Roman
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Die russischsprachige Originalausgabe ist 2017
unter dem Titel »Текст« bei ACT, Moskau, Russland, erschienen.
1. eBook-Ausgabe 2018
© by Dmitry Glukhovsky
Agreement by www.nibbe-literary-agency.com
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
Europa Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von Mordolff/Getty Images
Übersetzung: Franziska Zwerg
Lektorat: Christina Links
Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95890-239-8
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
1. KAPITEL
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
GLOSSAR
Die Fensterscheibe zeigte verschwommene Tannen, das weiße Bildrauschen eines Novemberschneesturms; Telegrafenmasten flimmerten, schoben sich ins Bild wie Streifen auf einem verkratzten Stummfilm. Russland wurde auf der Scheibe gezeigt, und seit Solikamsk sah es immer so aus: Tannen, Schnee, Masten, dann eine Lichtung mit gedemütigten Bauernhütten, dann ein Bahnhof mit anämischen Zweistöckern aus Silikatziegeln und wieder Tannen, die millionenfach entlang der Schienen steckten, dicht und undurchdringlich – wie Stacheldraht, kein Durchkommen. Aber in dieser Endlosigkeit und Einförmigkeit der natürlichen Bebauung Russlands lag auch seine ganze Kraft, Größe und Schönheit. Ja, schön war das, verdammt!
»Und was wirst du tun?«
»Weiterleben. Was würdest du tun?«
»Ich würde ihn umbringen.«
»Klar. Und ich habe ihm verziehen. Jetzt will ich leben. Gibst du mir mal kurz dein Telefon? Meine Mutter geht irgendwie nicht ran.«
Der Jaroslawler Bahnhof überwältigte ihn mit Frische und Lokomotivenrauch. Nach dem säuerlichen Dunst des offenen Liegewaggons, nach dem verqualmten Eisen des Vorraums, süßlich durch Uringeruch, war die Luft hier unfassbar: jede Menge Sauerstoff, berauschend wie Tschifir. Auch Moskau war unfassbar, nach den engen Tannenfluren tat es sich den Ankommenden auf wie ein Universum. Eingemummte Menschen sprangen aus den Waggons über die Lücke am Bahnsteig, luden ihre mit Klebeband umwickelten, blau karierten China-Taschen aus, packten sie mit beiden Händen und stoben auseinander, eilten über die Bahnsteige in die Ferne wie Jagdbomber über eine Startbahn. In der Ferne war es dunstig, und in diesem Dunst wähnten die Anreisenden Paläste, Schlösser und Hochhäuser.
Ilja hatte es nicht eiliger als die anderen, ruderte nicht in der Menge – ließ sich treiben. Er schnupperte am Moskauer Himmel, gewöhnte seine Augen an die Weite, staunte schweigend. Hell war es hier, wie in seiner Kindheit. Das trübe Novembermoskau brannte in den Augen.
Gefahren war er nach Moskau, aber dort angekommen war er noch nicht. Der Bahnhof vertrat immerhin das umgebene salzig-speckige Russland. So wie die Botschaft von Bangladesch in jeder Hinsicht das Territorium von Bangladesch ist.
Am Ende des Bahnsteigs wurde gesiebt. Ilja erkannte das schon von Weitem über die fremden Köpfe hinweg. Graue Uniform, genährte Visagen, suchende, zupackende Blicke. Geschult. Zack, zack, zack. Sogar ein Diensthund an der Leine: genau wie dort. Hier war er für etwas anderes gedacht, klar. Hier schnüffelte er einfach nach Drogen, nach Sprengstoff wahrscheinlich. Aber er konnte ja auch Angst erschnüffeln.
Ilja lenkte seinen Blick ins Leere, an ihrem zupackenden Blick vorbei, um ihn nicht auf sich zu ziehen. Er versuchte, an gar nichts zu denken, um nach gar nichts zu riechen.
»Junger Mann!«
Gehorsam blieb er stehen. Wie hatten sie ihn erkannt? Am Grau seiner Haut? Am gebeugten Rücken? Am eingezogenen Kopf? Wie ein Hund die Bestie wittert?
»Kommen Sie mal her. Ihre Papiere.«
Er gab ihnen seinen Ausweis. Sie blätterten nach dem Meldestempel, schnalzten.
»Von wo kommen Sie?«
Lügen oder die Wahrheit sagen? Die werden es ja nicht überprüfen. Er war … war einfach weg. Im Urlaub. Bei der Oma. Auf Dienstreise. Wie wollten sie das überprüfen?
»Freigelassen. Nach der Haft.«
»Entlassungspapiere?«
Sofort war der Ton anders. Herrisch.
Er gab ihm die Bescheinigung. Der Uniformierte drehte sich damit weg, brabbelte etwas ins Funkgerät, lauschte auf die gebrabbelte Antwort; Ilja stand schweigend da, stritt nicht. Alles war sauber bei ihm. Die ganze Zeit abgesessen, ohne Straferlass.
»Wir haben uns also gebessert, Ilja Lwowitsch?« Endlich drehte sich der Uniformierte ihm wieder zu, gab die Bescheinigung aber nicht zurück, faltete sie einfach in der Mitte.
Hinter ihm rückte Moskau in die Ferne und schrumpfte, der Himmel wurde kleiner und rollte sich zusammen; Stimmenlärm und Autogeheul verhallten. Mit seinem Wanst, seinem gescheckten Brustkorb, seinem Fettgesicht verstellte er ihm ganz Moskau. Eigentlich wusste Ilja: Er konnte ihm nichts anhaben. Ilja musste ihn nur gewähren lassen, ihm erlauben, seine Macht auszuüben. Dann würde er nachgeben und ihn gehen lassen. Deshalb stand er hier, machte genau deshalb diesen Dienst.
»Jawohl, Herr Kommandeur.«
»Zur Meldeadresse?«
»Nach Lobnja.«
»Adresse laut polizeilicher Anmeldung?«
»Depotstraße 6.«
Der Uniformierte schaute zum Vergleich in den Ausweis, knitterte ohne Notwendigkeit beim Umblättern die Seiten. Er war wahrscheinlich genauso alt wie Ilja, aber die Schulterklappen ließen ihn älter aussehen. Dabei hatte für Ilja, und nicht für ihn, jedes der letzten sieben Jahre wie drei gezählt.
»Nach Hause also. Dein gutes Recht«, grinste er hämisch. »Paragraf zweihundertachtundzwa-anzig«, las er. »Punkt eins. Was ist das? Punkt eins? Hilf mir mal.«
»Herstellung. Und Verkauf. Bei mir war es nur Weiterverarbeitung zum Verkauf, Herr Kommandeur.«
Ilja richtete den Blick etwas unterhalb seines Kinns – es gibt einen besonderen Punkt, auf den man schauen sollte, wenn man mit diesen Beamten spricht. Nicht in die Augen und nicht zu Boden.
Der Bulle zog es in die Länge, ihm gefiel es, die Zeit dehnen zu können wie einen Draht.
Da begann der Hund einen schreckhaften Tadschiken anzubellen, der wie alle eine karierte Tasche dabeihatte.
»Na gut. Vergiss nicht, dich anzumelden.« Der Uniformierte steckte Ilja seine Bescheinigung zu. »Und keinen Handel mehr.«
Ilja nickte, ging beiseite, steckte die Papiere in die warme Innentasche, wo er gedanklich auch das Verhör abgewartet hatte. Der Uniformierte nahm sich bereits den Tadschiken vor. Der Tadschike war aussichtsreicher.
