Ansichten eines
gelernten Österreichers
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1. Auflage
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Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb
ISBN 978-3-7110-0232-7
eISBN 978-3-7110-5254-4
Dr. Hohenadl und seine beiden Brüder
Dr. Hohenadl will Geld verdienen
Dr. Hohenadl wird Selbstversorger
Dr. Hohenadl wird Philosoph
Dr. Hohenadl sitzt im Stiegenhaus
Dr. Hohenadl ist lieb zu den Tieren
Dr. Hohenadl stiftet einen Kaktus
Dr. Hohenadl freut sich auf China
Dr. Hohenadl will ein Patent anmelden
Dr. Hohenadl erwirbt einen »Zauberspiegel«
Dr. Hohenadl spendet auf eigene Weise
Dr. Hohenadl wird Taufpate
Dr. Hohenadl wird zum Rosenkenner
Dr. Hohenadl muss eine Einladung geben
Dr. Hohenadl will sich als Papst verkleiden
Dr. Hohenadl als Partnerschaftsvermittler
Dr. Hohenadl berät einen Regisseur
Dr. Hohenadl ergänzt sein Bücherregal
Dr. Hohenadl wälzt einen Buchplan
Dr. Hohenadl kämpft gegen Fehler
Dr. Hohenadl bildet sich
Dr. Hohenadl entkommt dem Spenden
Dr. Hohenadl passt auf Fische auf
Dr. Hohenadl gibt sich die größte Mühe
Jeder der drei Hohenadl-Söhne musste Jus studieren. Das hatte der Vater so bestimmt. Die Schulzeit hatte jeder von den dreien in einem katholischen Internat verbracht: der Ältere im Linzer Petrinum, der Mittlere bei den Zisterziensern in Bregenz, der Jüngere bei den Benediktinern in Kremsmünster. Erst nach dem Doktorat sollten sie alle mit einer lebenslangen Versorgung ausgestattet werden. Das Jusstudium war wie so oft in Österreich nicht ernst gemeint, aber es war der einfachste Weg, um zu einem Doktortitel zu gelangen. Der Titel sollte die drei Brüder vor Geringschätzung durch die Gesellschaft schützen. So dachte der Vater aufgrund seiner Erfahrungen.
Außenstehende behaupteten gelegentlich, die Hohenadl-Brüder seien Nichtstuer, die von einem großen Erbe lebten. Sie ließen es sich gut gehen, weil sie lebenslänglich mit einer monatlichen Apanage rechnen konnten. Das war aber nicht richtig. In Wahrheit verstand sich der Vater als Sozialreformer. Er verwirklichte innerhalb der Familie ein Modell, das ein Vorbild für den Staat hätte werden sollen, der Politik fehlte jedoch der Mut dazu. Es blieb bei unergiebigen Diskussionen. Die Hohenadl-Familie dagegen war ihrer Zeit voraus und setzte die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in die Praxis um. Der Vater war ernsthaft der Meinung, ein Beispiel zu setzen und dieses ideale Mittel zur Existenzsicherung werde Furore machen.
Er legte seinen Söhnen jedoch dringend nahe, geistige Arbeit nicht zu scheuen. Dazu seien sie der Gesellschaft verpflichtet. Sie sollten so wie er den scheinbaren Müßiggang kultivieren, in Wirklichkeit aber die geistige Anstrengung jederzeit auf sich nehmen. Der Vater lag fast den ganzen Tag auf einer Chaiselongue und schaute in die Luft, ohne etwas zu lesen, ohne etwas zu hören. Das sah äußerlich nach Untätigkeit aus, war es aber nicht. Die Dialoge beschränkte er auf das Allernötigste. Im Sommer hatte er meist eine Fliegenklatsche in der Hand. Mit ihr ließ er sich, wenn er ein Summen hörte, manchmal zu einer überraschenden Aktion hinreißen, die ihn jeweils sehr erschöpfte. Auf Fragen zu seiner Lebensweise hatte er eine stereotype Antwort parat: »Alles spielt sich im Kopf ab – philosophisch.«
Die Mutter saß nach ihren vormittäglichen Arztbesuchen die meiste Zeit im Büro und wollte keinesfalls gestört werden, wenn sie aus ihren abonnierten Gesundheitsmagazinen Krankheiten, von denen sie noch nie gehört hatte, in eine Liste eintrug. Sie gab sich viel Mühe, in einer eigenen Rubrik auch die dazugehörigen Symptome zu vermerken.
