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© 2020 Duanna Mund
Umschlaggestaltung: Duanna Mund
Bildnachweise: © Birgit und Franz Winkler
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783751948012
Das Buch ist eine Verlängerung
des Gedächtnisses und der Vorstellung
Jorge Luis Borges
(eine kleine Reisephilosophie)
In vorliegender Erzählung gibt es ein Wir, ein Wann, ein Wie, ein Warum und Was; Fakten und Fragen, auf die ich am Beginn meines Buches eingehen möchte.
Ist in der Folge vom Wir die Rede, meint es mich, die Icherzählerin, und den verlässlichen Partner, meinen Ehemann Franz.
Das Wann bezieht sich auf die Monate um den Jahreswechsel 2019/20, einen Zeitraum, der in so mancher Hinsicht als Wendepunkt empfunden werden kann. Politischer Umbruch, klimatologische Zuspitzung und die dunklen Vorboten der nahenden Corona-Krise waren Zeichen eines Wandels, der alle Menschen des Erdkreises erfasste und berührte. Das Wann bezieht sich zudem auf die Jahreszeit, die hellen Tage und erwachende Natur des Südsommers, der in weiten Teilen meiner Erzählung Niederschlag findet.
Das Wie bezieht sich auf die Fortbewegung als Individualreisende. In einem seiner Reiseführer bezeichnet der in Wien lebende, bulgarische Schriftsteller Ilija Trojanow die Reisegruppe treffsicher als wandelndes Ghetto. Wenngleich ich mich nicht als Backpacker im eigentlichen Sinne verstehe, da ich aufgrund meines jugendfernen Alters lieber aus Koffern denn aus Rucksäcken lebe, teile ich Trojanows Ansicht uneingeschränkt. Obwohl ich regelmäßig am vielgepriesenen ‚leichten Gepäck’ scheitere, schaffe ich es zumindest in regelmäßigen Abständen, mein altes Leben abzustreifen und mit einer Leichtigkeit aufzubrechen, die etwas von einem luftigen Befreiungsschlag hat. Meine Reisen sind zwar akribisch durchgeplant (ein Zugeständnis an Sicherheit, Bequemlichkeit und begrenztes Zeitbudget), dennoch halte ich Ängstlichkeit, starre Erwartungen, klimatisierte Reisebusse, sterile Hotelanlagen, touristische Hauptschlagadern und Zeitnot für die wahren Hindernisse intensiven Erlebens. Wer genau das erfährt, was er sich zu Hause vorgenommen hat, wessen geplanter Ablauf durch nichts ins Wanken gebracht wird, ist unterwegs, ohne sich auf eine Ortsveränderung im geistigen Sinn einzulassen. Ich positioniere mich somit in einem Diskurs, der sich um eine persönlich gewinnbringende und verantwortungsvolle Reise-Ethik entzündet. Dies leitet zur nächsten Frage über, zu meinem Warum.
In Zeiten wie diesen komme ich als Flugreisende schon einmal in Erklärungsnot, treibe ich mich doch ohne zwingenden Grund in den entferntesten Gegenden der Erde herum. Jeder Winkel unseres Planeten ist vielfach im Internet abrufbar, in schwelgerischen Universum-Ausstrahlungen zu bewundern und dank umfassender Sachsendungen dokumentiert. Vorhaltungen, ich solle lieber meine Heimat erforschen, paaren sich mit Erlebnis-Neid und ökologischer Schuldzuschreibung. Wer den Grünen See nicht durchschwommen hat, dem fehle die Daseinsberechtigung in irgendeinem tropischen Meer. Der Eisenerzer Reichenstein weite den Blick ebenso wie ein Andengipfel. So oder ähnlich tönt neuerdings ein patriotisch-ökologischer Gegenwind, der mich nicht unberührt lässt. Mein soziales Gewissen krümmt sich zudem unter der Tatsache, dass ich ich mich im Reisen in der Regel als Begüterte unter Ärmeren bewege und in diesen das verständliche Bedürfnis nach gleichberechtigter Teilhabe am Wohlstand nähre.
Dennoch bleibe ich eine Globetrotterin aus Leidenschaft. Reisen ist eine Kulturtechnik, die erlernt sein will und bei jedem Aufbruch verfeinert werden muss. Reisen gleicht einem Sprung ins Ungewisse und ermöglicht mir den Blick über den eigenen Tellerrand. Erstaunlicherweise begegne ich gerade in der Ferne auf geheimnisvolle Weise mir selbst. Jeder Aufbruch hat somit auch meine eigene Transformation zum Ziel.
Was tue ich auf meinen Reisen? Was tun sie mit mir? Tatsache ist, dass meine Erlebnisse in Bücher fließen, ein untrügliches Zeichen dafür, welch tiefe Inspiration ich aus meinen Erlebnissen beziehe. Was ich an einem Ort mache, lässt sich relativ leicht beschreiben. Anders sieht es aus, wenn ich auszudrücken versuche, was ein Ort in mir bewirkt. Einer Landschaft, die mich beeindruckt, stelle ich zwei Fragen. Die eine: Was erfahre ich hier, was ich nirgendwo sonst erfahren kann? Die andere: Was weiß dieser Ort von mir, was mir selbst noch verborgen geblieben ist? Dieser zutiefst animistische Zugang im Erleben bildet eine Klammer um mein Tun. Wenngleich ich auf die Frage, was mich die Natur lehrt, wohl keine kognitive Antwort erwarten kann, stelle ich sie dennoch immer wieder. Vielleicht versuche ich mich im Niederschreiben meiner Reiseerlebnisse einer intuitiven Antwort anzunähern.