Durchgeschlüpft.
Die betäubte Welt kam langsam zu sich, begann zu sprechen.
Jetzt aber, als Ilja Moskau näher trat, sah er dort überall nur das, was er vom Zug aus nicht hatte erkennen können: Bullen. Auf dem Bahnhofsvorplatz, an der Metro, in Eingangshallen und an Bahnstationen. Scharenweise, und alle mit Schäferhundblick. Vielleicht lag das aber nicht an Moskau, sondern an Ilja.
Geholt hatten sie ihn aus dem Sommer, entlassen in den endenden Herbst. Und das Moskau, in das er entlassen wurde, hatte nichts gemein mit dem, aus dem er geholt worden war.
Moskau stand vor ihm wie ein kahler Baum im November – feucht, dunkel; früher war es überwuchert von grellen Aushängeschildern, Kiosken, an denen mit sonst was gehandelt wurde –, und nun war es rau geworden, hatte alles Bunte abgeworfen, sich bis auf den Granit entkleidet.
Ilja hatte diese Stadt früher vergöttert, als sie vorgab, ein lärmender Basar zu sein – ihm war es so vorgekommen, als könne er sich auf diesem Basar jede erdenkliche Zukunft kaufen. Er war damals immer mit der Elektritschka aus seinem Lobnja gekommen – zur Universität, in Clubs, zu Konzerten –, und jedes Mal hatte er sich vorgestellt, ein Moskauer zu sein. Er hätte nur zu Ende studieren, eine Arbeit im Zentrum finden und mit Freunden eine Wohnung anmieten müssen. Moskau stand auf magischem Grund, und der war mit Wachstumshormonen gedüngt: Steckte man seine Wünsche hinein, wuchsen daraus einträgliche Jobs, angesagte Freunde und die schönsten aller Frauen. Moskau war von sich selbst berauscht und berauschte auch alle anderen. Alles war möglich hier. Und wenn Ilja sich vom süßen Hefeteig sein Stückchen Glück abgezupft hätte, wäre Moskau davon nicht ärmer geworden.
Jetzt jedoch erschien ihm die Stadt wie in einem Traum – schließlich hatte er oft von ihr geträumt, dort, im Lager. Sie war strenger geworden und geschniegelter, ernster, förmlicher – und sah dadurch aus wie verkatert nach dem Wochenende. Er erkannte sie wieder und auch nicht; fühlte sich fremd hier, als Tourist. Als Tourist aus Solikamsk – und aus der Vergangenheit.
Er blieb eine Weile auf dem Platz der drei Bahnhöfe stehen: Inmitten der anderen verdatterten Ankömmlinge fiel er kaum auf als jemand aus dem Straflager. Konnte durchatmen und sich die Augen reiben.
Er rieb sich die Augen und ging los.
Vorsichtig setzte er seine Schritte, damit Moskau sich nicht von zu weit ausholenden Bewegungen und zu selbstsicheren Schritten tatsächlich als Traum erweisen und zerstreuen würde; damit er nicht aufwachte im Gefängnis, in der schmierigen, grauen Hütte, im klammen Mief, inmitten von Pritschen und von Leben, die in eine Sackgasse geraten waren, im Geruch von Socken und der ewigen Angst, etwas falsch zu machen.
Aber Moskau blieb fest. Die Stadt war real und für immer.
Er war freigekommen. Tatsächlich freigekommen.
Vom vorletzten Geld kaufte Ilja ein Metroticket, fuhr unter die Erde. Ihm entgegen förderte ein Fließband Menschen aus den Moskauer Tiefen – und hier konnte man ihnen ins Gesicht sehen. In sieben Jahren hatten die Menschen es geschafft, sich besser anzuziehen, sogar die Tadschiken. Entschlossen schauten sie nach vorn und nach oben, viele stiegen die Rolltreppe hinauf, konnten keine halbe Minute stillstehen: Oben warteten unaufschiebbare Dinge. Die Moskauer haben es eilig zu leben, erinnerte sich Ilja. Die Strafkolonie hingegen lehrt zu verharren.
Bei allen Entgegenkommenden – unter ihnen ältere Leute in liebevoller Umarmung, ein ins Smartphone vertiefter Pope, ein dem Alter trotzender Punk – blieb Ilja nur an den Frauen hängen. So sehr hatte er sich über die Jahre von ihnen entwöhnt. So sehr vergessen, wie wenig sie einfach nur Menschen ähneln, wie viel herrlicher sie sind!
Kaum reagierte eine von ihnen auf Iljas Blick, schnappte er nach diesem Köder, und sie zog ihn auf ihre Seite, hinter sich her, an die Oberfläche.
Aber dann runzelte eine andere die Stirn, fauchte lautlos, und Ilja verzagte sofort, verkrampfte sich: Sie konnten in ihm ja noch den Häftling erkennen. Das stand grau auf seiner Stirn, war mit einer Rasierklinge in seine erdige Haut geritzt. Wie ein grober Kittel saß seine Jacke. Frauen wittern in einem Mann die Gefahr, wittern Hunger und Unsicherheit – darin sind sie tierhaft, unfehlbar.
Weiter beobachtete Ilja sie verstohlen, verschämt, damit ihn niemand mehr entlarvte. Er lugte hinüber, und in jeder suchte er Ähnlichkeit mit Vera. Das ergab sich von selbst.
Vera wollte er auf keinen Fall anrufen.
Er wollte ihr verzeihen, sie aber nicht anrufen. Ein Gespräch würde ihm nichts bringen, selbst wenn sie sich darauf einließe. Nur ihre Stimme hören? Wozu. Er hatte in Selbstgesprächen schon so viele Male mit verteilten Rollen gesprochen, die Fragen und Antworten gleich für sie mit. Vorwürfe, Beschwörungen. Immer entglitt ihm die imaginäre Vera.
Die echte Vera hatte ihm alles in einem Anruf erklärt, schon im zweiten Jahr. Hatte sich gerechtfertigt, entschuldigt und gesagt, sie wolle nicht lügen. Sie habe jemanden kennengelernt und ein Recht darauf, glücklich zu sein. Sie hatte es wiederholt, als habe Ilja ihr widersprochen. Dabei konnte er ihr vor den anderen ja gar nicht widersprechen.
Nie war sie ihn besuchen gekommen.
Deswegen hatte er einer imaginären Vera widersprochen – noch fünf Jahre lang.
Aber auch die imaginäre Vera hatte sich nicht umstimmen lassen.
In der Metro konnte er die Menschen furchtlos betrachten, sogar jene, die ihm genau gegenübersaßen. Hier wollte niemand was von ihm: Alle waren in ihre Telefone versunken, durchfurchten die Displays – angemalte Frauen mit angemalten Fingernägeln, schlitzäugige Gastarbeiter mit Schwielen, Schüler mit Streichholzfingern –, jeder hatte hinter dem Glas ein anderes, echteres und interessanteres Leben. Früher waren nur die ganz Coolen, die ganz Jungen im Besitz eines Smartphones gewesen. Während Iljas Haftzeit hatten nun auch die Mohammedaner ihre Seiten im Internet bekommen, für die Alten gab’s was und für die Milchbärte.
