen, sehen die vielen Pacemaker, machen ein Bild für unsere WhatsApp-Gruppe vom Lauftreff. Er weiß, welchen Leidensweg ich mit meinem letzten Bandscheibenvorfall hatte, und meint zu mir: „Du hast doch schon gewonnen, du bist gesund am Start!“
Ja. So ist es. Es ist ein großes Geschenk, hier am Start zu sein. Dieses Geschenk habe ich mir selbst, vor allen Dingen meinem Körper gemacht. Ich habe ihm versprochen: Ja, Körper, ich werde auf dich hören. Ich unterstütze dich, du unterstützt mich, wir laufen diese 42,195 Kilometer zusammen statt gegeneinander.
Vieles packe ich in das Geschenk, das wir jetzt gemeinsam auspacken können. Regelmäßige Physiotherapie. Mindestens zweimal die Woche zu Hause auf der Matte Rumpf- und Bauchmuskeltraining. Zum Schluss fast tägliches Mentaltraining: Was denke ich in vier Stunden? Was werde ich in einer Schwächephase denken? Welche inneren Motivationen habe ich parat? Wie verpflege ich mich? Worauf freue ich mich? Und vor allen Dingen: Wozu mache ich das, wozu laufe ich?
Ich bin also bestens vorbereitet, und an sich brauche ich an dem Tag das Geschenk nur auspacken. Ich habe alles dabei. Es kann mir nichts passieren.
Voller Dankbarkeit stehe ich um 8:45 Uhr im Startblock mit 3.000 anderen Marathonis. Obwohl wir uns nicht kennen, sind wir verbunden. Durch das gemeinsame Ziel, dieselbe Strecke, die vor uns liegt, den Respekt und die Demut vor der mythischen Distanz und die mehrmonatige Vorbereitung.
Die Musik ist laut. Wir Läufer tippeln nervös auf der Stelle. Die letzten Sekunden zählen wir gemeinsam herunter. 10, 9, 8, … und los. Ein Marathonstart ist ein grandioser und besonderer Moment, der mir auch in der Erinnerung Tränen in die Augen treibt. Endlich geht es los! Laute Musik, viele jubelnde Zuschauer, Sonnenschein, vierzehn Grad, Windstille – perfekt!
Die ersten Kilometer gebe ich mir Zeit, mein Tempo zu finden. „Ich bin im Flow“ ist mein inneres Mantra. Langsamer, als du meinst und als du kannst – das ist das oberste Gebot. Denn sonst sind die Energiespeicher zu schnell leer, und das böse Ende kommt viel früher als geplant. Mit einem Tempo von 5:26 Minuten pro Kilometer pendele ich mich ein. Thomas, ein Bekannter aus Hildesheim, überholt mich nach drei Kilometern am Maschsee. Er will mich mitziehen auf eine Zielzeit von 3:45 Stunden – ich lehne lächelnd ab. Das ist mir zu schnell. Wenn es richtig perfekt läuft, könnte ich eine 3:50 Stunden laufen. Jetzt ist jedoch erst einmal Vernunft angesagt. Nicht mitreißen lassen, das eigene Tempo finden. Was macht mein Körper? Er zwickt. Die Oberschenkel sind jetzt schon angestrengt, und mein rechter kleiner Zeh fühlt sich so an, als ob er einen Dauerkrampf hat. Was soll das? Ich konzentriere mich mental auf etwas anderes und kategorisiere diese Symptome als Nervosität ab – geht bestimmt vorbei.
Nach zehn Kilometern verlangsame ich bewusst ein paar Sekunden, weil es immer wärmer wird. Das hatte ich in irgendeinem Blogbeitrag gelesen. Ich möchte auf Nummer sicher gehen und mir meine Kraft einteilen. Das klappt sehr gut. Ein anderer Bekannter, Kaspar, überholt mich fröhlich winkend kurz danach. Wow, das sieht sehr flott und sportlich aus! Nach ein paar Worten ist er weg. Ich bin weiter in meinem Flow.
Es läuft, und läuft, und läuft. Bis Kilometer 25 bin ich sehr gut im Plan. Die Temperaturen sind über Plan. Wir haben jetzt schon locker zwanzig Grad. Ich nehme mir mehr Zeit bei den Getränkestationen. Gehe, schütte mir Wasser über Kopf und Nacken. Ein Kollege meines Mannes ruft mir im Stadtpark Eilenriede etwas zu. Ich erkenne ihn erst auf den zweiten Blick, so sehr bin ich in meinem Tunnel.
