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Simone Somekh

Weitwinkel

Roman

Aus dem Italienischen von Anna Rottensteiner

Auf der anderen Seite der Angelegenheit

Brighton, 2007

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Es krachte

und ich saß allein im Auto, blieb aber unverletzt, weil es in dieser Welt nicht die Unfälle sind, die Wunden zufügen, sondern die Menschen mit ihren Worten und dummen Ideen. Der Motor war durchgebrannt, aus der Stereoanlage kam weiterhin Musik, und das war ebenso unpassend wie zuvor meine Aktion, Vater das Auto zu stehlen und mich in die Nacht davonzumachen. Ich stieg nicht aus, holte keine Hilfe, klopfte nicht an die Tür des nächsten Hauses, sondern blieb einfach sitzen, was völlig unsinnig war, und hoffte wohl zu ersticken. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die vom Geruch nach Verbranntem wach geworden war, rief die Rettung. Die Polizei kam, ein Abschleppwagen brachte das Auto weg.

Nach dem Unfall musste Vater ziemlich viel Geld lockermachen, um den Wagen zu reparieren, und Mutter machte ziemlich viel Tränen locker. Einige Wochen lang schaute sie mich mit gebrochenem Blick an, als ob ich wie der Motor von einem Moment auf den anderen in die Luft gehen könnte.

Ganz Brighton sprach darüber, vom Jungen, der um drei Uhr morgens das Auto des Vaters gestohlen und demoliert hatte. Judy Franzman von der koscheren Bäckerei sprach darüber, Binyomin Fischer mit seiner Frau, Mutter und Vater sprachen mit dem Rabbiner darüber.

Der Einzige, der nicht darüber sprach, war ich.

EINS

Tante Suzie bot mir zu essen an

und ich lehnte ab. „Du rufst mich an und bittest um Hilfe, weigerst dich dann aber, von meinen Tellern zu essen?“, sagte sie sichtlich verärgert. Tante Suzie sah mit ihrer rabenschwarzen Mähne sicher meiner Mutter ähnlich, bevor sich diese den Kopf bedeckte und lange züchtige Kleider trug. Eine Frau, die selten lächelte, aber im Gegensatz zum ersten Eindruck, den man von ihr gewann, voller Lebenslust war.

Von meinen Tellern hatte sie gesagt, nicht von meinen Speisen. Darum ging es nämlich: nicht um die Speisen, die auf den Tellern serviert wurden, sondern um die Teller selbst. Tante Suzie hätte mir nie Hummer angeboten oder Bauchspeck oder andere verbotene Speisen, doch allein die Tatsache, dass auf den Tellern auch nur einmal eine solche gelegen haben mochte, machte diese unrein und unbrauchbar.

„Ich habe keinen Hunger“, log ich.

„Dann schau mir zu, während ich esse, denn ich bin hungrig, und zwar ziemlich.“

Sie begann zu kauen, und ich sah ihr wie verlangt dabei zu. Der Mensch kann wirklich abstoßend sein, wenn er isst, dachte ich. Also wandte ich meinen Blick von ihrem Mund ab und betrachtete das Esszimmer. Es war klein, ein paar Bilder und Nippes schmückten den schlecht beleuchteten Raum.

Tante Suzie nahm ihre Befragung wieder auf: „Wann hältst du den Zeitpunkt für gekommen, mich über den Grund deines Anrufs aufzuklären, Ezra?“

„Jetzt“, sagte ich. Ich zog ein weißes Kuvert aus meinem schwarzen Rucksack hervor, in dem ich Kopien der Fotografien aufbewahrte, wegen derer ich von der High School verwiesen worden war. Tante Suzie betrachtete die Fotos, unschlüssig, wie sie darauf reagieren sollte. Schließlich entschied sie sich für eine eigenartige Mischung aus verlegen, erschüttert und schelmisch, wobei sie in Wirklichkeit sicher nicht allzu überrascht war.

„Wer ist das?“

„Malka Portman“, antwortete ich, „die Schwester eines Schulkollegen, Moshe Portman. Sie ist schön, nicht wahr? Ihr Bruder prahlt immer damit, wie schön sie ist, also kam mir die Idee, sie in die Jungenetage zu schmuggeln, und dort habe ich sie dann in die Toilettenräume gebracht. Das sind meine besten Fotos, bisher.“

Tante Suzie sah ein Foto nach dem anderen an, und eines nach dem anderen drehte sie beim Weglegen so um, als hätte sie in jedem einzelnen die ganze Macht der Gesetzesübertretung wahrgenommen, und zwar nicht nur der Gesetze der Yeshiva High School.

„Mutter und Vater werden begeistert sein“, meinte sie ironisch.

„Nun, sie haben sie nicht gesehen. Aber sowohl Malka als auch ich wurden von der Schule verwiesen, und ich bin sehr glücklich darüber. Denn nun muss ich nicht mehr darum kämpfen, mich in einer anderen High School einschreiben zu dürfen.“

Natürlich hatte ich den Verweis nicht geplant. Niemand durfte die Fotos sehen, auch wenn ich im Innersten davon überzeugt war, dass sie mir eines Tages nützlich sein würden, sollte ich ernsthaft Fotograf werden wollen. Frauen zu fotografieren war in meiner Gemeinschaft ein Tabu. Oft kamen die Schüler bis zum Abschluss der High School, ohne einem Mädchen in die Augen geblickt zu haben. Ich hatte in die Augen von Malka Portman geschaut, und ich hatte sie fotografiert.