Bei ihnen auf der Hütte gab es nur ein Telefon. Natürlich gehörte es nicht Ilja. Er musste sich Gesprächssekunden und -minuten auf Vkontakte.ru mit Zigaretten aus Mutters Päckchen aushandeln. Geld wäre ihm sofort weggenommen worden, aber Zigaretten wurden beim Filzen nur aufgeteilt – die Hälfte war Zollgebühr. Und jede Verbindung war teuer. Die Sekunden mit Mutters Stimme und die Minuten auf Veras Seite waren also knapp. Aber Vera lud hier kaum Fotos hoch, nur Links zu irgendwelchen Clips, zu Persönlichkeitstests, zu allem möglichen sinnlosen Schrott. Vielleicht ahnte sie, dass Ilja sie aus dem Gefängnis heraus beobachtete, wollte nicht, dass er etwas sah.
Manchmal zweigte Ilja auch etwas Zeit ab, um sich das Schwein anzuschauen. Was der so trieb. Wie es bei ihm lief. Wie sein Dienstgrad wuchs. Wie er in Thailand Urlaub machte. In Europa. Welchen »Infiniti« er sich gekauft hatte. Welche Mädels er umarmte.
Das Leben von Schwein war glorreich. Es schnürte Ilja die Kehle zu, wenn er seine Fotos sah; es zerfetzte ihm das Herz. Er konnte nicht hinsehen, aber nicht hinsehen konnte er auch nicht: wie jemand statt ihm lebte.
Für den Rest der Welt hatten Iljas Bytes nicht gereicht. Im Lager durfte man keine Schulden machen, dort war das Leben komplett im Soll.
Kein Problem, es ging auch ohne Telefon. Obwohl es, bevor er einfuhr, sein größter Traum gewesen war: Er hatte es sich von seiner Mutter ein Jahr im Voraus zum Geburtstag gewünscht, in der Uni dann immer gleich aufs Pult gelegt, wenn er zur Vorlesung kam, um die Mädels mit der Größe des Displays zu begeistern.
Es waren noch ganz andere Sachen, an die er sich dort hatte gewöhnen müssen.
Er stieg an der Sawjolowskaja aus.
Wieder Bullen. Überall Bullen.
Über den Dritten Verkehrsring wälzten sich Millionen von Autos, die Scheinwerfer brannten auch bei Tageslicht, in der Luft hing der Reifendreck, aus den Unterführungen quollen die Menschen, Moskau quirlte, atmete, war lebendig. Ilja wollte es anfassen, alles nacheinander anfassen, darüberstreichen. Sieben Jahre hatte er sie berühren wollen, die Stadt Moskau.
»Einmal nach Lobnja.«
Die Elektritschka hatte sich völlig verändert. In seiner Erinnerung waren die Züge grün, versifft, von außen beschmiert, die Scheiben zerkratzt, innen Holzbänke vierter Klasse, überall Sonnenblumenkerne, vergossenes Bier, das sich nur langsam verflüchtigte, alles war von diesem Bier durchtränkt. Und jetzt: weiße neue Wagen mit gelben Pfeilen an den Seitenwänden, weiche Sitze – für jeden ein eigener. Gesittete Fahrgäste. Die weißen Züge adelten sie.
»Kommst du mit, die Nawka gucken? Mit ihrer Eisshow?«, sagte eine abgehalfterte Tante zur anderen. »Ich war schon mal drin, zauberhaft.«
»Könnten wir machen. Die Nawka hat doch diesen Schnurrbart geheiratet, oder? Den Sekretär von Putin. Netter Typ«, antwortete die andere, über fünfzig, die ihre Abgeschlagenheit überspachtelt hatte. »Imposant.«
»Na ja«, winkte die Erste ab. »Die Nawka hätte auch was Besseres finden können. Weißt du, wen ich gut finde? Lawrow. Lawrow ist gut. Mit Lawrow könnte ich. Der ist auch tüchtiger als dein Schnurrbart.«
Ilja hörte zu und verstand nichts. Der Zug fuhr langsamer. Die leeren Gedärme knurrten, in der Herzgrube ein Ziehen. Für ein Tscheburek am Bahnhof war ihm sein Geld zu schade: Die Bude forderte Moskauer Preise, sein Fahrgeld bemaß sich an denen in Solikamsk. Wozu Geld für ein Tscheburek ausgeben, wenn es bald Mutters heiße Kohlsuppe gab?
Wie er sich auf diese Kohlsuppe freute! Drei Tage durchgezogen. Mit saurer Sahne. Ein wenig hartes Brot hineinbrocken, wie in der Kindheit, wie Großvater es ihm gezeigt hatte. Die Brühe andicken. Krusten in der Suppe versenken, aber nicht aufweichen lassen, dass sie noch etwas knusprig sind, dann den Kohlgeruch einatmen, und – den heißen Löffel in den Mund schieben. Ihm floss der Speichel.
Seine Mutter würde übereck sitzen an ihrem halbmetergroßen Tisch – und flennen. Ziemlich sicher. So lange hatten sie sich nicht gesehen.
Die ersten vier Jahre war sie alle sechs Monate gekommen: Alles, was sie von ihrem Gehalt zurücklegen konnte, gab sie für Fahrten nach Solikamsk und für Mitbringsel aus. Dann spielte ihr Blutdruck verrückt, Ilja hatte sich in der Kolonie ganz gut eingewöhnt und riet ihr nun von diesen Fahrten ab. Von da an kamen sie mit Anrufen aus, auch wenn seine Mutter ihn immer wieder besuchen wollte.
Im letzten Jahr endeten diese Gespräche oft mit ihren Tränen. Aber wieso weinen, wenn kaum noch was geblieben war, verglichen mit dem Abgesessenen. Und was hätte er ihr sagen können, wenn neben ihm ein Schließer oder, noch schlimmer, der Knacki saß, bei dem Ilja seine Mutter für eine Minute erkauft hat? Also legte er sofort auf, wenn sie anfing zu heulen. Anders wäre es nicht gegangen. Verstand sie das?
Macht nichts, heute konnte sie weinen, so viel sie wollte. Heute ging es. Alles war vorbei.
»Lobnja.«
An einem Gleis hatte die Elektritschka gehalten, das andere war bis zum Horizont zugestellt mit Güterwaggons: raureifbedeckte Zisternen mit Erdölprodukten. Im Raureif stand mit Finger geschrieben – »Krim nasch«, »Obama = Idiot«, »14/88«, »Vitalik + Dascha«, »Minsk – meine Heimat« und anderes. Ilja las es mechanisch, während er auf die Unterführung zuging.
Das mit der Krim war losgegangen, als Ilja im Lager saß, und es war an ihm vorbeigegangen. Den Knackis war die Krim egal, die Beute dieses Schließer-Staats juckte sie nicht. Knackis sind ohnehin Oppositionelle. Deswegen bekommen sie in den Strafkolonien bei Wahlen auch kein Stimmrecht.
Den Weg vom Bahnhof nach Hause wollte er zu Fuß gehen. Das erste Mal musste er ihn einfach zu Fuß gehen. Das wollte er so. Es war auch schneller, als auf das Linientaxi zu warten.
In Lobnja war das Wetter anders. Es war Moskau, das Hitze verströmte, in Abgasen schmorte. In Lobnja war die Luft klarer, frostiger; hier fielen vom Himmel eisige Kristalle, sie peitschten die Wangen. Die Bürgersteige waren nicht frei, überall festgestampfter Schnee auf dem Asphalt. Die Reifen von schmutzüberzogenen Autos kneteten ein graubraunes Gemisch. Plattenbauten mit nach außen gekehrten Nähten trotzten unfroh dem Wetter. Die Menschen wirkten argwöhnisch. Geschminkte blasse Frauen hechelten entschlossen irgendwohin, setzten ihre feinbestrumpften Beine dem Frost aus.