‚Man sieht nur, was man weiß’, lautet ein bekanntes Goethe-Zitat, das in diametralem Widerspruch zu der provokanten Ergänzung steht ‚und übersieht alles andere’. Erfahrung braucht eine gewisse Unschuld, insofern sind Reiseführer Segen und Fluch zugleich. Circuito grande enthält scheinbar Banales wie hochdramatisch Empfundenes, keine umfassende Reiseanleitung, eher die Aufforderung, mitzustaunen. Als konsequent geführtes Tagebuch liegt seine Stärke im unmittelbaren Erleben. Niemals hätte es von zu Hause aus geschrieben werden können.
Ich lade Sie ein, Sachlichkeit und Sinnlichkeit der folgenden Seiten zu genießen. Auf eine intime Art kommuniziere ich in diesem Buch mit einem Gegenüber, das sich mir vor allem in der Natur erschließt. Meine Empathie für Land und Leute drückt sich in poetischer Sprache wohl am besten aus.
Duanna Mund


Santiago 1
Reisefieber? Freudige Erwartung? Endlich-so-weit-Gefühle? Wären wir in der Lage, uns auf den Schwingen des Kondors zu erheben, um in Richtung Anden aufzubrechen, gelänge es wohl, den Moment zu würdigen, in dem ein Jahr akribischer Vorbereitung und Wunschdenkens in reales Erleben übergehen. Die Wirklichkeit des Aufbruchs ist immer ernüchternd und von unbequemen Sachzwängen beherrscht. Die ineinander verzahnten Anschlussflüge in Frankfurt und Sao Paulo klappen wie am Schnürchen. Nach mehr als 12 Stunden Anreise überfliegen wir das weite Längstal zwischen Küstenkordillere und Andenhauptkette. Letztere gipfelt im Südosten von Santiago im 6.961 Meter hohen Aconcagua. Unter uns liegt die einem Kraken mit unzähligen Fangarmen gleichende Hauptstadt. Der bunte Flickenteppich des Häusermeeres wird nur von den Glasklötzen des Business-Distrikts unterbrochen. Wir lassen die Einreiseformalitäten in Santiago de Chile über uns ergehen und werden mit der PdI, einem Dokument der Policía de Investigaciones, in die südamerikanische Freiheit entlassen. Mit dem öffentlichen Flughafenbus und der U-Bahn geht es zu unserem Appartement Miguel Claro 730 in der Remodelacion San Borja, einem ruhigen Wohnbezirk nahe der Innenstadt.
Schon auf dem 10-minütigen Fußweg von der U-Bahn-Station zu unserer Wohnung fällt auf, dass sich die Stadt in einem Ausnahmezustand befindet. Die Glasscheiben der Geschäfte sind mit Blech und Spanplatten zugenagelt. Lediglich mannshohe und –breite Eingangsschlitze bleiben frei, um das Geschäft zwar am Laufen zu halten, die Verkaufsräume aber augenblicklich abzuriegeln, sobald die Aufstände gegen das Regime losgehen. Überall zerschmolzene Mistkübel, die offensichtlich in Brand gesetzt wurden, heruntergerissene Stromleitungen, zerschlagene Straßenlampen. Drei U-Bahnstationen im Innenstadtbereich sind geschlossen.
Weil auf den Straßen vorerst alles friedlich zu sein scheint, beschließen wir, die Vormittagsstunden zu nützen und brechen in Richtung Zentrum auf. Wir spazieren den Paseo Ahumada entlang, lassen uns vom Geschiebe der Menschen tragen. Eine artistische Gruppe von Perkussionisten sorgt für ohrenbetäubende Unterhaltung. Die jungen Männer stauen mit ihren umgeschnallten Trommeln ausgeklügelte Choreografien aus Schrittkombinationen und atemberaubenden Drehbewegungen den Menschenstrom. Etwas verunsichert umklammern wir unsere Fotoapparate.
Die Plaza de Armas ist ein weiter, viereckiger Platz mit prächtigen Blauglockenbäumen, europäisch anmutenden Häusern aus der Gründerzeit und einem Standbild des Stadtgründers Pedro de Valdivia. Eine weitere Statue zeigt als Allegorie der indigenen Völker Chiles ein indianisches Haupt. Die Catedral Metropolitana sowie die Hauptpost Correo Central fügen sich in das mondän wirkende Gesamtbild. Nahezu alle zentralen Plätze der lateinamerikanischen Städte weisen einen rechteckigen Grundriss auf, sind raumfüllend und tragen den Namen Plaza de Armas. Ausladende Baumkronen spenden Schatten und sorgen im Frühling mit ihrem Blütenkleid für hübsche Farbakzente.
Straßenverkäufer gehen in der Calle Puente ihrem Schattengewerbe nach, stets bereit, vor der Polizei Reißaus zu nehmen. Weil Wachbeamte wegen der Demonstrationen an jeder Ecke zu finden sind, ist die Stimmung spürbar nervös. Der Mercado Central enttäuscht. Statt des erwarteten Marktgeschehens finden wir eine Fressmeile mit aufdringlichen Kellnern vor, die uns in ihre Lokale lotsen wollen. Erst als wir so tun, als gehörten wir zu einer Reisegruppe, können wir in Ruhe die luftige Eisenkonstruktion der Halle bestaunen, die im Jahr 1872 errichtet wurde. Gleich nebenan steht die noch beeindruckendere Eisen- und Glasarchitektur des ehemaligen Bahnhofs, der Estación Mapocho. Über die hübsche Cal-y-Canto-Brücke gelangen wir zum linksseitigen Ufer des Mapocho. Das lehmfarbene Rinnsal hinterlässt in seinem überdimensionalen, betonierten Flussbett einen kläglichen Eindruck.
