Dialoge über natürliche Religion

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Fußnoten

  1. Chrysipp, zitiert bei Plutarch, de repug. Stoicorum [9, 10–35].

  2. [John Milton, Paradise Lost II, 565–569.]

  3. L’art de penser [Antoine Arnauld, La logique ou l’art de penser, 1662].

  4. Pierre-Daniel Huet.

  5. Recherche de la Vérité, Buch III, Kap. 9.

  6. Buch II, 1094 [De rerum natura II, 1095–1099].

  7. De natura deorum, Buch I [8, 19].

  8. Samuel Clarke.

  9. République des Lettres, August 1685 [September 1685].

  10. Diese Meinung ist zwar schon vor Leibniz von William King und einigen wenigen anderen vertreten worden; doch keiner von ihnen war so berühmt wie dieser deutsche Philosoph.

  11. John Milton, Paradise Lost XI, 484–492.

  12. [John Dryden, Aureng-Zebe, 4. Akt, 1. Aufzug.]

  13. De formatione foetus [Kap. 6].

  14. Buch VI, Kap. 54 [Kap. 56].

  15. Iphigenie bei den Taurern [V. 1205].

  16. [Epistulae morales ad Lucilium 95,47.]

  17. Siehe etwa Wolfgang Stegmüller, Das Problem der Induktion. Humes Herausforderung und moderne Antworten, Darmstadt 1975 oder Tom L. Beauchamp / Alexander Rosenberg, Hume and the Problem of Causation, New York 1981.

  18. John Leslie Mackie, Hume’s Moral Theory, London 1980.

  19. Terence Penelhum, Hume, London 1975, S. 171; bzw. Antony Flew, Hume’s Philosophy of Belief, London 1961, S. 116.

  20. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 3, Wiesbaden 31972, S. 386 bzw. 668.

  21. Norman Kemp Smith, »Introduction«, in: David Hume, Dialogues Concerning Natural Religion, Edinburgh 21947, S. 73.

  22. So Arthur Schopenhauer, Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, Bonn 1978, S. 96.

  23. The Letters of David Hume, Bd. 2, hrsg. von John Young Thomson Greig, Oxford 1932, S. 334.

  24. David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding / Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hrsg. und mit einem Nachw. von Falk Wunderlich, übers. von Heribert Herring, vollst. überarb. und erg. von Falk Wunderlich, Stuttgart 2016 (Reclams Universal-Bibliothek. 18709), S. 17.

Pamphilus an Hermippus

Man hat gesagt, mein lieber Hermippus, dass die Dialogform, in der die antiken Philosophen häufig ihre Lehren darstellten, in späteren Zeiten nicht oft Verwendung fand und außerdem denen, die sich in ihr versuchten, nur selten gelang. Jene genaue und systematische Art der Argumentation, wie man sie heutzutage von einer philosophischen Untersuchung erwartet, führt den Verfasser ganz von selbst zu jener methodischen und didaktischen Form der Darstellung, wo man unmittelbar und ohne Vorbereitung den Punkt, auf den man hinauswill, darlegen und dann ohne Umschweife dazu übergehen kann, für diesen Punkt die nötigen Beweise zu führen. Ein System in Dialogform darzustellen, kann kaum als natürlich gelten; und jemand, der in Dialogform schreibt und dadurch sein Werk als weniger streng erscheinen lassen sowie den Eindruck des Verhältnisses von Verfasser und Leser vermeiden möchte, verfällt leicht in den größeren Fehler, das Bild von Lehrer und Schüler zu vermitteln. Auch wenn es ihm gelingt, das Gespräch durch thematische Auflockerung und durch Wahrung des rechten Gleichgewichts zwischen den Partnern auf eine natürliche, ungezwungene Weise ablaufen zu lassen, so verliert er doch häufig so viel Zeit mit den verschiedenen Einleitungen und Überleitungen, dass der Leser sich durch den Reiz der Form für das Opfer an Ordnung, Kürze und Genauigkeit kaum entschädigt fühlen wird.