Ein Vermögensverwalter bekam die Aufgabe, ein Auge auf die drei Brüder zu haben und danach zu sehen, wie weit sie den Empfehlungen des Vaters folgten. Er hatte die Vollmacht, bei offensichtlichen Verstößen die monatlichen Zuwendungen, die auf keinen Fall »Apanage« heißen sollten, zu kürzen oder gar einzubehalten.
Während sie in der Schule waren, freuten sich die Brüder auf die Zeit des Nichtstuns und waren fest davon überzeugt, dass sie es darin weit bringen würden. Bis dahin, so hofften sie, werde sich auch in ihren Köpfen genügend abspielen, womit sie den Vorstellungen ihres Vaters entsprechen wollten.
Tatsächlich schien es ihnen, als die Zeit gekommen war, zunächst leicht zu fallen, die Tage totzuschlagen. Der Ältere sicherte sich nach dem Tod des Vaters die Chaiselongue. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Brüdern schaffte er die Liege in seine Wohnung. Von da an verbrachte er viele Stunden darauf und döste vor sich hin, allerdings ohne dass sich sehr viel in seinem Kopf abspielte, schon gar nichts Philosophisches. Es sah nicht authentisch aus, wie er auf der Chaiselongue lag, und die Fliegenklatsche handhabte er ungeschickt, bei Weitem nicht so souverän wie einst sein Vater.
Der Mittlere machte sich müde, indem er den ganzen Vormittag schnellen Schritts durch die Innenstadt ging. Daran war etwas Unehrliches. Gut, er benahm sich nicht wie ein Flaneur, spielte also nicht eine Rolle, blickte nicht in die Schaufenster, sondern ging zielstrebig dahin. Im Grunde aber hatte sein Gehabe etwas Unechtes, denn er wollte, ohne es sich einzugestehen, jenen auf der Straße gleichen, die ein Ziel hatten, etwa zu einem Termin unterwegs waren und sich gedanklich darauf vorbereiteten. Er kaschierte nur recht und schlecht seinen eindeutigen Wunsch nach einer womöglich sinnvollen Tätigkeit.
Als Dr. Hohenadl, der Jüngere, nach seinem Doktorat mit dem wahren Leben begann, zog er sich in das Sommerhäuschen der Familie in die Lobau zurück. Dort sah er dem Gärtner bei der Arbeit zu, beobachtete die Fische im Weiher und die Insekten, die in den Garten geflogen kamen. Er versuchte, sich für die Natur zu begeistern, und fing an, Aufzeichnungen über seine Beobachtungen zu machen, aber als er feststellte, dass er dabei immer wieder einschlief, ließ er es bleiben und freute sich darüber, weil er diese Müdigkeit als Fortschritt in der Vervollkommnung des Müßiggangs wertete. Im Spätherbst musste er, weil das Sommerhäuschen nicht geheizt werden konnte, zurück in seine Wiener Wohnung am Loquaiplatz. Er ging von einem Raum in den anderen, blieb an den Fenstern stehen und schaute stundenlang hinaus. An der Fassade des Hauses über der Straße kannte er jedes Detail. Er hätte sie mit verbundenen Augen zeichnen können. Die Tauben, die auf dem Sims spazieren gingen, unterschied er genau, gab ihnen Namen wie Robert und Gudrun und freute sich, wenn sie nach längerer Abwesenheit, die ihm nicht entging, Junge mitbrachten.
Alle drei Brüder vermieden es, einen Bekanntenkreis aufzubauen, aus Angst, sie könnten von jemandem, der sich in ihr Vertrauen schlich, überredet werden, einmal etwas Sinnvolles zu tun. Zur Überraschung der beiden anderen heiratete der Ältere. Die Frau stammte aus einer angesehenen Hamburger Familie und war sehr reich, was den großen Vorteil hatte, dass das Wort Arbeit in ihrem Sprachgebrauch gar nicht vorkam. Die Frau lag auf einer zweiten Chaiselongue, einem Nachbau jener aus Vaters Wohnung.