Wir folgen dem Rat der Beamtin des Tourismusbüros, am Nachmittag das Regierungsviertel und die Innenstadt zu meiden, und halten uns nun im Künstlerviertel Bellavista auf. Hier sollten wir nicht Gefahr laufen, in eine der Demonstrationen hineingezogen zu werden. Die kunstvollen Graffitis an den Hausfassaden der Santa Filomena begeistern uns. Weil das Stadthaus Pablo Nerudas, die „La Chascona“, geschlossen ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit einem Erinnerungsfoto von der Straße aus zu begnügen. Schade, denn im Haus befinden sich etliche Originale seiner Werke! Der Name La Chascona bezieht sich übrigens auf die Haare seiner dritten Frau Mathilde Urrutia und bedeutet Strubbelkopf. Nach dem Tod Nerudas wurde das Haus von Pinochets Militär verwüstet und die untere Etage geflutet. Wir trösten uns mit der Aussicht auf die Besichtigung einer der prunkvollen Villen des Dichters in Valparaiso und Isla Negra.
Auf dem Heimweg auf der Avenida Maria kommen uns tausende Fahnen schwingende Demonstranten entgegen. Wenngleich sie ihrem Zorn in Sprechchören Luft machen, wirken sie nicht sonderlich gewaltbereit. In der Zusammensetzung erinnert der Menschenstrom an die aktuellen Fridays-for-future-Demos zu Hause – viele junge Gesichter aber auch Männer und Frauen, die nun bereits seit Monaten nach Dienstschluss auf die Straßen gehen und gegen Neoliberalismus und die Auswüchse einer globalisierten Wirtschaft kämpfen.
Santiago 2
Bereits der zweite Tag unserer Reise verläuft anders als erwartet. Weil wir den Vormittag dazu benötigen, uns vom staatlichen Anbieter WOM den Internetzugang freischalten zu lassen, ist es anschließend zu spät, eines der Ausflugsziele des Umlandes anzufahren. Zähneknirschend beschließen wir, den Nachmittag über in der Hauptstadt zu bleiben.
Mit dem Vorsatz, vorsichtig zu sein, besuchen wir erneut die Innenstadt. Die Iglesia San Francisco ist ein steinerner Bau in der Form eines lateinischen Kreuzes. Die kunstvoll geschnitzte Decke aus Holzintarsien bildet den schönsten Schmuck des im Übrigen schlicht wirkenden Gotteshauses. Der Kirche angeschlossen befindet sich ein ehemaliges Kloster, das heute zum Museo de Arte Colonial umgestaltet ist. Ein Kreuzgang führt um den Innenhof, der eher einem verwunschenen, tropischen Dschungel denn einer gepflegten Gartenanlage gleicht. In einem der klösterlichen Räumen kann man die Virgen del Socorro bestaunen, eine kleine Marienstatue, die der Stadtgründer Pedro de Valdivia stets am Sattelknauf seines Pferdes mit sich getragen haben soll. Ob deshalb seine kriegerischen Eroberungszüge vor seinem Christengott Vergebung fanden?
Ein weiterer Raum beherbergt die Nobelpreisurkunde der chilenischen Lyrikerin Gabriela Mistral aus dem Jahr 1945. Wie zeitlos Lyrik ist, zeigt sich an einem ihrer Gedichte, lässt diese sich doch problemlos auf die aktuelle Situation ihres Heimatlandes übertragen. In einfachen Worten, die einem Kinderlied entnommen sein könnten, sehnt sich die Dichterin in eine Welt, die, in einen paradiesischen Urzustand zurückgekehrt, allen gehört. Ich gebe die Zeilen in der deutschen Übertragung von Albert Theile wieder.
Bitteres Lied
Spielen wir, komm, mein Kind,
König und Königin!
Dies grüne Feld ist dein.
Wem soll es sonst gehören?
der wogende Klee,
für dich muss er sich wiegen.
Dies ganze Tal ist dein.
Wem sollt’ es sonst gehören?
Damit wir sie genießen,
werden Äpfel honigsüß im Hain.
Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!
Dem Schäfchen wächst die Wolle.
Für dich wird man spinnen das Vlies.
Dein sind die Herden, die Schafe.
Wem sollten sie sonst gehören?
Und die Milch im Stalle,
die in den Eutern fließt,
und die Garben des Korns −
wem sollten sie sonst gehören?
Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!
Ja, spielen wir, Kind,
König und Königin!
Gabriela Mistral
Die Nationalbibliothek an der stark befahrene Avenida Bernado O´Higgins, von den Städtern auch Alameda genannt, ist verbarrikadiert, der Sockel mit martialisch anmutenden Parolen beschmiert. ‚Sin justicia no paz’ (‚Ohne Gerechtigkeit kein Friede’) prangt es in roten Lettern vom Sockel des Gebäudes, gleich daneben Schmähschriften gegen Piñera, den Regierungschef, in denen ihm der Tod an den Hals gewünscht wird. Das Hochhaus auf der gegenüber liegenden Straßenseite zeigt deutlich die Spuren eines Brandes.
