Table of Contents
Einleitende Informationen
1 WARUM SCHREIBT EIN (SKEPTISCHER) PSYCHOLOGE EIN LEHRBUCH ÜBER NATURHEILVERFAHREN?
2 WIE WIRKSAM IST NATURHEILKUNDLICHE THERAPIE IM VERGLEICH ZU PSYCHOTHERAPIE?
3 WARUM METHODISCH HOCHWERTIGE STUDIEN SO WICHTIG SIND
4 PSYCHOTHERAPIE KANN DURCH NATURHEILKUNDLICHE METHODEN NOCH BESSER WERDEN!
5 FÜR JEDEN DIE RICHTIGE THERAPIE – DEPRESSION IST NICHT GLEICH DEPRESSION!
6 GESUNDE ERNÄHRUNG
6.1 Gesunde Ernährung und Depressivität – Die Entschlüsselung des Wirkmechanismus
6.2 Die Entzündungs-Hypothese
6.3 Aber wodurch kommen Entzündungen überhaupt zustande?
6.4 Warum kann ungesunde Ernährung zu chronischer Entzündung führen? – Die erstaunliche Rolle des Mikrobioms
7 ASHWAGANDHA
7.1 Warum wirkt Ashwagandha?
7.2 Risiken und (teilweise positive) Nebenwirkungen
7.3 Dosierung und Einnahme
8 LAVENDEL
8.1 Wie wirkt Lavendelöl?
8.2 Risiken und Nebenwirkungen
8.3 Einnahme und Dosierung
8.4 Exkurs: Lavendel-Duft als Sofortmaßnahme (Aromatherapie)
Lavendelduft – die Anwendung ist denkbar einfach
8.5 Lavendel-Massagetherapie
9 JOHANNISKRAUT
9.1 Wie wirkt Johanniskraut?
9.2 Risiken und Nebenwirkungen von Johanniskraut
9.3 Einnahme und Dosierung
10 KURKUMA
10.1 Wie wirkt Kurkuma?
10.2 Risiken und Nebenwirkungen
10.3 Einnahme und Dosierung
1. Getrocknetes Kurkuma-Wurzel-Pulver:
2. Frische Kurkuma-Wurzel:
3. Kurkuma-Extrakt (Curcumin):
11 KLEINER GOLDREGEN
11.1 Wirkmechanismus
11.2 Risiken und Nebenwirkungen
11.3 Dosierung und Einnahme
12 HOPFEN
12.1 Wirkungsweise von Hopfen
12.2 Risiken und Nebenwirkungen
12.3 Einnahme und Dosierung
13 ZITRONENMELISSE
13.1 Wirkmechanismus
13.2 Risiken und Nebenwirkungen
13.3 Einnahme und Dosierung
14 Cannabidiol
14.1 Wie wirkt Cannabidiol?
14.2 Risiken und Nebenwirkungen von Cannabidiol
14.3 Einnahme und Dosierung
Können Drogentests anschlagen?
15 SALBEI
15.1 Wie wirkt Salbei?
15.2 Risiken und Nebenwirkungen
15.3 Einnahme und Dosierung
16 Kamille
16.1 Wirkmechanismus – Warum wirkt Kamille beruhigend?
16.2 Risiken und Nebenwirkungen
16.3 Einnahme und Dosierung
17 SAFRAN
17.1 Wie wirkt Safran?
17.2 Risiken und Nebenwirkungen
17.3 Einnahme und Dosierung
18 PASSIONSBLUME
18.1 Wie wirken die Inhaltsstoffe der Passionsblume?
18.2 Risiken und Nebenwirkungen
18.3 Einnahme und Dosierung
19 PERSISCHER LAVENDEL
19.1 Wirkmechanismus
19.2 Risiken und Nebenwirkungen
19.3 Einnahme und Dosierung
19.4 Fazit
20 IRANISCHER BORRETSCH
20.1 Wirkungsmechanismus
20.2 Risiken und Nebenwirkungen
20.3 Einnahme und Dosierung
21 MAGNESIUM
21.1 Magnesium bei Depressionen
21.2 Magnesium bei generalisierter Angststörung
21.3 Wirkmechanismus von Magnesium
21.4 Risiken und Nebenwirkungen
21.5 Einnahme und Dosierung
22 ZINK
22.1 Wirkmechanismus von Zink
22.2 Risiken und Nebenwirkungen
22.3 Einnahme und Dosierung
In welchen Nahrungsmitteln befindet sich viel Zink?
23 VITAMIN D
23.1 Wie wirkt Vitamin D?
23.2 Risiken und Nebenwirkungen
23.3 Einnahme und Dosierung
24 WEITERE HEILPFLANZEN
Omega-3-Fettsäure
Kava Kava
Ginkgo
Indische Maulbeere, Nonibaum
Bockshornklee
Weißdorn
Grünalge
Argentinische Minze
Kreatin
Baldrian
Mariendistel
Caralluma fimbriata
Kleines Fettblatt
Roter Klee
Helmkraut
Maca
Vitamin B9
Rosenwurz
Indischer Wassernabel
25 ABSCHLIEßENDE WORTE
Warum Sie nicht alles auf einmal ausprobieren sollten
Vorsicht vor dem psychologischen Freibrief-Effekt (licensing-effect)
Die Grenzen naturheilkundlicher Behandlungen
26 LITERATURVERZEICHNIS
Diplom-Psychologe Eskil Burck
Eskil Burck lehrt Psychologie an der Kalaidos Fachhochschule in Zürich. Seine Bücher „Angst – Was hilft wirklich?“, „Neue Psychologie der Beeinflussung“ und „Das manipulierte Gehirn“ wurden zu Amazon-Bestsellern.
Sein Audio-Podcast belegte immer wieder Platz 1 in den iTunes-Charts in der Kategorie „Bildung“.
Seine Lern-Videos wurden allein auf YouTube bereits mehr als vier Millionen mal angeschaut.
