Dorette Deutsch hat Germanistik und Philosophie studiert, war Dozentin an der Universität Bologna und arbeitet als Autorin und Journalistin. Bei ihren Recherchen zu dem Brand am berühmten Opernhaus »La Fenice« hat sie den Zauber Venedigs für sich entdeckt und in zahlreichen Reportagen für die ARD darüber berichtet. Sie ist Autorin vielgelesener Reportage-Bände über Italien. Dorette Deutsch lebt in München und Genua, kehrt aber immer wieder gern nach Venedig zurück.
Mehr zur Autorin unter www.dorette-deutsch.de
Benvenuti a Venezia – der ewigen Stadt der Liebe.
Antonias Leben in Berlin ist festgefahren. Die junge Archäologin zögert keine Sekunde, als ihr ein Forschungsauftrag in Venedig angeboten wird. Kaum angekommen, lernt sie die alte Contessa Ada Foscarini kennen, in deren Palazzo sie wohnen wird. Sie vertraut Antonia ein düsteres Geheimnis an, das wie ein Fluch über ihrer Familie liegt, und bittet sie um Hilfe. Mit dem Venezianer Dario begibt sich Antonia tief hinein in das Herz der Stadt und erkennt allmählich, dass sie in Venedig ihr Glück finden könnte – und vielleicht die Liebe.
Eine zauberhafte Liebesgeschichte in den Gassen und Kanälen Venedigs – voller italienischem Lebensgefühl.
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Die Mondschein-Lagune
Ein Venedig-Roman
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Glossar
Impressum
Für Contessa Ada Foscarini war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, im Morgengrauen durch die verwinkelten Räume ihres Palazzo zu gehen, der von ihrer Familie – dem Teil davon, der die Wirren der Geschichte ohne größere Schäden überlebt hatte – in ihren Besitz übergegangen war. Ada liebte den Geruch nach altem Holz, nach schweren Seidenvorhängen und vergilbten Bildern, der sich in den Räumen des Ca’ Foscarini mit der Geschichte von ein paar nie gelüfteten Geheimnissen mischte. Denn Geschichte konnte man riechen, fand Ada, genauso wie Menschen nach Glück, Liebe oder Verzweiflung riechen und das Fell junger Katzen den Geruch von Wohlbefinden, Hunger oder Regen ausströmt.
Über San Giorgio war gerade die Sonne aufgegangen, als Ada auf der Steinbank unter der schmalen Palme Platz nahm. Mehr als alles liebte die alte Contessa den Duft der Lagune, der sich auch an diesem Morgen als salziger Tau auf die Agaven und den Oleander in ihrem Garten gelegt hatte. Es war Ende März, und die Luft roch bereits nach Frühling. Nachdem die Schatten der Nacht verschwunden waren, atmete sie erleichtert die salzige Luft ein und streichelte ihre Katze Mimi, die neben ihr auf der Bank kauerte.
Wie so oft war die Dunkelheit voller Gestalten der Vergangenheit gewesen, die regelmäßig ihre Träume aufsuchten.
Manchmal war Ada fast erstaunt über ihr eigenes seelisches Gleichgewicht, wenn sie aufwachte; denn auch wenn die Gestalten aus ihren Träumen erschreckend waren, hatten sie längst keine Macht mehr über sie. Manche waren ihr einfach nur fern und lästig geworden, wie die Fresken an der Decke ihres Schlafzimmers, die von kuriosen Faunen und halbnackten Damen in sündigen Umarmungen erzählten. Ada hatte nie herausgefunden, wer in ihrer weitläufigen Verwandtschaft diese geschmacklich eher zweifelhaften Abbildungen in Auftrag gegeben hatte. Sie musste mit ihnen leben, ebenso wie mit den Gestalten aus ihren Träumen.
Manchmal gelang es ihr, ein paar Traumfetzen wie bunte Gobelins in schweren Rahmen in den beginnenden Tag hinüberzuretten: die Bilder ihrer Schwester Agnese im weißen Sommerkleid aus feiner Seide, edel und elegant wie alles, was Agnese trug. Vom ersten Augenblick ihres Lebens an hatte Ada Agnese als Konkurrenz empfunden, die ältere, schönere Schwester, die Ada lange Zeit nur einen Platz im Schatten gelassen hatte. Agnese war vor sechs Jahren gestorben, und Ada fragte sich manchmal, ob es möglich gewesen wäre, die ambivalenten Gefühle in Liebe zu verwandeln, wenn beide nur rechtzeitig die Güte des Alters in ihrem Verhältnis zueinander entdeckt hätten. Manchmal fragte sie sich, warum sie das selbst nicht rechtzeitig erkannt hatte. Aber Agnese war tot, wie die meisten Mitglieder ihrer Familie, und Ada wusste schon lange nicht mehr, an welche Vergangenheit sie eigentlich anknüpfen sollte. An die ihres charismatischen Großvaters, der dem Alkohol erlegen war? Oder an die ihres Urgroßvaters Nicolò, dessen Spuren sich auf dem Meer verloren hatten? An die ihrer unglücklichen Mutter, deren Leben die Melancholie bestimmt hatte?
Ada seufzte und streichelte ihre Katze. Die ersten Sonnenstrahlen hüllten ihren Garten in kupferfarbenes Morgenlicht. Gebannt starrte Mimi auf das Tor zum Kanal, während Ada etwas nervös und mit wenig Erfolg an ihrem Hörgerät herumfingerte. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sie schon am frühen Morgen auf die Schwächen des Alters hingewiesen wurde. Dieses blöde Ding, am liebsten hätte sie es in hohem Bogen in den Kanal geworfen! Und wieso musste dieser Akustiker ausgerechnet in einem ziemlich hässlichen Neubaugebiet am Rand von Mestre wohnen, das Ada ganz und gar nicht mochte? In unmittelbarer Nähe des Viertels war vor vielen Jahren der prosindaco, der Mestriner Vizebürgermeister, entführt worden. Ada verabscheute heute noch den Gedanken an diese gemeine Tat. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die ruhige Welt ihres Viertels überhaupt nicht mehr verlassen. Obwohl ihr Stadtteil, ihr sestiere, auf schwankendem Boden und wie ganz Venedig inmitten von Wasser erbaut war, war es die einzige Welt, in der sie sich sicher fühlte. Denn schon lange war sie davon überzeugt, dass es Sicherheit in dieser schwierigen Zeit nur in der Unsicherheit gab.
Ada lächelte, wenn sie daran dachte, dass für ihre Verwandtschaft vom Festland oder ihre seltenen Gäste das Wasser immer auch etwas Bedrohliches hatte.
Mimi gähnte und blinzelte Ada aufmunternd zu. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gab sie es schließlich auf, ihr Hörgerät besser einstellen zu wollen, und warf ihrer Katze einen resignierten Blick zu. Ungeduld war eine Eigenschaft, die sie mit ihrer Katze gemeinsam hatte.