Eine halbe Stunde mit der Elektritschka von Moskau nur, aber es schien ihm, als sei er wieder in Solikamsk.
Moskau war über die sieben Jahre gealtert, Lobnja hingegen hatte sich kein bisschen verändert: Es war das Lobnja, aus dem man Ilja geholt hatte. Es war das Lobnja seiner Kindheit. Hier kannte er sich aus.
Von der Lenin- bog er in die Tschechowstraße. Drei kurze Straßen gingen hier ab, die jeweils von der Lenin- bis zur Industriestraße reichten: die Tschechow-, die Majakowski- und die Nekrassowstraße. In der Tschechowstraße stand die Schule Nummer 8, die seiner Mutter und seine eigene.
Sie hatte ihn natürlich bei sich untergebracht, auch wenn es gleich neben ihrem Haus – in den Höfen – eine andere Schule gab, die Nummer 4. Die wäre bequemer gewesen, näher: Bis zur achten hatte er mit Kinderschritten eine halbe Stunde gebraucht. Aber seine Mutter wollte ihn unter ihre Fittiche nehmen. Bis zur siebten Klasse gingen sie zusammen zur Schule. Dann fingen die Mädchen an, sich lustig zu machen, sodass Ilja nun immer zehn Minuten vor seiner Mutter das Haus verließ, um zu zeigen, dass er erwachsen und unabhängig war. Das mit den Zigaretten ging damals ebenfalls los.
Gegenüber der Einfahrt zur Schule erstarrte Ilja. Gelb-weißer Plattenbau, drei Stockwerke, dreiteilige Fenster, wie Kinder sie ihren Häuschen anmalen – die gleiche Schule wie überall im Land. In den letzten zwanzig Jahren war sie offenbar nie renoviert worden, als hätte man sie für Ilja in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten, damit er sich an alles leichter erinnern könnte.
Er nahm einen tiefen Atemzug. Schaute zu den Fenstern: Im ersten Stock liefen die Kleinen herum. Der Hort. Es war drei Uhr nachmittags.
Seine Mutter hatte die Schule schon verlassen.
Er hätte sie direkt hier abholen können, am Zaun, wenn der Zug früher angekommen wäre. Dann wären sie zusammen durch den Schnee nach Haus gegangen, den gewohnten Weg – die Chaussee entlang, über den Bahnübergang.
Aber mit ihr wären auch andere Pauker herausgekommen. Die Schulleiterin, diese Kratzbürste. Sie hätten Ilja natürlich erkannt, trotz der erdigen Haut und der abrasierten Haare. Wie viele Jahre hatten sie ihm ihre Buchstaben und Ziffern eingebläut … Ganz sicher hätten sie ihn erkannt.
Und wenn schon. Wie hatte Mutter ihren Kollegen seine Einbuchtung erklärt? Wie hatte er es ihr erklärt? Sie musste ihm ja glauben, konnte ja nicht denken, dass ihr Sohn ein Junkie war und mit Drogen handelte. Aber all diese Schulweiber … für die gab es da keine Notwendigkeit. Tun freundlich und mitfühlend, aber hinterm Rücken? Hatte er seiner Mutter Schande bereitet? Würden die ihn jetzt grüßen? Und Ilja sie?
Er steckte die Hände in die Taschen, plusterte sich auf, eilte weiter. Damit sie ihn bloß nicht sahen. Später würde er alle treffen, bis dahin wüsste er, was er sagen, wie er sich verhalten soll. Früher oder später traf er sowieso alle. Klein war die Stadt – Lobnja.
Über die Industriestraße, vorbei an einer russischen Betonmauer, gelangte er auf die Bukinskoje-Chaussee. Er trotzte dem Schnee, lief auf dem Randstreifen, rutschte, fiel aber nicht. Durch die Schneeflocken schimmerte die Fakultät für Finanzrecht, Vera hatte hier studiert.
Vor der Nummer 27 blieb er wieder stehen.
Veras Haus.
Ein grauer Sechzehnstöcker mit gelben, verglasten Loggias: So nannten die Leute ihre Balkons, wenn sie versuchten, dem Leben ein paar zusätzliche Quadratmeter abzuringen. Ilja zählte bis zur siebten Etage. Ob Vera noch da war? Oder war sie nach Moskau gezogen, wie sie es vorgehabt hatte? Sie war jetzt siebenundzwanzig, wie Ilja. Da wohnte sie wohl kaum noch bei den Eltern.
Solche schäbigen sechzehnstöckigen Plattenbauten wie Veras gab es hier drei, sie standen abseits, am Rand der Siedlung. Unten war ihnen ein kleines Gebäude aus roten Ziegeln angeklebt worden, das nach Eigenbau aussah: ein hier völlig deplatziertes Theater. Oberhalb der zweiten Etage waren riesige Buchstaben angebracht, seltsamerweise in Fraktur: KAMMERTHEATER. Ilja tastete sie mit den Augen ab. Und belächelte den neuen, tieferen Sinn dieses alten Namens.
Das Theater hatte hier immer gestanden und immer so geheißen, seit sich Ilja erinnern konnte, seit er zu diesem Haus gekommen war, um Vera zu bringen oder abzuholen. Auf dem Spielplan: »Baal«, »Offene Zweierbeziehung«, »Fünf Abende«. Demnächst auch die Silvesterrevues.
Ihn fröstelte. Inmitten der Platten- und Betonkulissen erlangte seine schemenhafte Vergangenheit auf einmal beißende Schärfe. Er sah sie deutlicher, als ihm lieb war.
In der neunten Klasse, im April, hatte er Vera hierher eingeladen. Zu den »Drei Schwestern«. Ihre Eltern hatten es erlaubt. Während der gesamten Aufführung streichelte er ihr Knie, lauschte auf ihren unregelmäßigen Atem. Lauschte und schwebte. Sein Herz hämmerte. Das Brabbeln der Schauspieler hörte er kaum.
Aber Vera schob seine Hand weg, und zur Wiedergutmachung verhakelte sie ihre Finger in seine. Ein süßes Parfüm hatte sie, mit einer scharfen Note. Später merkte er: Die Schärfe in diesem süßen Cocktail – das war sie selbst. Vera, ihr Moschus. Nach Moskau! Nach Moskau!
Später im Hauseingang hatte er sie ungeschickt geküsst. Es roch nach Katzen und undichter Dampfheizung: heimelig. Der Geschmack ihrer Zunge war genauso wie der seiner eigenen. Kein bisschen ähnelte dieser Kuss dem in Büchern. Ein Ziehen unterhalb des Bauchs, peinlich war das, aber er konnte es nicht aufhalten. Vera flüsterte. Nachdem ihr Vater sie aus dem siebten Stock durchs Treppenhaus gerufen hatte, kratzte Ilja an dieser Stelle mit dem Schlüssel in die Wand: »Vera + Ilja«. Wahrscheinlich war das Bekenntnis immer noch dort. Jeden Tag war sie daran vorbeigegangen und – hatte drauf gepfiffen.
