Die Alpenregion war immer ein Gebiet, welches von verschiedenen Richtungen künstlerisch beeinflusst wurde: von Frankreich gelangte die Gotik über die Alpen nach Italien, von dort zog die Renaissance siegreich nach Norden, und mit Wien besitzt Österreich eines der Zentren von Jugendstil und aufkommender Moderne. Zusätzlich war und ist die sakrale Kunst bis heute im Alpenraum stark vertreten; jeder noch so kleine Ort und viele entlegene Täler besitzen Kapellen mit hochwertiger künstlerischer Ausstattung.
Vor allem mittelalterliche Wandmalereien höchster Qualität haben sich bis heute erhalten, man denke nur an den Dom zu Gurk, St. Georgen in Judenburg, den Dom zu Wiener Neustadt oder St. Andrä in Thörl-Maglern. Einer der großen spätmittelalterlichen Meister stammt übrigens aus Österreich: der „Meister von Schöder“, der das Himmlische Jerusalem mehrmals dargestellt hat. In der Renaissance kamen dann Gerichtsbilder auf, also fromme Malereien, die im Gerichtssaal hingen und die Richter, Zeugen, Anwälte, Kläger und Beklagte auf das Jüngste Gericht verweisen sollten. Eindrucksvolle Beispiele aus Tirol und Basel haben sich erhalten. Das bekannteste Meisterwerk aus dem Alpengebiet ist freilich die Illustration der sogenannten „Zwinglibibel“. Von Zürich aus wurde das Himmlische Jerusalem von Hans Holbein in der ganzen Welt bekannt; es gibt zahlreiche Varianten und Kopien. Der zweite große schweizerische Künstler ist Tobias Stimmer, dessen Kupferstiche zum Himmlischen Jerusalem zu den besten Arbeiten überhaupt zählen.
Immer wieder haben italienische Meister den Alpenraum beeinflusst, davon zeugen Giovanni Canavesio, Carlo Nuvolone und Antonio Nuvolone. Umgekehrt waren viele schweizerische und österreichische Künstler für Monate und Jahre in Italien, wie Urban Görtschacher oder der bereits genannte Stimmer.
Im 20. Jahrhundert waren es vor allem Glasfenster, die das Jerusalemmotiv bekannt machten. Zu nennen sind hier Künstler wie Oswin Amann, Albert Birkle, Robert Wehrlin, Max Hunziker, Heinrich Bruppacher, Florian Froehlich, Carl Unger, Renate Ivan oder Walter Loosli. Doch auch alpenländische Maler haben im 20. Jahrhundert das Motiv gerne aufgenommen und, zum großen Teil in Kirchen und Kapellen, Beiträge geliefert: Johannes Hugentobler, Maria Hafenscheer, Jakob Häne, Ferdinand Gehr, Harold Reitterer, Regula Johanna Johanni, Peter Deibler, Serge Mercerat, Arthur Volken, Rudolf Anton, Jutta Katharina Kiechl, Johanna Bair und Ingrid Stern sind nur eine Auswahl der besten Namen, deren Werke hier ausführlich präsentiert werden.
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Die Stiftsbibliothek Heiligenkreuz verwahrt den Codex „Rupertus abbas Tuitensis: Expositio in Apocalypsim“ (MS 83). Dahinter verbirgt sich ein Apokalypsekommentar des Abtes Rupert von Deutz.
Rupert von Deutz, auch Rupertus Tuitensis (um 1070 – 1130) war ein Exeget und Liturgiekommentator. 1120 wurde er Abt des Klosters St. Heribert in Deutz bei Köln, wo er auch verstarb. Im Laufe seines Lebens verfasste Rupert von Deutz viele Kommentare, von denen diejenigen zum Hohelied und zur Apokalypse besonders der christlichen Mystik nahe standen. Die Ausgabe in Heiligenkreuz entstand zwischen 1150 und 1175, also lang nach seinem Tod.
