Der Arzt vom Tegernsee – 17 – Er kam als Fremder

Der Arzt vom Tegernsee
– 17–

Er kam als Fremder

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-911-3

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Mühsam setzte die Neunundsiebzigjährige einen Fuß vor den anderen. Heute schmerzten sie die Füße so arg, daß sie sich kaum bewegen konnte. Dabei wartete eine Menge Arbeit auf sie. Sie schaffte es gerade noch bis vors Haus, dort ließ sie sich auf die Bank fallen. Sie seufzte. Seit drei Jahren lebte sie nun allein in dem Haus. Damals war ihr Mann gestorben. Zuerst war sie ja noch ganz gut alleine zurechtgekommen, doch dann war ihr Rheumatismus immer schlimmer geworden.

Josefine Wirl sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. Selbst den Weg zum Friedhof würde sie heute nicht schaffen. Dann mußte Toni eben ohne ihren Besuch auskommen. Warum hatte er sie auch nur alleine zurückgelassen? Sie war so in Gedanken, daß sie den Mann, der zu ihrem Haus heraufgekommen war, erst bemerkte, als er dicht vor ihr stand.

»Hallo, Frau Wirl! Schön, Sie zu sehen!« Übertrieben freundlich lächelte er die alte Frau an und streckte ihr die Hand hin. Josefine Wirl jedoch war auf der Hut. Sie kannte bereits die Absichten, die Felix Schiller, ein reicher Bauunternehmer am Ort, hegte. Demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust. Kämpferisch streckte sie das Kinn nach vorn.

»Was wollen Sie?«

»Aber, aber!« Felix Schiller hielt an seinem Lächeln fest, obwohl er sich über die Sturheit der alten Frau ärgerte. »Ich darf doch?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte sich neben sie. »Etwas Ruhe tut gut, nicht wahr?«

Die Frau drehte den Kopf zur Seite und schimpfte: »Was ich tu, geht Sie gar nichts an!«

»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Frau Wirl. Warum sind Sie denn so unfreundlich zu mir? Ich will Ihnen doch nur helfen.«

»Ich weiß genau, was Sie wollen!« Schwerfällig erhob sich die Besitzerin des alten Bauernhauses. Sie wollte ins Haus zurück, aber ihre Beine wollten heute wirklich nicht so wie sie. Also ließ sie sich wieder auf der Bank nieder, denn sie wollte nicht, daß Felix Schiller sah, wie schwer ihr jeder Schritt fiel.

Dieser ahnte es jedoch, und er hätte beinahe triumphierend gelächelt. Er brachte es jedoch fertig, ihr loyal aufs Knie zu klopfen. »Ich meine es doch nur gut mit Ihnen, das sollten Sie endlich begreifen. Wer außer mir kümmert sich denn sonst noch um Sie?«

Frau Wirls Kinn sank auf die Brust. Da hatte der Bauunternehmer leider recht. Sie war eine alte Frau und sie war allein. Aber sie würde sich nicht aus ihrem Haus vertreiben lassen. Also rückte sie entschlossen etwas zur Seite und erklärte: »Noch brauche ich niemanden.«

»Aber Frau Wirl, was soll denn das? Warum wollen Sie sich in Ihrem Alter noch so plagen? Ich könnte Sie im St.-Agnes-Stift unterbringen. Sie würden dort ein sehr schönes Zimmer mit Balkon und Blick auf den See bekommen, außerdem jeden Tag ein ausgezeichnetes Essen…«

»Ich bleibe hier! Ich lasse nicht zu, daß Sie mein Haus abreißen.«

»Aber Sie würden viel Geld dafür bekommen. Damit könnten Sie sich alles kaufen, was Sie sich nur wünschen.«

»Und Sie würden dann hier das Freizeitzentrum bauen. Nein, das hätte mein Mann nicht gewollt.«

»Aber Frau Wirl!« Felix Schiller unterdrückte einen Seufzer und lächelte. »Sie wissen doch gar nicht, was Ihr Mann gewollt hätte.«

Verächtlich bogen sich die Mundwinkel der alten Frau nach unten. »Sie können es mir glauben, Herr Schiller, ich bin noch klar im Kopf, und ich finde, daß wir hier in Tegernsee so ein modernes Zentrum nicht brauchen. Wir haben doch alles, was wir wollen, den See, die Berge. Mit diesem Freizeitzentrum würden Sie nur die schöne Umgebung hier zerstören.«

»Das ist doch Unsinn!« entfuhr es dem Bauunternehmer, der sich von dem Bau dieses Freizeitzentrums großen Gewinn versprach. »Junge Leute, aber natürlich auch ältere Menschen werden sich hier amüsieren. Hier, wo wir jetzt sitzen, wird eine Badelandschaft entstehen.«

»Humbug!« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Die Leute können im See baden.«