Weitere Informationen finden Sie auf www.psychologie-lernen.de
Youtube-Kanal: psychologie-lernen.de
NATUR-
THERAPIE
BEI ANGST UND DEPRESSION
Diplom-Psychologe
Eskil Burck
www.psychologie-lernen.de
Deutsche Erstausgabe 2021
Copyright © Eskil Burck
Umschlaggestaltung: Eskil Burck
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Die Inhalte dieses vorliegenden Buches geben den aktuellen, wissenschaftlichen Stand zum Zeitpunkt der Drucklegung wieder und wurden nach bestem Wissen und Gewissen verfasst. Dennoch kann das Buch keine medizinische Beratung und Diagnose ersetzen. Bei Fragen wenden Sie sich an Ihren Allgemeinarzt.
Impressum:
Eskil Burck, Kugelgartenstr. 2, 76829 Landau
Tel: 07272/6040
Email: mail@PsychologiederSchule.de
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783753450742
Um ehrlich zu sein: Noch vor wenigen Jahren habe ich von alternativen und pflanzlichen „Angst-Heilmitteln“ wie Lavendel, Ashwagandha, Cannabidiol, Aromatherapie, Ernährungsumstellung etc. nicht viel gehalten. Meine Einstellung war: „Das ist doch alles nur Placebo. Wirklich handfeste Forschung gibt es dazu nicht.“ Und vor 5 bis 10 Jahren war diese Einstellung aufgrund der damals wirklich dünnen Forschungslage durchaus vertretbar. Seither wurden jedoch weltweit tausende Untersuchungen durchgeführt (für eine Übersicht siehe z.B. Baric et al., 2018; Firth et al., 2019; Sarris, 2018; Sayed et al., 2020). Vieles stellte sich bei einer gründlichen Überprüfung tatsächlich als Placebo-Effekt heraus. Aber manche natürlichen Behandlungsmethoden erwiesen sich – zur Überraschung vieler Forscher – in methodisch hochwertigen Studien als ähnlich wirksam oder in Ausnahmefällen sogar wirksamer als traditionelle Antidepressiva und Angstmedikamente (z.B. SSRIs, Benzodiazepine etc.). Und das bei deutlich geringeren Nebenwirkungen (siehe z.B. Kasper et al., 2014)!1
1 Doch schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass natürliche Wirkstoffe selbstverständlich auch Nebenwirkungen haben können.
Manch einer wird jetzt vielleicht einwenden: „Mag ja sein, dass manche natürliche Arzneimittel ähnlich wirksam sind wie herkömmliche Medikamente, aber im Vergleich zu einer Psychotherapie haben sie keine Chance.“
Auch davon war ich lange Zeit selbst überzeugt, bis ich bei meinen Recherchen zum Buch „Angst – was hilft wirklich …“ auf eine Studie kanadischer Forscher stieß (Cooley et al., 2009), die mein wissenschaftliches Weltbild ein bisschen erschütterte. Die Ergebnisse dieser Studie waren für mich tatsächlich so verblüffend, dass ich für einen kurzen Moment alle Sachlichkeit vergaß und mir zu dieser Studie die folgenden Worte notierte:
„Heilige Sch...! Was ist denn das für eine krasse Studie! Die natürliche Heilmethode mit Ashwagandha war effektiver als die Psychotherapie?!“
Aber der Reihe nach.
Wie war der genaue Ablauf der Studie? Die Forscher verteilten 81 Versuchspersonen mit mittleren bis starken Ängsten per Zufall (randomisiert) auf zwei Versuchsgruppen:
Naturheilkundliche Gruppe: Diese Gruppe erhielt über einen Zeitraum von 12 Wochen (30Min./Woche) Beratungssitzungen bei einem naturheilkundlich geschulten Arzt. Im Rahmen dieser Sitzungen trainierten die Probanden eine Zwerchfellatmung und erhielten eine umfassende individuelle Lebensstil- und Ernährungsberatung. Dabei wurde besonderer Wert auf die Reduzierung von Stimulanzien wie Koffein, Zigaretten oder Schokolade gelegt. Gleichzeitig wurden sie dazu angehalten, in regelmäßigen Intervallen und gemäßigten Portionen zu essen (also keine Naschereien oder Fressorgien). Auf den Teller sollten von nun an deutlich mehr Obst, Gemüse, Fisch, Nüsse und Vollkornprodukte landen. Darüber hinaus wurden sie auch dazu motiviert, regelmäßig Sport zu treiben. Als Ergänzung erhielten alle Versuchspersonen dieser Gruppe noch zusätzlich zweimal täglich Ashwagandha-Wurzelpulver (300 mg/Pille; dazu mehr in Kapitel 7 ) und eine Multivitamin-Pille.
Psychotherapie-Gruppe: Die Probanden dieser Gruppe erhielten über den gleichen Zeitraum (12 Wochen; 30 Min./Woche) eine (vornehmlich kognitive) Psychotherapie. Hierzu wurden sie von dem Psychotherapeuten dazu angeleitet, die Symptome ihrer Angst gedanklich neu zu bewerten (kognitives Reframing). Ein unangenehmes Bauchgefühl (vor einem Referat oder einem Date) sollte also nicht länger als lähmende Angst, sondern beispielsweise als (freudige) Aufregung interpretiert werden. Um eine noch größere Vergleichbarkeit zur naturheilkundlich betreuten Gruppe zu gewährleisten, wurde auch in dieser Gruppe vom Psychotherapeuten darauf hingewiesen, wie wichtig ein gesunder Lebens- und Ernährungsstil sei und dass es von Vorteil sei, auf Stimulanzien wie Koffein und Zigaretten zu verzichten. Eine weiterführende, individuelle Beratung („ongoing advice“) erhielt man in dieser Gruppe jedoch nicht.1 Immerhin wurde ebenfalls eine Atemübung (tiefes Atmen) beigebracht. Um den Placebo-Effekt des Pillennehmens auszugleichen, erhielten alle Probanden der Psychotherapiegruppe ebenfalls Pillen – allerdings ohne Wirkstoff.
Wie wirkte sich die unterschiedliche Behandlung aus?