Vom grünen Cerro Santa Lucia nimmt sich die Stadt friedlich aus. Der Blick von oben auf das Häusermeer und die Berge ringsum ist beeindruckend und irgendwie tröstlich. Allerdings stehen wir hier auf dem Huelen der Mapuche. Der Name bedeutet Berg des Schmerzes, was sich auf die spanische Eroberung bezieht, die den Indigenas des Landes in vielen Fällen den Tod, in der Gesamtheit den kulturellen Untergang brachte. Daran vermag auch das Denkmal zu Ehren der Mapuche am höchsten Punkt des Hügels nichts ändern.
Die cremerote Basilika de la Merced, auf der anderen Seite des Huelen, gilt als die schönste Kirche Santiagos. Sie wurde zum Nationaldenkmal erklärt. Ihren Hauptaltar ziert die älteste Madonna der Stadt, die Virgen de la Merced (die barmherzige Jungfrau). Sie stammt aus dem Jahr 1548 und wird kunsthistorisch der Cuzquener Schule zugeordnet.
Schon etwas müde wollen wir den Nachmittag im Parque Forestal ausklingen lassen. Doch bald merken wir, dass es hier äußert ungemütlich zugeht. Ungewollt geraten wir in den Sog von Demonstranten, die sich, wie wir, in Richtung Plaza Baquedano bewegen. Die Straßen in den Barrio Lastarria, wo wir die Häuser Luciano Kulcewskis, der chilenischen Entsprechung von Barcelonas Gaudi, besichtigen wollten, ist unpassierbar. Brennende Straßenbarrikaden, beißender Rauch in der Luft, vor allem aber abertausende aufgebrachte Demonstranten versperren uns den Weg und ziehen uns zugleich in ihren Bann. Wir können nicht anders, als alles fotografisch festzuhalten, weil wir den Eindruck haben, Zeugen eines politischen Umbruchs zu sein. Die fast ausschließlich jungen Widerständler verhalten sich uns Fremden gegenüber erstaunlich friedlich und scheinen auch kein Problem damit zu haben, von uns abgelichtet zu werden. In der Stadt aber legen die Radikalen unter ihnen eine Spur der Verwüstung. Jugendliche, Männer und Frauen, das Gesicht hinter Gasmasken, und harte Jungs in wüstem Outfit, hinterlassen einen widersprüchlichen Eindruck. „Chile despertó – Chile ist aufgewacht!“, tönt es aus tausenden Kehlen um uns.
Auf jedem der Plätze der breiten Avenida dasselbe Bild: Abertausende Demonstranten, ein Fahnenmeer, mit grellen Farben besprühte Heldenstatuen, von aufgebrachten Menschen erklommen, die in triumphierenden Gesten ihre Kampfparolen grölen; Hupkonzerte der Autofahrer in den Straßen rundum. Schlussendlich sind wir erleichtert, die bedrohliche Szenerie hinter uns zu lassen. Während wir in sichere Gassen abbiegen, vernehmen wir das vielstimmige Dröhnen von Polizeisirenen im Rücken.
In der folgenden Nacht kommt es zu schweren Ausschreitungen.
Santiago 3
An unserem letzten Tag in Santiago de Chile begeben wir uns unerschrocken in den Brennpunkt der noch weitgehend unblutigen Kampfhandlungen der Stadt, in das Regierungsviertel. La Moneda war ursprünglich die Münzprägeanstalt des Landes, ehe sie Heimstatt für die politischen Entscheidungsträger wurde. Das Gebäude stellt einen der prächtigsten Kolonialbauten Lateinamerikas dar. Großflächig von der Polizei abgeschirmt, blieb es bisher von den Beschmierungsorgien der Demonstranten verschont. Eine überdimensionale Flagge, so schwer, dass sie sich in der steifen Brise verzögert, fast wie in Zeitlupe bewegt, ziert die Plaza de la Constitution vor dem Palast. Das Gebäude gemahnt an einen Tiefpunkt in der Geschichte Chiles. Am 11. September 1973 bombardierte das Militär unter Pinochet das Gebäude und Präsident Salvador Allende, beging darin, nachdem er sich geweigert hatte, den Regierungssitz zu verlassen, Selbstmord. Das Recht, das vom Volk ausgeht, achtete er höher als das eigene Leben.
Politisch geht es für uns weiter: Das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos dokumentiert auf eindrucksvolle Weise die Menschenrechtsverletzungen während Pinochets Gewaltherrschaft. In einer Halle, die sich, nach oben offen, über drei Stockwerke erstreckt, zeigt eine Installation in tausenden Fotografien die Opfer der Diktatur. Der Sänger und Märtyrer Viktor Jara wird heute als Gegenstück zu Amerikas Martin Luther King verehrt und findet im Museum raumgreifend Platz. In einer Sonderausstellung wird ein Bogen zu weiteren politischen Brennpunkten der Erde gespannt, wie beispielsweise nach Palästina. Eindringliche Texte weisen auf die Würde des Menschen hin, die in den Menschenrechten deklariert, von 144 Staaten als einzuhaltendes Gebot unterzeichnet und dennoch weltweit mit Füßen getreten wird.