Die Fotos waren wunderbar, tausendmal besser als jene, die ich zu den Hochzeiten und den Bar-Mizwas machte, wo die Fotografierten von einer geologischen Schicht Make-up überzogen waren und die Lichter so gedimmt, dass sogar die Falten der ältesten Frauen verschwanden.

Ezra Kramer hatte seit jeher Eltern und Lehrern Sorgen bereitet. Jetzt wird er den Eltern aller Mädchen der Gemeinde Sorgen bereiten; und er wird, so dachte ich, jetzt auch den Rabbinern Sorgen bereiten. Erstmals wurde mir die Tragweite dessen, was ich getan hatte, bewusst. Ich war stolz auf die Fotografien, aber die Folgen dieser Schnappschüsse, die Frau Portman gefunden hatte, als sie das Zimmer ihrer Tochter aufräumte, waren verhängnisvoll. Judy Franzman würde mir nie wieder einen Keks anbieten, wann immer ich bei ihr auf einen Gruß im Geschäft vorbeischauen würde. Vater und Mutter würden mich vielleicht von zu Hause vertreiben. Vielleicht würde man mich für immer aus der Gemeinde ausschließen. Vielleicht hatte Ezra Kramer in der unbändigen Genialität eines fünfzehnjährigen Künstlers den Fehler seines Lebens begangen. Vielleicht wäre es besser gewesen, in jener Nacht im verqualmten Auto zu sterben.

Meine Eltern hatten mir zur Bar-Mizwa einen Fotoapparat der Marke Nikon geschenkt, kein Smartphone. Allein dieses Wort auszusprechen war in meiner Gemeinde verpönt, und nie hätte man eines dem eigenen Sohn geschenkt. Man assoziierte es mit Google, der Autobahn, die zu den Pornoseiten führte, wo die verheirateten Männer zum Ehebruch und die unverheirateten zur Verschwendung ihres Samens verleitet wurden. Ein Fotoapparat hingegen war weniger bedrohlich. Ich hatte ihn mir jahrelang gewünscht und stellte mir nun vor, wie ich zum Hafen abhauen würde, um die Pelikane zu fotografieren, während ich meinen Eltern sagte, ich würde ihn verwenden, um Fotos bei den Feiern der Gemeinde zu machen.

Nachdem ich ein gutes Hundert Fotos beim Purim-Festmahl geschossen hatte, zu dem der Rabbiner geladen hatte, fiel einem der Jungen der Gemeinde auf, dass ich Talent besaß. Eine Woche später rief mich verzweifelt der Vater von Binyomin Fischer an, der Fotograf habe ihn bei der Hochzeit seines Sohnes im Stich gelassen, zwei Tage vor der Feier, wegen eines „Missverständnisses, was die Zahlung betreffe“. Ich versprach einzuspringen und kam mit meiner Nikon zum Fest. Das Schönste daran war, dass ich jenen Bereich des Saals betreten durfte, der den Frauen vorbehalten war. Ich war der Fotograf. Kein anderer würde es wagen, die Mechiza zu überwinden, jene Vorrichtung, die Männer und Frauen in den Synagogen, bei den gemeinsamen Mahlzeiten, Hochzeiten und Versammlungen voneinander trennte.

Es sprach sich schnell herum, dass ich ein guter Fotograf war. Von nun an war ich bei jedem Fest der ultraorthodoxen Gemeinde von Brighton dabei. Ich hatte Talent, aber vor allem verlangte ich wenig Geld. Vielleicht war es aber auch das Vertrauen, das die Leute zu mir als Mitglied der Gemeinde hatten.

Dann kam der Zeitpunkt, an dem mich die Fotos von Gläser zertretenden Zwanzigjährigen und Pelikanen im Hafen von Boston zu langweilen begannen. Ich schlug meinen Schulkameraden vor, Modell zu stehen, doch sie gaben zurück, dass es ein Zeichen von Eitelkeit sei, sich fotografieren zu lassen, und Verschwendung von wertvoller Zeit, die man dem Studium der Heiligen Schriften widmen solle. Als Moshe Portman mir dann von seiner Schwester erzählte, wusste ich, dass der richtige Augenblick gekommen war. Malka war erstaunlicherweise offen dafür, und ich hatte keine Skrupel.

„Wie haben deine Eltern reagiert?“, riss mich Tante Suzie aus meinen Gedanken.

„Sie haben es wohl gerade erst erfahren, der Schuldirektor hat sie zu sich gebeten. Keine Ahnung, was sie sagen werden. Womöglich schicken sie mich auf eine andere ultraorthodoxe Schule, vielleicht außerhalb von Boston.“

„Eine sehr bittere Pille, die sie da zu schlucken haben. Sie werden sich der gesamten Gemeinde stellen müssen.“

„Ja. Wo auch immer sie mich hinschicken wollen, ich gehe da nicht hin. Schon gar nicht, wenn sie an Monsey denken. Die Yeshiva High School war schon ein Alptraum, und ich habe nicht vor, dieselbe Erfahrung irgendwo anders zu wiederholen.“

Tante Suzie nahm die Lesebrille ab, mit der sie die Fotos von Malka Portman betrachtet hatte. Sie sah mich mit jenem Gesichtsausdruck an, den ich so sehr an ihr liebte. Wusste ich doch, an ihn würde ich mich immer halten können.