Nach den Ferien, als alle schon ziemlich erwachsen geworden waren, hatte sie ihn zu sich eingeladen. Ihre Eltern waren nicht da. Lass uns Hausaufgaben machen. Ein gestreiftes Sofa, durchgesessen. Moschusgeruch. Kein Parfüm also. Hell war es, und wegen der Helligkeit peinlich. Auf dem Fußboden stand eine halb volle Zwei-Liter-Flasche Fanta. Danach tranken sie – verschwitzt, ausgehungert – nacheinander gierig vom orangenen Limonaden-Geprickel, schauten einander an, wussten nicht, wie es weitergehen sollte.
Es ging weiter. Noch drei Jahre. Es war einmal …
Ilja blinzelte zu ihrem Balkon hinauf, zu den Fenstern: Ist da nicht eine Silhouette? Nichts zu erkennen. Nein, Vera war keinesfalls mehr da. War längst in Moskau. Ein leerer, blinder Balkon. Trübes Balkonglas und dahinter – ein Fahrrad wohl, Gläser mit Eingelegtem, die Angeln ihres Vaters.
Er überquerte den Bahnübergang, ging weiter die Bukinskoje-Chaussee entlang, versuchte dabei, sich auf der verschneiten, dunkler werdenden Straße den Sommer auszumalen und die sommerlichen Spaziergänge mit Vera auf diesem Weg. Es wurde nichts. Stattdessen hing ihm, zudringlich wie Tabakqualm und mit den Händen nicht wegzufächeln, das Bild aus dem »Paradies« vor Augen. Aus jener Nacht. Die Tanzfläche. Das Schwein. Alles, was dann geschah. Das Bild blieb und brannte wie Qualm in den Augen, bis ihm die Tränen kamen. Hatte er es damals richtig gemacht? Ja. Wirklich? Und sie? War es trotzdem richtig, ja?
Macht nichts. Das war jetzt alles vorbei. Schon bald wären die sieben Jahre vergessen. Das normale Leben begann.
Linker Hand ließ er die Grünanlage von Lobnja liegen: vier Bänke im Quadrat zu Füßen eines gewaltigen Strommasts, daneben dicht gedrängt kleine Birken, kümmerlich und verkrüppelt durch die Nähe zur Hochspannungsleitung. Trotz der eiskalten Kristalle taten Mamas mit Kinderwagen ihren Dienst auf den Bänken, fütterten die Kleinen mit Sauerstoff.
Er bog in die Kompaniestraße ein.
Kam am Denkmal für jene Kompanie vorbei, die Lobnja während des Kriegs verteidigt hatte: auf dem Sockel eine alte Flak, die von einer Art riesigem Schützengraben aus Granit umgeben war. An den Innenwänden des Schützengrabens – Täfelchen mit den Namen der gefallenen Helden. Nur einen schmalen Zugang gab es von der Straße aus, ansonsten war das Innere des Grabens nicht einzusehen.
Hier hatte er mit Serjoga meistens nach der Schule geraucht, während sich daneben Penner mit Wodka von zweifelhafter Herkunft vergifteten. Serjoga und er waren die Namen auf den Täfelchen durchgegangen: Wer den witzigsten fand, hatte gewonnen. Die Penner erörterten in ihrem Paralleluniversum mit schwerer Zunge das Leben. Ilja prägte sich einzelne Worte ein. Dann gingen sie immer zu Serjoga, Playstation zocken, bis seine Alten nach Hause kamen. Danach lief er eine Weile allein durch die Straßen, wollte den Rauch auslüften. Wäre seine Mutter hinter die Pafferei gekommen, hätte es was gesetzt.
Am Kompaniedenkmal überquerte er die Straße – und da begann schon die Depotstraße. Es versetzte ihm einen Stich.
Der Hof bestand aus Häusern der 60er: graubraune Ziegel, weiße Rahmen. Das schiefe Karussell leicht eingeschneit. Kahle Birken, fünf Stockwerke hoch.
Schon war sein Haus zu sehen, Ilja entdeckte sogar sein Fenster, an der Stirnseite. Sah ihn seine Mutter? Sicher hielt sie nach ihm Ausschau, während sie das Essen warm machte. Er winkte ihr hoch.
Ging an den Garagen vorbei.
Der Müllschuppen war mit Figuren aus sowjetischen Trickfilmen bemalt: Löwenjunges, Schildkröte, Winnie Pooh, Schweinchen. Verblichen, abgeblättert, immer noch lachend. Über den Garagen war Stacheldraht gespannt: Dahinter befand sich das Gelände des Eisenbahndepots, das der Straße ihren Namen gab. Eine Alte krümelte den verfrorenen Müllplatz-Tauben Brot hin, und für dieses kostenlose Brot quälte sie sie mit Belehrungen. Ein unbekanntes Mädchen in einem plüschigen Hausanzug kam heraus, wollte Müll wegtragen. Sie bemerkte Ilja: Ihre Wege hätten sich an den Mülltonnen gekreuzt. Vorausschauend drehte sie sich weg und trippelte mit ihren Tüten durch die Kälte zum entfernteren Müllschuppen. Ilja schob nur die Hände tiefer in die Taschen.
Sein Hauseingang. Er hob den Finger zu den Knöpfen der Türsprechanlage. Ihm wurde schwindlig. Die Knöpfe waren dieselben wie vor sieben Jahren. Auch die Tür. Nur sein Finger, der war ein anderer. Aber das Treppenhaus würde doch dasselbe sein? Und die Wohnung. Und Mutter.
Er drückte: Null, Eins, Eins. Ruf. Ein Piepsen. Sein Herz ziepte. Er hatte nicht erwartet, so aufgeregt zu sein. Wozu sich aufregen?
Wie oft hatte er sich diesen Tag vorgestellt. Wie oft an ihn gedacht. Wenn er etwas in der Kolonie ertragen musste – dachte er an den Hauseingang, an die Klingel. An seine Rückkehr. Es gab Dinge, die er dort hatte fressen müssen – um wiederkommen zu können. Um wieder normal zu werden. Wie?
Zu Ende studieren. Seine Mutter hatte am Telefon immer gesagt: Du darfst dich von denen nicht zerstören lassen. Sie haben dir so viele Jahre weggenommen, aber du bist noch jung. Wir kriegen das hin. Du hast es schon mal ohne Schmiergeld an die Moskauer Uni geschafft, warst richtig vorbereitet, also darfst du auch zurück. Wenn nicht zu den Philologen, nicht an die Uni, dann irgendwo anders hin. Du bist begabt, hast einen wendigen Verstand, der darf bloß nicht verknöchern und steif werden. Lass dich nicht verrohen. Du hast eine Schutzschicht. Sie wehrt alles ab, alle Abscheulichkeiten. Was auch mit dir geschieht, im Gefängnis, lass es nicht an dich ran. Als wäre da ein anderer, nicht du. Als wäre es eine Rolle, die du spielen musst. Und dein wahres Ich hat sich in deiner Innentasche versteckt und wartet da ab. Versuch dort bloß nicht, den Helden zu spielen, um Gottes willen. Tu, was ich dir sage. Sonst machen sie dich kaputt, Iljuscha. Sie machen dich kaputt oder bringen dich um. Das System lässt sich nicht austricksen, aber du kannst dich unsichtbar machen, dann vergisst es dich. Du musst abwarten und ausharren. Du kommst zurück, und wir bringen alles in Ordnung. Gucken die Nachbarn schief, ziehen wir in dein geliebtes Moskau. Da erkennt einen niemand, da reicht das Gedächtnis der Leute nur für einen Tag. Und du findest eine Neue, lass sie doch, die Vera, man kann sie auch verstehen. Komm nur lebend zurück, gesund. Ja, und von mir aus zeichne für die. Siebenundzwanzig – da fängt das Leben erst an!