Abbildung 1: Basierend auf Daten von: Cooley, K., Szczurko, O., Perri, D., Mills, E. J., Bernhardt, B., Zhou, Q., & Seely, D. (2009). Naturopathic care for anxiety: a randomized controlled trial ISRCTN78958974. PLoS One, 4(8), e6628.
Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, ging die Angst in beiden Gruppen deutlich zurück. Allerdings war der Rückgang der Angst-Symptome bei den naturheilkundlich behandelten Probanden – zumindest in dieser Studie – deutlich stärker als bei den psychotherapeutisch behandelten Probanden! Denn während in der Psychotherapie-Gruppe nach der 12-wöchigen Behandlung die Angst bei 30,5 % der Probanden signifikant zurückgegangen war, war dies bei sogar 56,5 % der naturheilkundlich behandelten Versuchspersonen der Fall.
Aber damit nicht genug! Denn während die Psychotherapie „nur“ dabei half, Ängste abzubauen, hatte die ganzheitliche Veränderung des Ernährungs- und Lebensstils in Kombination mit dem Ashwagandha- und Multivitamin-Präparat der naturheilkundlich behandelten Gruppe eine Vielzahl weiterer positiver Effekte:
Geringere subjektive Müdigkeit
Geringere physische Erschöpfung
Höhere subjektive Konzentrationsfähigkeit
Bessere Gesundheit/Vitalität
Dabei geben die Autoren der Studie zu bedenken, dass sie ja noch nicht mal eine „superlative“ naturheilkundliche Intervention durchgeführt hätten, sondern lediglich eine „typische“. Was natürlich nahelegt, dass sogar noch Luft nach oben war.2
So beeindruckend diese Ergebnisse auch sein mögen, so muss man doch beachten, dass die in dieser Studie durchgeführten Psychotherapiesitzungen der Kontrollgruppe mit 30 Minuten vergleichsweise kurz ausfielen und Psychotherapiesitzungen in der Regel ca. 50-60 Minuten dauern. Dies könnte genauso zu einer Unterschätzung der Wirkung der Psychotherapie geführt haben wie die Tatsache, dass es sich nur um eine „normale“ (vornehmlich kognitive) Psychotherapie handelte. Hätte man zum Vergleich beispielsweise eine moderne ACT-Psychotherapie (Akzeptanz- und Commitmenttherapie) oder gar eine metakognitive Psychotherapie (für eine Übersicht siehe Burck, 2019) durchgeführt, wären die Ergebnisse womöglich anders ausgefallen.
Zudem wurden beide Interventionen von unterschiedlichen Personen durchgeführt (Psychotherapeut mit 5 Jahren Erfahrung vs. naturheilkundlicher Doktor mit 4 Jahren Berufserfahrung) und somit ist es nicht auszuschließen, dass einer der beiden deutlich überzeugender und charismatischer auftrat, wodurch Placebo-Effekte möglicherweise verstärkt wurden.
Trotz aller berechtigten Bedenken und Verteidigungsversuche von Psychologen-Seite waren die Ergebnisse dieser im Jahr 2009 publizierten Studie so bemerkenswert, dass selbst renommierte Forscher diese „alternativen Verfahren“ nicht länger ignorieren konnten und selbst begannen, zahlreiche Studien durchzuführen. Diese Entwicklung ist sehr begrüßenswert, denn in der Forschung gilt: „Eine Studie ist keine Studie.“ Insbesondere unerwartete Ergebnisse müssen von mehreren Forschungsgruppen repliziert (wiederholt) werden. Gerade wenn Untersuchungen nur mit geringen Versuchspersonenzahlen und methodischen Schwächen durchgeführt werden, bedarf es vieler weiterer methodisch besserer Studien, um die Ergebnisse abzusichern.
1 Ob dies aus methodischer Sicht wirklich nötig war oder sinnvoll ist, darüber kann man durchaus streiten. Denn womöglich konnten die Probanden mit diesen „halbgaren“ Empfehlungen nicht besonders viel anfangen.
2 Am Ende dieses Buches werden Sie sicherlich eine Idee davon haben, wie eine „superlative“ naturheilkundliche Intervention aussehen könnte.
Das größte Problem der oben genannten kanadischen Studie (Cooley et al., 2009) besteht jedoch darin, dass leider vollkommen unklar ist, welcher Teil der naturheilkundlichen Behandlung tatsächlich wirkte. War es die Ernährungsumstellung (siehe Kapitel 6 ), das individuelle Sportprogramm (siehe Burck, 2019), das Multivitaminpräparat oder vielleicht das vielversprechende „Natur-Arzneimittel“ Ashwagandha (auch bekannt als Schlafbeere; siehe Kapitel 7 )?
Oder wirkte vielleicht sogar nichts von all dem und die Effekte waren tatsächlich nur darauf zurückzuführen, dass der naturheilkundliche Arzt deutlich charismatischer war und die Versuchspersonen daher stärker an die Wirksamkeit der Behandlungen glaubten? Um derartige Alternativerklärungen ausschließen zu können, bedarf es hochwertiger randomisierter und idealerweise doppelblinder (oder sogar dreifachblinder) Studien1, in denen man darüber hinaus nur eine Behandlungsmethode testet. In solchen Studien weiß weder Arzt noch Patient, ob ein Medikament oder eine Placebo-Pille verabreicht wurde.
Daher wurden für dieses Buch fast ausschließlich derart hochwertige Studien zusammengetragen und ausgewertet. Zudem wurde größter Wert darauf gelegt, wirklich die aktuellste Forschung abzubilden.2 Denn nicht selten werden frühe Forschungsergebnisse, die auf kleinen, methodisch schwachen Studien basieren, später durch große, methodisch bessere Studien widerlegt oder zumindest in Frage gestellt. Leider halten sich die falschen oder zumindest fragwürdigen ursprünglichen Forschungsergebnisse im Internet oder anderen Quellen äußerst lange, sodass viele Menschen leider auf Mittel zurückgreifen, deren Wirksamkeit aus Sicht der aktuellen Forschung als stark umstritten gilt oder deren Einnahme aufgrund von neu entdeckten Nebenwirkungen sogar schädlich sein könnte.