„Du bist ein, nun ja, sagen wir, außergewöhnlicher Junge, außerhalb der Norm. Schau mich nicht so an, Ezra, es ist so. Vor allem aber, so sehr du jenen Leuten problematisch erscheinen magst“ – und wie sie dieses Wort betonte, war klar, dass es kein Kompliment war – „kann niemand leugnen, dass du sehr intelligent für dein Alter bist. In der Schule bist du Klassenbester und du hast es von klein auf geliebt, dicke Bücher zu lesen. Ich war immer der Ansicht, du bist für jene Schulen, wo dir nichts Konkretes beigebracht wird, viel zu gut. Hör zu, diese Geschichte ist deine Chance, auf eine Schule zu wechseln, die eines Schülers wie dir würdig ist.“

Die Tür zum Schlafzimmer von Mutter und Vater war zu. Seit jeher eine unüberwindbare Grenze für mich, hatte ich es mir schon als Kind zur Gewohnheit gemacht, durch sie hindurch Gespräche zu belauschen. Meistens waren sie nicht sehr erfreulich.

„Was haben wir nur getan, dass wir das verdienen? Was?“, flüsterte Mutter. „Gott bestraft uns. Ich spüre das.“

„Ich frage mich, was wir falsch gemacht haben. Wir haben ihn innerhalb der Gemeinde aufgezogen und dabei alle Regeln und alle Ratschläge des Rabbiners befolgt. Wir haben ihn auf unsere Schulen geschickt, und trotzdem. Da muss etwas sein, das wir falsch gemacht haben“, brach es aus Vater heraus.

„Woher hat er nur eine dermaßen perverse Idee? Sicher nicht von uns. Wir haben alles getan, um ihn von den Einflüssen der Menschen da draußen fernzuhalten.“

„Wir hätten nach der Hochzeit nach Monsey ziehen sollen, anstatt hier in Boston zu bleiben.“

„Sag das nicht. Der Rabbiner von Brighton ist die beste Führung, die wir haben konnten.“

Es folgten einige Minuten des Schweigens, während derer ich ganz flach atmete, um nicht gehört zu werden. Dann fuhr Vater fort: „Wir müssen entscheiden, was tun. Ich lasse nicht zu, dass die Gemeinde erfährt, was geschehen ist. Das wäre die Gelegenheit für sie, uns davonzujagen. Die Eltern werden Sorge haben, dass Ezra ihre Kinder negativ beeinflusst. Der Direktor hat gesagt, dass sie den Grund für den Schulverweis der beiden geheim halten werden, aber du weißt ja, wie das ist. Gerüchte kursieren schnell.“

„Vielleicht sollten wir uns an den Rabbiner wenden“, schlug Mutter schüchtern vor.

Erneutes Schweigen.

Versteckt unter einer Patina aus Gottesfurcht war die größte Angst meiner Eltern weitaus irdischer, nämlich aus der ultraorthodoxen Gemeinde vertrieben zu werden, die sie vor zwanzig Jahren aufgenommen hatte. Gegen den Willen ihrer Familien hatte Vater mit dem Sohn des Rabbiners und Mutter mit dessen Frau zu studieren begonnen. Dann kam ich auf die Welt und nach mir niemand mehr, zur großen Beschämung meiner Eltern und zur großen Enttäuschung der Gemeinde, in der der Durchschnitt bei acht Kindern und bei Dutzenden Enkeln lag.

Und so erwiesen sich die Fotografien für meine Familie nicht nur als Sünde im religiösen Sinn, sondern auch als gesellschaftlicher Selbstmord. Ihre Enttäuschung über mich wuchs von einer Minute zur nächsten, während mein Glaube an die Gemeinde, in die ich geboren worden und in der ich aufgewachsen war, ohne jegliches Bedauern dahinschwand.

Vater zeigte all seinen Zorn, Mutter vergoss all ihre Tränen, genauso, wie ich es vorhergesehen hatte.

Schließlich wurde mir von der Schule erlaubt, die Prüfungen in einer leeren Klasse abzulegen, fernab von meinen Schulkollegen, die mich nicht einmal das Gebäude betreten sahen. Auf diese Weise konnte ich mein erstes Jahr an der High School abschließen und dem Sommer entgegensehen, ohne zu wissen, wie es im Herbst mit mir weitergehen würde. Bis dahin, so entschieden meine Eltern, sollte ich zu einer Psychologin gehen.

Ohne irgendwelche Erwartungen betrat ich das Studio von Nora Oppenheimer. Im dritten Stock eines schönen ziegelroten Gebäudes in Cambridge, dem Vorort von Boston, gelegen, war es mittelgroß und gut ausgeleuchtet. Sie schien jung zu sein, doch in ihrem Gesicht war eine Spur von Distanz, fast von Niederlage erkennbar. Den ringlosen Händen nach zu urteilen, war sie nicht verheiratet. Sie war kein Mitglied unserer Gemeinde, aber Jüdin, und das hatte Vater und Mutter gereicht. Sie würde meine Bedürfnisse und meinen Lebensstil verstehen.

