Lutz Lindemann geboren 1949 in Halberstadt, spielte bis 1981 für den FC Carl Zeiss Jena und die DDR-Fußballnationalmannschaft, danach arbeitete er als Trainer, Manager, Sportdirektor, Scout, Geschäftsführer und Präsident bei zahlreichen Vereinen zwischen Erzgebirge und Kosovo. Seit Sommer 2018 kommentiert er als Experte bei »Sport im Osten« (mdr) die Spiele ostdeutscher Fußballteams in allen Ligen.
Frank Willmann geboren 1963 in Weimar, seit 1975 Zeissfan, 1984 Ausreise nach Westberlin. Schriftsteller, Publizist. Coach der Deutschen Autorennationalmannschaft. Zuletzt erschienen: »Alles auf Rot« (2017, Hg. zus. mit Jan Böttcher) und »Mittendrin. Fußballfans in Deutschland« (2018, mit Anne Hahn). Willmann ist Herausgeber der Reihe »Fußballfibel – Bibliothek des Deutschen Fußballs« und lebt in Berlin.
Aus dem Kartoffelkeller in den Spitzenfußball.
Lutz Lindemann gehört zu den bekanntesten Fußballstars der DDR, er spielte für die Nationalmannschaft und für den FC Carl Zeiss Jena im Europapokal. Als Juniorennationalspieler verscherzt er es sich durch Sturheit und jugendlichen Leichtsinn mit den Genossen und schält während des Militärdienstes in der Kaserne Kartoffeln – und schafft doch das scheinbar Unmögliche: die Rückkehr in die DDR-Oberliga und in den internationalen Fußball. Was Lindemann aus sechzig Jahren Fußballleben zu berichten hat, gewährt seltene Einblicke in die Seele dieses Sports und seiner Protagonisten: der Besessenen und der Besonnenen, der Geldgeber und der Geldausgeber. Von ihnen und von der großen Liebe zum Fußball erzählt Lindemann uneitel und mit trockenem Humor, aufgeschrieben von Frank Willmann.
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Optimist aus Leidenschaft
Mein Leben
Inhaltsübersicht
Über Lutz Lindemann
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Prolog. Wer zögert, bereut.
Halberstadt, Magdeburg, Adlershof
Nordhausen, Erfurt
Besuch bei Dr. Paul Dern in Jena
Endlich Jena!
Zehn Fragen an Hans Meyer
Hermsdorf, Doberlug, Weida
Wieder Jena
Aue
Interview mit Uwe und Helge Leonhardt
Halle, Jena
Krasilov, Siegen
Berlin, Jena
Prishtina
Der Club der Nationalmannschaft
Epilog. Erfurt, Balkonien.
Bildteil
Abbildungsnachweis
Impressum
Ich möchte mich bei den vielen Menschen bedanken, die mich auf meinem Weg unterstützt haben. Denjenigen, die mir absichtlich schaden wollten, habe ich schon lange verziehen – dass sie so schwach waren und mich nicht verhindern konnten.
Herbst 2016. Erste kosovarische Liga. Lokalderby in Mitrovica. KF Trepça Mitrovicë spielt gegen KF Trepça ’89. Rund 750 Zuschauer. Ein Häufchen Ultras feuert beide Mannschaften gleichermaßen an. Das Stadion liegt im muslimischen Teil des Kosovo. Lutz Lindemann lässt einen prüfenden Blick über die maroden Ränge schweifen und sagt lächelnd, hier wird bald Champions League gespielt.
Hundert Meter weiter liegt die Grenze zum von Serben bewohnten Kosovo. Dazwischen Niemandsland, die Häuser und Ruinen sind bestückt mit Parolen für ISIS und die UÇK. KFOR-Truppen, englisch Kosovo Force, bewachen den inoffiziellen Grenzübergang. Lutz ist im Herbst 2016 Trainer und sportlicher Leiter des KF Prishtina in einer Person. Er liegt mit seinem Club hinter Trepça Mitrovicë in Lauerstellung auf dem 2. Platz und möchte gern nächstes Frühjahr Champions-League-Qualifikation spielen. Zur Not in Mitrovica. Dort steht derzeit das einzige Stadion des Kosovo, das die UEFA für internationale Spiele zugelassen hat. Erst seit wenigen Monaten ist der Kosovo ein Teil der europäischen Fußballfamilie und darf international starten. Das ist der Grund, warum ich hier mit Lutz Lindemann sitze und einem Spiel zuschaue, das halbwegs deutsches Regionalliganiveau erreicht.
Wer zögert, bereut, sagt Lutz. Im Frühsommer 2016 flattert ihm ein heißes Angebot ins Haus. Sportlicher Leiter bei KF Prishtina, dem FC Bayern München des Kosovo. Er soll den bekanntesten kosovarischen Fußballclub für Europa fit machen. Lutz ist siebenundsechzig Jahre alt und fühlt sich zu jung für den Ruhestand, also nichts wie hin!
Nach dem Spiel tuckern wir, kutschiert von seinem leidlich Deutsch sprechenden Fahrer Adem, durch den Kosovo und halten in jedem Ort. Adem hat unendlich viele Geschwister. Ein Bruder besitzt ein Café. Nach herzlicher und ausgiebiger Begrüßung gesellt er sich kurz zu uns. Rauchen ist im Kosovo in Kneipen und Restaurants verboten, er stellt uns zwei starke Espresso und einen Aschenbecher hin. Im Kosovo gibt es immer zwei Wege, den offiziellen und den der Familie, sagt Adem und lächelt.
Nächster Ort, nächster Bruder. Diesmal betreten wir eine Bäckerei. Adem stellt uns vor, wir bekommen sehr frisches und noch warmes Gebäck gereicht. Unglaublich lecker. Wir wollen bezahlen. Nix da, sagt Adem und scheucht uns zum nächsten Bruder. Der ist Besitzer eines Frisiersalons. Haare schneiden, über die Weltpolitik reden. Die Kosovaren mögen Amerikaner und Deutsche, weil die ihnen geholfen haben, den serbischen Aggressor zu vertreiben. Manche kennen sich nicht so gut mit der deutschen Geschichte aus und verwechseln gern mal Angela Merkel mit Adolf Hitler.
Wir sind unterwegs zum vierten Bruder und noch lange nicht in Prishtina. Wir werden noch zwei weitere Orte besuchen und erst am späten Abend heimkehren, behängt mit diversen Trophäen. Lutz erzählt im Auto Schwänke aus seiner aktiven Fußballzeit. Adem (»Ich fahre voll normal.«) donnert halsbrecherisch über die Pisten und berichtet dabei begeistert vom Krieg im Kosovo. Er stand an einer Art Kanone, die aus großer Entfernung tennisballgroße Granaten Richtung Feind ausspie. Ich schaue aus dem Fenster und zähle die vergoldeten Porsches und vollverchromten Mercedes, die im Kosovo alle paar Kilometer von der neuen Zeit künden.
