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© 2018 Hannelore Deinert
Herstellung und Verlag:
BoD Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN 978 3 7519 4731 2
Spätestens am 11. 11. ging der Spuk richtig los, von da an platzte die kleine Schneiderwerkstatt aus allen Nähten. Zugeschnittene oder halbfertige Fastnachtskostüme lagen stapelweise auf den Tischen und Stühlen, fertiggenähte hingen in offenen Schrankregalen auf Kleiderbügeln. Die Näh- und Spezialmaschinen surrten und ratterten von früh bis in die Nacht hinein, um den ausgefallenen Wünschen der Kundschaft pünktlich vor den verrückten Tagen gerecht zu werden. Neue Aufträge wurden schon lange keine mehr angenommen oder wurden, so es ging auf später verschoben.
Schneidermeisterin Mechthilde Köhler, sie nahm nach der Trennung von ihrem Mann ihren Mädchennamen wieder an, hatte in der Schneiderei des Darmstädter Landestheaters gelernt und lange dort gearbeitet, ihr war der Umgang mit einer exzentrischen Kundschaft durchaus geläufig.
Zwei Helfer standen ihr zur Seite, der junge Yusuf, ein Flüchtling aus Syrien, den sie trotz anfänglicher Sprachbarrieren schnell zum Zuschneider hatte anlernen können, und die Näherin Agnes, eine nicht sehr belastbare Mittfünfzigerin, die sich bei allzu großem Stress gerne mal ausklinkte, sprich krank meldete. Mehr Angestellte gab der kleine Betrieb nicht her, nicht etwa aus Mangel an Aufträgen, Mechthilde war für ihre zuverlässige, saubere Arbeit und ihre moderaten Preise bekannt, eher weil ihre gutbürgerliche Kundschaft in der Regel erst nach zweimaliger Erinnerung ihre Rechnungen beglichen. Schon mehrmals hatte Mechthilde wegen der teuren Stoffe und Accessoires, wie Pailletten, Perlen, Federn, Borden und so weiter, eine kleine Vorauszahlung erwägt, verwarf dies aber genauso oft wieder, weil sie befürchtete, ihre Kundschaft würde dafür kein Verständnis haben.
Schon früh im Jahr fing sie an Stoffe für die kommende Fastnachts-Saison zu kaufen, vor allem für die geplanten Kostüme, die an den Fastnachtsumzügen getragen werden sollten. Im Zuschneide-Raum wurden die entsprechenden Schnitte entwickelt, die Mechthilde dann mit Yusuf zusammen auf die Stoffe übertrug und von ihm zuschneiden ließ. Dann ratterten die Nähmaschinen, begleitet vom Dampfen und Zischen der Bügeleisen, den ganzen Tag und manche Nacht hindurch durchs Haus.
Es war Mitte Dezember geworden, als gegen Abend wieder eine Anprobe anstand. Pünktlich zur vereinbarten Zeit, um siebzehn Uhr, schrillte die Hausglocke, Mechthildes zwei Möpse liefen aufgeregt bellend und winselnd zur Haustür, und als Mechthilde eine junge Frau einließ, wurde diese von den Hunden stürmisch umsprungen. Erst als die Möpse ihre gewohnten Leckerlies und Streicheleinheiten von der Besucherin erhalten hatten, konnte auch Mechthilde ihre Kundin begrüßen, sie tat es sehr herzlich, beinahe familiär. Dann half sie Frau Heinrich, so hieß die Kundin, aus ihrer weißen, feinen Daunenjacke und hing sie auf einen Bügel in die kleine Garderobe.
Frau Heinrich, eine Stewardess, gehörte einer Dieburger Fastnachtsgruppe an, die sich „Die Globetrotter“, nannte. Schon seit vielen Jahren nähte Mechthilde für diese Gruppe die Kostüme.
Frau Heinrich kam, immer noch von den Hunden umtanzt, in die Werkstatt, wo Agnes sie begrüßte und ihr dienstbeflissen ein fertiges Kostüm überreichte.