Doch gibt es einige Themen, für welche die Dialogform wie geschaffen ist und wo sie der direkten, unkomplizierten Art der Darstellung auch heute noch vorzuziehen ist.

Jede Lehre, deren Richtigkeit so offenkundig ist, dass sich kaum über sie streiten lässt, und die andererseits zugleich so wichtig ist, dass sie dem Leser nicht oft genug eingeschärft werden kann, dürfte ein derartiges Stilmittel erfordern – ein Stilmittel, wo die Ungewöhnlichkeit der Form die Banalität des Inhalts in den Hintergrund treten lässt, wo die Lebendigkeit eines Gesprächs der betreffenden Lehre Nachdruck verleiht und wo das vielfältige Licht, das durch die Verschiedenheit der Personen und Charaktere auf den Gegenstand fällt, weder langweilig noch überflüssig erscheint.

Aber auch jede philosophische Frage, die so dunkel und ungewiss ist, dass die menschliche Vernunft sie nicht definitiv entscheiden kann, scheint – sofern man sie überhaupt behandeln will – ganz von selbst nach der Dialogform zu verlangen. Man darf vernünftigen Menschen durchaus dort Meinungsverschiedenheiten zugestehen, wo sich vernünftigerweise niemand sicher fühlen kann. Entgegengesetzte Auffassungen sind, auch ohne dass zwischen ihnen eine Entscheidung getroffen wird, eine angenehme Quelle der Unterhaltung. Und wenn der Gegenstand einer solchen Abhandlung Neugier und Interesse weckt, so versetzt sie uns gewissermaßen in Gesellschaft und verbindet so die beiden größten und reinsten Vergnügen des menschlichen Lebens: geistige Betätigung und Geselligkeit.

Es trifft sich, dass alle diese Umstände im Fall der natürlichen Religion vorliegen. Welche Wahrheit liegt so offen zutage und ist so gewiss wie die Existenz eines göttlichen Wesens, die selbst in den unwissendsten Perioden der Geschichte anerkannt wurde und für die die gebildetsten Geister um die Wette immer neue Beweise und Argumente erdacht haben? Welche Wahrheit ist derart wichtig wie diese, die der Grund all unserer Hoffnungen, das sicherste Fundament der Moral, die stärkste Stütze der Gesellschaft und das einzige Prinzip ist, das wir in unseren Gedanken und Überlegungen niemals auch nur einen Augenblick lang außer Acht lassen sollten? Wenn wir uns aber mit dieser offenkundigen und wichtigen Wahrheit näher beschäftigen, was für dunkle Fragen erheben sich dann in Bezug auf die Natur jenes göttlichen Wesens: seine Eigenschaften, seine Ratschlüsse, seine Vorsehung! Diese Fragen sind unter den Menschen immer umstritten gewesen; die menschliche Vernunft hat sie nie in definitiver Weise lösen können. Und doch sind sie von derartigem Interesse, dass wir gar nicht anders können, als sie stets von neuem zu untersuchen – wenn auch bei unseren noch so sorgfältigen Untersuchungen bislang nichts als Zweifel, Ungewissheit und logische Widersprüche herausgekommen sind.