Mit einem Satz hastete Mimi zu dem eisernen Gittertor, noch bevor Ada das leise Geräusch des herannahenden Motorboots überhaupt wahrnehmen konnte. Was für ein Glück, fand Ada, mit einer Katze zusammenzuleben. Katzen bellen nicht und sind dabei mindestens genauso aufmerksam wie Wachhunde.
Ada stand auf, um das Tor zum Kanal zu öffnen. Als sie behutsam den verrosteten Riegel zurückschob, dem das Salzwasser zugesetzt hatte, war Dario gerade dabei, sein Boot an einer der beiden Holzbaken mit dem Wappen der Foscarini festzumachen. Wenn ich jünger wäre, würde ich mich sofort in ihn verlieben, dachte Ada und ging ihm entgegen. Mit seinem graumelierten Stoppelhaar und der schwarzen Lederjacke sah er wie ein Abenteurer aus, der gerade von einer weiten Fahrt über das Meer zurückgekehrt war. Sobald Dario seine Freundin Ada erblickte, setzte er sein strahlendstes Lächeln auf. Wie jeden Morgen trug sie ein lavendelblaues Wollkleid und hatte einen winzigen Lockenwickler in ihrem aschblonden Haar vergessen, was Dario, übernächtigt wie er war, sofort in gute Laune versetzte. Das dunkle Blond einer echten Venezianerin, wie es Tizian und Tintoretto gemalt hatten, dachte er bewundernd, obwohl er sich für Frauen und ihr Aussehen derzeit nicht besonders interessierte. Wahrscheinlich hat sie ihr Haar in ihrer Jugend bei jedem Sonnenstrahl auf der altana, dem geschützten Dach ihres Palazzo, trocknen lassen. Man muss eben rechtzeitig vorsorgen, wenn man noch im Alter gut aussehen will. Sicher ist sie die einzige Venezianerin, die in ihrem Toilettenschrank immer noch eine mit geblümtem Stoff ausgeschlagene Schublade besitzt, in der sie ausschließlich Lockenwickler aufbewahrt.
Ada küsste ihn auf beide Wangen, während Mimi um Darios Beine strich. Unter seinen Augen waren tiefe schwarze Ringe zu sehen.
»Guten Morgen, Dario«, sagte Ada und blickte forschend in sein Gesicht, »du siehst nicht unbedingt wie jemand aus, der eine ruhige Nacht verbracht hat. Das fällt mir allerdings nicht erst seit heute auf.« Statt einer Antwort berührte Dario sanft Adas Arm, während sie nebeneinander den kurzen Weg zu der Steinbank im Garten zurücklegten. Mimi ging vor den beiden her und gab ein fröhliches Miauen von sich.
»Ich kann es nicht verhindern, dass mein Doppelleben Spuren hinterlässt. Diese Archäologen werden außerdem immer anspruchsvoller. Heute Morgen musste ich sie schon um halb sieben auf die Insel hinausbegleiten. Und gestern habe ich bis Mitternacht wieder eine der Endlosdebatten mit Marinella geführt. Seitdem die Scheidung beschlossene Sache ist, ruft sie fast jeden Abend heulend bei mir an und will, dass ich mich mit ihr auseinandersetze. Wenn ich das Wort schon höre.«
Dario blickte nach oben und sah einen Ausschnitt blauen Himmels über sich.
»Manchmal finde ich diese Streitereien einfach unerträglich. Wieso können wir nicht einfach unser Leben genießen? Wir leben in Venedig, der schönsten Stadt der Welt, die Luft riecht nach Frühling, also was soll das? Aber Marinella klagt unentwegt und behauptet, ich hätte ihr Leben zerstört!«
»Die Ärmste. Wahrscheinlich hat das alles gar nichts mit dir zu tun. In der Liebe lebt man immer nur, was man in sich trägt«, bemerkte Ada bedauernd, »bei deiner Exfrau ist es offensichtlich die Zerstörungswut.«
»Ja, liebe Ada, wahrscheinlich hast du recht. Aber lassen wir das. Hast du gestern Abend die Diskussion im Fernsehen über die Kommunalwahlen gesehen? Irgendjemand kam wieder auf die absurde Idee, Venedig von Mestre zu trennen! Das Vorhaben ist mindestens so alt wie dein Landungssteg und hat schon Moos angesetzt! Als wenn eine solche Aktion zu irgendetwas führen würde. Es ist wirklich ein Wunder, dass sich unsere Politiker noch nicht die Köpfe eingeschlagen haben.«
Dario setzte sich neben Ada auf die Steinbank.
»Schade, was zwischen dir und Marinella geschehen ist«, kommentierte Ada und hielt ihn immer noch am Arm fest. »Aber vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem sie schätzt, was war, und einfach loslassen kann.«
»Vielleicht nach der Scheidung. Aber ich glaube, dass bei meiner Exfrau der Hass bestehen bleiben wird, da ist nichts zu machen«, bemerkte Dario resigniert.
»Wenn eine Liebe zu Ende ist, geht es nur noch um Macht und darum, wer das letzte Wort behält«, seufzte Ada.
»Du müsstest einmal hören, wie sie mit mir spricht, das Geschrei der Politiker im Fernsehen war nichts dagegen. Erst gestern meinte sie wieder, sie habe durch mich Jahre ihres Lebens verloren«, berichtete Dario.
»Und trotz ihres Grolls will Marinella, dass du bei ihr bleibst?«
»Ja, genau das ist es, was ich nicht verstehe.«
»Wie schade«, bedauerte Ada.
»In deiner Jugend und in deinen Kreisen war das sicher alles ganz anders. Da haben die Familien sich schon darum gekümmert, dass die richtigen Paare zusammenfinden.«
»Ja, obwohl es nicht immer die große Liebe war. Vielleicht war es nicht das schlechteste System«, erinnerte sich Ada.
»Da hat man sich im Winter in prachtvollen Ballsälen kennengelernt, und im Frühling ist man zum Picknick in die Lagune gefahren. Und ab dann nahmen die Dinge einfach ihren Lauf. Hab ich recht?«, erkundigte sich Dario, wieder gutgelaunt.
»Manchmal war es so, aber nicht immer«, antwortete Ada ausweichend.
»Und die Familien haben dafür gesorgt, dass das Vermögen zusammenblieb.«
»Auch wenn in meinem Fall außer ein paar alten Gemäuern nicht viel von dem Vermögen übriggeblieben ist«, stellte Ada mit einem Blick auf ihre Umgebung fest.
»Wenn ich mich hier so umsehe, wäre ich mir da nicht so sicher«, entgegnete Dario.
Ada hatte es schon immer vermieden, allzu viel von sich zu erzählen.