„Es ist wirklich sehr gelungen, Frau Heinrich“, erlaubte sie sich zu erwähnen.
Frau Heinrich nickte gnädig, ging mit dem Kostüm in den kleinen Umkleideraum und zog flüchtig den Vorhang zu. Kurz darauf erschien sie wieder und musterte sich kritisch im großen Standspiegel. Sie betrachtete, sich hin und her wendend, das lange, blonde Haar hochhaltend und sich den Schwanenhals verdrehend, auch ihre Rückenansicht. Frau Heinrich sah in dem Matador-Kostüm umwerfend aus. Die weißseidene Bluse mit den weiten Ärmeln, die reich mit Pailletten handbestickte schwarze Weste und die enganliegende, schwarze Lederhose saßen perfekt an ihrem gertenschlanken Körper. Morgen, bei der letzten Anprobe, würden feine Lederstiefel und ein edler Sombrero das Kostüm vervollständigen. Mechthilde war zufrieden mit ihrer Arbeit und sagte es ihrer Kundin auch.
„Nun ja, Mechthilde“, musste Frau Heinrich einwenden, „aber wenn ich mich drehe, siehst du? Dann wirft die Weste Falten. Ich denke, da könnte noch etwas weg, nur ein wenig. Auch die Hose sitzt an der Hüfte und der Taille nicht wirklich gut, auch da müsste noch gut ein halber Zentimeter weg, nicht wahr? Die Blusenärmel sind etwas zu lang, das geht gar nicht, Mechthilde. Wenn ich mit meinem Mann morgen zur Anprobe seines Stierkostüms komme, dann ist das bestimmt erledigt. Bis dahin ist ja noch genug Zeit.“
Nachdem Mechthilde die entsprechenden Stellen mit Stecknadeln markiert hatte, verschwand sie wieder in der Umkleidekabine und Mechthilde setzte sich wortlos auf einen Stuhl. Sie schloss für einen Moment die Augen, um einen Wutanfall zu unterdrücken. Als Frau Heinrich mit dem Kostüm über dem Arm wieder erschien und es Agnes reichte, hatte sie sich wieder gefangen.
Sie begleitete ihre Kundin, die wieder von den Möpsen lebhaft umsprungen wurde, hinaus in den Flur und half ihr lächelnd, ihr Lächeln wirkte allerdings etwas maskenhaft, in ihre dicke Daunenjacke.
„Also bis Morgen um die gleiche Zeit, Mechthilde. Noch einen schönen Feierabend zusammen“, sagte Frau Heinrich und verließ, unbeeindruckt vom etwas abgekühltem Verhalten ihrer Schneiderin, würdevoll das Haus. Als die Haustür hinter ihr zugefallen war, schimpfte Mechthilde mit ihren Hunden. „Könnt ihr euch nicht benehmen, ihr Rasselbande? Ab mit euch in die Küche und keinen Mucks mehr, verstanden!“
In der Werkstatt stand Agnes, das Matador- Kostüm immer noch über dem Arm, und schaute ihrer Chefin ratlos abwartend entgegen.
„Du hast es gehört, Agnes“, meinte Mechthilde, ein müdes, resigniertes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. „Zieh die Seitennähte der Weste auf, sei aber vorsichtig, der Stoff ist arg empfindlich, vor allem das Futter. Dann trenn den Hosenbund ab und die Außennähte auf. Die Ärmelbündchen trenn ich selber auf, dann werden wir es schon noch hinkriegen.“
„Aber was ist mit dem Stier? Morgen kommt ihr Mann zur Anprobe und ich habe gerade damit angefangen. Außerdem muss ich auch mal relativ pünktlich nach Hause, mein Mann meckert schon, weil er mich überhaupt nicht mehr sieht und zu Hause alles liegenbleibt.“
Mechthilde atmete tief durch, dann meinte sie: „Weißt du was, Agnes, wir lassen den Quatsch, wenn die Zicke ein Hemd unterzieht, was beim Umzug auch dringend nötig sein wird, dann merkt sie es gar nicht. Wir machen für heute Schluss, geh nach Hause und ruh dich aus.“
Nadja, Mechthildes sechszehnjährige Tochter, schaute zur Werkstatt herein. „Hast du mein Katzenkostüm nun endlich angefangen, Mama?“, fragte sie, und als ihre Mutter nur still den Kopf schüttelte, meinte sie ärgerlich: „Wieder nicht. Aber dieses Jahr besteh ich drauf, da muss ich es haben. Es ist immer das gleiche, Mama, für alles und für jeden hast du Zeit, nur nicht für mich!“
Agnes verabschiedete sich hastig, nicht dass am Ende doch noch was dazwischenkam. Auch Yusuf, der tüchtige Zuschneider, wurde heute nicht zum längeren Bleiben aufgefordert, was selten genug vorkam.