Erst kürzlich hatte ich Gelegenheit, dies zu bemerken, als ich wie gewöhnlich einen Teil des Sommers bei Cleanthes verbrachte und bei jenen Gesprächen zwischen Cleanthes, Philo und Demea zugegen war, von denen ich dir neulich in unvollständiger Form berichtete. Dieser Bericht hat, wie du mir sagtest, deine Neugier so erregt, dass ich unbedingt eine genauere, detaillierte Darstellung ihrer Erörterungen geben und jene unterschiedlichen Systeme näher erläutern müsse, die sie zu einem so heiklen Gegenstand wie dem der natürlichen Religion entwickelt haben. Der bemerkenswerte Gegensatz ihrer Charaktere steigerte deine Erwartungen noch zusätzlich; denn du stelltest die exakte philosophische Denkweise des Cleanthes dem unbesonnenen Skeptizismus Philos gegenüber, verglichest aber auch die Einstellungen beider mit der starren, unbeugsamen Rechtgläubigkeit Demeas. Meine Jugend hat mich bei den Diskussionen der drei die Rolle eines bloßen Zuhörers spielen lassen; und jene Wissbegierde, die dem frühen Lebensalter natürlich ist, hat Abfolge und Zusammenhang ihrer Argumente meinem Gedächtnis in allen Punkten so tief eingeprägt, dass ich in meinem Bericht hoffentlich keinen wesentlichen Teil dieser Argumente auslassen oder entstellen werde.

Teil 1

Nachdem ich mich der Runde, die ich in Cleanthes’ Bibliothek sitzend fand, zugesellt hatte, äußerte sich Demea gegenüber Cleanthes in anerkennender Weise über seine große Sorgfalt im Zusammenhang mit meiner Erziehung sowie über seine nie wankende Beständigkeit in all seinen Freundschaften. Pamphilus’ Vater, sagte er, war dein enger Freund; der Sohn ist dein Zögling, ja darf als dein Adoptivsohn gelten, wenn wir nach der Mühe urteilen wollen, die du dir machst, ihm jeden nützlichen Zweig von Literatur und Wissenschaft nahezubringen. Nun ist deine Einsicht, davon bin ich überzeugt, nicht geringer als dein Eifer. Deshalb möchte ich dir jetzt einen Grundsatz mitteilen, den ich befolgt habe, was meine eigenen Kinder angeht; ich möchte sehen, wieweit er mit deinem Vorgehen im Einklang steht. Und zwar gründet sich die Erziehungsmethode, die ich anwende, auf folgendes Wort eines antiken Autors: »Wer sich mit Philosophie beschäftigt, muss zuerst Logik studieren, dann Ethik, darauf Physik und zuallerletzt die Natur der Götter.«1 Danach erfordert die Wissenschaft der natürlichen Theologie, da sie die tiefste und am schwersten verständliche aller Wissenschaften ist, das größte Maß an Urteilsvermögen; und nur einem Geist, der über all die anderen Wissenschaften schon verfügt, darf man sie ohne Gefahr zumuten.

Wartest du so lange, sagte Philo, bis du deinen Kindern die Grundsätze der Religion beibringst? Ist nicht zu befürchten, dass sie Auffassungen, von denen sie während ihrer ganzen Erziehung so wenig gehört haben, später vernachlässigen oder vollkommen abweisen werden? Lediglich als Wissenschaft, erwiderte Demea, die an menschliche Reflexionen und Erörterungen gebunden ist, stelle ich die Beschäftigung mit der natürlichen Theologie zurück. Die Kinder früh zur Frömmigkeit zu erziehen, ist dagegen meine Hauptsorge; durch ständige Lehre und Unterweisung und auch, wie ich hoffe, durch mein Beispiel präge ich ihrem noch empfänglichen Geist die feste Bereitschaft ein, sämtliche Grundsätze der Religion zu achten. Während sie all die anderen Wissenschaften durchlaufen, weise ich sie immer wieder auf die Ungewissheit der jeweiligen Lehren hin, auf die unaufhörlichen Streitigkeiten der Menschen, auf die Dunkelheit aller Philosophie sowie auf die seltsamen, ja lächerlichen Folgerungen, die einige der größten Geister aus den Grundsätzen der bloßen menschlichen Vernunft abgeleitet haben. Nachdem ich auf diese Weise ihr Selbstvertrauen gezähmt und ihnen die gebührende geistige Demut beigebracht habe, trage ich nicht länger Bedenken, ihnen die größten Geheimnisse der Religion zu eröffnen; jene hochmütige Anmaßung der Philosophie, die jemanden verleiten kann, selbst die anerkanntesten Lehren und Auffassungen abzulehnen, scheint mir nun keine Gefahr mehr zu bilden.