Ich ließ die Türe offen, doch sie befahl mir: „Mach zu.“

„Besser nicht“, gab ich zurück. „Sonst haben wir ein Problem mit den Jichud-Gesetzen. Es ist nicht erlaubt, dass sich ein Mann und eine Frau, die nicht miteinander verheiratet sind, zusammen allein in einem Raum aufhalten.“

Nora Oppenheimer öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben. Ein Fisch, dachte ich bei mir. Ein Fisch mit einem wunderbaren V-Ausschnitt, der zwar nicht die Brüste sehen ließ, aber verbotenen Gedanken Tür und Tor öffnete.

„Ich verstehe“, sagte sie schließlich, auch wenn klar war, dass es nicht so war. „Also, wo wollen wir anfangen?“

„Sagen Sie es mir“, antwortete ich mit freundlichem Lächeln. Ich hatte beschlossen, ganz den bezaubernden Jungen zu geben.

„Deine Eltern machen sich Sorgen um dich, Ezra. Einige deiner Verhaltensweisen haben sie, nun ja, ratlos zurückgelassen. Was beunruhigt sie, deiner Meinung nach?“

„Ich habe Malka Portman auf der Jungentoilette fotografiert. Ich liebe die Fotografie und habe gedacht, dass sich diese Fotos gut in einem Portfolio machen würden. Meine Gemeinde hat das allerdings ganz und gar nicht geschätzt.“

„In deiner Gemeinschaft ist es verboten, Frauen zu fotografieren, wenn ich nicht irre. Warum?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wollen Sie mir eine Predigt halten?“, fragte ich in schneidendem Ton.

„Auf keinen Fall, Ezra. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich versuche nur zu verstehen, was dich dazu gebracht hat, so zu handeln. Wolltest du provozieren? Ihre Aufmerksamkeit auf dich ziehen?“

Diese Frau verstand meiner Meinung nach gar nichts. Ihr Rock war etwas hochgerutscht, so dass ich ihre Knie und einige Zentimeter ihrer Schenkel sehen konnte. Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick von ihren Beinen lösen und sagte zaghaft: „Ich glaube, dass der Körper der Frauen sehr schön ist, und habe entschieden, ihn zu zelebrieren. Das ist alles, was ist schlecht daran? Ich bin sehr stolz auf diese Fotos. Ich bin stolz auf jede Minute, die ich in den Toilettenräumen verbracht habe. Nicht alle hätten es geschafft, Malka Portman zum Posieren zu bringen. Nun, ich habe es geschafft, und dafür sollte man mir applaudieren und mich loben, statt mich anzuklagen oder gar zu verspotten.“

Meine Tage bestanden aus langen Stunden, die ich in der sommerlichen Talmud-Thora-Schule verbrachte, aus Nachmittagen, die ich der Zeit abluchste und bei Tante Suzie war, und vielen Therapiesitzungen bei Nora Oppenheimer. Die Zeit in ihrer Gesellschaft war eine einzige Vergeudung, aber ihre Art sich zu kleiden, bunt und weit ausgeschnitten, Welten entfernt von den langen, schwarzen und unförmigen Röcken meiner Mutter, war für mich wie der Zutritt zum Garten Eden. Des Nachts begann ich über den nackten Körper von Nora zu fantasieren, der viel reifer war als jener von Malka Portman, schmal und einladend. Waren meine Fantasien über die Mädchen der Gemeinde immer unbefriedigend gewesen, richteten sie sich nun ungehemmt auf meine Psychologin. Als ob das nicht schon gereicht hätte, um in ihrem Studio und in meinem Körper eine angespannte Stimmung zu erzeugen, bestand Nora darauf, dass ich während der Therapiestunden von Sexualität sprach. Ich hatte keine klare Vorstellung von der Sache, und Noras Fragen waren eine verlockende Einladung, diese bislang verbotene Zone zu erforschen.

Es war mir peinlich, doch ich dachte, es könnte von Vorteil für mich sein, mit jemandem über Sexualität zu sprechen. Nützlich?, fragte eine Stimme in mir. Nützlich, bejahte dieselbe Stimme.

Dann fragte ich sie eines Tages: „Warum bestehen Sie so sehr darauf?“

„Was meinst du damit, Ezra?“

„Warum wollen Sie, dass ich von diesen … Dingen … spreche?“

Nora Oppenheimer atmete tief durch und antwortete: „Ich glaube, du hast als Heranwachsender eine starke Frustration gegenüber den Verboten und Tabus entwickelt, die dir von deiner Gemeinde auferlegt werden. Als du dann diese Fotos gemacht hast, ist all das in dir hochgekommen. Ezra, ich möchte, dass du Folgendes verstehst: Die Sexualität ist menschlich. Sie ist die natürlichste Sache der Welt. Sie ist die Basis des Fortbestehens der Menschheit und der Tiere, allen Lebens. Deine Eltern haben dir diese fragwürdige Idee vermittelt, dass Sexualität dem Bösen entspricht.“

Sie sprach leidenschaftlich und betonte jede Silbe, um schließlich beim Bösen anzuhalten.