Nun seufzte Felix Schiller doch. »Das können Sie nicht verstehen, aber das müssen Sie auch nicht. Ihnen wird es im St.-Agnes-Stift gutgehen.«

»Nein!« Jetzt fixierte Josefine Wirl ihren ungebetenen Gast. »Ich verkaufe nicht! Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Hier habe ich mit meinem Mann gelebt, hier habe ich meinen Sohn zur Welt gebracht. Und noch komme ich allein zurecht. Ich brauche niemand!«

Richtig, sie hatte einen Sohn! Man hatte ihm davon erzählt. Doch nun hatte er einen Einfall, und er lächelte sofort wieder. »Frau Wirl, wenn Sie Ihren Besitz verkaufen würden, dann wären Sie mit einem Mal alle Ihre Sorgen los.« Die Frau wollte etwas sagen, doch der Bauunternehmer winkte ab. »Ich weiß, daß Sie Sorgen haben, ich habe mich erkundigt. Sie haben Schulden bei der Bank, und diese werden immer höher. Sie können hier doch kaum noch das Nötigste machen. Ihr Besitz verkommt.« Seine Stimme war jetzt hart, doch sofort lenkte er wieder ein. »Sie müssen nur verkaufen, Frau Wirl, dann sind Sie alle Sorgen auf einmal los. Dann haben Sie Geld. Sie könnten Ihren Sohn in Australien besuchen.«

Das traf. Josefine Wirl wurde blaß. »Australien«, stammelte sie.

»Ja«, bestätigte der Bauunternehmer. »Sie könnten nach Australien fliegen. Ich weiß doch, daß Sie Ihren Sohn vermissen. Sie könnten ihn endlich wieder in die Arme schließen.«

»Hören Sie auf!« fuhr die Frau ihn an. Sie hatte sich wieder gefaßt. »Nichts kann ich, gar nichts! Ihr Geld würde nichts nützen.«

»Aber, aber, Frau Wirl!« Felix Schiller versuchte nun, die alte Frau zu beruhigen. »Ich wäre Ihnen gern behilflich. Ich würde für Sie das Flugticket buchen und Sie zum Flughafen bringen. Sie müßten sich um gar nichts kümmern.«

Was hat die Alte nur? dachte er, denn er sah, daß ihre Augen sich mit Tränen gefüllt hatten. Da begann sie auch schon zu schluchzen.

»Gehen Sie endlich!« schluchzte Josefine Wirl. Ihre Schultern waren nach vorn gesunken, das Gesicht verbarg sie hinter den Händen. Sie schämte sich ihrer Tränen, aber sie konnte nicht anders. Der Mann hatte den wunden Punkt in ihrem Leben berührt.

»Was haben Sie denn? Ich verstehe nicht! Sie können sich auf mich verlassen, ich würde Ihnen wirklich behilflich sein. Mit dem vielen Geld, das Sie bekommen würden, könnten Sie den Rest Ihres Lebens bei Ihrem Sohn in Australien verbringen.«

Langsam holte Josefine Wirl ein Taschentusch aus ihrer Schürzentasche. Sie schneuzte sich. Ihre Miene war jetzt starr. »Ich werde nicht verkaufen! Mein Mann hätte es nicht gewollt.«

»Ihr Mann!« Felix Schiller war mit seiner Geduld am Ende. »Begreifen Sie denn nicht, Ihr Mann ist tot! Jetzt geht es um Sie!«

»Ich verkaufe nicht, jedenfalls nicht an Sie. Lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Sie wandte dem Unternehmer den Rücken zu.

Felix Schiller dachte jedoch gar nicht daran aufzugeben. Er brauchte dieses Land. Die Pläne für das Freizeitzentrum waren schon fertiggestellt. Mit dem Bau konnte jederzeit begonnen werden. Wenn nur diese Alte nicht so störrisch wäre!

Er räusperte sich und begann nochmals: »Frau Wirl, ich kann Ihnen jeden Wunsch erfüllen.«

Frau Wirl erhob sich. Sie beachtete den Bauunternehmer nicht mehr. Schwer stützte sie sich auf ihren Stock und humpelte auf ihr Haus zu. Sie trat ein, schloß die Haustür und drehte sogar den Schlüssel um, der von innen steckte. Sie hörte nicht mehr, daß Felix Schiller vor sich hin fluchte. Sie trat auch nicht ans Küchenfenster, um nachzusehen, was der Mann nun tat. Sie setzte sich an den Küchentisch, und jetzt, da es niemand mehr sehen konnte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Alles würde sie dafür geben, könnte sie ihren Sohn noch einmal in die Arme schließen. Aber das war nicht möglich. Sie wußte nicht, wo er sich aufhielt. Wahrscheinlich lebte er gar nicht mehr. Im Streit waren sie vor über dreißig Jahren auseinandergegangen. Die Briefe, die anschließend aus Australien gekommen waren, hatte ihr Mann zurückgehen lassen. Dreißig Jahre war es her, und sie hatte keine Ahnung, was aus ihrem Sohn geworden war.