Obwohl es mittlerweile unerträglich heiß geworden ist, nehmen wir noch die Fahrt zum Pueblito de los Domenicos auf uns. Unser Bedürfnis nach freundlichen Menschen und kreativer Handwerkskunst ist groß. In dem kleinen Dorf stellen an die hundert Künstler ihre Werke aus. Einigen kann man bei der Arbeit über die Schulter blicken. Da gibt es Silberschmuck im Stile der Mapuche, Lapislazuli in allen Variationen, Ponchos von Babygröße bis X-large, fantastische Schnitzereien, Klangspiele, aus Pferdehaar gewebte Schmetterlinge und wunderschöne Batikbilder mit andinen Motiven; eigentlich der richtige Ort, um sich mit Souvenirs einzudecken, mit den Trophäen einer Reise, bestens geeignet, um nach der Rückkehr Familie und Freunden wie Leistungsabzeichen präsentiert zu werden. Weil mein Schreiben denselben Gesetzmäßigkeiten folgt wie das Erwerben von Reiseandenken, weitet es doch meine Erlebnisse über das Ende der Reise hinaus, bin ich in den meisten Fällen vor der Verführungskunst diverser meist überteuerter Mitbringsel gefeit. Ich reihe lieber meine Erzählungen und Reisefotos in ein Erinnerungsarchiv ein, das in den wieder eingekehrten Alltag nachklingt.
Bei unserer Heimfahrt geraten wir in die Rushhour und erleben unser blaues Wunder. In der Metro stehen die Menschen diszipliniert in einer Reihe, die bis zur geräumigen Eingangshalle, dort weiter über die Stiege ins Freie reicht und sicher noch fünfzig Meter unter freiem Himmel in plaudernde oder ins Handy vertiefte Individuen ausläuft.
Cajon de Maipo
Eines der beliebtesten Ausflugsziele der Städter ist der Cajon de Maipo. Die fast 18 Millionen Bewohner der von Smog geplagten Metropolitana Santiago schätzen die klare Luft des tief eingeschnittenen Tales am Fuße der Andenkordillere. Wir freuen uns über die Mobilität, die uns unser Mietauto verleiht, und brechen frühmorgens auf. Nachdem wir die ärmlich anmutenden Vorstadtviertel hinter uns gelassen haben, kommen wir an Wochenenddomizilen und skurrilen Ferienanlagen vorbei, die wie Vergnügungsparks im Wildwestlook aussehen. Das schmutzig-schäumende Wasser des Maipo wälzt sein Geröll weit in das fruchtbare Valle Central hinaus. Ein riesiges Zementwerk der STRABAG, das wir am Taleingang passieren, verursacht uns heftiges Unbehagen angesichts der ökologischen Wunden, die dem Tal zufügt werden.
Die ehemalige Silberboom-Stadt San Jose de Maipo wirkt noch recht verschlafen, als wir die Plaza de Armas mit ihren bunt bemalten Adobe-Häusern und der denkmalgeschützten Kolonialkirche besuchen. Während die Verkaufsstände für die Touristen erst aufgebaut werden, verkaufen die Marktfrauen bereits Obst und Gemüse an die Dorfleute. In den hohen Bäumen singen Vögel munter ihr Morgenlied. Weiter geht es auf dem Camino al Volcan in Richtung San Alfonso. Übermannshohe Kandelaber-Kakteen schmücken mit ihren hellgelben Blüten das Ufer des rostroten Flusses. Die Ortschaft San Gabriel beherbergt eine Mischung aus alteingesessener Bevölkerung und Vertretern der New-Age-Bewegung. Das Resort La cascada de las animas (Wasserfall der Seelen) bietet betuchten Gästen Luxusquartiere und Wellness für Körper, Seele und Geist. In der Casa Chocolate, einem Café im Knusperhäuschen-Stil, nehmen wir einen überteuerten Morgenkaffee ein und erfreuen uns an den fantasievollen Formen von Architektur und diversem Gartenmobiliar. Prachtvolles Zedernholz diente hier als Baumaterial. Der Geschäftsführer des Hauses, ein junger Mann, der fließend Englisch spricht, erklärt uns ungefragt die Anliegen der politischen Bewegung im Land. Um die Dringlichkeit von Veränderung zu unterstreichen, deutet er auf zwei am Eingang des Lokals befestigte Plakate: ‚Austria en Austria’ titelt eine Aufnahme von einer intakter Alpenlandschaft (Heiligenblut am Großglockner), ‚Austria en Chile’ zeigt ein Bild von der großflächigen Zerstörung des Maipo-Tales durch die STRABAG. Wir erfahren, dass die Regierungen des letzten Jahrzehnts nahezu alles liberalisiert hätten – Sozialsystem und lebensnotwendige Ressourcen wie Wasser und Energieträger seien in der Hand von ausländischen Konzernen. Nun bestehe die Hoffnung, dass das Land sich eine neue Verfassung gebe. Es würde nicht einfach werden, so die Einschätzung unseres Gesprächspartners, da man mit Kapitalflucht rechnen müsse, aber an einem umfassenden Wandel von Gesellschaft und Staat führe kein Weg vorbei – ein kurzes Gespräch, das aufzeigt, wie weltumfassend die Probleme unserer Zeit sind. Meine Sympathie für die Demonstranten wächst.