»Vielleicht solltest du den Gedanken an Marinella einfach beiseiteschieben, mit etwas Abstand regeln sich die Dinge manchmal von allein. Kannst du nicht eine Reise machen?«
»Eine Reise?«, fragte Dario erstaunt. »Ich könnte natürlich nach Mestre fahren und den alten Vinicio besuchen.«
»Dario, nach Mestre sind es gerade einmal zwanzig Minuten mit dem Bus! Ist das das Einzige, was dir zum Thema Reise einfällt?«, bemerkte Ada spöttisch.
»Ich war schon lange nicht mehr in Mestre. Du könntest mich begleiten, arbeitet dein Akustiker nicht dort?«
»Es ist nicht sehr charmant, dass du mich ausgerechnet auf mein Hörgerät ansprichst!«
»Aber dann auch keine Gespräche über meine Exfrau mehr.«
Dario grinste und hob kaum merklich die Hand, als ob er trotz seines vertraulichen Gesprächs mit Ada keine weiteren Fragen über seine Auseinandersetzungen mit Marinella mehr hören wollte. Im Grunde genommen interessierte sich Ada auch nicht besonders dafür. Hoffentlich verliebt er sich bald wieder, dachte sie. Männer, die so gut aussehen wie er und in ihrem Herzen trotzdem keine Machos sind, sind selten.
Seitdem Dario jeden Morgen in die Lagune hinausfuhr, war es ihm zur lieben Gewohnheit geworden, auf dem Rückweg auf einen caffè bei seiner Freundin Ada vorbeizuschauen.
Vor zwei Monaten hatte Ada den Kontakt zwischen Dario und dem Forscherteam der Ca’ Foscari-Universität hergestellt. Die vierköpfige Forschergruppe, zwei Archäologen und zwei Assistenten, hatte nach einem Wassertaxifahrer gesucht, der sie in die Lagune hinausfuhr.
Ihre Gespräche hatten seitdem eine neue Vertrautheit angenommen: Ada Foscarini, die venezianische Gräfin aus altem Adelsgeschlecht, und Dario Trevisan, der motoscafista, der in Venedig einer Spezies junger, ruppiger Männer mit Lederjacke und kurzgeschnittenem Haar angehörte, hatten ihr gemeinsames Interesse für die Lagune entdeckt. Dario schätzte es, dass Ada wie die meisten venezianischen Adligen keine Klassendünkel kannte. Schließlich war ihren Vorfahren der Adelstitel schlicht durch erfolgreichen Handel und nicht etwa durch Siege in blutreichen Schlachten verliehen worden.
Dario gähnte.
»Macht dir die Arbeit überhaupt Spaß, wenn du dauernd so müde bist?«, erkundigte sich Ada besorgt. »Ich bin gespannt, wie lange du dieses Doppelleben noch aushältst.« Sie stand auf und gab ihm ein Zeichen, sie in die Küche zu begleiten.
»So lange, wie du dich in den dunklen Räumen dieses alten Gemäuers verbirgst, anstatt mit mir hinauszufahren und die frische Luft zu genießen«, lachte Dario und setzte sich auf Adas wackeligen Küchenstuhl, dem man trotz Altersschwäche, mit seinen feinen blaugrünen Blätterzeichnungen auf der schmalen Rückenlehne, die Herkunft aus einer soliden Tischlerwerkstatt ansehen konnte. Mimi war neben Ada auf die Holzbank an der Stirnseite des Tisches gesprungen.
Vorsichtig schenkte Ada den Kaffee in zwei kleine Tassen aus dunkelblauem Porzellan mit feiner Goldverzierung. Die Tür nach draußen war nur angelehnt. Der frische Morgenwind brachte den Geruch der Pflanzen in die kleine Küche, der sich mit dem Duft des frischen Kaffees vermischte und bei Dario ein wohliges Gefühl der Geborgenheit auslöste, das er zurzeit nur selten erlebte.
»Wie schön dein Garten ist«, bemerkte er wie jedes Mal, wenn er Ada besuchte. In ihrem Garten rankten sich kahle Rosensträucher und ein schmaler Granatapfelbaum zwischen immergrünem Rosmarin und zwei Lorbeerbäumen, während ausladende Oleanderzweige und ein paar Weinreben niedrige Schlingpflanzen schützten. Zwischen den majestätischen Agaven verbargen sich die Hortensien in winterlicher Kahlheit. Obwohl es noch früh am Morgen war, sandte die Sonne schon die ersten wärmenden Strahlen aus.
»Am liebsten würde ich mich hier eine Zeitlang verkriechen«, bemerkte Dario mit einem Blick nach draußen, »und die Welt einfach aussperren.«
»Dann tu es doch einfach«, forderte Ada ihn auf, »ich stelle dir ein Zelt im Garten auf, wenn dir mein Haus zu eng ist. Und Mimi würde sich über ein bisschen Gesellschaft im Freien sicher sehr freuen.«
Als Dario sein Gesicht Ada zuwandte, nahm er den leichten Lavendelduft ihres blauen Kleides wahr. Er betrachtete ihre grauweiße Katze, die sofort den Kopf in seine Richtung drehte und ihm zublinzelte. Wie immer kam es ihm vor, als verstünde Mimi jedes Wort.
»Seitdem ich kaum noch ausgehe, liebe ich meinen Garten umso mehr«, bemerkte Ada und sah ihn lächelnd an. Dario wusste, dass sie ihn ins Herz geschlossen hatte. Sie hatte längst darauf bestanden, dass er sie trotz des Altersunterschieds beim Vornamen nannte, obwohl ihm manchmal noch »Contessa« herausrutschte. Es gibt viele Arten von Liebe, dachte Dario, nicht nur die besitzergreifende von Marinella, sondern auch Adas Zuneigung zu mir. Was spielt es für eine Rolle, dass zwei Generationen zwischen uns liegen? Ist die Seelenfreundschaft nicht genauso wichtig wie die Liebe? Das würde seine Exfrau wahrscheinlich nie verstehen.
Mimi putzte sich und gab ein fröhliches Miauen von sich. Adas Katze liebte es, wenn sich das Haus mit Stimmen füllte, was leider viel zu selten vorkam.
»Jedes Mal, wenn du von der Lagune zurückkommst, fallen mir die Familienausflüge meiner Kindheit ein. Solange mein Großvater noch lebte, bestand er darauf, dass sich die ganze Familie am Sonntag zum Ausflug auf einer der Inseln traf. Mein Großvater war ein eigenwilliger Mann mit ziemlich unberechenbarem Charakter, seine Wutanfälle waren gefürchtet. Aber nach seinen Ausflugszielen konnte man das Jahr einteilen. Nach Sant’Erasmo sind wir nach dem Winter zum ersten Picknick gefahren. Wenn es wärmer wurde, ging es auf La Cura, wo er mit seinem Freund Enten jagte. Und im Sommer ging es nach San Francesco, wo er mit dem alten Abt befreundet war. Die beiden haben sich zu langen Gesprächen getroffen, während sich alle anderen draußen unter der Pergola ausruhten. Einmal hat er mich mit in die Bibliothek genommen, aber es war dunkel und ein bisschen unheimlich, so dass ich mich fast gefürchtet habe. ›Riech mal‹, hat er immer gesagt und mir einen dieser alten Bände hingehalten. Vielleicht habe ich als Kind schon gelernt, dass man Geschichte riechen kann. Ich glaube, dass er irgendein Geheimnis mit mir teilen wollte, aber ich war zu jung, um es zu verstehen. Ich war glücklich und fühlte mich beschützt an seiner Seite, wenn das Boot langsam durch das Wasser glitt und man in der Ferne den Campanile von San Marco sah.«
Dario sah Ada an, als ob er gern noch mehr hören wollte. Es kam selten vor, dass sie sich dazu hinreißen ließ, ein paar Kindheitserinnerungen mit ihm zu teilen.