Die Vorsorge, sagte Philo, die darin liegt, dass du deine Kinder schon früh zur Frömmigkeit erziehst, ist mit Sicherheit sehr vernünftig und in diesem weltlichen und irreligiösen Zeitalter auch durchaus notwendig. Was ich aber an deiner Erziehungsmethode vor allem bewundere, das ist die Art und Weise, wie du dir jene Grundsätze der Philosophie und Wissenschaft, die Stolz und Selbstzufriedenheit fördern und dadurch auf die Grundsätze der Religion zu allen Zeiten so destruktiv gewirkt haben, gerade zunutze machst. Man kann zwar feststellen, dass das einfache Volk, das von Wissenschaft und Forschung keine Ahnung hat, angesichts der endlosen Streitigkeiten der Gelehrten die Philosophie in aller Regel gründlich verachtet und sich aus diesem Grunde in den zentralen Lehren der Theologie, die man ihm beigebracht hat, umso fester verankert. Diejenigen andererseits, die sich Studium und Forschung in geringem Maße widmen und gerade in den neuesten und ungewöhnlichsten Lehrmeinungen viel Überzeugendes finden, glauben, dass für die menschliche Vernunft nichts zu schwierig sei; indem sie voller Anmaßung alle Schranken durchbrechen, entweihen sie den Tempel selbst in seinem heiligsten Innern. Cleanthes aber wird mir, so hoffe ich, darin zustimmen, dass es – nachdem die Unwissenheit als sicherstes Schutzmittel der Religion einmal hinter uns liegt – doch noch einen Weg gibt, um diese gottlose Freiheit nicht aufkommen zu lassen. Und zwar besteht er in einer Verbesserung und Vertiefung von Demeas Grundsätzen: Werden wir uns der Schwäche, Blindheit und Beschränktheit der menschlichen Vernunft ganz und gar bewusst. Ziehen wir ihre Ungewissheit und ihre endlosen Widersprüche selbst in Angelegenheiten des täglichen Lebens und Handelns gebührend in Betracht. Halten wir uns die Irrtümer und Täuschungen sogar unserer Sinne vor Augen; die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche in allen Systemen die ersten Grundsätze begleiten; die Widersprüche, die bereits den Begriffen von Materie, Ursache und Wirkung, Ausdehnung, Raum, Zeit, Bewegung sowie, kurz gesagt, von jedweder Quantität anhaften – Gegenständen der einzigen Wissenschaft, die mit einigem Grund auf Gewissheit und Evidenz Anspruch erheben kann. Wenn diese Probleme deutlich ins Licht gerückt werden (wie es einige Philosophen und fast alle Theologen getan haben), wer kann dann diesem schwachen Vernunftvermögen weiter so viel Vertrauen entgegenbringen, dass er dessen Resultaten in so erhabenen, schwer verständlichen und der Alltagserfahrung so entrückten Fragen irgendwelche Beachtung schenkt? Wenn das Zusammenhalten der Teile eines Steines oder auch nur jenes Zusammengesetztsein aus Teilen, das dem Stein Ausdehnung verleiht – wenn, sage ich, diese alltäglichen Dinge so unerklärbar sind und so unvereinbare und widersprüchliche Aspekte enthalten, mit welcher Sicherheit können wir dann eine Entscheidung über den Ursprung von Welten treffen oder ihre Geschichte von Ewigkeit zu Ewigkeit verfolgen?

Während Philo dies sagte, konnte ich bemerken, dass sowohl Demea als auch Cleanthes lächelten. In Demeas Lächeln schien uneingeschränkte Genugtuung über die dargelegten Auffassungen zu liegen. Doch Cleanthes’ Miene verriet eine gewisse Reserve, als ob er in den Argumenten Philos so etwas wie Ironie oder versteckte Bosheit wahrnehme.