Nadja fühlte sich zu Recht vernachlässigt, vor allem in dieser Jahreszeit, wo ihre Mutter kaum noch aus der Werkstatt herauskam. Ihr Vater ließ sich, seit sie in die neue Wohnung gezogen waren, nicht mehr hören und sehen. Sie vermisste ihn, klar, aber es war besser so, denn wenn er ausrastet, was nicht selten vorkam, dann ging nicht nur das Mobiliar und das Porzellan zu Bruch, da musste auch die Mutter einiges einstecken.
Außer Laura, mit der sie schon im Sandkasten gespielt hatte, hatte Nadja genaugenommen keine richtige Freundin oder ein Hobby, außer das Naschen von Schokolade vielleicht und das Backen, jetzt in der Vorweihnachtszeit vorrangig das Ausprobieren von Plätzchen-Rezepten. Das blieb natürlich nicht ganz ohne Folgen, Nadja war ein etwas pummeliger Teenager mit hübschem, stets gelangweiltem Gesicht, blassblauen Augen und blondem, bis über den Rücken glattfallendem Haar. Sie war ein wenig faul, oder besser gesagt, sie wusste die Vorteile eines Einzelkindes, noch dazu von getrennten Eltern, und das schlechte Gewissen ihrer Mutter auszunutzen. Im Prinzip setzte sie alles bei ihr durch, so auch mit ein wenig Hartnäckigkeit das Katzenkostüm, von dem sie sich viel versprach.
Sie war mit der Mutter im Stofflager des Darmstädter Staatstheaters gewesen, Mechthilde durfte dort immer noch günstig einkaufen, und hatte in der schier unbegrenzten Auswahl an Stoffen, Kunstfellen, Lederimitaten und Accessoires geschwelgt. Schließlich hatte sie sich für ein rotblond-gestreiftes Katzenfell entschieden, obwohl die Mutter meinte, es sei nicht besonders vorteilhaft für sie.
Heute Abend aber brühte Mechthilde früher als sonst den Tee auf. Nadja half ein paar Brote zu schmieren und zu belegen, sie setzte dabei ihr beleidigtes „Ich-armes-vernachlässigtes-Kind- Gesicht“ auf. Schließlich meinte sie schmollend: „Du weißt genau, Mama, dass ich mir zu Weihnachten nur das Katzenkostüm wünsche. Weiter nichts.“
Mechthilde lächelte nachsichtig und zündete am Adventskranz auf dem Tisch zwei Kerzen an. „Aber das weiß ich doch, Liebes“, meinte sie besänftigend. „Keine Sorge, heute Abend nehmen wir uns zwei dein Kostüm vor.“
Es wurde spät, als das Katzenkostüm, bestehend aus einem langärmeligen Body mit angeschnittenen Beinen, im Rücken einen langen Reißverschluss, Gestalt angenommen hatte. Jetzt brauchten nur noch die Pelzbesätze am Halsausschnitt und an den Ärmel- und Beinenden angeheftet und der Schwanz, den Nadja ganz alleine genäht hatte, angenäht werden. Die Fellkappe mit den aus dünnem Silberdraht verstärkten Ohren war fast fertig, Nadja stülpte sich das vorgeheftete Teil schon einmal probeweise über ihren runden Blondkopf und fand es geil.