»Warum kommst du nicht einfach mit nach San Giacomo? Ich stelle dir Diego und Luisa vor, und du erzählst mir von früher.«
»Ich weiß nicht …« Ada versuchte, das Thema zu wechseln.
»Hast du dieses Jahr eigentlich vor, an der Regatte zum Himmelfahrtstag teilzunehmen?«
»Bestimmt, wenn ich es trotz meiner schlaflosen Nächte einigermaßen schaffe, mit der Gondel zu trainieren. Bis Juni ist ja noch Zeit. Vielleicht sollte ich meine Regattengondel mal wieder hervorholen.«
»Wie, die hast du noch nicht verkauft?«
»Nein, wieso? Eine alte Regattengondel verkauft man nicht, noch nicht einmal, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht! Aber das wird ohnehin erst eintreten, wenn Marinella Geldforderungen an mich stellt. Was würdest du übrigens dazu sagen, wenn ich meinen alten Beruf wieder aufnehmen würde? Ich meine, nur für einen Tag?«, erkundigte sich Dario.
»Wie, du willst wieder Gondel fahren?«, fragte Ada überrascht.
»Na ja, ausnahmsweise. Remigio hat mich gebeten, morgen am späten Nachmittag seine Schicht zu übernehmen. Ich konnte nicht nein sagen, und ich wollte es auch nicht.«
»Remigio, ist das ein Freund von dir?«
»Ja, und der Schichtleiter an der Rialto-Brücke. Er hat morgen einen Fototermin und gleichzeitig eine Sonderbuchung, Japaner, eine wichtige Persönlichkeit mit seiner Frau, und ich glaube, sie wollen in Venedig heiraten. Remigio wollte sie keinem anderen anvertrauen.«
»Kann ich verstehen, würde mir genauso gehen. Vielleicht kommt ja der Tenno.«
»Wer?«
»Na, der japanische Kaiser oder seine Tochter! Wenn ich Gondel fahren würde, dann nur mit dir.«
»Ob du es glaubst oder nicht, nach der langen Abstinenz freue ich mich darauf, wieder einmal eine Schicht zu fahren. Ich bin gespannt, wer auftaucht.«
»Nicht zu glauben, wie viele Leute hier inkognito in den Gondeln unterwegs sind! Jedenfalls nach dem zu urteilen, was man später im Gazzettino liest.«
»Woody Allen hat auch unbemerkt in Venedig geheiratet«, erinnerte sich Dario.
»Beim Stichwort Gondeln fällt mir allerdings nicht das Thema Heiraten ein, sondern wie sehr die sechshundert Gondolieri mit ihren Großfamilien immer noch die Stadtpolitik bestimmen«, entgegnete Ada.
»Oh ja, die Macht, die sie in der Stadt genießen, sieht man ihnen nicht unbedingt an. Sechshundert Gondolieri, das macht mindestens dreitausend Wählerstimmen. Wenn ich nur an die Touristenschiffe denke, die sie außerdem noch besitzen! Und dabei sehen sie so harmlos aus, wenn sie mit ihren lächerlichen Ringelhemden durch die Kanäle ziehen.«
Ada hatte sich in Fahrt geredet. An seine eigene Geschichte wollte Dario lieber gar nicht erinnert werden. Mit achtzehn hatte er als Gondoliere angefangen, bis er diese Arbeit ziemlich bald leid wurde. Bis ins neunzehnte Jahrhundert, als eine französische Transportbootfirma die vaporetti eingeführt hatte, waren Gondeln jahrhundertelang das einzige Fortbewegungsmittel auf dem Wasser gewesen. Inzwischen waren sie zur Touristenattraktion verkommen, und Dario hatte Mühe mit dieser Entwicklung. Nicht, dass er sich vergangene Zeiten zurückgewünscht hätte. Aber Gondeln waren in den engen Kanälen wendig und schnell und schonten außerdem die Umwelt, während Motorboote an den Fundamenten Venedigs immensen Schaden anrichteten. Als Jugendlicher hatte ihn das Gondelfahren begeistert, als er gelegentlich seinem Vater und Großvater half. Als die Beine seines Großvaters schwächer wurden und auch sein Vater langsam zu alt wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Gondelgeschäft ganz zu übernehmen. Am Anfang hatte er seine Arbeit mit Können und Geschick ausgeübt, bei den Kollegen war er wegen seiner Hilfsbereitschaft beliebt. In der Familie war nicht weiter darüber diskutiert worden, denn es war üblich, dass sich die Lizenz innerhalb des Clans vererbte, und der Verdienst war nicht schlecht. Nie wäre Darios Großvater auf die Idee gekommen, die Lizenz zum Gegenwert einer Luxuswohnung an Ortsfremde zu verkaufen wie manche seiner Kollegen! Doch die vielen Touristen und vor allem der Gesang seiner Kollegen hatten Dario in immer schlechtere Laune versetzt. Trotz der Missbilligung seines Vaters war er ziemlich bald von der Gondel auf das Wassertaxi umgestiegen, zum Glück hatte ein Cousin das Gondelgeschäft übernommen. Unter seinen Fahrgästen waren nun viele Geschäftsleute, die er vom Flughafen zu ihren Hotels brachte und die nicht erwarteten, dass er »O sole mio« sang. Schließlich waren sie in Venedig und nicht in Neapel!
»Jedenfalls beneide ich dich, dass du jetzt im Frühjahr in der Lagune unterwegs bist«, bemerkte Ada. »Die salzige Luft und die Weite erfrischen Herz und Verstand. Auch die Jahreszeiten erlebt man auf dem Wasser viel intensiver als in der Stadt.«
Ada schnupperte in die Luft wie ihre Katze.
»Der Wind nimmt zu. Hoffentlich bleibt uns das Hochwasser die nächsten Tage erspart. Mimi mag es nicht, wenn sie nasse Pfoten bekommt.«
Dario lächelte, Mimi miaute, als stimmte sie zu.
»Vielleicht sollte ich tatsächlich einmal mit dir nach San Giacomo fahren«, überlegte Ada. Sehnsüchtig lauschte sie auf die Geräusche des Wassers draußen vor dem Tor.
Dario setzte sein unwiderstehliches Piratenlächeln auf.