Zwei der Initialen zeigen das Himmlische Jerusalem. Auf Bild 1 ist auf fol. 38r ein Initial zum Buchstaben Q zu sehen: Christus steht im weit geöffneten Stadttor und ruft Johannes zu „Komm herauf!“ (Spruchband links von der Figur). Die dahinter befindliche Architektur mit einer zentralen Mittelkuppel und zwei Seitentürmen gleicht allerdings mehr dem Tempel Salomons als dem Himmlischen Jerusalem. Das gilt auch für das Initial zum Buchstaben M auf fol. 177r (Bild 2), welches bereits Gerettete innerhalb der Stadt zeigt. Zwischen den Kuppeln und Türmen findet man die Köpfe von sechs nimbierten Heiligen. Im Vordergrund sind drei beschlagene Türen zu sehen, die geschlossen sind.
Peter K. Klein: Rupert de Deutz et son commentaire illustré de l’Apocalypse à Heiligenkreuz, in: Journal des Savants, 1, 1980, S. 119–140.
Andreas Fingernagel: Die Heiligenkreuzer Buchmalerei von den Anfängen bis in die Zeit ‚um 1200’, 2 Bdd., Wien 1985.
Hubert Silvestre: Rupert von Deutz, in: Rheinische Lebensbilder, 11, 1988, S. 7–35.
Andreas Fingernagel: Mainz oder Heiligenkreuz? Zur romanischen Buchmalerei im niederösterreichischen Zisterzienserstift Heiligenkreuz, in: Peter Jörg Becker (Hrsg.): Scrinium Berolinense, Wiesbaden 2000, S. 43–56.
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In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde St. Georgen ob Judenburg als Saalkirche mit Ostturm angelegt und um 1450 im Osten durch Hinzufügung von Chor und Sakristei vergrößert. Stilistisch ist der romanische Gründungsbau dem Typus der Chorturmkirche mit eingezogenem Chorraum in Quadratform zuzurechnen, eine Bauform, welche in der Steiermark mit Beispielen aus dem 12. und 13. Jahrhundert vertreten ist.
Eine Besonderheit von St. Georgen sind die im Zuge der Innenrenovierung von 1987 bis 1989 freigelegten und restaurierten Wandmalereien im Turmquadrat der Kirche. Es handelt sich dabei um eine der wenigen vollständigen Ausstattungen eines Raumes aus dem 13. Jahrhundert in Österreich. Sie umfassen neben der Darstellung der Kirche, den Evangelisten, Aposteln, Propheten und 20 Szenen aus der Georgslegende auch das Neue Jerusalem.
Im Zentrum des Deckengewölbes findet man Christus, um den sich, in Arkaden mit unterschiedlichen Säulen, zwölf Apostel scharen. In der darunter liegenden Zone sieht man etwas von der Außenseite der Gottesstadt: Vor blauem Hintergrund sind Tore, Fensterscharten, Giebel und Türme aneinandergereiht, dazwischen Propheten, die Könige David und Salomon. Diese Personen sind durch ornamentierte Säulen voneinander getrennt. Dahinter erscheinen hohe Türme oder Paläste, die von Zinnen bekrönt sind, jeweils individuell ausgestaltet und farblich voneinander abgegrenzt.
Der Erhaltungszustand der Malerei ist schlecht. Aus diesem Grund hat vor einigen Jahren das Institut für Mikrobiologie der Universität Wien Proben aus den Wandmalereien untersucht. Dabei konnte in diesem Himmlischen Jerusalem eine bisher unbekannte zerstörerische Bakterienart entdeckt werden. Die neue Gattung wurde nach dem Entdeckungsort benannt und hat als Georgenia muralis in Publikationen der Bakteriologie Eingang gefunden.
Walter Brunner (Hrsg.): Pfarrkirche St. Georgen ob Judenburg, St. Georgen ob Judenburg 1989.