Der Ältere war dann auch der Erste, der sich aus dem Zustand des Nichtstuns löste. Er fing an, mit seiner Frau zu reisen. Die beiden hatten eine große Weltkarte, auf der sie die Routen festlegten. Die Fahrten sollten jeweils mit gemieteten Geländewagen erfolgen. Der erklärte Ehrgeiz bestand darin, jedes Land der Erde zu queren. Der Ältere erklärte sein Vorhaben damit, dass er den Müßiggang auf eine höhere Ebene heben wolle, aus dem Müßiggang solle eben eine Müßigfahrt werden. Und zum Beweis dafür, dass in dem Ganzen so wie beim Vater eine philosophische Haltung zugrunde lag, fand er ein Motto: Erfahrung erfahren. Darauf war er sehr stolz. Die anderen Brüder ließen sich davon überzeugen. Erfahrung erfahren, so lautete dann auch der Titel der Berichte, die der Ältere nach den Reisen zu Papier brachte. Darin stand, wie kompliziert die Einreisebedingungen in das jeweilige Land waren und wie viel Zeit bei der Prozedur verloren ging. Mindestens so umfangreich waren die Ausführungen zu den Spritpreisen. Die Unterschiede empörten den Älteren oft, der nicht einsah, warum er in Venezuela, einem Ölland, mehr für den Diesel bezahlen sollte als zuvor in Peru. Grund zur Klage gab es auch vielfach über den Zustand der Straßen. Von den Unterkünften gar nicht zu reden. Aus Indien kam er mit einer Glatze zurück. Dies nährte bei seinen Brüdern den Verdacht, dass er, wie viele Inderinnen das zu tun pflegten, sein Haar verkauft hätte.
Die Menschen in den verschiedenen Ländern schien das Ehepaar auf seinen Reisen gemieden zu haben. Darüber, wie sie lebten, und über ihre Kultur stand nichts in den Berichten. Die zentrale Erkenntnis, das Konzentrat an Erfahrung, das der Ältere gemeinsam mit seiner Frau nach Abschluss des mehrjährigen Weltreiseprojekts erfahren hatte, bestand in der Feststellung, dass in fast allen Erdteilen noch die größten Anstrengungen unternommen werden müssten, um annähernd jenen Grad an Sauberkeit zu erreichen, der in Wien bereits Standard sei. Das Ehepaar war ein bisschen gekränkt, weil kein Mensch diese Berichte lesen wollte.
Der Mittlere hielt das Nichtstun lange aus. Das zügige Gehen in der Innenstadt machte ihn gehörig müde. Dies war der Grund, warum er mehr Schlaf brauchte als gewöhnliche Leute. Der Schlaf ersparte ihm die Entscheidung, etwas zu tun oder nicht zu tun. Mit der Zeit stellte er fest, dass er auf seinen Wegen durch die Stadt oft täglich denselben Menschen begegnete und dass ihn kritische Blicke trafen. Fast gewann er den Eindruck, man halte ihn für nicht normal und betrachte ihn als einen Sonderling. Diesen Eindruck wollte er auf alle Fälle vermeiden. Deshalb stellte er seine zügigen Spaziergänge von einem Tag auf den andern ein und blieb fortan zu Hause. Er überlegte, ob er sich nicht auch eine Chaiselongue anschaffen sollte. Aber dann stieß er plötzlich ohne großes Nachdenken auf seine Lebensaufgabe, die ihn in der Folge auslastete: Er entdeckte Radiosendungen, in denen sich die Hörer zu Wort melden konnten. Aus Dr. Hohenadl, dem Mittleren, wurde ein engagierter Zeitgenosse, der sich in sämtliche Radiodebatten einmischte. Es war ihm egal, ob es um Unkrautbekämpfung im Garten ging oder um die Privatisierung der Wasserversorgung, um die Rückfallquote bei jugendlichen Entzugskandidaten oder die psychischen Störungen zölibatär lebender Priester. Zur Überzahl an Baustellen auf der Autobahn hatte er ebenso etwas zu sagen wie zu den Milchüberschüssen in der Landwirtschaft. Dass er in allen diesen Themen ahnungslos war, verstand er recht gut zu kaschieren.
Den Brüdern war es peinlich, wann immer sie das Radio einschalteten, die Stimme ihres Bruders zu hören. Sie hassten es, wie er vorgab, der Allwissende zu sein und seinen Äußerungen wie unter Zwang eine humoristische Note geben wollte.
Nach einiger Zeit schien es dem Mittleren, er werde vom jeweils zuständigen Redakteur nur mehr ungern in die Gesprächsrunde zugeschaltet. Also rief er seitdem unter verschiedenen Namen an und verstellte die Stimme. Als sein Trick von den Sendestationen durchschaut wurde, hatte er keine Chance mehr. Er blieb mit seinen Anrufen in einer Warteschleife stecken und kam nicht mehr an die Reihe. Es dauerte fast zwei Jahre, bis er resignierte und von da an sein umfassendes Wissen für sich behielt.