»Jedenfalls bin ich froh, dass ich mich auf dieses Abenteuer mit den Archäologen eingelassen habe. Es ist das Beste, was mir seit langem passiert ist«, erklärte er.
»Das freut mich«, erwiderte Ada, die eine Jugendfreundschaft mit dem Archäologen Ettore Del Vecchio verband, weshalb sie Dario mit den jungen Wissenschaftlern, alle ehemalige Schüler Del Vecchios, bekanntgemacht hatte.
»Es kommt mir vor, als wenn ich die Gerüche meiner Kindheit wiedererkennen würde, damals, als ich als Sechsjähriger mit meinem Großvater zu den Fischteichen fuhr. Als Kind hat die Lagune zu meinem Leben gehört. Manchmal sind wir ein paar Tage draußen geblieben, auch wenn meine Mutter dann in ständiger Sorge war. Wir blieben bei einem Freund meines Großvaters, dem Fischer Vinicio, der sich ganz versteckt auf La Cura eine Schilfhütte gebaut hatte.«
»Vinicio Fiorin? Ich kann mich an ihn erinnern. Er ist inzwischen doch sicher steinalt?«
»Ja, er ist über neunzig und lebt in irgendeinem Heim in der Nähe seiner Tochter in Mestre, was nach seinem früheren Leben unter freiem Himmel eine wahre Qual sein muss. Deshalb würde ich ihn gern besuchen und mit ihm über vergangene Zeiten reden. Er ist einer der Letzten, der die alten Geschichten kennt. Er hat mir, schon als ich noch jung war, vorausgesagt, dass ich es nicht lange als Gondoliere aushalten würde. Seine Vorstellung davon würde ohnehin nicht mehr mit den heutigen Verhältnissen übereinstimmen.«
»Was haben deine Archäologenfreunde denn bisher entdeckt?«, fragte Ada neugierig.
»Dies und das. Ich glaube, dass es ein paar Neuigkeiten gibt. Zumindest soweit das auch für einen Nichtfachmann erkennbar ist. Ich habe mich lange gefragt, was dieses Scherbensammeln eigentlich soll, aber langsam beginnt es mich zu interessieren. Ein bisschen hat mich die Begeisterung von Luisa und Diego angesteckt, wenn sie in ihren weißen Schutzanzügen im Schlamm herumwühlen. Heute haben die beiden lange Holztische aufgebaut und angefangen, die Scherben zu ordnen.«
Ada und Mimi blickten Dario erwartungsvoll an.
»Diego hat mir neulich erklärt, dass es einen Stich von Francesco Guardi gibt, der im Museo Correr hängt. Den habe ich mir gestern angesehen. Darauf ist das Klostergebäude mit seinen rauchenden Kaminen zu erkennen. Natürlich wurden die Gebäude zerstört, nur die alten Militäranlagen sind noch erhalten. Die Archäologen haben inzwischen viele Scherben eines blaugelben Keramikgeschirrs gefunden. Daraus schließen sie, dass eine Gruppe von zehn bis zwölf Nonnen dauerhaft auf der Insel gelebt haben muss. Wahrscheinlich haben sich die Frauen auf San Giacomo weitgehend von Gemüseanbau und Fischfang ernährt, jedenfalls lassen die Ausgrabungen und ein paar Dokumente darauf schließen.«
Dario nahm noch einen Schluck Kaffee.
»Seitdem ich den Stich von Guardi kenne, sehe ich plötzlich Bilder vor mir, wie das Leben auf der Insel früher war. Ich hätte nicht gedacht, dass Scherbensammeln so interessant sein kann.«
Mimi streckte sich und blickte Dario erwartungsvoll an. Wieder einmal kam es ihm vor, als verstünde Adas Katze jedes Wort.
»Aber es gibt tatsächlich eine Überraschung: Diego und Luisa haben winzige Knochen von Kindern gefunden, die höchstens ein paar Tage alt gewesen sein konnten. Es könnte sein, dass die Venezianerinnen noch bis ins achtzehnte Jahrhundert, bevor die Franzosen die Macht übernahmen, ihre ungewollten Kinder auf San Giacomo zur Welt brachten. Und nicht alle haben diesen schwierigen Eintritt in die Welt überlebt.«
Ada schenkte Dario eine zweite Tasse Kaffee nach und atmete tief die salzige Luft ein, die durch die offene Küchentür hereindrang.
»Ada, willst du mich umbringen? Mehr als eine Tasse am Tag ist Gift für mich.«
»Wer sagt das?«
»Corrado, mein Arzt.«
»Ach Dario, daran merkt man, dass ich älter bin als du. Sieh mich an! Das Leben nimmt seinen Lauf, egal was die Ärzte sagen.«
»Ich bin noch nicht so weise wie du.«
»Das weiß ich«, antwortete Ada kokett. »Aber ich freue mich, dass die Archäologen weitergekommen sind. Es ist nicht gut, wenn die Inseln der Lagune sich selbst überlassen werden und sich in diesem Dämmerzustand befinden. Sie gehören zu Venedig, sind Teil seiner Geschichte. Und vielleicht muss man erst ihre Vergangenheit erforschen, um eine neue Bestimmung für sie zu finden. Früher war keine Insel so grün wie San Giacomo, außer Sant’Erasmo natürlich, aber da gab es bebaute Felder und Obstplantagen, die wir Kinder nicht betreten durften. Nur die wilden Kirschen durften wir ernten und haben uns immer diebisch darauf gefreut. Bei den Sonntagsausflügen in meiner Kindheit war das Klostergebäude von San Giacomo noch in Ordnung. Nur noch eine einzige Frau hat dort gelebt. Wir haben angenommen, dass sie eine Nonne war, aber vielleicht stimmte das auch gar nicht. Sie war klein und zierlich, eine freundliche alte Frau, der immer das Herz gelacht hat. Jedenfalls hat sie Venezianerinnen aufgenommen und versorgt, die aus irgendeinem Grund aus dem Stadtgebiet geflohen sind. Gründe gab es für Frauen ja genug: Untreue, Ehebruch, unerwünschte Kinder. Ich weiß nicht, wer jemals behauptet hat, dass Familien ein Ort der Idylle seien!«
»Also ich bestimmt nicht«, antwortete Dario mit gespielter Entrüstung. Er sah auf die Uhr, sein Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an.
»Ich muss los.« Er trank sein Glas Wasser aus.