Die Gegensprechanlage schwieg. Also noch mal. Null. Eins. Eins. Vielleicht war sie einkaufen? Weil Sahne fehlte oder Brot? Ilja schaute sich ratlos um: Einen Schlüssel hatte er nicht dabei. Ohne seine Mutter konnte er nicht heim. Er rüttelte an der eisigen Klinke.
Trat ein paar Schritte zurück. Sah hoch zum Fenster im zweiten Stock. Das Oberfenster öffnete sich zu einem schwarzen Loch – sie lüftete die Küche – aber in den übrigen Scheiben zeigte sich der Himmel wie zäher Zement. Härtete. War es nicht Zeit, das Licht anzumachen? Bei den Nachbarn brannte es schon.
»Ma! Ma-a-ama!«
Hatte sie also doch das Haus verlassen? Wie lange sollte er hier stehen jetzt? Oder musste er alle Läden ringsum abklappern? Kein Brot da? Egal! Sie hätte auf ihn warten sollen, er wäre selbst gegangen. Zwei Tage unterwegs, die Rübe juckte, der Bauch krampfte, und dann musste er auch noch dringend, seit er vom Bahnhof losgelaufen war.
»Mama! Ma-a-a-ama!!! Bist du da?«
Die Fenster bleiern. Auf einmal wurde ihm bang.
Null-zwölf.
»Wer ist da?«, kam es heiser von dort.
Gott sei Dank.
»Tante Ira! Ich bin’s! Ilja! Gorjunow! Genau! Meine Mutter macht nicht auf! Bin zurück! Freigelassen! Alles abgesessen! Machen Sie mir auf?«
Die Nachbarin beschaute ihn erst durchs Guckloch. Ilja stellte sich extra unter die Glühbirne, damit Tante Ira seinen Kern erkennen konnte durch die angesammelten Jahresringe.
Das Schloss knirschte. Sie kam vor die Tür: Hosen, kurzes Haar, gedunsenes Gesicht, Damenzigarette. Buchhalterin im Depot.
»Ilja, Iljuschka. Wie konnten die dir nur …«
»Und meine Mutter? Wissen Sie, wo sie ist? Ich kann sie nicht erreichen, und jetzt …«
Tante Ira zirpte mit dem Feuerzeug. Zirpte noch mal. Zog die Wangen ein. Schaute zum Müllschlucker zwischen den Etagen – an Iljuschkas Augen vorbei.
»Vorgestern ist sie … das Herz tat ihr weh. Rauchst du?«
»Ja. Ständig habe ich angerufen … Sie ist im Krankenhaus? In welchem? Hat sie denn ihr Handy nicht mitgenommen?«
Tante Ira gab ihm eine dünne weiße Zigarette mit goldenem Reif.
»Die vom Rettungsdienst sagten, es war ein Infarkt. Ein schwerer.«
Knisternd saugte sie den Rest der Zigarette auf. Zündete daran die nächste an.
»Das heißt …«, Ilja schüttelte den Kopf. Zu rauchen fehlte ihm die Luft. »Das heißt? Sie ist auf der Intensivstation?«
»Sie haben noch … also, sie haben es versucht. Aber sie waren zu lange hierher unterwegs. Obwohl es ja gleich um die Ecke ist.«
Sie schwieg. Wollte es nicht aussprechen, wollte, dass Ilja selbst alles begriff.
»Wir haben doch erst … Wir haben vorgestern noch telefoniert … Als ich rauskam … Da habe ich sie angerufen … Sie sagte … Ungefähr zum Essen …«
»Genau, zum Essen. Und ich habe so gegen fünf bei ihr geklopft. Wollte zum Fleischer. Dachte, ich kann ihr was mitbringen. Und da … Da steht die Tür auf, sie sitzt am Boden, angezogen. Und ich gleich: Lass uns den Notarzt rufen!«
»Sie lebt nicht mehr? Ah, Tante Ira!«
Ilja lehnte sich an die Wand.
»Da sag ich zu denen: Warum braucht ihr so lange!« Die Nachbarin wird lauter. »Wann habe ich angerufen! Und sie – da war noch ein anderer Anruf, auch eilig, wir können uns ja nicht zerreißen. Ein Magnetsturm, da hat’s alle Alten umgehauen. Und ich zu ihnen: Was hat das mit den Alten zu tun? Ihr solltet euch schämen! Die Frau ist erst sechzig. Nein, nicht mal sechzig.«
»Und wo. Wohin ist sie.«
»In unseres hier. Ins städtische. Fährst du? Sie muss ja abgeholt werden. Mit der Beerdigung muss man sich was überlegen. Mühselig ist das, so eine Beerdigung, das weißt du noch nicht, aber ich habe meine ältere Schwester beerdigt, du kannst dir das nicht vorstellen. Denen musst du was zustecken, und jenen, einfach allen.«
»Ich fahre. Nicht jetzt. Ich … Später.«
»Sicher, bist ja grad erst angekommen. Willst du reinkommen? Hast du Hunger?«
»Und wie komme ich bei mir rein?«
»Einfach so … Da ist offen. Wer weiß, wo sie ihre Schlüssel hat. Kommst du kurz rein?«
Ilja schüttelte den Kopf, drehte sich zu seiner Tür. Lauschte, was dort war. Tante Ira dachte nicht daran, in ihre Wohnung zu gehen, war neugierig. Aber Ilja konnte die Klinke noch nicht herunterdrücken.
»Ich habe doch vorgestern noch mit ihr gesprochen.«
»So ist das nun mal. Da lebt ein Mensch, und schon ist er weg. Sie hat sich ja oft übers Herz beklagt. Legte sich dann immer eine Tablette unter die Zunge, und schon ging’s besser. Ja, wer ist heute noch gesund! Ich ja auch nicht – scheinbar geht es, aber sobald das Wetter zickt, zerspringt mir der Schädel.«
»Ich komme später vorbei. Danke für den Notarzt … Von Herzen.«
Ilja stieß die Tür auf. Betrat die Wohnung. Schaltete im Flur das Licht an. Knöpfte die Jacke auf. Hängte sie an den Haken. Schloss die Tür. Steckte seine Füße in die Hausschuhe. Die hatten auf ihn gewartet. Er blieb stehen. Musste aber weitergehen.
»Mama?«, flüsterte er. »Ma.«
Er tat einen Schritt und war in ihrem Zimmer. Das Bett zerknüllt, die Matratze verrutscht. Das Foto von Ilja im Rahmen umgeworfen, rücklings liegt er da, lächelt – stolz auf sich, verpickelt, fröhlich. Gerade angenommen zum Philologiestudium. Dabei hatten alle gesagt – wenn du die nicht schmierst, nehmen sie dich nicht. Aber bei den Ergebnissen in der Aufnahmeprüfung hatten sie ihn einfach nehmen müssen. Er war von seiner Mutter vorbereitet worden. Eine Schublade war aufgezogen. Die, wo sie ihre Geldkassette hatte. Er schaute hinein – alles weg. Ausgeräumt.
Er ging in sein Zimmer.
Leer. Keine Mutter, kein Ilja.