Inzwischen hatte er auf einem Flohmarkt in Simmering ein Paar Handzimbeln erstanden. Er wollte lernen, darauf zu spielen. Freilich fehlte es, wie er herausfand, an Notenmaterial. Die Komponisten schienen die Handzimbeln gering geschätzt zu haben. Das entmutigte Dr. Hohenadl, den Mittleren, aber nicht. Er traute sich durchaus zu, mit seinem Einsatz für die Handzimbeln einen Umschwung in der Meinungsbildung auszulösen. Von da an verwendete er seine ganze Kraft darauf, einen Lehrer zu finden. Das wurde zu seiner neuen Lebensaufgabe.
Bei Dr. Hohenadl, dem Jüngeren, dauerte es ein Jahr, bis der Neid auf seine Mitmenschen, die um acht Uhr morgens aus dem Haus und zur Arbeit gingen, ins Unermessliche wuchs. Er suchte krampfhaft nach einer Lösung. Lösung, ja, das war das Stichwort. Im Postkasten fand er wöchentlich eine Gratiszeitung. Darin war ein Kreuzworträtsel abgedruckt. Wie ein Verdurstender machte sich Dr. Hohenadl darüber her. »Badestrand in Honolulu« lautete die Frage eins, senkrecht. Dr. Hohenadl kriegte die Antwort heraus. Mehr Anstrengung kostete es ihn, als nach dem »abgelaichten Hering« gefragt wurde. Aber auch daran scheiterte Dr. Hohenadl nicht. Durch sechs, waagrecht, »bogenförmiger Skelettteil« fühlte er sich geradezu unterfordert. In drei Tagen war das Kreuzworträtsel gelöst, aber es dauerte nur deshalb so lang, weil er viele Pausen gemacht hatte, um nicht zu schnell fertig zu werden. Voller Ungeduld wartete er auf die nächste Ausgabe der Gratiszeitung. Auf diese Weise, dachte er, würde er bis ins hohe Alter geistig in Schwung bleiben.
Aber bereits nach eineinhalb Jahren konnte Dr. Hohenadl seine Ungeduld immer weniger zügeln, er kürzte voller Unternehmungsdrang die Pausen, die er sich zwischen den einzelnen Fragen verordnet hatte, derart ab, dass das Kreuzworträtsel schon nach einem halben Tag erledigt war. Zum Glück entdeckte er, dass in der Gratiszeitung auch ein Horoskop abgedruckt war. Er fing an, es genau zu studieren. Nicht bloß den Steinbock-Abschnitt, von dem er sich persönlich hätte betroffen fühlen sollen – er glaubte nicht an Horoskope –, sondern alle Texte. Von Woche zu Woche verfolgte er genau, wie es den Zwillingen erging, den Krebsen, den Jungfrauen und so weiter. Er nahm Anteil an ihrem Schicksal. Die Horoskope beschäftigten ihn so lange, bis er feststellte, dass sich die Texte wiederholten, dass sie nach einiger Zeit bloß neu gemischt wurden. Was vor einem halben Jahr dem Wassermann zugestoßen war, erlebte nun die Jungfrau, und der Löwe erlitt das Schicksal, das vor Monaten der Skorpion zu bestehen hatte. Diese Entdeckung enttäuschte Dr. Hohenadl zutiefst. Sein Vertrauen in die journalistische Integrität im Allgemeinen und in die der Gratiszeitung im Besonderen war erschüttert.
Er gab die Suche nach einer befriedigenden Tätigkeit nicht auf. Zwei Wochen lang ging er in ein Altenheim, um betagten Menschen Geschichten vorzulesen. Gleich anschließend meldete er sich beim Tierasyl in Vösendorf und führte drei Wochen lang regelmäßig verstoßene Hunde spazieren. Ihren Blick zu sehen, jedes Mal, wenn sie wieder zurück in den Zwinger mussten, ertrug er nicht länger.