Dein Vorschlag, Philo, sagte Cleanthes, geht also dahin, den religiösen Glauben auf einem philosophischen Skeptizismus aufzubauen. Und du meinst, wenn Gewissheit oder Evidenz aus jedem anderen Forschungsgebiet verbannt wird, werde sie sich uneingeschränkt auf jene Lehren der Theologie zurückziehen und dort eine besondere Stärke und Autorität entfalten. Ob dein Skeptizismus so absolut und aufrichtig ist, wie du vorgibst, werden wir im Einzelnen sehen, wenn wir von hier aufbrechen: Dann wird es sich zeigen, ob du zur Tür oder zum Fenster hinausgehst und ob du wirklich zweifelst, dass dein Körper der Schwerkraft unterliegt bzw. durch seinen Fall Schaden nehmen kann (wie die verbreitete Meinung besagt, die sich natürlich aus unseren trügerischen Sinnen und unserer noch trügerischeren Erfahrung herleitet). Diese Betrachtung, Demea, mag übrigens auch dazu dienen, unseren Ärger gegenüber dieser komischen Sekte der Skeptiker zu mildern. Falls sie ihre Position uneingeschränkt ernst nehmen, so werden sie die Welt mit ihren Zweifeln, Spitzfindigkeiten und Streitereien nicht lange behelligen; falls sie sich andererseits nur einen Scherz erlauben, so mag dies zwar ein schlechter Scherz sein, doch für Staat, Philosophie oder Religion können sie auf diese Weise nie zu einer ernsten Gefahr werden.

In Wahrheit, Philo, fuhr Cleanthes fort, erscheint es als sicher, dass jemand zwar in einer momentanen Laune, nachdem er sich intensiv mit den vielen Widersprüchen und Unvollkommenheiten der menschlichen Vernunft befasst hat, jedweder Überzeugung und Auffassung abschwören kann, dass er jedoch unmöglich in diesem totalen Skeptizismus verharren oder ihn auch nur für wenige Stunden in seinem praktischen Verhalten zum Ausdruck bringen kann. Gegenstände der Außenwelt drängen sich ihm auf; Emotionen bewegen ihn: Und schon verflüchtigen sich seine philosophischen Grübeleien, und nicht einmal die größte Willensanstrengung im Umgang mit den eigenen Empfindungen wird ihn auch nur für kurze Zeit in die Lage versetzen, wenigstens einen Schein von Skeptizismus zu bewahren. Und wozu überhaupt solche Willensanstrengung? Dies ist eine Frage, die er sich im Einklang mit seinen skeptizistischen Grundsätzen nie zufriedenstellend wird beantworten können. Im Ganzen gesehen kann daher kaum etwas lächerlicher sein als die Prinzipien der antiken Pyrrhoneer, die angeblich in allen Lebensbereichen denselben Skeptizismus zu praktizieren suchten, den sie aus ihren akademischen Proklamationen entnahmen und den sie auf diese hätten beschränken sollen.

Unter diesem Gesichtspunkt dürfte zwischen der stoischen und der pyrrhonischen Schule trotz ihres dauernden Streites eine große Ähnlichkeit bestehen: Beide scheinen das falsche Prinzip zur Grundlage zu haben, dass jemand eine Haltung, die er manchmal und unter gewissen Umständen einnehmen kann, immer und unter allen Umständen einnehmen könne. Wenn sich der Geist mit Hilfe stoischer Betrachtungen zu einer erhabenen Begeisterung für die Tugend emporgeschwungen hat und von dieser oder jener Vorstellung von Ehre oder Gemeinwohl stark ergriffen ist, so wird auch das äußerste Maß an körperlichem Schmerz und Leiden über ein solches Hochgefühl der Pflicht nicht triumphieren; vielleicht kann die Folge sogar sein, dass jemand noch unter Foltern lacht und jubiliert. Und wenn das in der Realität manchmal vorkommen kann, um wie viel mehr dürfte es dann möglich sein, dass sich ein Philosoph unter seinen Gefährten oder auch nur in seiner Studierstube in eine ähnliche Begeisterung hineinsteigert und dabei in seiner Einbildung den heftigsten Schmerz oder das größte Desaster, das er sich vorstellen kann, aushält. Wie aber soll er diese Begeisterung auf die Dauer aushalten? Seine geistige Anspannung lässt nach und kann nicht nach Belieben wieder erzeugt werden. Andere Dinge lenken ihn ab; unvorhergesehene Unglücksfälle stürmen auf ihn ein: Der Philosoph sinkt nach und nach auf die Stufe des einfachen Mannes.