Meine anfangs sehr einseitige Beziehung zu Lutz reicht in die Siebzigerjahre zurück. Mein Vater steckt mich 1975 zu meinem ersten Thüringer Lokalderby in den Trabi und fährt mit mir in die Höhle des Löwen. Jena gewinnt in Erfurt. Ich werde sofort Zeissfan. Lutz Lindemann spielt noch im falschen Trikot, doch das sollte sich 1977 ändern. Der FCC schickt seine Allzweckwaffe Paul Dern in die Spur. Lutz wechselt, nicht ohne Erfurter Geschrei, nach Jena. Er reift zum Nationalspieler und erlebt beim FC Carl Zeiss seine besten Jahre, die ihn 1981 ins Finale des Europapokals der Pokalsieger führen. Als Fan folge ich dem Club bei Heimspielen. Lutz ist mein Lieblingsspieler und trägt meinen geliebten Fußballclub, stellvertretend für mich, in die Welt.
Die Siedlung der Straßenbolzer – Pelé und Papa Schröder – Das erste Länderspiel – KJS Magdeburg – Von Krügel geschmäht – Vom DTSB gestraft – Wachregiment in Adlershof – Invalide im Kartoffelkeller – Zurück in Halberstadt
Ich wurde am 13. Juli 1949 in Halberstadt als drittes Kind meiner Eltern Gertrud und Erich geboren. Es soll ein wunderschöner Mittwoch gewesen sein. Nach unbestätigten Berichten fiel bei meinem ersten Schrei ein Fußball durchs Fenster in den Kreißsaal.
Ich hatte vier Geschwister. Eine Schwester, drei Brüder. Ich war der Mittlere. Meine Mutter arbeitete im Dienstleistungsgewerbe, mein Vater auf dem Bau, wo er es zum Meister brachte.
Wir lebten in der Sargstedter Siedlung, die ein wenig außerhalb von Halberstadt liegt. Sie wurde in den Dreißigerjahren für kinderreiche Familien errichtet und von den Leuten aus der Oberstadt, die ihre Nase extrahoch trugen, kritisch beäugt. Es gab in meiner Jugend keine übergewichtigen Kinder in der Siedlung.
Mein Vater hat auch Fußball gespielt, doch ich habe ihn nie spielen sehen. Er war andauernd arbeiten. Als ich geboren wurde, war er neunundzwanzig Jahre alt und musste die Familie ernähren. Das Geld war immer knapp. Die allgegenwärtige Not in der Nachkriegszeit machte meinen Vater erfinderisch. So hat er im kleinen Maßstab Heringe geschmuggelt, im Rucksack. Er ist mit einem Kollegen nach Wilhelmshaven gefahren, um dort direkt bei den Fischern am Hafen Hering zu kaufen. Ab in den Zug und zurück, der frische Fisch wurde in Halberstadt gewinnbringend verrubelt und auf unserem Tisch landete auch noch was. Wir waren immerhin fünf Kinder, es war nicht immer leicht, uns durchzubringen. Mein Vater war geschickt, kannte schlichtweg alle Schleichwege und wurde niemals erwischt.
Wir lebten in einer kleinen Wohnung, Oma und Opa eine Etage drüber. Meine älteren Geschwister lebten bei der Oma. Es fehlte an Wohnraum, ich schlief mit meinem zweitjüngsten Bruder in einem Bett. Es war eng, meine Kindheit spielte sich zumeist im Freien ab. Ich habe selten erlebt, dass sich meine Eltern liebevoll berührt oder geherzt hätten.
Unsere Siedlung war ein Paradies für Kinder, hier lernte ich, über Zäune zu klettern und den Nachbarn das Obst aus den Bäumen zu stibitzen. Mein Spitzname als Kind war lange Zeit Lutzchen. Ich war klein und schmächtig, konnte kaum über einen Kaninchenbau gucken. Später, bei den Männern, wurde ich zu einem Baum und hieß Linde.
In meiner Erinnerung hat mein Vater auf allen Fotos eine schwarze Stirn. Seine Freunde meinten über ihn, das Einzige was du kannst, ist köppen. Der konnte schon ein bisschen mehr und hat seine Fußballgene an uns vererbt. Bei mir schlugen sie dann voll durch. Aber auch meine drei Brüder waren talentierte Spieler. Mein größter Bruder hat es bis in die 2. Liga gebracht, sein bestes Spiel machte er 1962 gegen die TSG Oberschöneweide, heute Union Berlin. 1962 war ich dreizehn und schaute ihm zu. Mein Bruder und Lok Halberstadt gegen den großen Uli Prüfke von Union. Das war schon was!
In unserer Familie drehte sich sehr viel um Fußball. Wir besuchten am Wochenende die Spiele von Lok, im Radio lief Fußball. Der Vater sprach oft über Fußball, meine Brüder taten es ihm gleich, aber Vorbilder hatte ich in meiner Familie keine.
Wir waren Straßenbolzer, die Siedlung, in der ich aufwuchs, bestand aus Straßenbolzern. Nur manche Familien besaßen Radio oder Fernsehen.
Als wir zum ersten Mal den Namen Pelé aufschnappten und von seinen Wundertaten hörten, wollten wir alle sein wie er. Jeder Pass, jede Körpertäuschung, jeder Schuss, jede Finte – alles wurde fortan durch die Augen Pelés betrachtet. Ich sprang voll Tatendrang, wie Pelé es am Morgen tat, aus dem Bett. Nach der Katzenwäsche Marke Pelé jonglierte ich mit meinem Schulranzen und träumte während der Schulstunden von der Weltmeisterschaft, um, endlich wieder zurück in unserer Straße, wie Pelé mit dem Ball von rechts nach links zu flitzen. Pelé hinten, Pelé vorn, Pelé dazwischen.
Der Verkehr war überschaubar in unserer Straße. Uns schien, wenn jemand in der DDR-Mangelwirtschaft ein Auto ergattert hatte, stellte er es am liebsten in die Garage und holte es nur samstags raus, um es erst ausgiebig zu putzen und dann mit der Familie ins Naherholungsgebiet zu fahren. Diese Ausflüge hasste ich wie die Pest, ich musste schließlich Fußball spielen, um wie Pelé zu werden. Nationalspieler, Weltmeister!