Kurz danach kommt der Emmichplatz und der Stadtteil List. Die Strecke der Marathonis wird mit der der später gestarteten Halbmarathonis zusammengeführt. Eine extrem laute Musikstation gibt ihr Bestes. Mein Gott, ist das cool! Ich muss einfach schneller laufen! Kurz danach, bei Kilometer 28 sehe ich Kaspar gehend am Straßenrand. „Habs verzockt, Anke, war zu schnell. Du hast alles richtig gemacht, weiter so!“ Eine ähnliche Szene vier Kilometer später. Thomas unterhält sich auch mit dem Mann mit dem Hammer. Dieser schlägt zu, wenn wir das Tempo am Anfang zu hoch ansetzen, zu wenig Grundlagenausdauer trainiert haben oder doch ein Infekt im Körper ist, den wir nicht bemerkt haben. Ich möchte den Kumpel heute nicht treffen. Und es läuft immer noch bei mir. Nach knapp 33 Kilometern biegen wir Marathonis noch mal für vier Kilometer von der Hauptstrecke ab. Dieses Stück in Hannover Vahrenwald ist ohne viele Zuschauer eine echte mentale Herausforderung. Die Sonne knallt. Ich laufe einfach. Immer noch im Tempo von 5:30 Minuten pro Kilometer und sammle Läufer für Läufer ein. Das tut gut!
Die letzten vier Kilometer, wieder zusammen mit den anderen, sind hart und verdammt warm. Es wird ein Wechsel zwischen Laufen und Gehen an den Verpflegungen. Mein Körper signalisiert: Mach keinen Quatsch, sei vernünftig und gib mir Wasser! Ständig schaue ich auf die Uhr und weiß: Es ist alles noch im grünen Bereich. Die Pausen kosten zwar Zeit, doch keine Pausen würden mich vielleicht noch viel mehr kosten. Mein Mentaltraining läuft auf Hochtouren. Ich stelle mir vor, dass ich ins Ziel gezogen werde. Denke an mein Zielbild, dass eine 3 bei meiner Zielzeit steht, und ich lächle.
Noch knapp drei Kilometer. Meine Beine tun einfach nur weh. Doch die Schmerzen vertröste ich auf später. Ich will jetzt einfach nur ins Ziel und mich hinsetzen. Egal in welcher Zeit. Hauptsache aufrecht, lächelnd und gesund. Zu viele habe ich an der Strecke gesehen, die nicht mehr gesund aussahen. Zu viele Krankenwagen fuhren an mir vorbei. Ich habe diese Szenen so gut es ging ausgeblendet und einfach nur nach vorne geschaut.
Ich entdecke Freunde circa einen Kilometer vor dem Ziel. Sie jubeln mir zu: „Du schaffst das, du siehst gut aus!“ – das pusht mich enorm! Ja, ich schaffe das! Und meine Physiotherapeutin ist 200 Meter vor dem Ziel auch da und sieht mich, schreit, und ich erkenne sie und freue mich so sehr! Ich kann die Arme noch jubelnd hochreißen und lachen. Und dann endlich. Im Ziel. Geschafft. Mit einem Lächeln. Und dann auch noch in 3:57:30 Stunden. Bei der Hitze. Es sind bestimmt 25 Grad.
Ich habe es wirklich geschafft. Unglaublich. Im Ziel humple ich zu den Getränken. Kurzer Schnack und Umarmungen mit anderen Marathonis, die in meiner Nähe gelaufen sind. „Du warst so schnell und hast mich gezogen – danke!“, sagt ein Unbekannter und doch so Verbundener zu mir. Schön! Im Schneckentempo hole ich meinen Kleidersack ab, ziehe ein paar trockene Sachen an, setze mich in die Sonne und rufe Christian an. Ich erreiche ihn nicht und hinterlasse ihm eine Nachricht mit gerührter Stimme. Tränen der Freude und Erleichterung fließen.
Nach zehn Minuten Ausruhen auf dem Rasen möchte ich nicht mehr alleine sein. Ich schleiche meinen Laufkumpels aus dem Lauftreff entgegen, die den Halbmarathon heute gelaufen sind. Jeder hat seine Geschichte dazu erlebt – mit Bestzeit, Hitzeproblemen und blauen Zehen. Egal, Hauptsache wir sind alle gesund im Ziel. Wir entscheiden uns gegen ein gemeinsames Bier und Bratwurst. Irgendwie wollen wir alle nach Hause und uns bei dem Wetter in die Sonne legen. So komme ich eine Stunde später zu Hause an. Und bin glücklich und fertig. Erzähle alles Christian. Er ist bei den eigentlichen Wettkämpfen nie physisch dabei. Und das ist für mich wirklich okay. Während ich bei den Wettkämpfen laufe, bereitet er zu Hause den Grill und das Essen vor. Viel wichtiger als die paar Sekunden an der Strecke ist mir, dass er mich laufen lässt, mich so akzeptiert und unterstützt, wie ich bin. Nicht nur beim Marathon und dem Training, sondern auch in meinem gesamten Leben.
Mit dem Marathon in Hannover endet ein Lauf- und Lebensabschnitt für mich. Denn parallel gebe ich mein drittes Buch in den Druck. Zeit zum Feiern und Durchatmen. Doch es ist nie zu Ende.
Nach dem Marathon ist vor dem Marathon. Nach dem Projekt ist vor dem Projekt.
Marathonmodus