Bleiben Sie immer über den aktuellen Stand der Forschung informiert – und das völlig bequem und kostenlos! Die Wissenschaft entwickelt sich rasant weiter. Immer wieder werden neue Therapiemethoden entwickelt, die noch vor wenigen Jahren völlig unbekannt waren. Damit Sie immer auf dem aktuellen Stand der Forschung sein können, wurde die Webseite psychologie-lernen.de und der gleichnamige YouTube-Kanal eingerichtet. Zudem wurde speziell für das Thema „Angst“ der Podcast „Angst – was hilft wirklich?“ ins Leben gerufen. All diese Angebote sind völlig kostenlos und jederzeit für Sie erreichbar: Hier geht‘s zur deutschen Webseite von www.psychologie-lernen.de. Hier geht‘s zum deutschsprachigen Youtube-Kanal von www.psychologie-lernen.de. Hier geht‘s zum Podcast „Angst – Was hilft wirklich?“ |
1 Bei einer dreifachen Verblindung wissen sowohl Patient, Arzt als auch der Auswerter der Ergebnisse nicht, welche Versuchspersonen ein Medikament oder eine Placebo-Pille erhalten haben.
2 Das Publikationsdatum der Studien können Sie den in Klammer stehenden Quellenangaben entnehmen.
Da ich selbst über viele Jahre an lähmenden (sozialen) Ängsten litt,1 die ich erst durch disziplinierte Anwendung psychologischer Strategien und Therapiemethoden bewältigen konnte (siehe Exkurs), kann ich aus erster Hand bestätigen, was sich in unzähligen Studien zeigen ließ: Psychotherapie wirkt (siehe Burck, 2019). Und es ist wirklich ein fantastisches, befreiendes und vor allem Selbstwirksamkeit steigerndes Gefühl, zu wissen: „Ich besitze in meinem Kopf gespeicherte – und damit jederzeit verfügbare – Strategien, um aufkommende Ängste zu meistern.“
Diese langfristige Unabhängigkeit von externen Hilfsmitteln (z.B. Antidepressiva oder Benzodiazepinen) mit teils bedenklichen Nebenwirkungen ist sicherlich der „Unique Selling Point“ der Psychotherapie. Allerdings ist es in der Psychotherapieforschung auch unumstritten, dass man sich noch schnellere und größere Behandlungserfolge wünschen würde. Zudem ist es kein Geheimnis, dass die Wartezeit für eine Psychotherapie manchmal viele Wochen und Monate betragen kann. Wirksame alternative Behandlungsmethoden (z.B. Arzneipflanzen wie Lavendel) könnten als Sofortmaßnahme dabei helfen, die quälend langen Wartezeiten zu überbrücken oder Rückenwind geben, eine Psychotherapie überhaupt erst anzutreten. Schließlich fällt es vielen Betroffenen verständlicherweise schwer, den ersten Schritt zu machen.
Hätte ich – wenn ich damals die Forschung schon gekannt hätte – im Ringen mit meinen Ängsten auf naturheilkundliche Behandlungsmethoden zurückgegriffen? Die Antwort lautet: „Auf jeden Fall!“
Denn wahrscheinlich hätte ich mich – z.B. durch Lavendelöl-Unterstützung (siehe Kapitel 8 ) – damals deutlich schneller auf den Weg gemacht und mich auch schneller in die normalerweise für mich Angst auslösenden Situationen (z.B. Referate halten) begeben, um die neu erworbenen psychologischen Bewältigungsstrategien zu üben.
Die Psychotherapie, welche ja ihrerseits selbst eine äußerst natürliche Heilmethode ist, kann also enorm profitieren, wenn sie Menschen zunehmend ganzheitlich behandelt und naturheilkundliche Behandlungsmethoden integriert (Lopresti et al., 2020). Denn als Psychotherapeut kann man nie genug Werkzeuge im Koffer haben. Was bei dem einen Menschen hilft, muss nicht bei allen anderen Menschen genauso gut helfen.
Exkurs: Wirksame psychologische Strategien zur Bewältigung von (sozialen) Ängsten (Durch leichte inhaltliche Abwandlungen können die Strategien zur Bewältigung vieler unterschiedlicher Ängste eingesetzt werden.)
Du-Selbstgespräche:Stellen Sie sich vor, Sie würden ein Selbstgespräch führen. Welche der folgenden Sätze fühlen sich besser an?