Jede halbe Stunde fuhr ein Bus durch unsere Straße, die zweihundert Meter weiter endete. Der Bus hielt an drei Haltestellen, dann erreichte er die Wendeschleife und es ging wieder von vorne los. Immer hin und her. Es gab keine Überraschungen. Die Straße war gut gepflastert, wir haben dort unsere Tore aufgestellt. Ein Torpfosten konnte ein Schulranzen sein, ein Stück Holz, ein Stein, eine Jacke. Kam der Bus oder ein Auto, vielleicht auch mal ein Motorrad, räumten wir unsere Tore auf die Seite. Wir spielten meist drei gegen drei.
Auf einem Feld neben unserer Schule befand sich ein kleines Wiesengelände. Manchmal gelang es uns, auf dieser Wiese zu spielen, aber viele Nachbarn sahen uns dort nicht gern. Unsere Tore waren Holzstöcke, die wir uns organisiert hatten, ohne jetzt sagen zu wollen, wir hätten sie entführt, zum Beispiel aus einem wackligen Zaun. Vielleicht haben wir sie sogar geklaut. Es musste ja schließlich schnell gehen. Wir wollten unsere wertvolle Zeit nicht mit der Suche nach Torpfosten verplempern.
Ich begann 1958 bei Aufbau / Empor Halberstadt mit dem Kicken. Das war seinerzeit in Halberstadt der Verein mit der besten Jugendarbeit. Ich hatte dort einen legendären Übungsleiter, Horst »Horstchen« Schröder. Ein Fußballverrückter, ein positiv Wahnsinniger. Er hat vier Jugendmannschaften gleichzeitig trainiert. Papa Schröder – der hat sich bis ins hohe Alter, bis er weit über siebzig war, um den Halberstädter Jugendfußball gekümmert. Wir waren seine Jungens. Er rief, ran, Jungens, ran, ihr Granaten! Wir liebten ihn und folgten ihm überallhin. Er lehrte uns Technik, das war sein Steckenpferd, ein feiner Trainer, wir hatten Spaß. Er wohnte mit seinem Sohn bei uns in der Siedlung. Sein Spross war ein guter Spieler, hat aber irgendwann vergessen, dass zum Fußball auch Laufen gehört. Er hat das Laufen eingestellt. So konnte er nicht besser werden. Obgleich wir anfangs auf einem Level waren, hat er es nicht weit gebracht.
Papa Schröder konnte den Ball lang oben halten, seine Jonglierkunst war für uns das Größte, jeder eiferte ihm nach. Ich übte jeden Tag jonglieren und erreichte schließlich Perfektion. Ich konnte mit einem Tennisball jonglieren, im Sitzen, im Liegen, während des Aufstehens. Ich hab als Kind im Freibad mit einem großen Ball jongliert, da haben die Leute gedacht, was hat der arme Junge für ein Geschwür am Fuß? Die Amplitude Fuß – Ball war so kurz. So ’ne große Blase! Nein, es war der Ball!
Mehrmals im Jahr sind wir mit Papa Schröder auf unseren Fahrrädern in den Wald Richtung Blankenburg. Die Granaten machen einen Ausflug! Jeder hatte einen leeren Sack überm Lenker: Brennholz und Kienäpfel sammeln! Mitten im Wald befanden sich Sandsteinhöhlen, Relikte aus der Eiszeit. Fahrräder weggeworfen und eine Stunde im Sand gebolzt. Fußball aus Spaß, Fußball aus Freude am Leben. Einmal haben wir einen Ball dort vergraben, so ein Gummiding. Dann eine Markierung angebracht und den Ball ein Jahr später wieder ausgegraben – und weitergespielt. Wir fuhren zu einem Turnier nach Derenburg mit Übernachtung, es war wunderbar, abends schliefen wir alle auf schmalen Pritschen in einem großen Raum. Papi machte draußen ein Lagerfeuer und erzählte uns ausgezeichnete Lügengeschichten, wir saßen mit roten Ohren um ihn herum und lauschten. Er hat mich als Trainer in Halberstadt begleitet, bis ich nach Magdeburg ging.
Ich bin meist zu Fuß zum Trainingsplatz gelaufen. Die Sportanlage Schäfergasse war von unserer Wohnung fünf oder sechs Kilometer entfernt. Wir waren immer eine Horde Jungs, die aus der Siedlung gemeinsam zum Training hin- und zurücklief. Mit dem Taxi von den Eltern abgeholt wurde keiner von uns, verlaufen hat sich trotzdem niemand. Wenige von uns besaßen damals ein Fahrrad. Fahrrad war Luxus, ich bekam eins mit zwölf oder dreizehn, bis dahin sparte meine Familie. Unser Vater verdiente genug, um uns satt zu bekommen, doch Extrawurst war selten. Für mich waren das Wichtigste im Leben ohnehin Schuhe zum Bolzen und ein Ball.
In der DDR waren alle Fußballvereine sogenannten Trägerbetrieben angeschlossen. Der sogenannte Trägerbetrieb meines Vereins war eine große Wurstkonservenfabrik. In der DDR kannte jeder die berühmten Halberstädter Würstchen aus dem VEB Halberstädter Fleischwaren, bis 1949 als Wurstfabrik Heine bekannt. Zu unseren Spielen durften wir den Fuhrpark der Wurstmaxen nutzen. Unser Luxusbus war, ob ihr es glaubt oder nicht, ein kleiner Transporter, der die Woche über Fleischkisten beförderte. Ohne Fenster, aber mit einer schicken Lüftung an der Decke. Freitags hat der Fahrer den Transporter innen und außen mit einem Wasserschlauch abgespritzt. Natürlich schaffte er es damit nicht, den Geruch zu tilgen. Am Samstag kamen wir, setzten uns auf zwei kleine Bänke und fuhren zu unseren Spielen zehn, fünfzehn, zwanzig Kilometer über die Dörfer.
Mein Vater hat mich und meine Brüder meist zu unseren Heimspielen begleitet. War er dabei, wollte ich natürlich etwas Besonderes zeigen. Danach kam die Auswertung durch den Vater. Hör mal zu, mein Freund. Zeich hier nich was Besondres, mach hier keinen Affen, spiel ordentlich Fußball, sonst tret ich dich innen Hintern. Alles klar?
Ja, Papa, ja.
Gut, dann haben wir uns ja verstanden, nun zeig, was du draufhast, du Einhandflötist.
Das war das höchste Lob. Nix mit du bist der Beste oder mein Sonnenschein.
Wir haben zumeist auf Schlacke gespielt. Manchmal sind wir vorm Training auf den Platz und haben die schlimmsten und spitzesten Steine entfernt. Unsere Schuhe hielten nie lang, wir waren trotzdem immer begeistert und mit höchstem Ernst bei der Sache. Ich habe mich bei Aufbau schnell entwickelt und wurde frühzeitig in die Bezirksauswahl Magdeburg berufen. Ich spielte im Mittelfeld, mal zentral, mal kam ich über die Seite. Ich war technisch stark, schnell und wollte nie im Tor oder in der Verteidigung rumstehen.