Am Fastnachtsdienstag kamen schon am Vormittag zu Fuß oder mit Bussen hunderte gut gelaunter Fastnachter in die Karnevalshochburg Dieburg und bevölkerten die drei Kilometer lange Strecke, auf der der Fastnachtsumzug durch die Innenstadt ziehen würde. Sie vertrieben sich bis zum Beginn des Umzugs, um 13 Uhr 11, die Zeit mit Scherzen und Glühwein- oder heißen Tee trinken. Wenn irgendwo das Dieburger Fastnachtslied, „Diebursch, Diebursch üwwer alles“ oder „Ja, mer sinn halt amool närrisch“, erscholl, breitete es sich wie ein Lauffeuer in den dicht gedrängten Straßen und Gassen des hübschen Fachwerkstädtchens aus und verhallte nur zögerlich darin.
Auch Mechthilde hatte sich beizeiten mit ihrer Freundin Konstanze und anderen Bekannten einen guten Platz am Rathausplatz gesichert, von dem aus man die Umzugswagen gut sehen und ihnen zujubeln konnte. Ins besonders auf die Fastnachtsgruppe „Die Globetrotter“, deren Kostüme sie genäht hatte, war Mechthilde gespannt. Nadja, ihre Tochter, sah sie in der Nähe, inmitten einer Gruppe lärmender Jungendlicher, sie schien sich gut zu amüsieren, ihr Lachen war gelegentlich deutlich herauszuhören. Mechthilde freute es, das Kind sollte mit Gleichaltrigen Spaß haben, was ihrer Meinung nach viel zu selten war. Das Katzenkostüm war nach mehrmaligen Änderungen ganz passabel geworden, Nadja sah darin, entsprechend geschminkt, mit einem Felljäckchen, warmen Strümpfen und mit halbhohen Absätzen versehenen Stiefeln - eigentlich wollte Nadja welche mit hohen Absätzen, aber Anbetracht der Dauer des Umzugs konnte sie ihr die ausreden- wie eine niedliche, etwas gefräßige Hauskatze aus.
Der Rathausplatz füllte sich schnell mit prächtig kostümierten Fußgruppen und fantasievoll geschmückten Umzugswagen, man konnte jetzt schon sehen, dass die Besucher auch dieses Mal wieder voll auf ihre Kosten kommen würden.
„Die Globetrotter“ aber waren die schönste Gruppe von allen, das fand nicht nur Mechthilde. Sie war am Rosenmontag während der Prinzenpaar-Sitzung mit dem Orden des bestkostümierten Dieburger Karnevalsvereins ausgezeichnet worden, woraufhin man sie, Mechthilde, von ihrem Platz weg hinauf zur Bühne getragen und als Schneiderkünstlerin mitgefeiert hatte. Mechthilde hatte es bei dem stürmischen Applaus Tränen des Stolzes in die Augen getrieben, aber als sie den Mann in den vorderen Sitzreihen entdeckte, der nicht applaudierte, sondern sie nur spöttisch angrinste, war ihr der Spaß vergangen. Es war ihr cholerischer Ex-Mann, Bertram Schweiger, gewesen.
Auch jetzt stachen die Globetrotter mit ihren rassigen Matadoren, die jauchzend ihre Sombreros und roten Tücher in der kalten Winterluft schwangen, und ihre Stiere mit den imposanten Hörnern, -es waren welche aus dem Archivar des Darmstädter Staatstheaters- aus den hundertelf Zugnummern, traditionell jedes Jahr die gleiche Anzahl, hervor. Sie waren die absolut schönste und originellste Gruppe, dies bestätigten auch Mechthildes Bekannte und ihre Freundin Konstanze.
Der Zug setzte sich mit der Prinzengarde, die mit Trommelwirbeln und Trompeten den Ton angaben, in Bewegung, gefolgt vom Prinzenwagen, von dem das junge, sympathische Prinzenpaar huldvoll herab winkte und lächelnd mit vollen Händen Bonbons in die jubelnde und begeistert „Äla! Äla!“ rufende Menge warf.