Viele Studien konnten zeigen, dass ein Wechsel im inneren Dialog von der „Ich-Form“ zur „Du-Form“ in stressvollen Bewerbungsgesprächen oder Vortrags-Situationen angstreduzierend und sogar leistungssteigernd wirkt (Dolcos & Albarracin, 2014; Kross et al., 2014). Denn sobald es uns gelingt, mit uns in der Du-Form oder (oder mit dem eigenen Namen) zu sprechen, nehmen wir – wie in der Meditationskunst – die Rolle des unbeteiligten Außenstehenden ein. Wir sind nicht länger vollständig mit dem Gefühl der Angst identifiziert. Stattdessen können wir aus gesunder Distanz die Situation von außen betrachten. Unser manchmal selbstzerstörerischer interner Dialog wird aufbauender und motivierender (Kross et al., 2014). Wir werden quasi unser eigener Coach: „Du hast Angst. Und das ist okay. Aber Mut bedeutet nicht, dass man keine Angst hat, sondern dass man Angst hat und es trotzdem tut. Sei mutig!“ Beobachtungslernen:Genauso, wie wir Ängste über Beobachtung erlernen können (z.B. wenn die Mutter vor einer Spinne entsetzt zurückschreckt), können wir sie zum Glück auch durch Beobachtung wieder verlernen! (Bandura, A., & Menlove, F. L. 1968; Askew et al., 2016) Und noch besser: Wir können uns sogar durch Beobachtungslernen vor dem Erwerb neuer Ängste immunisieren (Burck, 2019; Mineka & Cook, 1986; Egliston & Rapee, 2007). Hierfür bedarf es nichts weiter, als mit großer Aufmerksamkeit immer wieder Menschen zu beobachten (idealerweise Menschen, die uns ähnlich sind), welche Situationen erfolgreich bewältigen, die für uns angstauslösend sind. Wer also z.B. Angst davor hat, Frauen anzusprechen, könnte sich ganz einfach Videos im Internet anschauen, in denen Männer in den unterschiedlichsten Situationen Frauen auf der Straße ansprechen und z.B. zu einem Date einladen. Dadurch wird er lernen: Viele Frauen freuen sich über die Aufmerksamkeit und wissen den Mut zu schätzen. Zudem wird er unterbewusst das Gefühl bekommen: Wenn der Kerl in dem Video das kann, dann kann ich das auch. Gedankliche Neubewertung (Reappraisal)Unangenehm wahrgenommene körperliche Empfindungen (z.B. Druck in der Magengegend, Kloß im Hals, Kurzatmigkeit) müssen nicht zwingend als Angst interpretiert werden, sondern können auch als hilfreiche Aufregung interpretiert werden – weil uns das Adrenalin wach und hochkonzentriert macht (Brooks, 2014; Crum et al., 2013; Strack et al., 2015). Hätten Sie nicht die gleichen körperlichen Empfindungen, wenn Sie ein (erfolgreiches) erstes Date mit Ihrem Traummann oder Ihrer Traumfrau hätten? Und wäre das Leben nicht langweilig ohne derart aufregende Momente? Aufmerksamkeitsverschiebung:Anstatt nur den Inhalt der Angst auslösenden Gedanken zu verändern (kognitive Therapie), kann es sehr wirksam sein, sich immer wieder darin zu üben, die Aufmerksamkeit gezielt auf andere Dinge zu richten (attention training technique; metakognitive Therapie). Wer z.B. unter sozialen Bewertungsängsten leidet, kann sehr davon profitieren, immer wieder die Aufmerksamkeit von sich selbst weg zu richten und z.B. genau zuzuhören (Nordahl et al., 2016): Was möchte mir die andere Person sagen? Wie könnte ich der anderen Person helfen? Und je weniger kognitive Kapazität wir mit selbstbezogenen Gedanken („Wie wirke ich gerade?“) vergeuden, desto mehr Kapazität haben wir übrig, um nun mit großer Leichtigkeit tiefgründige oder auch spaßige Nonsens-Gespräche zu führen. Akzeptanz:Einer der größten Fehler im Umgang mit Ängsten (und mit Emotionen im Allgemeinen) ist der Versuch, sie zu unterdrücken und nicht zuzulassen (Webb et al., 2012). Denn leider verhält es sich mit der Angst so wie mit der chinesischen Fingerfalle (siehe Bild): Je mehr wir uns mit aller Gewalt wehren und entziehen wollen, desto mehr hat sie uns im Griff. Wenn man der Angst jedoch – wie in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) – mit Akzeptanz begegnet und sie mit offenen Armen begrüßt, dann lockert sie ihren Griff und lässt uns immer mehr aus ihrem Schwitzkasten. Je mehr man versucht seine Finger auseinander zu ziehen, desto fester bleibt man in der chinesischen Fingerfalle stecken. Aufgrund ihrer besonderen gewobenen Struktur gibt die Fingerfalle erst dann nach, wenn man bereit ist, seine Finger immer tiefer in die Falle hinein zu schieben. (Über den QR-Code gelangen Sie zu einem Video, in dem die therapeutische Wirksamkeit der Fingerfallen-Metapher zur Behandlung von Ängsten mit der Zwerchfell-Atemtechnik verglichen wurde.) Führen wir uns also vor Augen, dass Angst eigentlich unser Beschützer ist, der uns vor Gefahren warnen möchte, aber es manchmal leider etwas zu gut meint. Daher macht es Sinn, z.B. anstelle von „Panikattacken“ eher von Schutzattacken (oder besser „Schutzmaßnahmen“) zu sprechen.2 Häufig haben wir zudem nur deswegen Angst, weil uns etwas wirklich wichtig ist. Wem alles egal ist, der hat keine Angst. Angst ist also ein Zeichen für ein bedeutungsvolles und sinnvolles Leben. Sind nicht die Dinge am meisten wert, die uns anfangs viel Stress und Sorgen bereitet haben, aber für die wir besonders mutig gekämpft haben (z.B. Partnerschaft, Familie, Ausbildung, Beruf etc.)? Gezielte Konfrontation:Kaum etwas ist so transformierend wie die Erfahrung, dass alles doch „halb so wild“ ist (Carpenter et al., 2018; Hofman & Smits, 2008; Kaczkurkin & Foa, 2015; Ougrin, 2011; Reynolds et al., 2012). Häufig berauben wir uns jedoch durch übermäßiges Vermeidungsverhalten dieser heilsamen Erfahrung. Wir denken: „Wenn ich mich nicht in die Situation begebe, dann erspare ich mir, die unangenehmen Schutzsignale meines Körpers (die Angst) aushalten zu müssen. Dadurch wächst jedoch unbewusst die trügerische Überzeugung, dass unsere Angst berechtigt ist und dass es sich um eine extrem gefährliche Situation handelt. In vielen Fällen pathologischer Angst ist aber gerade dies nicht der Fall. Wer also bestimmte Stimuli (z.B. Spinnen, Hunde, Gewitter etc.) oder Situationen (z.B. Referat, Menschenmengen etc.) bisher gemieden hat, tut sehr gut daran, diese Situationen gezielt aufzusuchen, um die wertvolle Erfahrung zu machen, dass nichts Schlimmes passiert und die Angst im Laufe der Zeit von alleine abnimmt (Habituierung). Wenn-Dann-Pläne und Smartphone-MethodeAll diese Strategien – das haben unzählige Studien gezeigt (siehe Burck, 2019) – können enorm Angst-reduzierend und befreiend wirken, sofern man sie auch wirklich anwendet! Machen Sie also nicht den Fehler, den ich selbst jahrelang gemacht habe, und denken Sie sich: „Ja, klingt interessant. Das müsste man (irgendwann) mal ausprobieren.