Die Schule lief nebenher, ich mochte Deutsch, Geschichte und Geografie. Im Geografieunterricht bereitete ich mich innerlich auf meine Weltkarriere vor und kannte alle wichtigen Fußballorte auf der Weltkarte aus dem Effeff. An Naturwissenschaften hatte ich kein Interesse. Hallo, was hatte Biologie oder Chemie mit Fußball zu tun? Warum wurde der künftige Pelé aus Halberstadt mit diesem Kram belästigt?
Einmal mussten wir in Deutsch über unsere Vorbilder schreiben. Die meisten beschrieben ihre Väter, Brüder oder den Dackel des Opas als ihre großen Vorbilder. Ich schrieb über Kurt Liebrecht. Er war ein Fußballer aus Stendal, ein Nationalspieler. Ich hatte ihn bei einem Spiel von Lok Stendal in Halberstadt gesehen, an einem 1. Mai. Erst sind wir als fröhliche Fußballbuben beim Demonstrationszug zum Kampf- und Feiertag aller Arbeiter marschiert, dann besuchten wir das Freundschaftsspiel. Liebrecht war ein bekannter Name im DDR-Fußball. Ich hab ihn spielen sehen und dachte, so gut wie er möchte ich mal werden. Ich habe seine Spielweise studiert und mir ganz genau angeschaut, was er wann auf dem Platz gemacht hat. Danach habe ich den Text über ihn als mein Vorbild geschrieben. Leider konnte mein Deutschlehrer damit wenig anfangen.
Was soll das! Diese ungehobelten Fußballausdrücke, das versteht doch kein Mensch.
Er hat meinen schönen Fußballtext schlecht bewertet, ich habe fast geweint. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie wurde mein Aufsatz dann abermals geprüft und irgendwer, vielleicht meine Klassenlehrerin, hat gesagt, lasst den doch mal im Unterricht eine Radioreportage machen. Dann hab ich aus dem Stegreif im Unterricht einen Bericht über die Fußball-Weltmeisterschaft 1962 in Chile vorgetragen. Ich hatte alle Spiele im Fernsehen oder Radio verfolgt, ich wusste, wie die Reporter im Radio sprachen, was sie für dramaturgische Kniffe draufhatten. Ein Faible fürs gesprochene Wort besaß ich schon immer. Ich habe also wie ein Radioreporter über das Endspiel Brasilien gegen die Tschechoslowakei gesprochen, fünf Minuten live. Ich habe mich in Rage geredet, am Ende schoss mir der Schweiß aus allen Poren. Alle haben geklatscht und ich bekam eine glatte Eins. Der Fußball hat meine Deutschnote gerettet, es war wie es war! Eine Besonderheit brachte ich eigenmächtig in meiner Reportage unter: Pelé hatte sich eigentlich in der Vorrunde verletzt und konnte im Finale nicht spielen. Ich ignorierte seine Verletzung und ließ ihn in meinem Endspiel dabei sein.
Seit 1959 hatten wir daheim einen Fernseher, das war etwas Besonderes zu der Zeit. Die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft 1962 hab ich im Westfernsehen gesehen, wir hatten in Halberstadt sensationellen Empfang. Unsere Siedlung lag ein bisschen außerhalb mit freier Sicht auf den Brocken, wo kurz hinter der Grenze der Sendemast aus dem Westen weit in die DDR strahlte. Wir hatten ein einmaliges Fernsehbild, ganz Halberstadt beneidete uns um unsere Lage. Regelmäßig fuhren Spitzel durch unsere Siedlung und schauten, in welche Richtung die Fernsehantennen ausgerichtet waren. Eifrige, aufgehetzte Mitglieder der FDJ und freiwillige Helfer der Volkspolizei verpetzten die Westfernsehgucker an die Sicherheitsbehörden. Wurde man erwischt, warteten belehrende Gespräche über die Bösartigkeit des Klassenfeindes und die öffentliche Buße, nie wieder am Busen des Kapitalismus zu schnuppern. Wir Schüler mussten uns freiwillig in der Schule verpflichten, kein Westfernsehen zu gucken.
Unsere fantastische, selbstgebaute Antenne war unter dem Dach unseres Hauses angebracht. Sie war herrlich anzusehen, extrastark, mit riesigen Zacken. Keiner konnte sie von der Straße aus sehen und wir gingen als brave und seeeehr klassenbewusste DDR-Bürger durch. Ich kann mich noch an die ersten Werbeclips erinnern, Produktwerbung für all diese unerreichbaren Luxusgüter des Westens. Seife und Waschmittelduft genossen wir durch den Fernseher, das zersetzte die DDR weitaus mehr als alle politischen Propagandasendungen im West-TV. Allerdings waren meine Eltern konsequent, um 20.00 Uhr musste ich ins Bett. 19.30 Uhr bis kurz vor acht noch eine kleine Serie im Ersten, dann mussten wir schlafen, egal ob Sommer oder Winter, ob es draußen noch hell war oder nicht.
1962 qualifizierte sich die DDR nicht für die WM, aber die BRD war dabei und spielte zum dritten Mal in Folge gegen Jugoslawien. Die Tschechen und Slowaken waren damals gut, sie schafften es, wie schon erwähnt, bis ins Finale gegen Brasilien. Josef Masopust, Ján Popluhár – das waren flinke Läufer; dazu Schrojf im Tor. Den WM-Fußball erklärte uns Papa Schröder. Ihm lauschten wir und er brachte die runde Botschaft in unsere Eierköpfe. Da war genug Platz, so wahnsinnig viel hatten wir nicht drin, wie das vielleicht bei den heutigen Kindern der Fall ist, die von ihren weisen Eltern unaufhörlich mit Wissen gefüttert werden, das oft genug niemand braucht.
Wir Jungs haben auf den Wäscheplätzen zwischen den Häusern Kopfballturniere veranstaltet. Jeder gegen jeden, man durfte den Ball nur mit der Schulter oder dem Kopf berühren. Das waren legendäre Meisterschaften! Wenn wir gerade nicht Fußball spielten, organisierten wir unsere eigene kleine Friedensfahrt. Zeitfahren mit dem Fahrrad – wie verrückt schossen wir durch die Siedlung.