»Mein Tagesgeschäft wartet schon. Ich muss eine größere Reisegruppe vom Flughafen abholen. Gestern Nacht habe ich mir zum ersten Mal überlegt, ob ich das Taxifahren ganz aufgeben soll. Im Moment fällt mir allerdings keine Alternative ein, von meinem Job bei den Archäologen kann ich nicht leben. Den meisten meiner Kollegen ist gar nicht bewusst, was sie mit ihrer Raserei anrichten. Die Schäden durch die Motorboote sind einfach unübersehbar. Seitdem ich die Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalte und weniger als sieben Knoten fahre, bin ich schon zum Gespött meiner Kollegen geworden. Na ja, morgen werde ich ja erst einmal mit der guten alten Gondel unterwegs sein. Manchmal finde ich es völlig verrückt, dass viele Venezianer gleich mehrere Boote besitzen.«
»Dafür haben die meisten kein Auto!«
Ada stand auf, um ihn bis zum Tor zu begleiten. In ihrer Jugend war sie bestimmt von außerordentlicher Schönheit gewesen, dachte Dario wie jedes Mal, wenn er sie sah. Obwohl sie inzwischen fast achtzig sein musste, waren immer noch kaum graue Strähnen in ihren blonden Locken zu sehen. Aber es war ihre offene, zugewandte Art, die sie zu einer so angenehmen Gesprächspartnerin machte. Außerdem dachte sie nach, bevor sie etwas sagte, was nur noch die wenigsten Leute machten.
Ada fasste ihn am Arm.
»Übrigens habe ich vergessen, dir zu sagen, dass morgen Nachmittag die Archäologin aus Berlin ankommt. Ich möchte gern, dass du sie kennenlernst. Vielleicht kannst du sie einmal mit nach San Giacomo nehmen? Oder wir fahren doch gemeinsam raus? Du hast mich auf die Idee gebracht, dass ich gerne die Orte meiner Kindheit wiedersehen möchte, jedenfalls solange ich noch laufen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Besuch dort der Archäologin zu wichtigen Einsichten verhelfen könnte.«
»Hast du Einsichten gesagt?« Dario lachte kurz auf. »Ich kenne ziemlich viele Leute, die auf den ersten Blick ganz vernünftig wirken, aber einsichtig ist keiner davon.«
Ada erschrak über Darios sarkastischen Unterton, ließ sich aber nichts anmerken.
»Dario, sei nicht so streng. Nicht alle machen sich so viele Gedanken wie du. Und was meinen Gast anbetrifft, vielleicht können wir ihr gemeinsam ein paar Geschichten erzählen, damit sie Venedig versteht. Obwohl das mit Ausländern, die noch nie in der Stadt waren, erfahrungsgemäß schwierig und nicht immer erfreulich ist.«
»Wieso hast du ihr überhaupt angeboten, sie bei dir aufzunehmen? Reicht dir deine verwöhnte Katze als Gesellschaft nicht aus?«
Mimi warf Dario einen giftigen Blick aus ihren gelbgrünen Augen zu. Also doch, dachte Dario, sie versteht jedes Wort und führt wahrscheinlich ein verborgenes Eigenleben in den Eingeweiden der Stadt, von dem die gute Ada nicht die geringste Ahnung hat.
»Ettore Del Vecchio, mein Jugendfreund, hat mich darum gebeten. Du weißt doch, dass er mit einer Deutschen verheiratet ist und einen Lehrstuhl für Archäologie in Berlin innehatte. Inzwischen unterrichtet er nicht mehr, organisiert aber weithin beachtete Fachtagungen zu besonderen Themen. Ich weiß, wie sehr ihm die Lagune am Herzen liegt. Seine Ehefrau mag das viele Wasser nicht, sonst würde er wahrscheinlich selbst hierherkommen und sich auf die Suche nach verborgenen Schätzen machen. Ich glaube, er hat die junge Frau mit etwas Bestimmtem beauftragt.«
»Bist du sicher, dass du sie in deinem Haus haben willst?«
»Dario, guten alten Freunden schlägt man nichts ab! Es ist ja nur für zwei Monate. Stell dir vor, sie wollte sogar Miete zahlen!«
»Was du natürlich abgelehnt hast.«
»Natürlich.«
»Obwohl dir eine kleine Finanzspritze für die neue Grundsteuer sicher ganz gutgetan hätte.«
»Ach, erinnere mich bloß nicht daran! Wie heißt diese Steuer jetzt? Imu? Tasi? Ich frage mich, wer immer auf diese absurden Namen kommt!«
»Unsere Bürokraten haben sich unverständliche Abkürzungen dafür ausgedacht, damit niemand sie verstehen oder kontrollieren kann, aber Hauptsache, du weißt, dass du sie zweimal im Jahr zahlen musst.«
»Ja, ja, es steht oft genug in der Zeitung«, antwortete Ada leicht ungehalten. »Jedenfalls freue ich mich auf ihren Besuch. Ein bisschen Gesellschaft tut mir sicher ganz gut. Triff sie mir zuliebe«, fügte sie lächelnd hinzu. Dario murmelte mit wenig Begeisterung etwas vor sich hin, was annähernd als Zustimmung zu deuten war.
»Na gut, wenn du unbedingt willst, dann bring sie mit. Am besten am Samstag zu unserer Aufräumaktion auf San Giacomo, da kann sie sich gleich nützlich machen. Der Sturm neulich hat ziemlich viele Sträucher umgeweht. Wenn der Besuch dieser Frau dich dazu bewegt, endlich wieder an die frische Luft zu gehen, bin ich gern bereit, sie mit nach San Giacomo zu nehmen. Hoffentlich fragt sie nicht auch noch, wann Venedig untergeht.«
Dario stand so schnell auf, dass Adas Holzstuhl ins Wanken geriet.
»Hab ich dir schon erzählt, dass mich gestern ein Fahrgast gefragt hat, an welcher Stelle man am besten die versunkenen Paläste erkennen könne? Er kam aus Rom, nicht etwa aus Tokio oder Schanghai! Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch nicht zum Zyniker geworden bin.«
Ada lächelte nachsichtig, während Mimi zum zweiten Mal an diesem Vormittag Dario einen erstaunten Blick zuwarf.
Mit einem Satz sprang dieser in sein Boot, machte es vom Landungssteg los und war hinter dem aufspritzenden Wasser verschwunden. Also doch mindestens zwölf Knoten, dachte Ada, bevor sie ihre Katze streichelte und zu ihrem Platz auf der Steinbank zurückkehrte. Nach langer Zeit würde sie bald vielleicht selbst wieder in die Lagune hinausfahren. Ada sah Mimi an, als erwarte sie von ihr eine Antwort. Wie gut, dass es das tröstliche Fell von Katzen gab.
Noch zwei Stunden bis Venedig, dachte Antonia und war auch schon über dem Gedanken eingenickt, bis ein schwaches Signal vom Boden ihrer Handtasche sie weckte. Gut angekommen, Schatz? Stefan hatte ihr eine SMS geschickt. Wie sie diese banalen Kosenamen hasste. Und noch nicht einmal ihre Ankunftszeit hatte er sich gemerkt. Antonia warf einen Blick aus dem Fenster, sah eintönige Häuserzeilen und bescheidene Landhäuser mit geschlossenen grünen Fensterläden vorbeiziehen. Typisch sechziger Jahre, dachte sie. Und wieso sind hier überall die Läden zu?