Als sich der Zug langsam entfernte und sich das rhythmische Trommeln und Rufen abschwächte, folgte ihm vor allem das Jungvolk. Die anderen verschwanden nach und nach hauptsächlich in den Cafés oder Restaurants rund um den Rathausplatz oder den einmündenden Gassen. Ihre Tochter sah Mechthilde nicht mehr, sie mochte wohl mit der jugendlichen Horde hinter dem Zug hergelaufen sein und die liegengebliebenen Bonbons aufsammeln, das gehörte dazu. Mechthilde und ihre Freundin zogen es vor, sich zügig in eins der Cafés am Rathausplatz zu begeben, wo man sich aufwärmen und plaudernd, bei gefüllten Kräppeln und Kaffee den Beginn des Kehraus, der traditionell in der Römerhalle stattfand, abwarten konnte. Da würde ihr sicher auch Nadja wieder über den Weg laufen.
Erst am nächsten Tag gegen Mittag, als sie Nadja zum Katerfrühstück holen wollte, bemerkte Mechthilde ihr unberührtes Bett, Nadja war nicht da, sie war gar nicht nach Hause gekommen. Nach dem ersten Schreck nahm Mechthilde an, dass sie bei ihrer Freundin Laura, die ein paar Straßenzüge entfernt wohnte, übernachtet haben musste. Dagegen war nichts einzuwenden, die Mädchen kannten sich seit der Kindergartenzeit und gingen in dieselbe Klasse, aber das musste sie vorher wissen.
Es war weit nach Mitternacht gewesen, als sie heimkam, sie hatte sich mit Konstanze ein Taxi genommen. Sie hätte nochmal nach Nadja schauen müssen, unbedingt, aber irgendwie ging sie davon aus, dass sie längst in ihrem Bett lag und schlief, schließlich war sie noch nie ohne Absprache außer Haus geblieben, schon gar nicht des nachts. Sie war gleich ins Bett gegangen und hatte bis in den späten Morgen hinein wie ein Stein geschlafen.
Mechthilde rief Konstanze, ihre Freundin und die Mutter von Laura an, aber Nadja war nicht da. Laura erinnerte sich nur daran, dass sie Nadja zuletzt auf dem Umzug gesehen habe, danach nicht mehr.
Von Sorge und schlechtem Gewissen geplagt, setzte sich Mechthilde ins Auto und fuhr in das knapp drei Kilometer entfernte Dieburg hinüber. Die Straßen waren noch nicht gestreut und ziemlich glatt, nur wenige Autos waren unterwegs. Bei einer Ampel übersah sie einen von rechts kommenden Wagen, der noch bei hellrot mit ordentlichem Tempo in die Hauptstraße einbog, beinahe hätte es gerumst, erschrocken schimpfte sie hinter dem rücksichtslosen Verkehrsrowdy her. In Dieburg fuhr sie langsam durch die stillen Straßen und Gassen, feuchte Konfettis, Pappteller und Plastikbecher zeigten, wo gestern unter dem Jubel der Zuschauer der Fastnachtszug durchgezogen war. Als ihr plötzlich ein Unikum von einem Kehrwagen den Weg versperrte und Müllmänner die Hinterlassenschaften des gestrigen Großereignisses wegräumten, glaubte Mechthilde verrückt zu werden, ihre Nerven lagen blank. Sie wich in eine schmale Einbahnstraße aus, egal, undspähte in die einmündenden Gassen und angrenzenden Parkanlagen. Wo sie nur sein mochte bei der Kälte? Ihr Kostüm hielt verhältnismäßig warm, jedenfalls für einige Stunden, aber keineswegs bei einer frostigen Nacht. Nadja musste etwas zugestoßen sein, das wurde für Mechthilde mehr und mehr zur Gewissheit. Vielleicht wurde sie entführt und man hielt sie irgendwo gewaltsam fest, sie war ja ein kleines, naives Hascherl. Ihr unberechenbarer Ex- Mann fiel ihr ein, ihm traute sie jede Gemeinheit zu. Er war ja auch am Montag auf der Prinzenpaarsitzung gewesen.