Ab 1962 fuhr ich regelmäßig nach Bad Schmiedeberg zur DDR-Besten-Ermittlung. Dort spielten die zweihundert besten Fußballjungs aus allen Bezirken der DDR in den Sommerferien gegeneinander. Gleich beim ersten Mal wurde ich dort in die Nordauswahl berufen, in der die stärksten zwanzig Spieler meines Jahrgangs versammelt wurden. Das war für mich schon ein Hauch der großen Fußballwelt. Aus Halberstadt waren nur zwei Jungs dabei, einer von Lok und ich. Ich fühlte mich schon wie ein winziger Star und probte frühreife Posen. Alle möglichen fremden Männer sagten plötzlich, oh, der wird mal was, oh, der kann mal was Dolles werden. Mein Vater hatte von der Prozedur eine andere Meinung: Bilde dir nichts ein darauf, kriegst eine hinter die Ohren!
Ja, Papa, alles klar.
Er war unheimlich stolz. Wenn ich nicht dabei war, in der Kneipe oder am Spielfeldrand, und es kam die Rede auf mich, und einer hegte Zweifel an meinen Fähigkeiten, hat er gesagt: Du meinst, mein Sohn wird nüscht? Pass ma off, du Ahnungsloser!
So war er.
In der Früh gab es Fahnenappelle, seid bereit – immer bereit! Politik war um uns herum, aber sie war uns egal. Unser Fußballplatz war unser Kampfplatz unter der Führung der FDJ, Sport frei! Wir hatten regelmäßig Tischdienst, wurden streng zu Ordnung und Sauberkeit angehalten. Wir mussten sehr früh aufstehen, hielten unseren Körper sauber und zeigten nach der Morgenwäsche den Trainern unsere blitzblanken Ohren. Waren sie schmutzig, setzte es wohlklingende Worte. Wir waren natürlich Kämpfer für den Frieden und gegen den Imperialismus, fühlten Solidarität mit den Völkern Afrikas und so weiter, manchmal gingen wir ins Freibad, schwammen und schäkerten mit den einheimischen Mädchen. Wir waren zwei Wochen dort, es war herrlich, alles war umsonst, die Eltern mussten nichts bezahlen. Bezahlt hat das DDR-Volk bzw. der Bezirksfußballfachausschuss des DFV. Wir waren Jungs, zwölf bis vierzehn Jahre alt. Geschlafen haben wir in Sechzehnmannzelten. 1962 war ich der Jüngste und spielte zum ersten Mal mit Kindern wie Jürgen Sparwasser. Ich war drei Jahre in Folge dort und kam jeweils in die Nordauswahl. Das DDR-Sichtungssystem war engmaschig, den Spürnasen des DFV ging kaum ein Talent durch die Lappen und die Förderung war lückenlos. Weltklasseergebnisse im Sport waren für die DDR-Führung unbezahlbare Werbung auf der Jagd nach internationaler Anerkennung. Spitzensportler wurden in der DDR auch als Diplomaten im Trainingsanzug bezeichnet und genossen hohes gesellschaftliches Ansehen.
Siebzehn Jungs wurden während des Trainingslagers für die Jugendauswahlmannschaften der DDR aus der Masse herausgefiltert. Ich war dabei und habe so meine ersten zwei internationalen Spiele machen dürfen, gegen Wien und gegen Prag bei einem Turnier in Karl-Marx-Stadt im Herbst 1962. Ich bekam meinen ersten Trainingsanzug mit der Aufschrift DDR. Ich war unheimlich stolz, auf den Trainingsanzug und überhaupt. Den Trainingsanzug haben sie mir nach dem Turnier wieder weggenommen, aber das Gefühl, Auswahlspieler der DDR zu sein, blieb. Meine lokale Halberstädter Zeitung, die Volksstimme, schrieb über mich und ich bekam ein Foto, im Trainingsanzug. Das war der erste Pressebericht über mich in einer Zeitung, ich besitze ihn noch heute.
In der zweiten Bushaltestelle in unserer Straße war ein Schaukasten von Aufbau/Empor Halberstadt angebracht, dort hing der Artikel. Lutz Lindemann war zum ersten Mal in aller Munde. Mein Vater machte mir gegenüber seine üblichen Sprüche, glühte aber heimlich vor Stolz. Was konnte nun noch passieren?
Ich spielte weiter bei Aufbau Halberstadt und wurde 1965 zum 1. FC Magdeburg delegiert. Ich war sechzehn Jahre alt und kam in die 10. Klasse der KJS Magdeburg, der Kinder- und Jugendsportschule, mit Turnern, Schwimmern, Leichtathleten, Handballern. Ich war der einzige Fußballer in meiner Klasse. Der FCM holte viele Spieler aus der Umgebung. Mein Trainer in der Magdeburger Juniorenmannschaft, der leider früh verstorbene Kurt Holke, hatte frühzeitig darauf gedrungen, dass ich von Halberstadt zum FCM wechselte. Er lud mich und meinen Vater in die Sportschule ein, er erklärte, was er von mir hielt und was ich beim FCM werden könnte. Holke war später auch mal Trainer der U23-Nationalmannschaft der DDR und Co-Trainer bei Georg Buschner, Trainerlegende und Wundertäter der DDR-Nationalmannschaft, der bei der Fußball-WM 1974 die BRD-Nationalmannschaft in Hamburg schlug und 1976 in Montreal mit der DDR Olympiasieger wurde. Besagter Holke hat mich einmal als das größte Talent im Bezirk Magdeburg bezeichnet.
Ich hatte im Frühjahr und im Herbst bei Wetterumschwung immer Probleme mit Mandelentzündungen. Holke nahm mich mit zu sich nach Hause. Dort bekam ich Halswickel und habe eine Woche auf seiner Couch gelebt. Zum zweiten Mal erlebte ich einen Trainer als Ersatzvater. Holke war ein feiner Mensch und großer Trainer.
In der Sportschule drückten in der Abiturklasse über mir Zapf, Seguin und Sparwasser die Schulbank. Ich wohnte in einem Hotel am Ratswaageplatz in der Karl-Marx-Straße in Magdeburg mitten im Zentrum. Die Straße heißt heute Breiter Weg, das Hotel wurde später auch ein paar Mal umbenannt, existiert aber noch. In der 5. Etage wohnten temporär die Freunde vom Schwimmsport, die in der Elbeschwimmhalle trainierten. In der 4. Etage, erreichbar über einen Nebeneingang, logierten die Sportler des SC Magdeburg, dort wohnte ich in einem Vierbettzimmer mit zwei weiteren Nachwuchsspielern. Einer davon schaffte es später wie ich in die Oberliga, die höchste Spielklasse im Männerfußball der DDR. Der andere hat sein Talent in Wittenberge verschleudert. Das vierte Bett war fast immer leer, es gehörte Jürgen Sparwasser. Er war damals bereits DDR-Auswahlspieler. Ich glaube, 1965 hat die DDR das UEFA-Turnier gegen England gewonnen, Sparwasser schoss zwei Tore. Das Sparwasserbett blieb häufig ungenutzt, weil er so viel unterwegs war, internationale Spiele und Lehrgänge in der DDR. Wir zwei haben zusammengewohnt, weil er auch aus Halberstadt stammte. Im Zimmer gegenüber residierten die späteren Europapokalhelden Wolfgang Seguin und Manfred Zapf. Außerdem tummelten sich auf den Fluren Leichtathleten, Schwimmer, Ruderer – viele von ihnen sollten künftig die sportliche Elite der DDR bilden. Die Fußballer waren alle älter als ich und spielten in der A-Jugend, ich eine Altersklasse tiefer. Ich war der Kleine. Wenn du der Jüngste und der Kleinste bist, wirst du in Magdeburg der Kahle genannt. Du, Kahler, reiß dich zusammen!