Deinen Vergleich zwischen Stoikern und Skeptikern lasse ich gelten, antwortete Philo. Doch du solltest gleichzeitig beachten, dass im Stoizismus der Geist, mag er auch seinen philosophischen Höhenflug nicht durchhalten können, selbst im Absinken seine einmal gewonnene Haltung noch teilweise bewahrt. Die Wirkungen des stoischen Denkens werden sich im alltäglichen Verhalten des Betreffenden erweisen und als Leitmotiv sein Handeln durchziehen. Die antiken Philosophenschulen, insbesondere die des Stoikers Zeno, kannten Beispiele von Tugend und Standhaftigkeit, die in unserer Zeit Erstaunen hervorrufen.

Eitles Wissen nur und falsche Schulweisheit,

Die doch die Sorge bannen für geraume Zeit,

Die Herzensangst und Pein vergessen machen,

Illusionen nähren, die verstockte Brust mit standhafter Geduld

Wie dreifach Stahl umpanzern konnten.2

Ganz ähnlich wird jemand, dem skeptische Betrachtungen über die Ungewissheit und die engen Grenzen der Vernunft zur Gewohnheit geworden sind, diese nicht völlig vergessen, wenn er sich anderen Gegenständen zuwendet. Er wird vielmehr in seinem gesamten philosophischen Denken und Argumentieren – ich wage nicht zu sagen: in seinem alltäglichen Verhalten – sich von denen unterscheiden, die sich über das Problem entweder nie eine Meinung gebildet haben oder aber eine Auffassung vertreten, welche in die menschliche Vernunft größeres Vertrauen setzt.

Wie weit auch immer jemand seinen Skeptizismus in der Theorie treiben mag, er muss, das gebe ich zu, handeln, leben und sich verständigen wie andere Menschen; und er braucht hierfür keinen anderen Grund anzuführen als die absolute Notwendigkeit, die ihn zu einem solchen Verhalten zwingt. Wenn er seine Reflexionen über dieses notwendige Verhalten hinaus ausdehnt und sich über Gegenstände der natürlichen oder der geistigen Welt philosophische Gedanken macht, so verleiten ihn hierzu ein gewisses Vergnügen und eine gewisse Befriedigung, die er in solcher Betätigung findet. Er macht sich außerdem klar, dass jedermann, selbst im gewöhnlichen Leben, dieses philosophische Denken nicht völlig verleugnen kann; dass wir von unserer frühesten Kindheit an mit zunehmendem Alter immer allgemeinere Grundsätze des Verhaltens und des Denkens bilden; dass diese Grundsätze mit wachsender Erfahrung und Vernunft in ihrer Tragweite immer umfassender werden; und dass das, was wir als Philosophie bezeichnen, nichts anderes als ein stärker systematisch und methodisch orientiertes Vorgehen derselben Art ist. Das Philosophieren über die betreffenden Gegenstände unterscheidet sich nicht wesentlich vom Nachdenken über Dinge des gewöhnlichen Lebens; von unserer Philosophie dürfen wir lediglich ein größeres Maß wenn schon nicht an Wahrheit, so doch – in Anbetracht ihres genaueren und gewissenhafteren Vorgehens – an Beständigkeit erwarten.