Es kamen harte Zeiten auf die drei Brüder zu. Dem Passus des Nichtstuns zu entsprechen, war das eine, die zunehmende Angst zu beschwichtigen, die dadurch entstand, dass die Turbulenzen auf dem Finanzmarkt den Wert ihres »arbeitslosen Einkommens« drastisch zu schmälern drohten, das andere. Einer wollte seine Sorgen dem anderen nicht eingestehen. So redeten sie bei einem ihrer seltenen Treffen um den heißen Brei herum. Bis das Stichwort Brüssel fiel. Es entspann sich eine lange Diskussion darüber, ob eine Tätigkeit als Diplomat in Brüssel als Arbeit eingestuft werden würde oder nicht. Letztlich trat keiner der drei dieser Idee näher. Der Grund? Alle drei blickten mit Neid auf die Erwerbstätigen, für die eine Gewerkschaft die Arbeitnehmerrechte verteidigte. Hie und da beschlich sie sogar das Gefühl der Nutzlosigkeit. Aber auf der anderen Seite hatten sie sich schon so viel Faulheit antrainiert, dass sie keine Gedanken an die übliche Art des Broterwerbs verschwendeten. Zugleich wussten sie genau, dass Faulheit etwas ganz anderes war als der Müßiggang, den ihnen ihr Vater vorgelebt hatte. So machten sie sich bei ihren Treffen gegenseitig Mut, weiter durchzuhalten.
Dr. Hohenadl, der Jüngere, fing an, Ideen, Sparideen vor allem, auszubrüten, mit deren Hilfe er über die Runden kommen wollte. Die Erfolge, die sich einstellten, machten ihm Mut. Er war überrascht, wie viele Möglichkeiten es gab, der Verschwendung entgegenzutreten. Hätte ihm jemand gesagt, er sei ein schrulliger Knicker, ein Geizhals, einer, der sich kasteie wie ein Trappist, hätte er nur gelacht. Denn er wusste, warum er nicht mit der Masse der Konsumidioten schwamm. Woher kamen denn die unlösbaren Probleme der bis über die Ohren verschuldeten Staaten? Weil die Menschen, geleitet von schlechter, unverantwortlicher Politik, zur Verschwendung angehalten worden waren. Ihm war längst bewusst, dass ungehemmtes Wachstum und ungehemmter Verbrauch direkt in die Katastrophe führen. Mit seiner Lebensform wollte er nachdrücklich auf Alternativen hinweisen. Er kam sich als ein Vorbild für die anderen vor, dem sie sich früher oder später aus reinem Zwang würden anschließen müssen. Das Überlegenheitsgefühl entschädigte ihn im Übermaß für die kleinen Einschränkungen, die er im Alltag in Kauf nahm.
So weit, so gut. Was er allerdings nicht vermeiden konnte, war, dass die Angst vor völliger Verarmung zu einem permanenten Lebensbegleiter für ihn wurde …
Dr. Hohenadl hatte sich zum passionierten Radfahrer entwickelt. Inzwischen glaubte er, ein sportlicher Typ zu sein. Das Radfahren betrieb er ausdrücklich als Sport, und niemand sollte auf den Gedanken kommen, er fahre mit dem Rad, weil er sich das Geld für die Wiener Linien sparen wolle. Das würde er jedem gegenüber weit von sich weisen. Er gab es ja nicht einmal vor seinem eigenen Gewissen zu. Nur selten war er wegen extrem schlechten Wetters dazu gezwungen, auf das Rad zu verzichten. Dann fuhr er notgedrungen mit der U-Bahn. Selbstverständlich ohne zu zahlen. Für U-Bahn, Bus oder Straßenbahn zahlen zu müssen, hätte er als Zumutung empfunden. Sie nannten sich gemeinhin Wiener Linien. Nun, war er nicht Wiener? Damit betrachtete er sich gleichsam als Mitbesitzer der Wiener Linien. Ja, dass Leute aus den Bundesländern oder gar aus dem Ausland zahlen mussten, das leuchtete ihm ein, das war absolut richtig. Aber doch nicht Wiener!
Das Rad hatte ihm gleichsam der Himmel geschickt. Wie ein Präsent stand es drei Wochen lang vor dem Haus und wurde, obwohl es nicht abgesperrt war, nicht gestohlen. Es lag nahe, an einen überirdischen Schutz zu glauben. In der Katholischen Kirche hätte dieser Umstand gereicht, um den Prozess der Seligsprechung einzuleiten. Dr. Hohenadl sah es sich jedes Mal, wenn er daran vorbei ging, genau an. Das Rad war von Tag zu Tag mehr gefährdet, denn die Magistratsabteilung 48 schickte täglich Patrouillen aus, mit dem Auftrag, herrenlose Fahrräder aufzuspüren. An den herrenlosen Rädern brachten die Patrouillen Flugzettel an, auf denen die Besitzer aufgefordert wurden, sich um ihre Habe zu kümmern. Nach vier Wochen drohte die Entsorgung durch den Magistrat.