Der Kahle hatte die niedrigen Dienste zu erledigen. Es gab auf unsere Etage eine Kaltmamsell und eine Putzfrau, die sich um unsere Belange kümmerten. Man musste sich jeden Tag in eine Liste eintragen, ob man am Essen teilnimmt. Die haben dann für uns Platten zusammengestellt, wir hatten ja unterschiedliche Trainingszeiten. Wir trainierten zum Beispiel zwischen 16.00 Uhr und 19.30 Uhr, die Älteren kamen später. Der Kahle musste dann die Platten ins Zimmer holen, damit die Superstars ihr Essen direkt vor die Nase platziert bekamen.
Nach einiger Zeit machten wir dann ein Trainingsspiel gegen die Älteren, A-Jugend gegen B-Jugend. Dabei hab ich den einen oder anderen verarscht, auch meine Zimmergenossen. Da ging ein Streit los, wenn du das noch mal machst, kriegst du eine in die Fresse oder so ähnlich. Das ist schon mal passiert in der Schule des Lebens.
7.50 Uhr begann der Unterricht, wir hatten das gleiche Pensum zu absolvieren wie die normalen Schüler. Das bedeutete, 6.30 Uhr aufstehen, 7.00 Uhr Frühstück, 7.20 Uhr mit der Straßenbahn zur KJS. Dort gemeinsamer Unterricht mit Handballern, Schwimmern, Leichtathleten. 12.00 Uhr Schulspeisung. Milch, Tee. Bis 14.00 Uhr Schule, dann ins Hotel. Hausaufgaben erledigen, 15.30 Uhr mit der Straßenbahn zum Training. 16.00 Uhr bis 17.30 Uhr Training im Germer-Stadion. 18.00 Uhr zurück mit der Straßenbahn. Abendbrot von der Essenausgabe holen. Auf den Zimmern gab es keine Fernseher, doch ein Fernsehzimmer befand sich auf jedem Flur. Westfernsehen war natürlich verboten, der Kanal DDR-1 war fest eingestellt. Wenn am Wochenende das Heer der Aufpasser ausdünnte, haben wir Westfernsehen eingestellt. Außerdem gab es einen kleinen Raum mit Büchern zur sogenannten sinnvollen Freizeitgestaltung. Kein Billardraum, kein Partykeller, kein Raum mit Spielen, keine Abwechslung – es war mitunter ganz schön öde. Der Playstation-Fanatiker Mesut Özil wäre verrückt geworden. Aber auch uns stand der Sinn eher nach unsinniger Freizeitgestaltung. Am Wochenende durften wir manchmal für einen Tag nach Hause. Eine Internatsleiterin kümmerte sich um die organisatorischen Belange, die ist immer um 19.00 Uhr verschwunden. Außer mir waren schließlich auch alle erwachsen.
Nach einem Jahr begann ich im Internat endlich Dinge zu erfahren, die ich auf dem Sportplatz nicht gelernt hatte. Wie raucht man eine Zigarette? Was ist Bier und wie schmeckt es? Eine Etage über uns wohnten die Mädchen – die auch manchmal einsam waren. Wir sind oft heimlich hoch und haben geredet. Und ihren Duft genossen. Hausaufgaben haben wir so gut wie gar nicht erledigt. Keine Zeit. Ich habe während meiner Zeit auf der KJS nie jemanden getroffen, der an seine Hausaufgaben gedacht hat, die Schule lief nebenher. Manche sind auch sitzengeblieben, sie haben keinen Sinn darin gesehen, sich mit schulischem Kram zu quälen, weil sie doch Spitzensportler werden wollten. So habe ich das auch gehalten. Wir hatten auf der KJS komprimierte Pläne, das war ein anderes Niveau, wir mussten schneller mehr schaffen, zumal die anderen Sportarten oft bereits um 12.00 Uhr zum Training mussten und um 14.00 Uhr zurückkamen. Ich bekam Nachhilfe in Mathematik, denn auch ich hatte angefangen zu schlampen. Ich war mit einem guten Zweierschnitt nach Magdeburg gekommen, den ich binnen Kurzem nach unten schraubte. Mein Vater wurde zum Gespräch eingeladen, das Ziel 10. Klasse wird für ihren Sohnemann schwer. Die anschließende Ansage meines Vaters bestand aus zwei Maulschellen und Sätzen wie, bist du doof, ich hol dich nach Hause, es ist vorbei.
Eine Woche darauf beschloss unser Zimmer, morgen gehen wir nicht in die Schule! Warum nicht? Na, weil wir müde sind, ist doch klar! Wir hatten uns bis Mitternacht anderweitig beschäftigt, mit Mädchen geredet und so weiter. Am Morgen sind wir liegen geblieben.
Und was machen wir jetzt?
Passt mal auf, gestern gab es Fisch und heute ist uns schlecht.
Kahler, du fährst jetzt mal in die Schule.
In der KJS befand sich gleich im ersten Zimmer hinter dem Eingang immer eine Krankenschwester in Bereitschaft, um bei Verletzungen sofort Erste Hilfe leisten zu können. Hinter der Schule lagen schließlich diverse Sportanlagen. Ich bin also zu ihr hin und hab gewimmert: Meine beiden Mitbewohner und ich haben uns übergeben, wir haben gestern Fisch gegessen. Mittags wurden wir mit Tatütata ins Krankenhaus gefahren, wo wir drei Tage lang bleiben mussten, weil wir nach Meinung der Ärzte krank waren. Wir lagen im Bett und hatten Spaß. Solche wunderbaren Dinge lernte ich im Internat.
Kein Wunder, dass meine Karriere langsam ins Stottern geriet, bis der Motor völlig erstarb. Ich habe Jahre verloren, weil niemand da war, der mir half, zuhörte oder mir sagte, lass den Blödsinn. 1967 beendete ich die 10. Klasse mit Nachhilfe in Mathematik und Biologie. Bio stand auf dem Spitzenplatz der mir verhassten Schulfächer. Es hat zu einem befriedigenden Abschluss gereicht, weit unter meinen Möglichkeiten. Mit dem Zeugnis durfte ich nicht die Abiturklasse besuchen und fing eine Lehre als Maschinenbauer im SKET an, dem Schwermaschinenbau Kombinat Ernst Thälmann, dem wichtigsten Trägerbetrieb des 1. FC Magdeburg. Immerhin war ich im Besitz meines ersten Abschlusszeugnisses.