Weil die Szenerie immer beeindruckender wird, wagen wir uns weiter in das Tal des Vulkans Maipo, auch als sich die freundliche Asphaltstraße erst in einen steilen Schotterweg, später in eine abenteuerliche Piste voll Querrillen, Schlaglöchern und kantigem Geröll verwandelt. Im Blick nach vorne verschwindet der schmale Fahrstreifen in steilen Schutthalden vulkanischen Auswurfmaterials. Wir können es fast nicht glauben, dass es jedes Mal irgendwie weitergeht. Längst blecken zu beiden Seiten des Tales die Fünftausender ihre weißen Gletscherzähne und das Farbenspiel von Basalt und Tuff zeigt Abrissstellen von Bergstürzen, als untrügliches Zeichen dafür, wie hochaktiv die Kräfte aus dem Erdinneren hier sind. Die Konzentration des Fahrers gilt der abenteuerlichen Piste und unserem ächzenden Auto, das sich von einem fast fabrikneuen, glänzenden Peugeot in ein stinkendes, schnaufendes, mit Schlamm bespritztes Staubmonster verwandelt. Am Ende des befahrbaren Teiles des Valle de Colina erreichen wir das Refugio Lo Valdes, eine Ansammlung von windschiefen Hütten in ca. 2.500 Metern Seehöhe, verstreut im Talboden unter den Termas Valle de Colina liegend. Amüsiert beobachten wir das entspannte Treiben in den Sinterbecken. In den ersten beiden Wannen badet niemand. Offensichtlich ist dort das Wasser zu heiß. Immerhin tritt das dampfende Schwefelwasser mit 70 Grad Celsius aus dem Berg. Die Badenden verpassen sich gegenseitig Schlammmasken und halten überaus fotogen ihre Gesichtspackung in die Sonne.
Auf dem Heimweg kommen wir an den bleigrauen Thermalquellen Baños Morales vorbei. Da wir hier noch immer keine Möglichkeit finden, unseren Bärenhunger zu stillen (es ist mittlerweile 17.00 Uhr), fahren wir rasch weiter talauswärts. In San Alfonso werden wir endlich fündig. Bei Leche con plátano (Bananenmilch), Jugo de Piña (frischem Ananassaft), Longanizas del Campo (Bratwurst) und Medallón de Arrollad Parrillero con papas salleadas y chilena (einer Art geselchtem Rindersteak mit Kartoffeln und chilenischem Tipping) stillen wir Hunger und Durst. Erwähnenswert weil überaus genussvoll: Wir sitzen eben, am Abend des 16. November, im Gastgarten und genießen angenehme 25 Grad Celsius Lufttemperatur!
Valle Central, Reserva Nacional Río Clarillo, Viña el Prinzipal
Die Nacht vor unserem Departement in Santiago, wir wohnen hier im 7. Stock eines von Sicherheitskräften bewachten Hauses, ist erfüllt von den Tonkaskaden uns unbekannter Nachtvögel. Gegen Morgen steigert sich das Konzert in eine vielstimmige Gesangsdarbietung aus zahllosen Kehlen gefiederter Stars. Wir nehmen auf unserem Balkon das Frühstück ein. Die grünen Sittiche tun es uns im Astwerk der Bäume gleich. Selbstredend, dass unser Müsli in dieser Gesellschaft mundet.
Heute wollen wir den ländlichen Süden Santiagos erforschen. Im zentralen Längstal Valle Central erstreckt sich ein 150.000 Quadratkilometer großer Gemüse-, Obst und Weingarten, im Schutz von gewaltigen Gebirgsmassiven. Die Einheimischen vergleichen ihre fruchtbare Agrarregion gerne mit dem US-amerikanischen Kalifornien. Mehr als die Hälfte des chilenischen Weins wird im Längstal erzeugt.
Ehe wir eines des Weingüter besuchen, nützen wir die gemäßigten Temperaturen des Vormittags, um die hügelige Reserva Nacional Río Clarillo, südöstlich von Pirque zu besuchen. Der 10.000 Hektar große Nationalpark erstreckt sich entlang eines mediterran anmutenden Flusstales, das zum Wandern und Schwimmen einlädt. Den kristallklaren Río Clarillo begleitet ein Streifen üppigen Grüns, der nach oben hin in karge, steinige Hänge mit Macchienbewuchs und Kandelaber-Kakteen ausläuft. Am Horizont leuchtet der Kalkstock des Cerro Blanco unter einem tiefblauen Himmel. Kurz vor der Kontrollstation der CONAF (einer privaten, gemeinnützigen Organisation zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Waldressourcen) endet die Teerstraße. Während wir genussvoll in einem schattigen Wald aus dornigen Hartlaubgewächsen und Kakteen dem gluckernden Flüsschen entlang wandern, entdecken wir Kleinode der Natur am Wegesrand und in der Luft. Mit Freude bestaunen wir die artenreiche Vogelwelt, schillernde Eidechsen, unter ihnen eine chilenische Iguana, eine Spezies, welche eine Länge von bis zu 50 cm erreicht, und Schmetterlinge in allen nur erdenklichen Farben. Im dichten Unterholz entdecken wir eigenartig unregelmäßige Spinnennetze, die aussehen, als wäre die Baumeisterin betrunken gewesen. Auch die Flora ist interessant. Wie die Schautafeln des botanischen Lehrpfades erläutern, wachsen hier der Peumo (eine Lorbeerart), der Quillay (der Seifenrindenbaum) und Hartlaub-Sträucher wie der Espino (Hagedorn). Im Trockenbereich der Hänge findet eine Steppenlandschaft voller Kakteen, Bromelien und dornigen Büschen ihr Auslangen. Aufgrund der sieben nahezu regenlosen Monate der Region besteht im Naturpark erhöhte Waldbrandgefahr. Schon jetzt im Spätfrühling brennt die Sonne sengend auf das Tal herab.