Mechthilde schlug die Richtung zum Ortsende ein, wo an der Schnellstraße nach Darmstadt das Polizeipräsidium liegt.
Zu dieser frühen Stunde, es war kurz vor eins, saß ein junger, unausgeschlafener Beamter an der Anmeldung. Ihm berichtete Mechthilde hastig und kurzatmig, dass ihre Tochter Nadja gestern beim Dieburger Fastnachtsumzug gewesen und ganz gegen ihre Gewohnheit nicht heimgekommen sei, und dass ihr Ex-Mann dahinter stecken könnte, ja musste. Er war ein polizeibekannter Randalierer, wegen seiner unberechenbaren Wutausbrüche musste die Polizei, als sie mit ihm noch verheiratet war, öfter kommen und ihn beruhigen. Selbst nach der Trennung hatte er ihr noch aufgelauert, sie bespitzelt und belästigt, so dass sie ihre Telefonnummer ändern und sogar umziehen musste. Er war am Montag in Dieburg gewesen, sie hatte ihn gesehen, und sicher war er auch gestern beim Umzug da, er musste dahinterstecken. Das Jugendamt hat ihm den Umgang mit seiner Tochter untersagt und das ist jetzt seine Retourkutsche. „Er hat sie entführt, Herr Wachtmeister“, meinte sie eindringlich flehend. „An seiner Tochter liegt ihm im Grunde nichts, er will nur mich damit treffen! Sie müssen zu ihm fahren, Herr Wachtmeister, und meine Tochter befreien! Sofort!“
„Nicht so eilig, junge Frau“, meinte der Polizist aufreizend ruhig. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal ihren Namen?“
Mechthilde nannte beschämt ihren Namen, sie hatte ganz vergessen, ihn zu nennen. „Zunächst sollten wir bei ihren Bekannten und Verwandten oder auch in den Krankenhäusern nachfragen, Frau Köhler“, meinte der Polizist und unterdrückte ein Gähnen. „Wissen Sie, heute ist Aschermittwoch, da verschwinden schon mal junge Leute kurzfristig. Vielleicht hat ihre Tochter dies und jenes ausprobiert und nicht vertragen, junge Leute nutzen an Fastnacht schon mal ihre Freiheiten aus. Erst heute Morgen mussten wir zwei sturzbesoffene Burschen aus der katholischen Kirche herausholen und in die Ausnüchterungszelle bringen, wo sich gerade ein Arzt um sie kümmert. Warten wir doch erst einmal ab
„Meine Tochter“, fiel Mechthilde ihm ungeduldig ins Wort, „ist sechzehn Jahre alt, ihr wird so gut wie nie schlecht, sie hasst den Alkohol und verabscheut das Kiffen, sie ist nur mit einem Fastnachtskostüm bekleidet und seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen worden. Worauf wollen Sie denn noch warten?“
„Na, schön, wenn es Sie beruhigt rufen wir ihren Ex- Mann an. Wie war doch gleich sein Name und seine Telefonnummer?“ Der Polizist seufzte ergeben und griff zu Notizblock und Bleistift.
„Er heißt Bertram Schweiger und wohnt in Darmstadt, wo genau weiß ich nicht und es interessiert mich auch nicht. Seine Adresse und seine Nummer müssten hier bestens bekannt sein bei den Auffälligkeiten, die er sich andauernd leistet. Ein solcher Mensch ändert sich doch nicht!“
Mechthilde spürte die gleichgültige Überheblichkeit des Beamten, der Mann nahm sie nicht ernst, sie hätte vor ohnmächtiger Entrüstung schreien mögen.