Dr. Hohenadl wartete angespannt diese Frist ab. Am Ende der vierten Woche schob er das Rad ins Haus. Damit ging es in seinen Besitz über. Und es bekam einen Namen. Diesen Namen hatte Dr. Hohenadl schon lange im Kopf, aber erst jetzt wurde er offiziell: Marie.
Es war nicht das jüngste Modell, hatte aber einen ausgesprochen jugendlichen Charakter. Ein Waffenrad. So stand es in Jugendstil-Buchstaben auf der mit Ranken verzierten großen Zahnradscheibe. Kräftig gebaut, aber doch mit einer gewissen Anmut begabt. Den Reifen fehlte es an Luft, der schwarze Lack war da und dort abgesplittert, im Übrigen aber schien außer der Klingel nichts zu fehlen. Es war die Damenausführung. Das würde ihn, dachte Dr. Hohenadl, nicht im Geringsten stören und den Eindruck des Sportlichen, den er erwecken wollte, kaum beeinträchtigen. Es war also die ganze Zeit nicht herrenlos gewesen, sondern, genau genommen, herrinnenlos. Was war geschehen? Hatte die Herrin die Lust am Fahrrad verloren? War sie spontan ausgewandert? Eingesperrt worden? Vielleicht hatte sie auch nur reich geheiratet. Die Frage, welches Hinterteil den Sattel des Rads belastet hatte, seine Form, sein Gewicht, die Grazie oder Robustheit, beschäftigte Dr. Hohenadl noch lang.
Eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit, als die Luft rein war, stieg Dr. Hohenadl auf. Er probierte die Bremsen aus, schaukelte ein wenig und war hoch zufrieden. Die zwei Spiralfedern unter dem Sattel sorgten, wie ihm vorkam, für Sitzkomfort. Am nächsten Abend drehte er eine kleine Runde um den Häuserblock. Die Probefahrt fiel sehr positiv aus, wenn auch der fehlende Reifendruck das Vergnügen ein wenig beeinträchtigte. Dr. Hohenadl, begabt mit einer starken Fantasie, dachte ihn sich dazu.
Er wartete noch eine Woche zu und ging dann zu einem Fahrradgeschäft. Dort erkundigte er sich zuerst danach, was ein Waffenrad in gut erhaltenem Zustand kosten würde. Denn Dr. Hohenadl war noch nicht entschlossen, ob er das Fahrrad behalten oder zu Geld machen sollte.
»Bringen S’ es vorbei, dann schau ma es uns an«, sagte der düster dreinblickende Verkäufer, dessen Sprachmelodie einen angenehmen französischen Klang hatte, denn der ganze Satz hörte sich wie aus einem Guss an. Dr. Hohenadl erwarb die billigste Luftpumpe und die billigste Klingel. Am teuersten war das Schloss. Diese Ausgabe schmerzte Dr. Hohenadl. Er tröstete sich damit, dass er nach vielen, vielen Jahren, wenn er das Radfahren aus Altersgründen würde aufgeben müssen, durch den Verkauf wieder zu seinem Geld kommen würde. Dr. Hohenadl war zuversichtlich. Die Aussicht, Marie verkaufen zu können, wenn nicht an einen Händler, so an eines der Fahrradmuseen Altmünster, Retz oder Ybbs stimmte ihn fröhlich.
Lang sah er sich das Angebot an Fahrradhelmen an. Einen probierte er auf, sah sich damit im Spiegel und erschrak, weil er sich nicht sofort wiedererkannte. Letztlich verzichtete er auf den Helm, weil er das Geldausgeben nicht übertreiben wollte. Nach einer Phase finanzieller Erholung wollte er sich zusätzlich einen Gepäckkorb anschaffen.
Lange überlegte Dr. Hohenadl, ob er vor allem zivil oder ähnlich wie ein Profiradfahrer unterwegs sein wollte. Für die zweite Variante würde er unbedingt auf den Helm sparen müssen. Und eine eng anliegende, schwarze Radlerhose würde er zwangsläufig auch brauchen. Für dieses Detail hatte er schon eine Lösung parat: Er war entschlossen, eine schwarze Strumpfhose, die er gelegentlich im Winter unter der Überhose anzog, zu kürzen. Kein kleines Opfer. Die abgetrennten Teile, so überlegte er, würden sich wohl als Strümpfe weiterverwenden lassen. Jedenfalls war er bereit, Marie zuliebe dieses Opfer zu bringen.