Belebt von der kleinen Wanderung, fahren wir gut gelaunt in die weite Ebene des Valle Central zurück, wo wir das Weingut Viña Santa Rita in der Nähe von Pirque besuchen. Weinstöcke so weit das Auge reicht, riesige Lagerhallen und ein mondänes Herrenhaus, alte Gerätschaften, Pressen und ein gutseigener Zug bezeugen vergangene Pracht und gegenwärtigen Geschäftserfolg. Eine Flasche des Casa Real Reserva Especial 2015 ginge um 160.000 Chilenische Pesos (umgerechnet € 200,--) in unseren Besitz über, wollten wir das.
Chilenischer Wein machte in den vergangenen Jahren durch internationale Auszeichnungen von sich reden. Seither zählt der Genuss eines guten Tropfens zum kultivierten Lebensstil. Früher hingegen hatte jeder Bauer neben seinem Acker und Obstgarten einen Weinberg und kelterte für den persönlichen Bedarf. Bis vor kurzem wurde Wein noch am Straßenrand in 5-Liter-Plastikkanistern um wenig Geld angeboten. Wein trinken gehörte wie selbstverständlich zum Alltag und hatte nichts Elitäres an sich. Verkosten, gurgeln und wortreiche wie blumige Erläuterungen des Geschmackserlebnisses gelten in Chile auch heute noch als eitles Getue. Dies dürfte auch der Grund sein, warum das Angebot an Weinverkostungen dürftig ist. Aktuell scheint besonders der spritzige Riesling den Ehrgeiz der Winzer anzustacheln. Die verlässliche sommerliche Wärme bei kühlen Nächten und die salzhaltige Luft des nahen Meeres bringen das unverwechselbare Bouquet des chilenischen Weines zur Entfaltung.
Valparaiso 1
Über eine Schnellstraße erreichen wir nach eineinhalbstündiger Fahrt die 130 km entfernte Küstenstadt Valparaiso und finden, mit Hilfe unseres Navis, ohne langes Suchen das Hotel Boutique Ultramar auf dem Cerro Cárcel. Auf der sonnigen Terrasse mit herrlicher Aussicht auf das Häusermeer der weit ausschwingenden Bucht versuchen wir uns anhand eines Stadtplans einen Überblick zu verschaffen. Pablo Neruda meinte einmal, wer alle Treppen Valparaisos begangen habe, sei um die Welt gereist. Unklar bleibt, ob er sich auf die zurückgelegte Streckenlänge bezog oder auf das kosmopolitische Ambiente der Hafenstadt. Beides wäre nämlich zutreffend. Auf den 47 Hügeln der Küstenkordillere finden sich Stadtteile, die von Menschen unterschiedlicher europäischer Abstammung besiedelt wurden.
Valparaiso – das Paradiestal? Der Name klingt wie ein Versprechen, wenngleich er auf eher prosaische Weise zustande kam. Ein Konquistador benannte die Bucht nach seinem andalusischen Heimatdorf. 1541 von Spaniern gegründet, war die Stadt jahrhundertelang geschäftiger Hafen Santiagos. Viele Häuser wurden von Engländern errichtet, die sich als Kaufleute in der Stadt einkauften und den Hafen von London aus verwalteten. Immer wieder erschütterten Erdbeben, Seebeben und politische Unruhen die wachsende Siedlung.
So paradiesisch wie sein Name nahelegt, mutet Valparaiso (auf Deutsch Paradiestal) auf den ersten Blick nicht an. Noch immer brüten wir auf der Terrasse unseres Hotels über dem Stadtplan und wandeln den Gedanken Nerudas ab: Wer in Valparaiso nicht die Orientierung verliert, findet sich auf der ganzen Welt zurecht. Außerdem entspricht die mit Rauch geschwängerte Luft nicht unserer Vorstellung vom Garten Eden. Wie wir erfahren, wütet im Umland der Stadt seit vier Tagen ein Waldbrand. Auf unserer Herfahrt sahen wir Rauchschwaden und kleine Glutnester links und rechts der Straße und beobachteten Löschhubschrauber bei der Arbeit. Der feine Ascheregen verleiht unserem Kaffee eine wenig paradiesische Note. Aber nicht meckern! Immerhin wartet mit Valparaiso ein UNESCO-Weltkulturerbe auf uns, darüber hinaus eine der faszinierendsten Städte Chiles. In dem Gewirr aus Gässchen, Stiegen sowie kleinen, oft bunten Häusern und Baracken leben heute 259.000 Menschen. Der Strand wurde künstlich verbreitert, um mehr Siedlungsfläche zu schaffen. Bequem erreichbar sind die Cerros genannten Hügel mit Hilfe der Ascensores, der Aufzüge, Kabinen- und Seilbahnen.
Jeder der Stadtteile verfügt über seinen eigenen Charakter: Italienische, deutsche, kroatische und englische Elemente finden sich in der Architektur der unterschiedlichen Viertel. Russische Schiffe liegen im Hafen. Weil Valparaiso aufgrund der Geldströme aus dem Tourismus boomt, verändert sich das Stadtbild rasch. Restaurierte Gründerzeithäuser werden zu Hotels und Restaurants umgebaut. Wohnraum ist knapp.