Wir wurden im Mai 1966 B-Jugendmeister in Leipzig. Das erste Spiel gegen Lok endete 0 : 0, vor dem Länderspiel DDR–Chile im Leipziger Zentralstadion. Eine Woche später gewannen wir das Wiederholungsspiel in Zeitz mit 5 : 1. Ich wurde daraufhin für die Teilnahme an der Spartakiade ausgewählt. Die Spartakiade war eine von der FDJ gepushte, politisch motivierte Besten-Ermittlung in Turnierform. Es gab die Altersklassen der Vierzehn- bis Sechzehnjährigen und der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen. Wir traten als Bezirk Magdeburg an und wurden Sechster, sieben, acht Spieler vom FCM waren dabei. Alle Trainer wählten daraufhin die jeweils besten Jahrgangsspieler aus dem Pool aller Mannschaften. Ich gewann auf meiner Position im zentralen Mittelfeld.
In der DDR wurde im Kleinen wie im Großen gute Nachwuchsarbeit geleistet. In puncto Nachwuchsförderung war sie der BRD haushoch überlegen, nicht umsonst wurde, nach anfänglichem Zögern, das System der DDR-Sportschulen nach der Wende übernommen. Fußball war auch in der DDR die beliebteste Sportart, obwohl die Funktionäre Einzelsportarten bevorzugten – aus ökonomischen Gründen. Die Funktionäre, die Parteibonzen, schielten immer nach dem Medaillenspiegel, hier wollten sie die DDR auf einem Spitzenplatz sehen. Und es war billiger, einen Sportler umfangreich zu fördern und nach oben zu führen, als eine ganze Mannschaft, im Fußball mussten es schließlich mindestens elf sein. Aber alle Jugendlichen waren verrückt nach Fußball. Über die Kreisauswahl landeten die Jahrgangsbesten in der Bezirksauswahl, ausgewählt vom jeweiligen Bezirksfachausschuss Fußball mit einem Bezirkstrainer, der in den Kreisen seine Verbindungsleute hatte. Von dort wiederum wurden die besten Spieler in die DDR-Auswahl geholt. Wir wurden ständig beobachtet von Trainern des DTSB, die der Staat bezahlte. Diese Leute mussten sich nur um ihren Sport und ihre Schützlinge kümmern, zum Wohle der Werktätigen der DDR.
Die Trainer in den Kreisen wurden von Trägerbetrieben oder staatlichen Einrichtungen bezahlt, sie saßen in den Betrieben in der Abteilung Sport in sogenannten Sportbüros und arbeiteten, wenn überhaupt, nur halbtags für diese Betriebe.
Wir fuhren damals alle auf Walter Ulbricht ab, weil er so schön Tischtennis spielen konnte und den Sport als wichtige gesellschaftliche Arbeit einordnete. Das bedeutete für uns, dass wir uns politische Zirkel in unserer Freizeit sparen konnten, die ansonsten jedes Kind in der DDR besuchen musste.
Im September 1966 wurde ich zum Lehrgang der DDR-Juniorennationalmannschaft geladen. Ich war siebzehn, ein Jahr jünger als alle anderen. Zu meiner Überraschung hat mich der damalige Trainer Manfred Pfeifer aus Leipzig gleich zum Kapitän ernannt. Als knapp siebzehnjähriger Bengel hatte ich also in diesem Rahmen mein erstes Juniorenländerspiel, in Belgrad gegen die Jugoslawen. Ich absolvierte dann noch drei weitere Länderspiele gegen Russen, Rumänen, Tschechen und ich dachte, mein lieber Mann, ich bin schon einer, ganz oben angelangt! Auf der Rückreise vom vierten Länderspiel – wir hatten verloren – von Zwickau über Leipzig nach Magdeburg saß der Trainer Pfeifer im gleichen Zug wie wir. Wir hatten uns jeder ein Bier gekauft. Beim Umsteigen sieht er uns mit den Bierflaschen in der Hand. Ich war kein großer Biertrinker, hab aber mitgetrunken, weil ich nicht der Spielverderber sein wollte und weil Biertrinken ja auch irgendwo überirdisch cool war. Pfeifer schrieb einen Bericht über uns Bierbanausen. Fazit: Den Lindemann werden wir erst mal nicht mehr berücksichtigen, zu wenig sozialistische Persönlichkeit erkennbar. Ein Warnschuss, den ich nicht ernst genommen habe. Ich wartete auf die nächste Einladung. Aber ich bekam keine.
Seit 1967 spielte ich in der A-Jugend und der zweiten Männermannschaft des 1. FC Magdeburg und wurde als bester Spieler ins Mittelfeld gestellt, obwohl ich altersgemäß B-Jugendspieler hätte sein müssen. Samstags meist eine Halbzeit bei der zweiten und sonntags um 11.00 Uhr A-Jugend. Vier Wochen vor dem wichtigen UEFA-Turnier in der Türkei bekam ich doch wieder eine Einladung, die Benachrichtigung lief über die Clubs, mit der festen Maßgabe: Den nehmen wir mit in die Türkei. Wir trafen uns in Werdau, machten zwei Vorbereitungsspiele gegen die Bezirksligamannschaften Motor Werdau und BW Reichenbach. Dort ist mir bei einem Zweikampf ein Tölpel auf den Fuß gesprungen. Wir dachten erst, es sei ein Knöchelbruch, dickes Bein, zwei Tage kühlen, ab nach Hause, vier Wochen Pause.
Im Frühjahr 1967 fuhren dann andere Spieler zum UEFA-Turnier in die Türkei, eine Art Europameisterschaft. Von wegen neue Einkleidung, schöner Anzug, ein fremdes Land. Nein. Das Turnier, der vermeintliche Höhepunkt meiner Karriere, fand ohne mich statt.
Der 1. FC Magdeburg war am Ende der Saison 1965/66 aus der Oberliga in die 2. Liga abgestiegen. Heinz Krügel, der später zur Magdeburger Legende werden sollte, übernahm das Traineramt. Er hatte damals schon einige Stationen hinter sich. Krügel hat die Mannschaft des FCM sogleich radikal verjüngt. Er machte den zwanzigjährigen Spieler Manfred Zapf zum Kapitän, impfte nebenbei Sparwasser und Seguin Selbstvertrauen ein und ließ sie wachsen.