Zum ersten Mal seit ihrer Abreise gestand sie sich ein: Sie wollte einfach nicht mehr mit Stefan zusammenleben. Seine Sprachlosigkeit fiel ihr ein, seine Rechthaberei, die sich mit seinem Schweigen abwechselte, seine Lieblosigkeit in den vielen kleinen Alltagsmomenten. Früher hatte sie seine Klugheit bewundert, sein überlegtes Nachdenken, bevor er etwas aussprach. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie er sie mit jedem Halbsatz korrigierte.
Wie blau der Himmel heute ist, bemerkte Antonia, die es schon als Kind geliebt hatte, den vorbeiziehenden Wolken nachzusehen. Nein, Schatz, er ist graublau, würde Stefan entgegnen, offensichtlich stolz darauf, wie genau er seine Umgebung wahrnahm. Nur irrte er sich in mehr als der Hälfte der Fälle. Mittlerweile hatte Antonia es längst aufgegeben, ihn auf seine Irrtümer aufmerksam zu machen. Sie mochte seine zur Schau getragene Selbstsicherheit nicht, hinter der sich doch nur ein tiefes Unbehagen der Welt gegenüber verbarg. Allein das Lever, wie er es nannte, sein morgendliches Ritual, fand sie mittlerweile so lächerlich! Am Wochenende brachte er ihr zwar den Kaffee ans Bett, dafür musste sie sich, noch bevor sie richtig wach war, seine Ansichten über die Welt anhören.
Woher Männer nur die Überzeugung nahmen, Frauen könnten sich noch vor dem Frühstück für ihre Gedanken interessieren! Mit Schaudern dachte Antonia an das Aufstehritual und daran, wie froh sie jedes Mal war, wenn es wieder Montag war und er früh aus dem Haus musste. Dabei hatte das mit Stefan als große Liebesgeschichte angefangen. Sie hatten sich bei einem Gartenfest von gemeinsamen Freunden kennengelernt, er hatte drei Stücke ihres mitgebrachten Zimtapfelkuchens verschlungen und sich schließlich neben sie auf die Bank gesetzt. Dann ging alles ganz schnell. Weil sie nicht immer die gleichen Fehler machen und Opfer ihres eigenen Zauderns werden wollte, war sie schon nach drei Monaten in seine 160-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung gezogen. Obwohl er sehr gut aussah und immer von einer größeren Schar Verehrerinnen umgeben war, hatte er sich vor Antonia zu keiner festen Beziehung entschließen können. Als er sie traf, war er es offensichtlich leid, alleine zu leben, und Antonia wollte nicht immerzu auf der Suche nach dem Mann ihres Lebens sein. Er hatte ihr mit Leidenschaft und Ausdauer den Hof gemacht. Ein Jahr war ihr Zusammenleben gutgegangen, ehe sich bei Antonia die ersten Zweifel einstellten. Nach einem weihnachtlichen Streit war sie ein paar Tage zu ihrer Freundin Katia nach Potsdam gefahren und hatte sich vorgenommen, nach ihrer Rückkehr mit ihm über ihr Zusammenleben zu sprechen. Stefan hatte entdeckt, dass in dem gemeinsamen Schrank nur noch ein paar bunte Tücher und T-Shirts zurückgeblieben waren, hatte ganz richtig vermutet, dass sie ihn verlassen wolle, und war außer sich gewesen. Die vielen halbherzigen Versuche Antonias, ihr eingefahrenes Leben zu ändern, über das nie gesprochen wurde, hatten allmählich jedes Vertrauen zwischen ihnen zunichtegemacht. Ihre Forschungsarbeit war ein willkommener Anlass, ihr altes Leben zu verlassen.
Sie stellte sich das Entsetzen ihrer Mutter vor, schließlich ging die ganze Familie davon aus, dass Antonia und Stefan heiraten würden. Zum ersten Mal wusste Antonia bestimmt, dass sie so nicht weiterleben wollte.
Links von ihr klingelte ein Mobiltelefon, und zerstreut nahm sie ein paar Gesprächsfetzen wahr. Eine etwa dreißigjährige Frau im braunen Mantel, mit glattem, glanzlosem Haar, die erschöpft wirkte, telefonierte offenbar mit ihrer Mutter und holte dann ein dickes Buch aus der Handtasche. »Santa Teresa d’Avila« las Antonia auf dem Einband. Im Nachbarabteil hatte sich eine Schulklasse breitgemacht und packte laut schmatzend ihren Reiseproviant aus.
Wie immer, wenn sich Antonia in verwirrenden Lebenssituationen befand, hatte sie das Bedürfnis, Ordnung zu schaffen. Sie begann, den Inhalt ihrer Handtasche zu sortieren. Ihr roter Museumsausweis steckte in der kleinen Seitentasche. Sie würde ihn in Venedig bestimmt nicht brauchen. Ich muss verrückt gewesen sein, die Aussicht auf eine feste Anstellung wegen eines Forschungsprojekts in Venedig aufzugeben, dachte sie und empfand plötzlich Angst vor ihrem eigenen Mut. Sie schlug die Seite mit ihrem Foto auf: Ein ernstes Gesicht mit ein paar Sommersprossen blickte ihr unter einem dichten, dunklen Pony entgegen. Das Foto war in dem Sommer entstanden, als sie sich in Stefan verliebt hatte. Der ernste Blick auf dem Bild sah nicht unbedingt nach junger Liebe aus. Vor drei Tagen war sie neunundzwanzig geworden und fand, dass das Puzzle ihres Lebens so ungeordnet war wie der Inhalt ihrer Handtasche.
Außer zwei Geldbörsen, die kleinere für ihr Kleingeld, die größere für Kreditkarten und Visitenkärtchen, hatte Antonia immer zwei Hefte dabei. Das blaue enthielt ihre privaten, das rote ihre beruflichen Aufzeichnungen. Merkwürdig, dass sich die beiden Bereiche noch nie vermischt hatten.
Was sie wohl in der fremden Stadt erwartete? Bei einer Italienreise vor über zehn Jahren, zu ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte sie zusammen mit ihrer Freundin Katia auf der Rückreise von Triest einen Nachmittag in Venedig verbracht. Diesen kurzen Besuch hatte sie in keiner besonders guten Erinnerung. Venedig war für sie eine Stadt mit singenden Gondolieri, übelriechenden Kanälen und engen Gassen gewesen, die bevölkert war von Touristen in knallbunter Freizeitkleidung und ein paar elegant wirkenden Venezianern, die nur darauf warteten, den Fremden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ob es hier überhaupt so etwas wie normales Leben gab?