Ich schwieg.

„Ezra, vielleicht bin ich die erste und zugleich letzte Person, die dir das sagt. Das, was du in den Toilettenräumen gemacht hast, war … eine wunderschöne Sache. Deine Fotografien sind großartig und du solltest stolz auf dich sein.“

Ich fragte sie, ob sie das ernst meine. Sie bejahte. Schweigen. In einem Atemzug sagte ich ihr, es würde mich glücklich machen, die Erfahrung zu wiederholen, und sie wäre das perfekte Modell dafür. Sie fragte mich, ob ich den Fotoapparat immer bei mir trug. So war es.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu und Vater und Mutter zitierten mich ins Wohnzimmer, um mit mir über meine Zukunft zu sprechen. Zuallererst verlangten sie von mir, ihnen den Fotoapparat auszuhändigen, was ich kurzerhand tat. Meine neue Nikon lag in meinem Zimmer in einer Schublade versteckt, gekauft mit dem Geld, das Nora Oppenheimer nicht mehr annahm, seit sich unsere Sitzungen in etwas anderes verwandelt hatten. Nora lehrte mich, dass Begehren menschlich war, Verlangen rechtmäßig und Erhalten ein Sieg, auf den man stolz sein konnte.

Vater verkündete, dass er eine ausgezeichnete Unterkunft bei einer Familie in Monsey gefunden habe, mir blieben zwei Wochen, um mich auf die Abreise vorzubereiten.

Sie wollten mich loswerden, doch ich hatte mich auf diese Eventualität eingestellt.

Einen Monat zuvor hatte mich Tante Suzie beim SAT angemeldet, dem Studienbefähigungstest, der Logisches Denken und Lernfähigkeit überprüfte und Zugang zu den besten Universitäten verschaffen konnte. Sie war überzeugt, dass ich überdurchschnittlich abschneiden würde, und finanzierte mir Privatstunden, so dass ich gut vorbereitet die Prüfung antrat.

Mit fünfzehn Jahren konnte ich sowohl in Mathematik als auch in Englisch eine SAT-Punktezahl vorweisen, die Millionen von High-School-Absolventen erblassen ließ. Einige traten bis zu viermal zur Prüfung an in der Hoffnung, jene zusätzlichen fünf Punkte zu erreichen, die sie für die Aufnahme an einer staatlichen Universität brauchten.

Das Kuvert mit den Ergebnissen in der Hand, bestieg ich Tante Suzies metallic-grauen Kleinbus, und sie begleitete mich zum Treffen mit dem Direktor der Nachmanides High School.

Ich war noch nie in der Nachmanides gewesen, hatte aber schon viel von ihr gehört. Im Herzen von Brookline gelegen, auf halbem Weg zwischen Brighton und Boston, war sie eine moderne jüdisch-orthodoxe Schule. Man sagte sich, vielmehr flüsterte sich hinter vorgehaltener Hand zu, dass dort Jungen und Mädchen gemeinsam die Heiligen Schriften studierten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich miteinander auf den Gängen aufhielten oder gar an denselben Tischen aßen und sich in der Bibliothek gemeinsam auf die Prüfungen vorbereiteten.

Wie ein schüchternes Hündchen folgte ich Tante Suzie in die Eingangshalle und war zutiefst beeindruckt, als ich begriff, dass der Direktor der Schule eine Frau war, Mrs. Rosenthal.

„Du kommst von der Yeshiva High School, nicht wahr?“, fragte sie mich, nachdem Tante Suzie und ich ihr gegenüber am Schreibtisch Platz genommen hatten. Mrs. Rosenthal hatte kurze, kastanienfarbene Haare und trug keine Kopfbedeckung. Ich fragte mich, ob sie womöglich Single war.

„Ja“, lautete meine kurze Antwort.

„Ezra ist ein sehr begabter Junge“, schaltete sich Tante Suzie ein. „Ich glaube, dass die Yeshiva nicht die richtige Schule für ihn ist. Die Nachmanides hat einen ausgezeichneten Ruf und Ezra wäre sicher ein Vorzeigeschüler für Ihre Schule.“

„Was hat Ihren Sohn bewogen, die Schule zu wechseln?“, fragte die Direktorin, während sie mich durch ihre extravagante rote Brille betrachtete.

„Um die Wahrheit zu sagen, ich bin die Tante“, entgegnete Tante Suzie unverzüglich. „Seine Eltern sind heute verhindert, daher habe ich ihn begleitet. Wie gesagt, Ezra ist für die Yeshiva nicht geeignet. Schauen Sie …“, sie begann in ihrer Tasche zu kramen.

Das Büro war geschmackvoll eingerichtet, mit verschiedenen Fotografien von Studenten der Nachmanides an der Wand. Die Jungen trugen die Kippa, die Mädchen Röcke bis zu den Knien, aber alle waren bunt angezogen, normal. Beim Anblick der Jungen mit den grellfarbenen Hemden und den Zizit, die darunter heraushingen, blieb mir der Mund vor Staunen offen. Die Nachmanides, über die ich immer nur verächtlich reden gehört hatte, fast so als handelte es sich um einen Sündenpfuhl, erschien mir plötzlich, mit den Studentinnen, die in eng anliegenden Kleidern Gemara studierten, als ein Leuchtturm der Freiheit.