„Wissen Sie was“, meinte sie in erzwungener Ruhe, „sagen Sie mir einfach nur seine Adresse, ich fahre selbst hin.“
Der Beamte schaute die erregte Frau stirnrunzelnd an und meinte besänftigend: „Keine gute Idee, Frau Köhler, die Straßen sind glatt und der Wetterbericht hat Schnee angesagt. Gut, meinetwegen, ich werde ihren Mann anrufen, dann werden wir sehen.“
Mechthilde beobachtete, wie er auf der Tastatur seines Computers herum tippte, dann mit aufreizend gleichgültiger Miene zum Telefonhörer griff und wählte. „Guten Morgen, Herr Schweiger“, meldete er sich kurz darauf im leutselig geschäftigen Tonfall. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Ihre Ex-Frau ist hier, sie macht sich große Sorgen wegen Ihrer gemeinsamen Tochter.“
Mechthilde verzog ob des freundlichen Tons des Beamten verächtlich die Mundwinkel, der aber fuhr ungerührt fort: „Sie ist gestern nach dem Besuch des Dieburger Fastnachtsumzuges nicht nach Hause gekommen. Die Frage ist nun, ist ihre Tochter bei Ihnen, Herr Schweiger?“
Der Beamte lauschte kurz in den Hörer hinein, nickte dann zustimmend, nahm ihn vom Ohr und schaute Mechthilde fragend an. „Ihr Ex-Mann will gleich rüberkommen und bei der Suche helfen, Frau Köhler. Das ist Ihnen doch recht, oder?“
„Dieser scheinheilige Bastard. Er soll nur kommen, wenn er Nadja entführt hat, bring ich ihn um.“
„Jetzt beruhigen wir uns erst einmal, Frau Köhler. Glauben Sie mir, neunundneunzig Prozent der vermissten Jugendlichen kommen von ganz alleine zurück, und zwar völlig unbeschadet, aber hungrig und mit dickem Kopf. Ihre Tochter ist in der Pubertät, glauben Sie mir, Frau Köhler, da kommt sowas schon mal vor.“
„Und das restliche Prozent?“, wollte Mechthilde gereizt wissen. „Was ist mit dem?“
Als Bertram Schweiger eintraf, ein etwas kräftiger, durchaus sympathischer Typ, verlor sie bei seinem eher harmlosen Auftreten vollends die Fassung. Sie beschuldigte und beschimpfte ihn und er wiederum warf ihr vor, dass ihr der berufliche Erfolg, die Freunde und selbst die Hunde wichtiger seien als die Tochter.
Schließlich ermahnte der junge Polizist beide zur Ruhe und zu dem, was jetzt angesagt ist, nämlich die Suche nach dem vermissten Mädchen.
Nun, Nadja gehörte nicht zu den neunundneunzig Prozent Vermissten, die von alleine heimkommen, auch wenn sie das liebend gern getan hätte.
Während des Umzugs hatte sie sich inmitten des Freundeskreises möglichst nah bei Felix Gottlieb, ihrem heimlichen Schwarm, aufgehalten, er sah in seinem Piratenkostüm einfach umwerfend aus, fand sie. Sie wollte, dass auch er sie sah und sie ihm gefiel, aber Felix hatte nur die hübsche Lisa Kaufhold im Visier. Sie sah in ihrem raffinierten Zigeunerkostüm noch toller aus wie sonst, und sie machte Felix unübersehbar schöne Augen. Nadja hatte schnell aufgegeben, nichts hatte genützt, ihr Lächeln nahm er gar nicht wahr, höchstens mit Unverständnis, und auch nicht ihr wirklich gelungenes Katzenkostüm, das sie eigens für ihn haben wollte.
Enttäuscht und traurig blieb sie zurück und sammelte die auf der Straße, zwischen Luftschlangen und Konfetti liegengebliebenen Bonbons in den für den Zweck mitgebrachten Beutel. Überall lagen Unmengen an unappetitlicher Pappteller und Kunststoffbecher herum.
Nur einer war bei ihr geblieben und half ihr beim Einsammeln der Bonbons, nämlich Richard, genannt Ritschi, der jüngste Sohn des Bäckermeisters Wohlfahrt. Er steckte in einem Bärenkostüm, worin er nicht besonders spektakulär, man könnte sagen etwas plump aussah.