Um sich abzulenken, schaute Antonia in ihr Exposé, das sie immer bei sich trug. Archäologische Forschungen auf den Laguneninseln, ein ziemlich umfassendes und ehrgeiziges Projekt. Ein anerkannter italienischer Archäologe, Ettore Del Vecchio, hatte sie bei einer Fachtagung in Berlin darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten Funde auf den Laguneninseln noch unbearbeitet waren. Wahrscheinlich gab es einfach zu viele davon, und angesichts der unzähligen Schätze Venedigs waren die Forscher noch gar nicht bis zu den Inseln vorgedrungen. Antonia war sofort auf das Thema angesprungen, obwohl sie Venedig kaum kannte. Der weise Del Vecchio hatte ihr immer wieder versichert, Venedigs Probleme, das fragile Gleichgewicht zwischen Land und Meer, seien ein Gleichnis für den Zustand der Welt. Antonia spürte instinktiv, dass das der Wahrheit entsprach. Vielleicht war ein unvoreingenommener Blick ohnehin die beste Voraussetzung für objektive Forschung. Jedenfalls fand das Del Vecchio.
So wie sich die meisten Besucher auf Burano, Murano und Torcello beschränkten, deren Schönheit natürlich unbestritten war, hatten es auch die meisten Forscher gehalten. Nur wenige einheimische Wissenschaftler, die seit ihrer Kindheit mit der Inselwelt vertraut waren, hatten überhaupt einen Blick außerhalb der drei berühmten Schönen gewagt. Über sechzig Inseln, bewohnte und unbewohnte, kleine und größere, befanden sich in der Lagune. Antonia war sich sicher – und es konnte gar nicht anders sein –, dass dort auch ein paar Geheimnisse verborgen waren. Leider interessierten sich ein paar kulturbeflissene Ausländer ohnehin mehr für die Stadt als die Venezianer selbst, die an dem großen Erbe vor allem verdienen wollten, hatte Ettore Del Vecchio über seine Geburtsstadt gesagt, die er, wie viele Venezianer, mit einer gewissen Wehmut verlassen hatte.
Die Frau neben ihr war über ihrem Buch eingeschlafen und hatte den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt. Verstohlen blickte Antonia zu ihr hinüber und war erstaunt, dass sie an der Hand mit dunkelrot lackierten Nägeln einen Ehering trug.
Der Zug fuhr durch eine eintönige Landschaft, zersiedelte Vororte, flache Häuser mit kleinen Vorgärten. Antonia blätterte in den Fotokopien, die sie aus einem alten Bildband von den Inseln gemacht hatte: die Klosterinsel San Giacomo in Paludo, die Lazarettinseln Lazzaretto Nuovo und Lazzaretto Vecchio. Die alten Lazarett- und Klosterinseln hatten jahrhundertelang Menschen kommen und gehen sehen. Noch waren es für Antonia bloße Namen, Inseln ohne Gesicht. Mit den anderen Inseln, die zwar heute noch bewohnt, aber weniger bekannt waren, wie Sant’Erasmo, wo seit der Dogenrepublik Gemüse angebaut wurde, oder die alte Fischerinsel Pellestrina, hatte sie sich noch gar nicht beschäftigt.
»Sie interessieren sich für die Laguneninseln?«, sagte plötzlich neben ihr eine sympathische Stimme auf Deutsch. Der Fremde im dunklen Anzug, einen grünen Schal lässig um den Hals geschlungen, war in Padua zugestiegen und hatte sich auf den freien Platz rechts neben Antonia gesetzt. Sein kaum merklicher Akzent ließ auf eine gewisse Vertrautheit mit der fremden Sprache schließen. Mit seiner Aktentasche sah er eher aus wie ein Wissenschaftler als ein Venedig-Besucher. Sie hielt ihn, nach der gefalteten Tageszeitung zu urteilen, die neben ihm lag, für einen Intellektuellen. Eine zweite Zeitung, Antonia erkannte Il Gazzettino, hatte er zwischen die Seiten von La Repubblica gesteckt.
Antonia hatte es noch nie gemocht, wenn Fremde sie im Zug ansprachen, aber dieses Mal blickte sie neugierig auf.
Der Fremde, Ende fünfzig, sah gut aus, war hager und durchtrainiert. Er bemerkte sofort, dass er Antonias Neugier geweckt hatte.
»In der Lagune erlebt man immer wieder, was es heißt, in einer bedrohten Welt zu Hause zu sein. Wie in den Anfängen Venedigs ist man hier der Erfahrung ausgesetzt, dass der feste Boden jederzeit vom Wasser entrissen werden kann.«
Antonia verstaute eilig ihr Exposé in der Handtasche.
»Leben Sie … in Venedig?«, fragte sie und versuchte, ihre Frage möglichst neutral zu formulieren, weil sie es dem Fremden überlassen wollte, wie viel er von sich preisgab. Er strich durch sein dichtes graues Haar. Ein angedeutetes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht bemerkbar.
»Schon lange nicht mehr, leider – oder Gott sei Dank. Aber ich habe früher in Venedig gelebt und bin auf der Insel Pellestrina geboren, wo mein Vater und Großvater als Fischer gelebt haben. Als Kind wollte ich auch lange Zeit Fischer werden, ich konnte mir gar keinen anderen Beruf vorstellen, ich hatte ja in meiner Kindheit nichts anderes erlebt. Und dann kam alles ganz anders: Noch heute sehe ich die Bilder vor mir, von dieser Schreckensnacht im November 1966, als die Deiche brachen und das Wasser in jede Ritze der Häuser drang. Ich war damals gerade acht Jahre alt. Die ganze Welt hat damals auf Venedig geblickt und geholfen, wo es nur ging. Aber nach der Flut war nichts mehr wie zuvor. Meine Familie musste ein Jahr bei meinem Onkel in Mestre leben, bevor unser Haus renoviert und wieder bewohnbar war, vor allem für meinen Vater ein fast unerträglicher Zustand. Trotz der internationalen Hilfe hat es viele Monate gedauert, bis die schlimmsten Schäden beseitigt waren. Ich erinnere mich an die feuchten Mauern in unserem Haus, an das Moos, das sich sogar im Bad angesetzt hatte. Meine Mutter hat sich von dem Schock nie wieder erholt, und mein Vater hat sich später auf sein Boot zurückgezogen. Es war bedrohlich, wie sich das Wasser alles, was die Menschen geschaffen hatten, in einer einzigen Nacht zurückgenommen hat. Manchmal kam es mir überhaupt vor wie ein Wunder, dass wir inmitten dieser Fluten am Leben geblieben sind.«
Nachdenklich blickte der Fremde aus dem Zugfenster und sah in die eintönige graubraune Landschaft. Antonia hatte ihm aufmerksam zugehört.
»Danach wollte ich jedenfalls nicht mehr Fischer werden«, lachte er, aber es klang nicht fröhlich. »Während meines Studiums habe ich noch ein paar Jahre in der Altstadt gelebt. Am traurigsten waren die Sonntage, wenn ich nach Pellestrina zu meinen Eltern fuhr und immer daran denken musste, wie es früher einmal war. Mir kam es vor, als wäre das Haus nie wirklich trocken geworden. Manchmal bedauere ich es, nicht mehr in Venedig zu leben, aber wenn ich