Dr. Hohenadl putzte Marie, seit sie ihm gehörte, sorgfältig. Er überwand sich sogar nach langem Schwanken und kaufte die kleinste Dose Lack, um die abgeplatzten Stellen mit einem feinen Pinsel auszubessern, und ließ es dabei nicht bewenden. Er sparte nicht mit Öl und ölte nach einer sorgfältigen Reinigung mit einem weichen Tuch, was es an Marie nur zu ölen gab. Ein Außenstehender hätte es übertrieben gefunden. Liebevoll strich Dr. Hohenadl über Maries Gestänge.
Sportlich sah es nicht aus, wie Dr. Hohenadl auf dem Rad saß, denn der Rücken war kerzengerade und nicht wie bei den echten Sportlern gekrümmt, um die ideale aerodynamische Linie zu finden. Erst strampelte Dr. Hohenadl noch recht unbeholfen auf Marie, aber er gewann an Routine. Mit mehr Geschick, als zu erwarten gewesen wäre, steuerte er durch den manchmal dichten Verkehr in Wiens Innenstadt.
So wie andere einen Kilometerzähler nützten, um die bewältigte Leistung zu quantifizieren, führte Dr. Hohenadl im Kopf einen Rechner mit sich, der ihm jederzeit sagte, wie viel an Fahrgeld er sich schon mit dem Rad gespart hatte. Nicht zuletzt deshalb wuchs seine Genugtuung darüber, dass er Marie erworben hatte, von Tag zu Tag. Dr. Hohenadl und Marie wurden ein Paar, das eine innige Vertrautheit verband. Hätte er nicht im dritten Stock gewohnt, hätte Marie ganz bestimmt in Dr. Hohenadls Wohnung gedurft.
Es geschah auf der Mariahilferstraße, auf der damals noch Autos verkehren durften. Dr. Hohenadl fuhr stadteinwärts. Plötzlich tat sich vor ihm die Tür eines parkenden Autos auf und er krachte mit Marie hinein. Beide lagen sie da, Dr. Hohenadl hielt sich das Knie. Der Autofahrer sprang aus seinem Wagen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Passanten eilten herbei. Dr. Hohenadl hörte, wie mehrere Stimmen »Polizei« sagten. Der Autofahrer half Dr. Hohenadl auf die Beine. Die Hose war eingerissen. Jemand hob Marie vom Boden auf. Dr. Hohenadl erfasste mit einem Blick, dass sie heil davongekommen war. Der Autofahrer stellte sich als Dr. Svoboda, Zahnarzt aus Meidling, vor und wiederholte mehrmals, wie leid es ihm tue. Vor lauter Schreck sagte Dr. Hohenadl nichts. Der Zahnarzt nahm einen Schein und eine Visitenkarte aus seiner Geldtasche und schwenkte beides vor Dr. Hohenadls Gesicht in der Luft. »Schmerzensgeld«, sagte der Meidlinger Zahnarzt, der etwas von Schmerzen verstand, »und für die Reparatur der Hose«.
Dr. Hohenadl steckte den Schein wortlos ein, und der Zahnarzt schaute, was seine Autotür abgekriegt hatte. Die Passanten verloren das Interesse an der Szene. Dr. Hohenadl verließ, humpelnd und Marie schiebend, den Schauplatz und ging ganz normal weiter, nachdem er in die Otto-Bauer-Gasse eingebogen war, denn der Schmerz, den er spürte, war so gering, dass er nicht sagen hätte können, ob das linke oder das rechte Bein davon betroffen war.
Erst daheim überprüfte Dr. Hohenadl, welche Art Geldschein ihm der Zahnarzt gegeben hatte. Es war ein Hunderter. Er zog davon den zu erwartenden Betrag für die Reparatur der Hose ab und freute sich wie ein Schneekönig über den erzielten Gewinn. Er überlegt, ob er schon einmal in seinem Leben mit einem Schlag so viel Geld verdient hatte. Nein, dachte er, als Verdienst, als Einkommen, wollte Dr. Hohenadl den Betrag nicht sehen. Damit hätte er seine monatliche Apanage gefährdet. Hatte der Zahnarzt aus Meidling nicht von Schmerzensgeld gesprochen? Dr. Hohenadl beschloss, ein reines Gewissen zu haben.