Tante Suzie zog das Kuvert mit meinen Ergebnissen heraus und überreichte es Mrs. Rosenthal, die anstelle der roten Brille eine giftgrüne Lesebrille aufsetzte.

„Ich verstehe nicht“, sagte sie, als ihr klar wurde, was sie in Händen hielt. „Wir sind eine High School, keine Universität. Es wäre nicht nötig gewesen, diese Prüfung abzulegen.“

„Bitte, schauen Sie genau hin“, forderte Tante Suzie sie auf.

Mrs. Rosenthal folgte der Aufforderung. Dann blickte sie zu mir und anschließend wieder erstaunt auf das Blatt Papier.

Vater hatte mir seine Pläne für mich dargelegt, nun schien es mir an der Zeit, ihm die meinen mitzuteilen. Ich eröffnete ihm, dass ich an der Nachmanides aufgenommen worden war, ein Stipendium in der Höhe von fünfundzwanzigtausend Dollar würde die gesamten Schulkosten abdecken. Auch wenn die Gemeinde die Öffnung der Schule hin zur Moderne ablehne, sagte ich ihm, handele es sich bei der Nachmanides um eines der angesehensten Institute der Stadt, das jährlich Abgänger vorweisen könne, die nach Harvard oder Penn gingen.

Meine Eltern beharrten auf ihrer Meinung. Nachdem sie einander besorgte Blicke zugeworfen hatten, erklärten sie mir, ich sei verrückt, nie und nimmer würden sie mir erlauben, an jenen Ort der Sünde zu gehen. Ich würde wie vorgesehen nach Monsey kommen, wo mich eine hervorragende, fromme Familie erwarte und ein Platz an einer der besten orthodoxen High Schools der USA.

Ich blieb unnachgiebig, zeigte ihnen meine Punktezahl beim SAT. Meine Eltern waren zwar verschlossen, doch in der Welt draußen geboren. Sie wussten genau, was ein dermaßen gutes Ergebnis bei jener Prüfung bedeutete, nämlich renommierte Schulen und Stipendien.

Plötzlich kam ich mir als der verantwortliche Elternteil vor, der die uneinsichtigen Kinder überzeugen musste, das zu tun, was zu ihrem Besten war. Und ich sagte zu ihnen: „Gott hat euch nur einen Sohn gegeben, das ist wohl wahr. Aber der, den er euch gegeben hat, ist intelligent. Ihn an Schulen wie die Yeshiva High School in Brighton, Monsey oder Brooklyn zu schicken, wäre die reinste Vergeudung.“

Am folgenden Tag stieg ich am Bahnhof Brookline Hills aus und betrat zum zweiten Mal die Halle der Nachmanides High School, um die Einschreibungsformulare für das bevorstehende Schuljahr abzugeben. Sowohl Vater als auch Mutter hatten unterschrieben. Ich hatte gewonnen, und meine Eltern mussten sich einer Gemeinschaft stellen, die die Wendung, die das Leben im Hause Kramer genommen hatte, niemals billigen würde.

ZWEI

Beide auf der Suche nach einem Halt

im Leben, hatten meine Eltern im letzten Jahr ihres Studiums am College von Brandeis beschlossen, sich der Religion zuzuwenden. Sie hatten sich im Haus des Rabbiners von Waltham, der der Chabad-Gruppierung angehörte, kennengelernt. Sie kamen jeden Freitag dort zusammen, bei Sonnenuntergang verließen sie den Campus der Universität, überquerten laufend die Gleise des Zugs, der Richtung Bostoner North Station fuhr, und betraten die kleine Villa des Rabbiners, wo sie gemeinsam mit Dutzenden anderen Studenten zum Abendessen blieben. Ich weiß nicht genau, was sie dazu brachte, einen Lebensweg anzustreben, der stärker von Religion geprägt war. Vielleicht sahen sie in den Lebens- und Verhaltensregeln, die die Orthodoxie in zwischenmenschlichen Beziehungen und in jener zu Gott vorschrieb, die Möglichkeit, ein sinnerfülltes Leben in Sicherheit und Ordnung zu führen. Vielleicht war es jenes Gefühl von Zugehörigkeit, das sie jedes Mal empfanden, wenn sie ihren Fuß über die Schwelle des Hauses des Rabbiners setzten, und das sie mit der Kraft der Bekehrung anzog, die dann auch rasch und unaufhaltsam erfolgte.

Nach dem Universitätsabschluss übersiedelten sie nach Boston und beschlossen, sich mit dem ultraorthodoxen Rabbiner von Brighton auf die Hochzeit vorzubereiten, wohin sie anschließend als junges Ehepaar zogen.

Der Prozess der Eingliederung in die Gemeinde zog sich ziemlich lange hin. Während der innig herbeigesehnte Erstgeborene auf sich warten ließ, wurden Mutters Röcke immer länger, und Vater bestieg während einer Arbeitsreise nach Manhattan den Zug nach Brooklyn, wo er seinen ersten schwarzen Borsalino erstand. Sie frequentierten mit großem Eifer die Gemeinde und schlossen eine solide Freundschaft mit dem Ehepaar Fischer, das bereits drei Söhne hatte und meine Eltern häufig zum gemeinsamen Sabbatmahl einlud. Ihr Haus füllte sich mit religiösen Büchern, und sobald sie genügend Geld gespart hatten, bauten sie die Küche um und unterteilten sie in zwei Hälften, eine für die fleischigen und eine für die milchigen Lebensmittel, jede mit eigenem Spülbecken und eigener Spülmaschine.