Die Bücher auf den Regalen waren anders geordnet, Science-Fiction vermischt mit Klassik, als hätten sie auch in den Büchern nach Geld gesucht. Aber auf dem Tisch lag die alte Bleistiftzeichnung, seine Illustration zu Kafkas »Verwandlung«. Auch der Bleistift lag da. Er hatte in jener Nacht daran gesessen. Bevor sie ihn holten. Sieben Jahre hat dieses Blatt hier gelegen, ja und alles, bis auf die Bücher, war so, als sei Ilja nur mal eben in der Uni.
Blieb noch, in die Küche zu schauen. Wenn sie nicht in der Küche war, dann war sie nirgends.
In der Küche war es kalt. Der Vorhang blähte sich vom Durchzug. Ein altbackenes Weißbrot auf der zerschlissenen geblümten Wachstuchdecke, ein Allzweckmesser, eine angetrocknete Kochwurst mit weißen Fettstücken, die ringförmig verschrumpelte Wurstpelle. Auf dem abgestellten Gasherd – ein riesiger Emailletopf. Ilja hob den Deckel.
Kohlsuppe. Ein ganzer Topf Kohlsuppe.
In der Toilette stand er im Dunkeln. Konnte zuerst nicht. Dann kam der Strahl – und ihm schien, es floss Blut. Kein rotgelber Urin, wie nach einem Schlag in die Nieren, sondern schwarzes venöses Blut, dick und schal. Keine Erleichterung. Er schaute ins Klosettbecken – nein, alles gut. Die Hände seifte er sich zweimal ein. Dann spülte er sie eiskalt ab.
Er nahm sich mit der Kelle von der kalten Kohlsuppe, so, wie sie war, ohne sie aufzuwärmen. Zerschnitt mit dem Messer die getrocknete Brotrinde, verrührte sie in der Brühe.
Schaltete den Fernseher an. Es lief »Comedy Club«.
»Welches Passwort? Versuch’s mal mit ›Medwedjew‹.«
»Oh! Passt!«
»Klar, Medwedjew passt überall!«
Der Saal lachte mit weißen Zähnen. Schöne junge Frauen lachten. Braun gebrannte, gepflegte Männer lachten. Ilja blinzelte. Er verstand rein gar nichts. Keinen einzigen Witz.
Er nahm einen Löffel kalter Suppe in den Mund. Schob ihn in den Rachen. Noch einen. In den Rachen. Noch einen, noch einen. Einen für Mama. Wodka hätte er kaufen sollen. Wodka, genau.
Wer immer die Wohnung ausgeraubt hatte – Nachbarn, Diebe oder die Ärzte vom Rettungsdienst –, alle Verstecke seiner Mutter hatten sie nicht entdeckt. In der Kommode fanden sie Geld, hinter dem Pickel-Foto, aber unterm Laminat hinter dem Bett hatten sie nicht einmal gesucht. Dort waren ganze fünftausend Rubel in einem Schein. Gibst du mir Geld, Mama?
Ilja schaute sich den Fünftausender aufmerksam an. Würde er lange reichen? Während er saß, hatte sich der Wert des Rubels halbiert. Die Metro kostete vorher fünfundzwanzig und jetzt fünfzig. Geld zu sparen hatte keinen Sinn: Die Zeit ließ es einem wie Sand durch die Finger rinnen. Und es gab ja auch kein Morgen, für das es zu sparen lohnte. Das Leben reißt immer am heutigen Tag ab.
Die Schlüssel waren nirgends. Vielleicht in Mutters Taschen?
Seltsam war es, sein Zuhause nicht abschließen zu können. Er fühlte sich dadurch fast so, als hätte er keins.
Bei der Nachbarin borgte er sich einen Hausschlüssel, ging zum Laden »Magnit« über die Straße, griff sich eine Flasche, dann noch eine zweite. Der schlitzäugige Kassierer ließ seinen neuen Fünftausender dreimal durch den Scanner laufen, so wenig war er Ilja zuzutrauen, aber er sprach seine Zweifel nicht aus. Das Geld war echt, vom Lehrergehalt.
Die Flaschen in der Tüte klirrten so verflucht zauberhaft, wie Glöckchen am Kummet der fliegenden Troika Russland. Ilja ging über die Moskowskaja zur Depotstraße, trug das erste Mal unverhohlen Wodka nach Hause: Er musste ihn vor niemandem verstecken, und anzulügen brauchte er auch niemanden.
Wenn ihm doch nur Serjoga über den Weg liefe. Damit es kein Leichenschmaus wäre, sondern eine Wiedersehensfeier. Man könnte beim Trinken anstoßen. Aber die angenehmen Zufälle waren schon auf andere verteilt. Vielleicht war Serjoga auch weggezogen – von der Moskowskaja nach Moskau?
Ilja stieg zu seiner Wohnung hinauf. Es war offen.
Er setzte sich an den Tisch. Aus der Flasche trank er nicht, goss den Wodka in ein verstaubtes Gläschen aus dem Geschirrschrank. Hoch das Glas. Und runtergekippt. Das brannte. Wurstfett auf die Brandwunde. Gleich noch einen. Und noch einen. Das war nötig. Unbedingt. Nüchtern ist der Tod unfassbar. Real ist er nur für Betrunkene, wie die Liebe.
Das letzte Gespräch war kurz gewesen. Das war’s, Mama. Ich bin raus. Ich fahr los. Gott sei Dank, Iljuscha. Ich freu mich auf dich. Gott sei Dank.
Wie konnte das passieren? Warum war er zu spät? Wieso hatte sie es so eilig gehabt? Eine Kluft von zwei Tagen. Nun konnte sie sich nicht mehr ausweinen, und er konnte ihr keine Vorwürfe machen wegen dieser vergeblichen Tränen. Sie konnte ihn nicht über das Gefängnisleben ausfragen, und er konnte sich nicht ausschweigen. Sie konnte ihm keine normale Zukunft ausmalen und er nicht müde das Gesicht verziehen.
Sie war tot.
Tot. Daran musste er sich gewöhnen.
Er schnappte sich die Flasche, zog um ins Kinderzimmer, wie seine Mutter es genannt hatte. Er hatte sie dafür ausgeschimpft, sie wollte damit aufhören und vergaß es trotzdem manchmal.
Ihre Wohnung hatte fünfzig Quadratmeter, ganz anständig. Für zwei war sie genau richtig, für einen zu geräumig. Laminatboden, tapezierte Wände, braune Möbel, Küche sechs Quadratmeter, gekacheltes Bad, eine gemütliche Toilette: die Wände mit Gummiziegeln beklebt. Eine Loggia.
Sein Fenster ging zum Depot hinaus. Zu dessen Hangar, zu den ausrangierten Waggons und Lokomotiven, klein und niedlich. In der Kindheit war es seine, Iljas, Spielzeugeisenbahn gewesen. Ein Geschenk aus dem Nichts. Die beste Aussicht in der Stadt. Stundenlang konnte man hinschauen.
Ins Depot führten von irgendwo rostige Schienen und endeten dort: eine Sackgasse. Aber Ilja war zu Hause in dieser Sackgasse mit ihrer umgestülpten Perspektive. Das Depot war für ihn Ausgangspunkt, der Beginn des Wegs, der über die Eisenbahnschwellen zum Horizont führte.
Da war er nun mit einem Transportwagen über diese Schienen ans andere Ende von Russland gelangt, hatte sieben Jahre wie in einem trüben Zerrspiegel des Moskauer Lebens verbracht und war zurückgekehrt: eine Sackgasse eben. Endstation.
Er stieß mit dem Depot an.