In den nächsten Tagen reifte in seinem Kopf eine Idee heran. An einem Vormittag zog er eine Hose, die er schon aussortiert hatte, an und postierte sich mit Marie auf der Mariahilferstraße, dort, wo die Webgasse abzweigte, und beobachtete den Verkehr. An diesem Tag klappte es nicht. Doch Dr. Hohenadl gab nicht auf, und schon am zweiten Tag stellte sich der Erfolg ein. Von seiner Position an der Kreuzung Webgasse aus sah er, wie ein stadteinwärts fahrendes Auto das Tempo verlangsamte. Dr. Hohenadl startete Marie und beobachtete, wie das Auto anhielt. Jetzt war exaktes Timing gefragt. Die Autotür ging auf, und Dr. Hohenadl lag samt Marie auf dem Boden. Diesmal sprangen bei der Aktion nur fünfzig Euro heraus, weil der Autofahrer, ein Architekt, gleichsam beschäftigungslos war und schon lang keinen Wettbewerb mehr gewonnen hatte. Aber Dr. Hohenadl war zufrieden, zumal weder die Hose, noch Marie, noch er persönlich größeren Schaden erlitten hatten. Wie gut, dass Marie so kräftig gebaut war. Anfangs nämlich hatte sich Dr. Hohenadl gewünscht, sie wäre ein wenig zierlicher gewesen. Er war im Grunde mehr als zufrieden, er war glücklich, denn es war ihm gelungen, was viele Jahre sein sehnlicher Wunsch gewesen war: sich eine Verdienstquelle zu erschließen, um nicht zur Gänze auf das Erbe angewiesen zu sein.
Dr. Hohenadl war klug genug, nicht zu übertreiben, und erlegte sich auf, sich nicht öfter als alle zwei Wochen mit Marie an die Kreuzung Webgasse/Mariahilferstraße zu stellen. Er bekam Routine und hätte als Stuntman beim Film durchaus Chancen gehabt. Die Beträge schwankten zwischen fünfzig und hundert Euro. Weniger gab eigentlich niemand.
Warum die Erfolgsgeschichte abrupt endete? Warum Dr. Hohenadl nie wieder mit Marie in eine Autotür fuhr? Weil nach einem halben Jahr der Mann, der aus dem Auto sprang, nachdem Dr. Hohenadl und Marie die Tür touchiert hatten, Dr. Svoboda, der Zahnarzt aus Meidling, war. Statt sich aufzuregen, begrüßte der Zahnarzt den auf dem Boden Liegenden mit Handschlag wie einen alten Bekannten. Als sich Dr. Hohenadl beschämt davonschlich, rief ihm Dr. Svoboda mit breitem Meidlinger Akzent nach: Wissan S’ wos? Gengan S’ zum Zirkus! Durt kriagn S’ zur Gaasch a no a gregelte Moizeit!«
Dr. Hohenadl haderte mit seinem Schicksal. Er war überzeugt davon, dass er in seiner Karriere auf der Mariahilferstraße einen Zyklus durchlaufen hatte und dass er nach Dr. Svoboda, dem Zahnarzt aus Meidling, nun der Reihe nach allen anderen Autofahrern, mit denen er ins Geschäft gekommen war, wieder begegnen würde. Angst überkam ihn, und er mied Marie für einige Tage.
Dr. Hohenadl freute sich immer, wenn ihm jemand etwas schenkte. Aber als seine Cousine Dorothee aus St. Pölten ihm, wie sie angekündigt hatte, etwas ganz Außergewöhnliches mitbrachte, wurde er misstrauisch. Sie wickelte ein Glas aus und setzte zu einer langen Erklärung an. Charlotte handelte in bester Absicht, ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie kannte Dr. Hohenadls Sparsamkeit und wollte ihm einen Gefallen tun. Im Glas, das mit einem Metalldeckel verschraubt war, schwamm eine trübe Flüssigkeit. Charlotte kam nicht so schnell zum Punkt, sodass Dr. Hohenadl die Sache immer seltsamer vorkam.
»Die Lake ist nicht immer in dem Glas«, sagte Charlotte. »Unten schwimmt ein Schwamm. Ja, ein Pilz, ein tibetanischer Pilz, und der lebt.«
Dr. Hohenadl schob das Glas vorsichtig zurück. Charlotte wies ihn an, das Glas mit Milch zu füllen und über Nacht in einen Schrank zu stellen. »Er muss es finster haben. Er arbeitet im Finstern.«
»Da ist einer drinnen, der arbeitet? Wer denn?«
»Der tibetanische Pilz natürlich.«