In der DDR-Liga beherrschte der Club daraufhin seine Gegner nach Belieben. Auch ich kam in das Männerteam, war dort eine Randfigur und flatterte wie ein Sputnik als Nummer 23 oder 24 mit. Ich durfte manchmal mit der ersten, dann wieder mit der zweiten Mannschaft trainieren.
In der Sommervorbereitung merkte ich, dass ich keine Chance hatte. Heinz Krügel wusste genau, was er wollte. Er stellte nach Leistung auf und ich gehörte nicht zum A-Team. Er hat mich dabei nicht schlechter behandelt als die anderen, er machte über jeden seine Witzchen. Dennoch hatte ich das Gefühl, nicht dazuzugehören. Das kannte ich nicht, das war nicht leicht, weil ich bisher immer dazugehört hatte. Ich war noch in der Lehre und hatte im Lehrbetrieb bereits selbstbewusst angekündigt, ich bin jetzt ein paar Tage nicht da, ich fahre mit der ersten Mannschaft des 1. FC Magdeburg nach Bulgarien, denn dort sollte das Trainingslager stattfinden. Als die erste Mannschaft aber zur Saisonvorbereitung ins Trainingslager fuhr, saß ich in Magdeburg und durfte nicht mit – dabei hatte ich die theoretische Reisevorbereitung mitgemacht, mit der gesamten Mannschaft. Zur Freude aller hatte ich in der Kabine aus einer touristischen Broschüre vorgelesen, die die Herrlichkeiten der Landschaft aufs Allerfeinste beschrieb: Wir fahren nach Bulgarien, dort gibt es den Sonnenstrand, dort sind im Sommer 35 Grad, das Wasser ist blau, der Sand weiß. Vorsicht! Stolpern Sie nicht über die Schildkröten!
Alle haben gelacht. Einen Tag vor der Reise hat Heinz Krügel zu mir gesagt: Junger Mann, Sie waren schon ein paarmal im Ausland?
Ich ganz stolz: Ja, ich war schon in Rumänien, ich war schon in Jugoslawien, ich war schon in der ČSSR.
Ja genau, sagte Krügel. Deswegen bleiben Sie diesmal zu Hause und ich nehme Heinz Oelze mit. Der kommt aus Wolmirstedt und war noch nirgendwo. Sie bleiben erst mal hier.
Das waren seine motivierenden Worte. Meine Welt brach zusammen. Die Mannschaft fuhr weg und ich setzte zum Sinkflug meiner noch jungen Karriere an.
Ich bin also mit Heinz Steinborn, einem ehemaliger Eisenhüttenstadt-Spieler, der im Sommer zum FCM gewechselt war, in Magdeburg geblieben. Heinz hatte alte Kumpel in Eisenhüttenstadt. Die kannten mich genau, sie wussten, was ich draufhatte und wollten mich als Spieler verpflichten. Stahl Eisenhüttenstadt war gerade aufgestiegen und musste sich verstärken. Das Stahlwerk hatte einen Fußballnarren als Leiter. So saßen Heinz und ich beim Bierchen in einer legendären Magdeburger Gaststätte, die hieß und heißt heute noch Bötelstube. Die zwei Leute aus dem Eisenhüttenstädter Stahlkombinat und ihr Fahrer setzten sich an unseren Tisch. Es gab Eisbein. Ich war zur einen Hälfte eingeschnappt und zur anderen Hälfte verzweifelt, weil mich Heinz Krügel nicht nach Bulgarien mitgenommen hatte. Sie erzählten, das Stahlkombinat investiere richtig Geld. Sie wollten unbedingt mit Hütte in die Oberliga. Den Spielern würde es an nichts fehlen, ein paar Mark unter der Hand, eine kleine Wohnung, alles kein Problem. Ich wurde vorgestellt, wir redeten über Fußball, sie sagten, wir fahren morgen wieder nach Eisenhüttenstadt, komm doch einfach mit, schau dir unsere Stadt und unser Stadion an, sprich mit dem Chef.
Ich hab mich ins Auto gesetzt und bin mitgefahren. Die haben mich am Stadion abgesetzt, direkt neben dem Stahlwerk. Der Sektionsleiter hat mich empfangen, wir haben geredet, Hütte war aufgestiegen und wollte sich in der Liga etablieren. Ich war ein hungriges, junges Talent, hatte Juniorenauswahl gespielt, fristete ein trauriges Dasein, von Heinz Krügel verschmäht. Trainer der Stahlmannschaft war Arthur Bialas. Ich hab mit ihm gesprochen, ich wollte spielen und nach oben kommen. Bialas sagte, ja, wenn du zu uns willst, kommste her und wir machen das so und so.
Ich bin dann zwei Tage später mit dem Zug über Berlin zurück, die Fahrkarte hatte mir Hütte gekauft. In Magdeburg hab ich verlauten lassen: Übrigens, ich melde mich ab.
Du machst was?
Ich melde mich ab.
Was willste denn machen?
Ich gehe nach Eisenhüttenstadt.
Die Verantwortlichen beim FCM kamen vor Lachen nicht in den Schlaf. Sie haben meinen Vater angerufen. Er kam, wusste nichts von meiner Idee, war aber sofort auf meiner Seite, als ich ihm die Lage schilderte. Vielleicht hätte er besser sagen sollen, bist du verrückt, du machst das hier weiter, ordne dich unter, deine Zeit wird kommen.
Man konnte in der DDR nicht einfach so den Fußballclub wechseln, es sei denn, es gab Unterstützung von ganz oben. Dann ging wirklich alles. Ich war naiv, vertraute den Hütte-Leuten, dachte, das wird schon, und richtete im Geiste bereits meinen Spind in der Spielerkabine ein.
In der DDR war es illegal, Spieler von Schwerpunktclubs abzuwerben. Der 1. FC Magdeburg beschwerte sich beim Fußballverband. Der bestrafte Stahl mit einem Vier-Punkte-Abzug wegen unerlaubter Spielerziehung, DDR-Sprachregelung für Abwerbung. Es hieß: Aus örtlichen, egoistischen Gründen wurden in Eisenhüttenstadt unter grober Verletzung der Prinzipien unserer sozialistischen Gesellschaft und unserer sozialistischen Sportorganisation den Spielern der ersten Ligamannschaft, den Trainern und Funktionären ungerechtfertigte materielle Vorteile gegenüber den anderen Fußballsektionen verschafft. Es wurden finanzielle Mittel verschiedener Fonds des Betriebes unberechtigt für sportfremde Zwecke verausgabt. Es wurden ungerechtfertigt Zuwendungen gezahlt und somit die finanziellen Mittel der Werktätigen gröblich und fahrlässig zum Teil für persönliche Zwecke missbraucht …