Wenn wir jedoch über die Sphäre des Menschen und der ihn umgebenden Gegenstände hinausblicken, wenn wir unsere Reflexionen auf die beiden Ewigkeiten richten, die dem gegenwärtigen Zustand der Welt vorhergehen bzw. nachfolgen, also auf die Schöpfung und Gestaltung der Welt, auf die Existenz und das Wesen von Geistern sowie auf das Vermögen und Wirken eines einzigen allumfassenden Geistes, der ohne Anfang und ohne Ende, dazu allmächtig, allwissend, unveränderlich, unendlich und unbegreiflich ist: dann müssten wir ohne die geringste Neigung zum Skeptizismus sein, um nicht zu bemerken, dass wir hier den Bereich unserer Fähigkeiten deutlich überschritten haben. Solange wir unsere Reflexionen auf Fragen des Handels, der Moral, der Politik oder der Ästhetik beschränken, wenden wir uns immer wieder an Denken und Erfahrung des Alltags, die uns in unseren philosophischen Schlüssen bestärken und zumindest zum Teil jenes Misstrauen beseitigen, das wir nur zu berechtigt gegen jede besonders subtile und ausgeklügelte Überlegung hegen. Doch hinsichtlich Überlegungen theologischer Art befinden wir uns nicht in dieser günstigen Lage – obgleich wir es gerade hier mit Gegenständen zu tun haben, die, wie wir nicht übersehen können, unser Begreifen übersteigen und deshalb mehr als alle anderen Gegenstände unserem Verstand erst nahegebracht werden müssten. Wir gleichen Leuten, die in einem fremden Lande leben: Alles muss ihnen verdächtig vorkommen, und jeden Augenblick sind sie in Gefahr, die Gesetze und Gebräuche der Menschen, unter denen sie leben und verkehren, zu verletzen. Wir wissen nicht, inwieweit wir unseren gewöhnlichen Denkmethoden auf einem derartigen Gebiet vertrauen sollen; denn selbst ihre Anwendung im Alltagsleben und in dem Bereich, auf den sie speziell zugeschnitten sind, lässt sich nicht weiter begründen, sondern geht ganz und gar auf eine Art von Instinkt oder Notwendigkeit zurück.

Alle Skeptiker behaupten, dass die Vernunft, abstrakt betrachtet, unüberwindliche Argumente gegen sich selbst parat hat und dass wir uns niemals in irgendetwas eine sichere Überzeugung bewahren könnten, wenn nicht das skeptische Denken zu subtil wäre, als dass es unsere solideren und natürlicheren Argumente, die auf den Sinnen und auf der Erfahrung basieren, aus dem Felde schlagen könnte. Doch immer dann, wenn unsere Argumente dieses Vorteils verlustig gehen und sich vom gewöhnlichen Leben entfernen, befindet sich selbst der subtilste Skeptizismus offenkundig auf einer Ebene mit ihnen und kann ihnen mit Erfolg entgegentreten. Beide Seiten besitzen gleich viel Gewicht. Der Geist muss ihnen gegenüber unentschieden bleiben; und gerade in dieser Unentschiedenheit, in diesem Gleichgewicht beider Seiten besteht der Triumph des Skeptizismus.

Ich bemerke jedoch, sagte darauf Cleanthes, was dich, Philo, und alle theoretischen Skeptiker anbetrifft, so stehen eure Lehre und euer Verhalten in den schwierigsten Erkenntnisfragen ebenso sehr in Widerspruch zueinander wie im Rahmen des gewöhnlichen Lebens. Überall dort, wo sich Evidenz zeigt, da haltet ihr euch an sie – trotz eures Bekenntnisses zum Skeptizismus. Ja, einige von euch scheinen in ihren Entscheidungen nicht weniger bestimmt zu sein als diejenigen, die sich zu einem höheren Maß an Gewissheit und Sicherheit bekennen. In der Tat, wäre es nicht lächerlich, wenn jemand Newtons Erklärung des wunderbaren Phänomens des Regenbogens mit der

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4Glaubevernünftigen Denkens