Ohne besonderes Interesse blätterte er in seinen alten Büchern; früher hatte er gedacht, darin stände die Wahrheit über das Erwachsenenleben, aber wie sich dann zeigte, gab es die Wahrheit nicht gedruckt. Er trank mit den Strugatzkis, mit Platonow, er trank mit Jessenin.
Literatur und Russisch hatte seine Mutter unterrichtet.
Ilja ging in ihr Schlafzimmer. Kniete vor ihrem Bett. Legte sein Gesicht auf ihr Kissen. Atmete tief ein. Es sah ja niemand, was soll’s. Wenn niemand zusieht, ist es nicht peinlich.
Es roch säuerlich – nach Einsamkeit, Starrsinn, nahendem Alter. Das Leben seiner Mutter war hier versauert. Sie hatte Ilja mit zweiunddreißig durch Zufall bekommen. Von einem Vater hatte sie ihm nicht mal was vorgeflunkert, wie sehr er auch danach fragte: keiner da, hat ja nicht jeder einen. Der Mann im Haus war also er gewesen.
Früher konnte man bei ihr ganz schnell auf diesen Stahl stoßen: als wenn man eine saftige Bulette verschlingt und aus Unachtsamkeit plötzlich voll auf die Gabel beißt, Sterne sieht. In der Schule rief sie ihn immer nur beim Nachnamen. Gorjunow, zur Tafel. Eine Drei, Gorjunow, setzen. Welche Schande.
Bei Gericht war sie ganz aus Stahl. Als das Urteil gebrabbelt wurde, war sie aus Stahl. Und zu Beginn der Haftzeit. Dann fing der Stahl an zu bröckeln – vor Überhärtung.
Der Mann im Haus.
Ob sie andere Männer gehabt hatte? Eins war klar: Nach Hause brachte sie nie jemanden. Seine Fragen unterband sie. Über Anspielungen lachte sie. Aber sie war doch ein Mensch, wie konnte sie ohne Liebe sein? Hatte sie nur für ihn gelebt? Ilja konnte die gesamte Mutterliebe nicht in sich aufnehmen, ihr aber auch nicht entkommen. Und für ihre Liebe hatte sie ihm viel abverlangt.
Er überlegte, ob seine Mutter schön war. Dabei merkte er, dass er sich nicht richtig an ihr Gesicht erinnern konnte. Das erschreckte ihn. Er wühlte in der Kommode, fand das Fotoalbum.
Da überlief es ihn eiskalt.
Nun erst erblickte er sie. Nun erst wurde ihm klar, dass er sie nie wiedersieht. Er trank aus der Flasche.
Begann zu blättern. Neue Fotos gab es nicht. Alle Aufnahmen im Album waren gemeinsame: Ilja und sie in der Schule, Ilja und sie am Strand von Koktebel, Ilja und sie auf der Datscha einer Freundin. Nachdem sie Ilja geholt hatten, hörte sie auf, sich fotografieren zu lassen. Es begannen Jahre, die man besser nicht festhält.
Er kippte noch einen.
Am Ende des Albums kam nur noch Ilja. Mit Freunden von der Uni, dann mit Vera. Die Aufnahmen mit Vera hatte sie bei ihm gefunden. Jene, von denen er noch Abzüge hatte machen lassen. Denn sein Telefon mit allem Unausgedruckten wurde beschlagnahmt und den Akten beigelegt. Was hatte es da schon gegeben? Vera schlafend, nackt? Serjoga und Sanka auf dem Dach eines Hochhauses, ganz außen, am schwindelerregenden Rand? Das betrunkene Hochsommer-Skating im WDNCh?
Warum?!
Warum taten sie das?! Was hatte er verbrochen, dass sie das mit ihm taten?!
Das Urteil schluckte er, das Lager schluckte er, Veras Verrat schluckte er, eifrig zeichnete er für die Oberschließer Wandzeitungen. Aber alles ließ sich nicht herunterschlucken. Man konnte nicht vor allem die Augen verschließen. Aber vielleicht musste man? Vielleicht hätte er, wie seine Mutter sagte, bis zum Schluss in dieser verfluchten Innentasche abwarten müssen? Dann wäre er ein halbes Jahr früher gekommen!
Der Wodka hatte seinen Geschmack eingebüßt. Durch ein Wunder war Wasser daraus geworden. Selbst die Luft schien bitterer.
Ilja saß da, schaute auf ihr Telefon. Das Zimmer schmolz in der Hitze. Aus Mutters Fotoalbum schaute ihn Vera fröhlich an; also hatte Mutter ihr verziehen, hatte Vera nicht aus seinem Leben gerissen.
Er nahm den Hörer ab, nur um zu hören, ob da ein Tuten war. Es tutete.
Klagend, herausfordernd.
Drei Nummern kannte er auswendig. Mutters. Veras. Serjogas.
Dazu brauchte er nicht einmal sein Gedächtnis. Der Daumen tanzte von allein den Jig auf den Knöpfen, Ilja musste nur zusehen. Er legte den kalten Hörer ans Ohr. Er wollte ihn wegreißen, solange es nicht zu spät war, aber schon war er festgewachsen. Sein Herz pochte.
Als würde nicht Serjoga am Rande des Daches sitzen, sondern Ilja. Als würde er mit den Beinen baumeln und sich vorlehnen, um den Abgrund besser zu sehen.
»Hallo.« Da war sie. Absturz.
»Hallo, wer ist da?«
Sie hatte seine Festnetznummer gelöscht. Vielleicht auch ihr Telefon mit allen Kontakten verloren. Verloren oder gelöscht? Das war jetzt die entscheidende Frage.
»Vera?«
»Wer ist da?«
»Vera, ich bin’s, Ilja.«
»Welcher Ilja?«
»Na, dein Ilja. Gorjunow. Die haben mich rausgelassen. Das heißt … Ich hab’s abgesessen. Ich bin raus, Vera.«
»Bist du betrunken? Herrgott, es ist doch erst sechs.«
»Na und! Vera … Ja. Bist du in Moskau? Bist du weggezogen?«
»Ist doch egal. Ja, bin ich. Warum fragst du? Bist du … bist du wirklich raus?«
Es stimmt nicht, dass Wodka betäubt: Er macht dumm, ja, man kann nicht mehr richtig denken, ein Gespräch führen, sich vorm anderen in Acht nehmen. Aber man hört besser. Sowohl sich selbst als auch den anderen – als könne der andere mit seinem nüchternen Verstand seine Gefühle nicht hinter Worten verstecken. Wodka ist wie Röntgen.
Aus Veras Stimme klang Angst. Angst und Unzufriedenheit. Sie hatte gefragt: Bist du wirklich raus? Und wollte, dass Ilja antwortete: Ein Witz.
»Wirklich.«
»Und was willst du von mir?«
»Ich … Ich dachte, wir treffen uns … sehen uns mal? Das könnten wir doch, oder?«
»Nein. Ilja, nein. Nein, entschuldige.«
»Vera … Warte … Vera! Weißt du … ich war dort sieben Jahre! Sieben. Du warst hier und ich dort, verstehst du?«
»Ich habe mein eigenes Leben, Ilja, mein eigenes. Schon lange.«
»Klar, hast du dein Leben, sicher doch. Und ich war im Lager. Und nun bin ich zurück.«
Das hatte sie schon begriffen, wollte nichts hinzufügen. Schwieg einfach. Schien nicht mal zu atmen.
»Ist … ist er gut? Ein toller Typ? Ja?«