“ Sondern machen Sie sich gleich auf den Weg und nutzen Sie hochwirksame Wenn-Dann-Pläne, um diese Strategien in Ihrem Alltag umzusetzen. Denn konkrete Wenn-Dann-Pläne sind deutlich effektiver als sich einfach nur ein vages Ziel zu setzen („Ich werde mir demnächst mal auf YouTube Videos anschauen, um durch Beobachtungslernen meine Angst vor … zu verlernen“), da sie genau festhalten, wann eine bestimmte Aktion durchgeführt werden soll (Armitage, 2016; Adriaanse et al., 2011; Bélanger-Gravel, 2013; Conner & Higgins, 2010). Gleichsam einer Memo-Strategie (z.B. Loci-Technik) führt der „Wenn-Teil“ fast schon automatisch zur Ausführung der Handlung: „Wenn ich mit dem Abendessen fertig bin, dann schaue ich mir auf YouTube ein paar Videos an, um durch Beobachtungslernen meine Angst vor … zu verlernen.“ Wie unglaublich hilfreich Wenn-Dann-Pläne bei der Bewältigung von Ängsten sein können, zeigte sich in einer Studie der Universität Sheffield (Varley et al., 2011). In dieser Untersuchung mit 262 Menschen, die an Ängsten jeglicher Art litten, erhielt eine Gruppe eine Informationsbroschüre mit unterschiedlichen Angstbewältigungsstrategien. Eine andere Gruppe erhielt die gleiche Informationsbroschüre, wurde jedoch zusätzlich aufgefordert, in Form von Wenn-Dann-Plänen (Gollwitzer & Sheeran, 2006) genau festzuhalten, wann sie die beschriebenen Strategien einsetzen werden. Die Rate jener Probanden, welche aus klinischer Sicht als behandlungsbedürftig eingestuft wurden, fiel in der „Wenn-Dann-Gruppe“ von 64% auf 21%. In jener Gruppe, in der man nur die Informationsbroschüre erhalten hatte, aber keine unterstützenden Wenn-Dann-Pläne zur Umsetzung, gab es dagegen keinen nennenswerten Rückgang (53% -> 49%). Weitere Beispiele für Wenn-Dann-Pläne:Du-Selbstgespräch (+ kognitive Neubewertung) bei sozialer Angst: Wenn ich morgen vor dem Referat ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend haben sollte, dann spreche ich mit mir in der Du-Form: „Du bist zwar ziemlich aufgeregt, aber das macht dich nur wacher und konzentrierter.“ Akzeptanz bei Agoraphobie mit Panikattacken: Wenn ich das nächste Mal in eine angstauslösende Situationen komme, dann werde ich nicht versuchen, die Angst mit Gewalt zu unterdrücken, sondern sie zu akzeptieren und durch mich hindurch gehen zu lassen. Sie will mich nur beschützen. Manchmal noch besser: das Smartphone als ErinnerungshilfeWenn-Dann-Pläne sind sehr wirksam. Trotzdem geben sie keine hundertprozentige Garantie, dass man sich im entscheidenden Moment wirklich an sie erinnert. Eine technologiebasierte Weiterentwicklung des Wenn-Dann-Plans, welche sich für mich sehr bewährt hat, ist die Erinnerungsfunktion meines Smartphones. Vielleicht nutzen Sie diese Funktion schon längst für Ihre alltäglichen Termine. Falls ja, wissen Sie die Effektivität dieser Methode wahrscheinlich bereits zu schätzen. Meiner Erfahrung nach kann uns das Smartphone auch dabei helfen, neue Denk- und Verhaltensmuster einzuüben. Und dank der immer besser werdenden Sprachsteuerung können Erinnerungen kinderleicht und mit minimalem Aufwand ins Smartphone diktiert werden. “O.K. Google … erinnere mich an „Du-Selbstgespräch“ am Mittwoch um 9:55 Uhr.” “Hey Siri … erinnere mich daran, dass Angst auch als Aufregung interpretiert werden kann. Morgen (vor dem Referat) um 14.00 Uhr.” |
1 Ein Video, zu meiner eigenen Geschichte finden Sie hier:
https://psychologie-lernen.de/2019/02/10/ich-hatte-angst-was-hilft-wirklich/
2 Ein Video über die Wirksamkeit dieser Neubewertung finden Sie hier: https://psychologie-lernen.de/2019/12/14/panikattacken-schutzattacken-die-kraft-kognitiver-neubewertung/)
In der Depressionsforschung kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass es ein großer Fehler ist, alle Menschen mit Depressionen gleich behandeln zu wollen. Denn dafür sind die Auslöser der Depressionen viel zu unterschiedlich (Beijers et al., 2019). Bei manchen Menschen sind es Traumata aus der Kindheit (z.B. psychischer oder physischer Missbrauch), andere verzweifeln an zwischenmenschlichen Beziehungen, wieder andere haben z.B. aufgrund ungünstiger Ernährung (und Bewegungsmangel) Entzündungen im Körper, die sich auf die Stimmung auswirken (Halaris, 2019). Und wieder andere haben aufgrund unglücklicher genetischer Veranlagung in manchen Bereichen ihres Gehirns eine zu geringe Menge bestimmter Neurotransmitter oder eine übermäßig aktive Stresshormonachse (Boas et al., 2019; Dean & Keshavan 2017; Duman et al., 2019).1 Manchmal werde ich angesichts dieser Erkenntnis gefragt: „Aber macht es dann überhaupt Sinn, Studien durchzuführen, bei denen alle Patienten die gleiche Behandlung bekommen? Bringen diese Studien dann überhaupt etwas?“
Meine Antwort lautet dann: Ja, natürlich bringen diese Studien etwas. Denn wenn ich depressiven Patienten beispielsweise ein (natürliches) entzündungshemmendes Mittel gebe (z.B. Curcumin, siehe Kapitel 10 ) und sich dann herausstellt, dass ihre Depressionswerte im Vergleich zu einer Placebo-Gruppe deutlich zurückgehen, dann konnte ich damit nachweisen, dass das entzündungshemmende Mittel tatsächlich einigen Menschen dabei hilft, ihre Depressionen entscheidend zu vermindern. Und das ist ein toller Erfolg! Denn damit hat man ein weiteres Mittel, das man in der Praxis einsetzen kann. Natürlich wird es Menschen geben, die nicht darauf ansprechen, weil ihre Depressionen eine andere Ursache hatten (z.B. soziale Isolation). Bei diesen Menschen könnte womöglich eine Psychotherapie sehr hilfreich sein, bei der die Betroffenen Unterstützung bekommen, neue soziale Beziehungen aufzubauen oder alte wohltuende Beziehungen wieder aufleben zu lassen (Interpersonale Therapie; Cuijpers et al., 2011). In jedem Fall gilt auch bei Depressionen: Je mehr Werkzeuge wir Psychologen, aber auch je mehr Werkzeuge die Betroffenen zur Verfügung haben, desto besser! Denn wenn wir nur einen Hammer als Werkzeug zur Verfügung haben (also z.B. nur Antidepressiva), dann können wir damit nur „Nagel“-Probleme lösen. Aber jedem dürfte klar sein, dass unser Gehirn viel komplexer ist, als dass man es mit nur einem Werkzeug „reparieren“ könnte.