*

Dr. Eric Baumann spazierte am Seeufer entlang. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Langsam schlenderte er dahin und genoß den Feierabend. Franzl, sein Hund, lief ihm vor die Beine und bellte. Lächelnd beugte sich der Arzt zu ihm hinab und tätschelte ihm den Nacken. Franzl forderte mehr Aufmerksamkeit. Es war auch seine Zeit. Meistens stand der Hund bereits wartend an der Haustür, wenn er den letzten Patienten verabschiedet hatte.

»Herr Dr. Baumann, wie schön, daß ich Sie treffe.«

Der Arzt wandte den Kopf und sah den Bauunternehmer Felix Schiller mit großen Schritten auf sich zukommen. Beinahe hätte er geseufzt, er mochte den Mann nicht besonders.

Felix Schiller war etwas außer Atem. Er war nicht zufällig hier. Er wußte, daß der Arzt fast täglich einen Abendspaziergang machte. So hatte er am Kai gewartet, ihn dann jedoch beinahe übersehen. »Guten Abend!« Er streckte Dr. Baumann die Hand hin. »Darf ich mich Ihnen anschließen?«

»Ich habe kein Ziel«, wich Eric Baumann aus. »Ich mache nur einen kleinen Spaziergang. Im Grunde führe ich nur meinen Hund aus.«

»Wie gesagt, das trifft sich gut. Ich wollte Sie bereits aufsuchen.«

Franzl bellte, auch er war über diese Störung nicht erfreut.

»Schon gut!« Der Arzt beugte sich nochmals zu seinem Mischlingshund hinab. »Es geht schon weiter! Lauf nur!«

Schwanzwedelnd umrundete Franzl sein Herrchen, doch erst als dieser sich wieder in Bewegung setzte, bellte er kurz und schoß davon, um in einem nahen Gebüsch zu schnuppern. Dr. Baumann machte ein paar Schritte, dann wandte er den Kopf. Der Bauunternehmer war an seiner Seite. »Ein schöner Abend, nicht?« meinte er.

»Ja, sehr schön«, antwortete Dr. Baumann. Er fragte sich, was der Mann von ihm wollte.

»So ein Spaziergang tut gut!« Felix Schiller streckte sich etwas. »Leider finde ich selten Zeit dazu.«

»Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann.« Dr. Bauman schritt schneller aus.

»Man tut, was man kann.« Geschmeichelt lächelte Felix Schiller, dann kam er aber wieder in Atemnot, denn es fiel ihm schwer, mit dem Arzt Schritt zu halten. Dr. Baumann bemerkte es und blieb stehen.

»Falls Sie mich in meiner Eigenschaft als Arzt aufsuchen wollten, dann würde ich Ihnen als erstes mehr Bewegung verordnen.« Ungeniert musterte er den Mann. »Wahrscheinlich essen Sie auch zu fett.«

Unwillig verzog der Bauunternehmer das Gesicht, dann beeilte er sich aber zu sagen: »Nein, nein, Herr Doktor, ich brauche keinen Arzt. Ich habe noch nie einen gebraucht, ich fühle mich prächtig. Ich wollte Sie wegen Frau Wirl aufsuchen. Sie kennen die alte Frau doch? Sie ist jetzt neunundsiebzig Jahre alt und lebt ganz allein in ihrem alten Bauernhaus.«

Dr. Baumann runzelte die Stirn. Zuerst sagte ihm der Name nichts, doch dann fiel ihm ein, daß Toni Wirl ein Patient seines Vaters gewesen war. Er hatte sich die Karteikarten alle genau angesehen, als er die Praxis übernommen hatte.

»Ist die Frau krank?« fragte er.

»Ja, das kann man wohl sagen. Sie kann sich kaum noch bewegen. Offensichtlich kümmert sich niemand um sie. Das Haus verkommt. Sie müssen etwas unternehmen, Herr Doktor.«

Dr. Baumann schob die Unterlippe nach vorn und setzte sich wieder in Bewegung. Er fragte sich erneut, was der Mann eigentlich von ihm wollte. Daß er nicht gerade als Menschenfreund zu bezeichnen war, das wußte jeder im Ort.

»Sie sollten Frau Wirl einmal aufsuchen«, fuhr der Bauunternehmer fort. »Auf mich hört sie leider nicht.«

Dr. Baumanns Augen verengten sich. »Was haben Sie Frau Wirl denn vorgeschlagen? Haben Sie ihr gesagt, daß sie einen Arzt aufsuchen soll?«

Felix Schiller räusperte sich. Der Blick, mit dem ihn der Arzt musterte, gefiel ihm ganz und gar nicht. »Das auch! Aber da ist auch das Haus, es ist baufällig. Frau Wirl will es einfach nicht begreifen.«