Als meine Eltern schon nicht mehr daran glaubten, ein Kind bekommen zu können, wurde Mutter schwanger. Die Freude über die Ankunft eines Kindes und der Stolz darüber, dass es ein Junge war, waren riesengroß; die Gemeinde scharte sich um sie mit einer Zuneigung, die weit über jenes „Masel tov!“ hinausging, mit dem man sich gewohnheitsmäßig beglückwünschte. Der kleine Ezra enttäuschte dann auch niemanden: Alle verliebten sich in mein pausbäckiges Gesicht mit den schwarzen Locken und den durchdringenden Augen.

Sechzehn Jahre später waren meine Eltern noch immer stolze Mitglieder der ultraorthodoxen Gemeinde – und das trotz mir. Zu ihrer Erleichterung verkroch ich mich täglich neun Stunden lang in der Nachmanides und verspürte kein Bedürfnis mehr, mich auf- und davonzumachen. Mutter und Vater hatten sogar widerwillig meine neue Art, mich für die Schule zu kleiden, akzeptiert, nämlich ohne schwarzen Hut und ohne Jacke, die ich zuvor sogar im Sommer getragen hatte.

Als der Rabbiner der Gemeinde neunzigjährig und mittlerweile ohne Bewusstsein starb und der Welt zwei Söhne, vier Töchter, achtundzwanzig Enkel und fünfundvierzig Urenkel hinterließ, übernahm sein erstgeborener Sohn trotz einiger Proteste seine Stelle. Viele waren der Ansicht, dass er nicht die Autorität des Vaters besaß. Er erwies sich jedoch als starke Persönlichkeit und ließ sich auch dann nicht einschüchtern, als er wegen einiger unwesentlicher, allerdings als zu offen erachteter Entscheidungen das Misstrauen der konservativsten Familien auf sich zog. Nach der Trauerzeit versetzte er die gesamte Gemeinde in Bestürzung, als er die Entscheidung des Rabbinischen Rates von Amerika unterstützte, zusätzlich zur traditionellen Ketubba einen verbindlichen vorehelichen Vertrag einzuführen. Dieser sollte eine der heikelsten Angelegenheiten innerhalb unserer Gemeinschaft regeln: zwischen Männern, die sich weigerten, den Scheidungsantrag der eigenen Frau zu unterschreiben, und Frauen, die in einer unerwünschten Ehe gefangen waren und keine neue eingehen konnten. Das religiöse Gesetz war in solchen Fällen machtlos, und der Rabbinische Rat hatte beschlossen, ein gesetzliches Dokument einzuführen, das die Ehemänner dazu zwang, den Frauen die Scheidung zu gewähren, sobald ein rabbinisches Gericht dies für angebracht erachtete.

Der Rabbiner Hirsch ließ nun alle Paare der Gemeinde, die heiraten wollten, einen solchen vorehelichen Vertrag bei einem Notar unterzeichnen. Die Mehrheit fühlte sich durch diese Veränderung gekränkt: Den Vertrag zu unterschreiben kam für sie dem Eingeständnis gleich, dass das jüdische Gesetz nicht ausreichend war und durch jenes des Staates ergänzt werden musste. Mutter hingegen war zutiefst beeindruckt von der Entscheidung des Rabbiners, ohne es sich groß anmerken zu lassen. Jedoch ließ sie es sich nicht nehmen, beim Abendessen ihrer Anerkennung Ausdruck zu verleihen, bei geschlossener Tür also und in Anwesenheit von mir und Vater, der darauf mit einem hässlichen und vulgären Gesichtsausdruck reagierte.

Freitagabend: Waffenstillstand. Ich war mit einem Ausgezeichnet in Trigonometrie heimgekommen, dachte aber gar nicht daran, das Ergebnis Mutter und Vater zu zeigen. Ich war erschöpft und froh, dass endlich der Sabbat begann. Mutter war gerade dabei, die Challot ins Backrohr zu schieben, die sie zuvor mit Eigelb bestrichen hatte, die Deli Rolls und auch den Apfel-Zimt-Kuchen, allesamt Gerichte, die sie jede Woche zubereitete und die Vater und ich zutiefst liebten.

„Gut Schabbes“, wünschte sie Vater und mir, als wir die Wohnung verließen und uns zur Synagoge aufmachten, die sich zwei Blöcke weiter befand. Nachdem wir gebetet und alle Männer der Gemeinde gegrüßt hatten, machten wir uns auf den Heimweg, unser gewohntes Schweigen einhaltend. Aus einem vorbeifahrenden Auto ertönte ein Disco-Song, den ich vom Handy eines Schulkollegen kannte, aber nie gewagt hätte zu Hause anzuhören.

Nachdem er den Segen über der Challa gesprochen hatte, teilte uns Vater mit, dass Frau Taub ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Binyomin Fischer hatte es ihm in der Synagoge erzählt.