1 Die Liste der Depressionsursachen ließe sich noch lange weiterführen. Zudem gibt es ohne Zweifel auch Interaktionen zwischen einzelnen Faktoren.
Frei von Depression und Angst durch Ernährungsumstellung?
Im Jahr 2016 gab die WHO bekannt, dass weltweit mehr als 1,9 Milliarden Menschen übergewichtig sind. Im Vergleich zu 1975 entspricht dies ungefähr einer Verdreifachung (Jacques et al., 2019).
Auch in Deutschland gelten mehr als die Hälfte aller Erwachsenen (53%) als übergewichtig.1 In den USA sind es sogar 67,9% (Jacques et al., 2019). Zudem ist der Anteil derer, die einen BMI ≥ 30 aufweisen und somit als adipös bzw. „fettleibig“ gelten, in den letzten Jahrzehnten ebenfalls stark gestiegen (siehe Abbildung 1).2
Abbildung 1: Basierend auf Daten der WHO (siehe auch: Abarca et al., 2017).
Hinweis: Abgebildet sind nur die Werte für Männer. Bei deutschen Frauen stagnierte der Anstieg in den letzten Jahren. In den USA haben Frauen die Männer hinsichtlich Fettleibigkeit schon überholt.
Während jedoch schon seit langer Zeit unter Medizinern Einigkeit darüber besteht, dass ein Übermaß an Süßigkeiten, gezuckerten Getränken, verarbeiteten Cerealien, Fastfood, Alkohol etc. verheerende Folgen für unsere physische Gesundheit haben kann (und ohne Zweifel Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs begünstigt), explodierte in den letzten Jahren die Zahl der Forschungsarbeiten, die darauf hinweisen, dass sich unser Ernährungsstil auch stark auf unsere psychische Gesundheit auswirken kann (Beurel et al., 2020; Bremner et al., 2020; Chao et al., 2020; Halverson & Alagiakrishnan 2020; Kris-Etherton et al., 2020; Pagliai et al., 2020; Pusceddu et al., 2020; Sanada et al., 2020). Das so entstandene neue Forschungsgebiet der „Nutritional Psychiatry“ (zu deutsch: Ernährungspsychiatrie) könnte dazu führen, dass in den nächsten Jahren viele Lehrbücher zur klinischen Psychologie umgeschrieben oder zumindest ergänzt werden müssen (Adan et al., 2019).
Denn es war zwar schon lange bekannt, dass beispielsweise Menschen mit Depressionen sich deutlich ungesünder ernähren, jedoch ging man davon aus, dass schlechte Ernährung eher die Folge und weniger die Ursache der Depressionen sei. Denn wer depressiv ist, besitzt logischerweise kaum Antrieb, gesund zu kochen, sondern greift eher zu hochkalorischem „Junkfood“.
Aber führt dieses „Junkfood“ vielleicht zu einer Zementierung der Depression? Wird es also schwieriger, die Depression wieder abzuschütteln? Und gibt es vielleicht Menschen, deren Depression ausschließlich auf ungesunde Ernährung zurückzuführen ist und somit durch gesunde Ernährung aufgelöst werden kann?
Erste Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen liefern prospektive Studien, in denen man zeigen konnte, dass Menschen, die sich in hohem Maße von stark verarbeiteten Lebensmitteln wie Frühstückscerealien, herzhaften Snacks (z.B. Chips), Formfleisch oder Tiefkühl-Fertigprodukten ernährten, mit 20% höherer Wahrscheinlichkeit später eine Depression entwickelten (Pagliai et al., 2020). Auch Menschen, die sehr häufig zu stark gezuckerten Getränken griffen, wiesen ein um ca. 30% erhöhtes Depressionsrisiko auf (Knüppel et al., 2017; Kris-Etherton et al., 2020; Hu et al., 2019). Wer dagegen eine gesunde Ernährung pflegte, die reich an Gemüse, Obst, Vollkornprodukten, Nüssen, Hülsenfrüchten, Olivenöl und Fisch war, entwickelte mit 23% niedrigerer Wahrscheinlichkeit eine Depression (Molendijk et al., 2018).
Erhärtet werden diese Befunde durch eine Reihe kürzlich durchgeführter und äußerst wichtiger randomisierter kontrollierter Studien, in denen stets eine Hälfte der Probanden dazu animiert worden war, sich gesünder zu ernähren (siehe z.B.: Bot et al., 2019; Firth et al., 2019; Francis et al., 2019; Jacka et al., 2017; Parletta et al., 2017).