Mittlerweile scheint sich der Wind gedreht zu haben, denn die feine Asche in der Luft ist wie weggeblasen. Gleichzeitig hat sich die Sicht gebessert. Die Lufttemperatur ist angenehm warm, der Himmel blau. Unserer fotografischen Stadtbesichtigung steht nun nichts mehr im Wege. Wunderschön sind die variantenreichen Bemalungen der Hausfronten, die ihre teilweise ärmliche Bausubstanz durch Fantasie wettmachen. Wahre Kunstwerke finden sich auf den Wellblechwänden und krummen Steinmauern. Auch Straßeneinfassungen sind verziert. Wir spazieren durch eine wahre Explosion an Gestaltungsfreude und Kreativität, die uns ebenso beeindruckt wie die unglaublichen Aus- und Tiefblicke.
Unsere Route beziehungsweise Fotostrecke: Plaza Bismark (Cerro Carcel), über den Cerro Miraflores zur Igelsia San Luis, Cerro Alegre, Mueso de bellas Artes, Passeo Yugoslavo, Ascensor El Peral, Plaza Justicia, Armada de Chile, Plaza Sotomajor, Plaza Echauren, Iglesia La Matritz, über die Prat zum Ascensor Conecption, Paseo Gervasoni. Iglesia Luterana, Pianostiege, Paseo Atkinson, Plaza Anibal Pino.
In einem urigen Lokal an der Prat nehmen wir unser Mittagessen ein. Auch die Nachspeise mundet: dos cortados y una media luna. Die Halbmonde (media luna) sind gewöhnliche Kipferln, der Cortado eine spanische Kaffeespezialität. Letztere Bezeichnung bedeutet „Schnitt“, was sich vermutlich auf die verwendete Milch bezieht, die den Säuregehalt des Espresso reduziert. Ein Cortado wird üblicherweise in einem kleinen Glas serviert und enthält weniger Milchschaum als der etwas schwächere Cappuccino.
Am späten Nachmittag fahren wir mit einem Taxi zum Fischerhafen Caleta Membrillo. Hier wacht eine Holzstatue des Petrus über die Boote im Hafen. Sehenswert ist das alte Zollgebäude, die Antiqua Anduana. Kaum zu glauben, dass hier dereinst ein weltumspannender Handel abgewickelt wurde, als spanische Galeonen mit einer Fracht aus Seide und Silber, vom peruanischen Hafen Callao kommend, in Valparaiso anlegten, ehe sie die Heimreise ins Mutterland antraten. Heute schaukeln einige Holzschiffe träge innerhalb der Mole, Pelikane sonnen sich im schrägen Licht der Abendsonne.
Unsere Heimfahrt mit dem Bus auf der aussichtsreichen Avenida Alemania rundet auf genussvolle Art und Weise unseren Tag in der Stadt ab. Unser Valparaiso-Erlebnis war zwar nicht paradiesisch aber irdisch gesehen überaus schön.

Valparaiso 2 / Isla negra
So freundlich und blau sich der Pazifik gestern gegeben hat, so deutlich macht er heute, dass er mit dem Mittelmeer wenig gemeinsam hat. Über dem kalten Humboldtstrom vor der Küste kondensiert feuchte Meeresluft und legt sich als dichter Morgennebel über die Küste. Das erste Mal auf unserer Reise empfinden wir die Luft als kühl.
Heute begeben wir uns auf die Spur des Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda (1904 - 1973). Hoch über der Stadt, auf dem Cerro Florida liegt sein Wohnhaus La Sebastiana. Glücklicherweise befindet sich unser Hotel bereits auf halber Höhe zu dem beeindruckenden Gebäude. In seinen Memoiren schrieb der Dichter: „Die Treppen beginnen unten und oben und winden sich steigend. Sie werden fein wie ein Haar, gewähren kurze Rast, sind steil. Werden seekrank. Stürzen vornüber. Wie viele Jahrhunderte von Schritten, treppab, treppab, treppab, mit dem Buch, den Tomaten, dem Fisch, den Flaschen, dem Wein?“
Das Haus des Dichters wurde von dem Spanier Sebastian Collao erbaut, der die gesamte dritte Etage des Gebäudes als Aussichtsturm anlegte. Von hier aus kann man einen privilegierten Blick über die Bucht genießen. Der Dichter brauchte drei Jahre, um die Inneneinrichtung seines Hauses fertigzustellen. Einige Fenster gestaltete er wie Schiffsoberlichter. Anlässlich einer unvergesslichen Einweihungsfeier schrieb Neruda das Gedicht „La Sebastiana“. Am Beginn des Poems heißt es (sinngemäß übertragen): ‚Ich errichtete das Haus, es ist aus Luft gemacht, dann habe ich die Flagge gehisst und sie hängen gelassen in die Freiheit, den Stern, das Licht und die Dunkelheit.’
Regelmäßig empfing Neruda Gäste in seinem Heim und berichtete ihnen, welche voyeuristischen Geheimnisse ihm sein Teleskop offenbarte. Besonders gerne wartete Neruda in Valparaiso auf das Neue Jahr, weil La Sebastiana eine Rundumsicht auf das traditionelle Feuerwerk im Hafen bot. Nach Nerudas Tod und dem Militärputsch 1973, den der Dichter nur wenige Tage überlebte, wurde das Haus geplündert, 1991 restauriert und 1997 als Kulturzentrum eröffnet.