„Was fehlt denn der Frau Taub?“, fragte ich und fügte, als mir niemand antwortete, ein leises „Mutter?“ hinzu.

„Sie hat ein schlimmes Leiden“, war ihre knappe Antwort.

Ein schlimmes Leiden … Ester Taub hat einen Tumor, dachte ich.

„Wird sie sterben?“, setzte ich nach.

„Ezra!“, brach es aus Mutter heraus.

„Ich frage ja nur. Ich möchte verstehen, wie schlimm es ist.“

„Ja“, ergriff Vater das Wort. „Es scheint ziemlich schlimm zu sein, aber sie wird sich erholen, so Gott will. Wir müssen nur für sie und für ihre leidgeplagte Familie beten.“

Angespanntes Schweigen breitete sich aus. Mutter betete, Vater fuhr fort, sich den Deli Rolls zu widmen, und ich dachte an die Familie Taub, eine der religiösesten der Gemeinde. Herr Taub verbrachte seine Tage mit dem Studium der Heiligen Schriften in der Synagoge, während seine Frau im Kindergarten unserer Gemeinde mitarbeitete. Wie viele Kinder sie wohl hatten? Sechs, sieben, acht? Alle mit rotziger Nase und schmutzigen Kleidern, weil ihre Mutter allzu sehr damit beschäftigt ist, fremden Kindern die Nase zu putzen, während der Vater sich vor lauter Bücherlesen die Augen ruiniert, dachte ich in einer Anwandlung von Boshaftigkeit.

„Nach dem Sabbat rufe ich Leah Fischer an und frage sie, wie wir Esters Mahlzeiten organisieren“, sagte Mutter.

„Ja, Binyomin hat etwas in diese Richtung angedeutet. Wir müssen auch klären, was mit ihren Kindern geschieht.“

Während ich die Teller in die Küche trug, warf ich einen Blick zum Fenster hinaus: Es hatte zu schneien begonnen. Nützlich? Nützlich, dachte ich. Ich hatte große Lust, ein paar Fotos vom verschneiten Brighton zu machen.

Gegen sechs, sobald der Sabbat beendet war, wickelte ich mich in meinen langen elektrik-blauen Schal, das einzige bunte Kleidungsstück, das ich besaß, lief hinaus auf die Straße, ohne die Tür hinter mir zu schließen, und warf mich ins Abenteuer. Die Stadt lag friedlich da, in eine Decke vermeintlicher Ruhe gehüllt, unter der ein Anflug von Schwermut lauerte. Mit unbändiger Lebenslust, die schon allzu lange darauf wartete, auszubrechen und die Welt zu entdecken, machte ich mich in die finsteren und verlassenen Straßen unseres Viertels auf, die Nikon unter dem Mantel versteckt.

Ich fotografierte gerade eine Kiefer, deren Äste von einer schweren Schneeschicht nach unten gedrückt wurden, als mir eine dunkle Gestalt entgegenkam.

„Ezra?“, rief sie fragend, und ich erkannte erst nach einer Weile, dass es der Rabbiner Hirsch war.

„Schalom“, grüßte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

„Es freut mich, dass du nicht aufgehört hast, dich deiner Leidenschaft für das Fotografieren zu widmen“, sagte er. Mich überraschten seine Worte, kannte er doch sicher den Grund, weshalb ich von der Yeshiva High School verwiesen worden war. „Augenblicke dieses seltsamen Lebens, das uns von Gott geschenkt wurde, festzuhalten, ist eine vortreffliche Handlung.“

Dieser Satz gefiel mir. Vielleicht konnte der Rabbiner ein möglicher Freund und Verbündeter sein, erwog ich im Stillen.

„Danke, Rabbi“, antwortete ich und versuchte, jenen widerwilligen Ton zu vermeiden, den ich mittlerweile in den Gesprächen mit meinen Eltern anschlug. „Wohin sind Sie unterwegs?“, fragte ich neugierig.

„Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich war im Krankenhaus, Frau Taub besuchen.“ In seiner Stimme schwang tiefe Trauer mit. Ich hätte gern etwas unternommen, um ihm seinen Schmerz zu erleichtern, doch mir fiel nichts ein.

„Geht es ihr sehr schlecht?“

Es war kalt und dunkel, der Rabbiner nickte mit Nachdruck. „Ich überlasse dich wieder dem Fotografieren.“

„Ach, ich glaube, ich gehe jetzt auch heim.“

„Es gibt Dinge auf der Welt, die sich unserem Verstand entziehen“, bekräftigte der Rabbiner, bevor er sich entfernte. „Aber Gott hat einen Plan.“

Ob das Objektiv meiner Nikon wohl imstande war, diesen Plan einzufangen, denn mir gelang beim besten Willen nicht, ihn zu erkennen, ging mir auf dem Heimweg durch den Kopf.

Ich hatte mir zwischen den beiden Welten, jener der Gemeinde und jener der Nachmanides, eine Nische eingerichtet. Meine Klassenkameraden stellten nicht viele Fragen, wussten sie doch, woher ich kam und dass etwas schiefgelaufen sein musste, wenn ich nicht mehr die High School meiner Gemeinde besuchte. Ich hatte keine Freunde unter ihnen und fühlte mich oft unwohl. Ich war anders, sie waren anders.