Führte die gesündere Ernährung im Vergleich zur Kontrollgruppe wirklich zu einer Verbesserung der Depressionssymptomatik?
Zur Überraschung vieler Wissenschaftler war dies in vielen dieser Studien tatsächlich der Fall. So ergab eine vielbeachtete erste Metaanalyse, in der die durchschnittlichen Effekte aus 16 randomisierten kontrollierten Studien mit 45.826 Versuchspersonen errechnet worden waren, dass aktive Veränderungen des Ernährungsstils zu einer signifikanten Verringerung der Depressivität führten (Firth et al., 2019). Dabei fielen die Effektstärken im Durchschnitt zwar nicht allzu groß aus (g = 0.275), allerdings hatten viele Versuchspersonen schon zu Studienbeginn nur geringe Depressionswerte. Und man muss kein Statistik-Experte sein, um zu verstehen: Wo kaum Depressionen sind, können sie auch nicht stark reduziert werden (Bodeneffekte).
Sind also bei starken Depressionen noch größere Effekte möglich?
Tatsächlich waren in der einzigen Studie dieser Metaanalyse, in der die Probanden an klinisch relevanten Depressionen litten (also sehr hohe Depressionswerte hatten), die Effekte der Ernährungsumstellung besonders groß (Effektstärke: d = 1.16; Jacka et al., 2017). Während die Kontrollgruppe nur „social support“ (soziale Unterstützung) erhielt (um Zuwendungseffekte zu kontrollieren), wurden die Probanden der Experimentalgruppe über einen Zeitraum von drei Monaten immer wieder von einem Ernährungsberater dazu motiviert, sich an die folgenden Ernährungsvorgaben zu halten:
Die Ergebnisse der Ernährungsumstellung übertrafen die Erwartungen der Forscher. Im Vergleich zur Kontrollgruppe lag die sogenannte Remissionsrate, welche Auskunft darüber gibt, wie viele der Patienten nicht länger als klinisch depressiv gelten, in der Ernährungsberatungs-Gruppe um ein Vielfaches höher (siehe Abbildung 2). Darüber hinaus gaben die Probanden auch an, nun deutlich weniger Ängste zu verspüren.3
Abbildung 2: Basierend auf Daten von: Jacka, F. N., O’Neil, A., Opie, R., Itsiopoulos, C., Cotton, S., Mohebbi, M., ... & Brazionis, L. (2017). A randomised controlled trial of dietary improvement for adults with major depression (the ‘SMILES’trial). BMC medicine, 15(1), 23.
In diesem Video erfahren Sie mehr über die Studie von Jacka und Kollegen (2017). |
Jetzt könnte man natürlich einwenden: Sich drei Monate an strikte Ernährungsvorgaben zu halten, ist ganz schön hart. Erst recht, wenn man sich gerade in einer depressiven Phase befindet.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie gingen Forscher der Universität Sydney daher der Frage nach, ob schon eine kürzere Intervention ausreicht, um positive Effekte zu erzielen. Anstatt für drei Monate sollten die Probanden (insgesamt 76 junge Erwachsene und Studenten) ihre Ernährung lediglich drei Wochen lang umstellen (Francis et al., 2019).
Dafür sollten sie sich weitgehend an die gleichen Ernährungsempfehlungen halten wie in der Studie von Jacka und Kollegen (2017; siehe oben). Zusätzlich sollten auch Nahrungsmittel-Komponenten aufgenommen werden, welche „positive Auswirkungen auf die neurologischen Funktionen haben“ (z.B. Kurkuma oder Omega-3-Fettsäure; Francis et al., 2019).
Um den Start in die neue, gesunde Diät zu erleichtern, erhielten die Teilnehmer u.a. einen Muster-Mahlzeitenplan und einen kleinen Korb mit Nahrungsmitteln wie Olivenöl, Nussbutter, Nüssen und Kernen (Walnüsse, Mandeln, Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne) und Gewürzen (Zimt, Kurkuma). Um den Einkauf gesunder Nahrungsmittel zu unterstützen, wurde zudem eine Aufwandsentschädigung von 60 € in Aussicht gestellt.
Auch wenn die Effekte vermutlich aufgrund der kürzeren Interventionsdauer (3 Wochen gesunde Ernährung sind logischerweise nicht so effektiv wie 3 Monate) nicht so groß ausfielen wie in der Studie von Jacka und Kollegen (2017), berichteten die Probanden dennoch, dass sie nun deutlich weniger Depressionen (d = 0.75) und Ängste verspürten (siehe Abbildung 3 und 4).
Abbildung 3: Basierend auf Daten von: Francis, H. M., Stevenson, R. J., Chambers, J. R., Gupta, D., Newey, B., & Lim, C. K. (2019). A brief diet intervention can reduce symptoms of depression in young adults–A randomised controlled trial. PloS one, 14(10), e0222768.
Abbildung 4: Basierend auf Daten von: Francis, H. M., Stevenson, R. J., Chambers, J. R., Gupta, D., Newey, B., & Lim, C. K. (2019). A brief diet intervention can reduce symptoms of depression in young adults–A randomised controlled trial. PloS one, 14(10), e0222768.
Verglichen mit einer herkömmlichen Psychotherapie, bei welcher viele stundenlange Sitzungen mit einem geschulten Psychotherapeuten vonnöten sind, hielt sich der Betreuungsaufwand erfreulicherweise stark in Grenzen. Abgesehen von einem 13-minütigen Informationsvideo eines Ernährungsberaters, welches bei Bedarf immer wieder online angeschaut werden konnte, erhielten die Teilnehmer der Ernährungsgruppe lediglich zwei 5-minütige Telefonanrufe (nach 7 und 14 Tagen), in denen Probleme bei der Umsetzung des Ernährungsplans besprochen wurden.
Somit könnte die Behandlung von Depressionen durch eine Ernährungsumstellung nicht nur effektiv, sondern auch zeit- und kostensparend sein – erst recht in Ergänzung zur traditionellen Psychotherapie.
Dennoch gibt es noch einige (forschungsmethodische) Probleme zu klären: