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Über dieses Buch:

Arizona, 1878: Die junge Archäologin Polly bricht unerschrocken in die Wildnis auf, um mithilfe des Tagebuchs ihres verstorbenen Vaters einen legendären Edelstein der Maya zu finden. Doch was als Abenteuer beginnt, wird rasch zu einem Wettlauf gegen die Zeit: Denn Polly ist nicht die Einzige, die inmitten der schroffen Canyons nach Mythen und Artefakten forscht. Welche Absichten verbirgt der ebenso geheimnisvolle wie verwirrend verführerische Shane McKinnon, dessen Wege sich immer wieder mit ihren kreuzen? Als beide in tödliche Gefahr geraten, muss Polly sich entscheiden, ob sie Shane wirklich vertrauen kann …

»Eine wunderbare Geschichte, die gewoben ist wie ein kostbarer Seidenteppich. Der beste historische Liebesroman des Jahres!« Das amerikanische Literaturmagazin »Affaire de Coeur«

Über die Autorin:

Olga Bicos wurde in Havanna geboren, studierte Jura in Berkley und arbeitete als Firmenanwältin in einem Medienunternehmen in Los Angeles, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei zuwandte. Abenteuerlustig und weit gereist, lebt sie heute mit ihrer Familie in Kalifornien. Für ihre gefährlich-charmanten Helden wurde Olga Bicos für den begehrten K.I.S.S. Award der »Romantic Times« nominiert.

Von Olga Bicos erschienen bei dotbooks die Hot-Romance-Highlights »Fever – Gefährliche Liebe«, »Fever – Eiskalter Kuss« – auch im Sammelband »Bad Boy – Games of Passion« erhältlich – und »Passion – Süßes Verlangen« sowie die historischen Liebesromane »Die Liebe des Lords« und »Die Lady und der Gentleman«.

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eBook-Neuausgabe August 2018

Dieses Buch erschien bereits 2001 unter dem Titel »Süße Revanche« bei Goldmann

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1994 bei Olga Gonzales-Bicos

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »More Than Magic« in der Kensington Publishing Corp., New York

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Olga Gonzalez-Bicos

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Anton Foltin, Ulviyya Mammadova und Wulthipong

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-293-1

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Olga Bicos

Die Farbe der Kaktusblüte

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere

dotbooks.

Erster Kontakt

Liebe ist wie Masern; man bekommt sie nur einmal ...

»Aphorismen«. Von Josh Billings: Spruchweisheiten

1. KAPITEL

London 1877

Jaime McKinnon drückte sich an die dunkle Holztür, ein Ohr hielt er in den winzigen Spalt, durch den ab und zu ein Luftzug wehte. Es herrschte beißende Kälte in der Halle, doch Jaime war viel zu sehr damit beschäftigt, eine bessere Möglichkeit zum Lauschen zu finden, als dass er irgendwelche Unannehmlichkeiten bemerkt hätte.

»Also, mein Junge. Was gibt's?«

Jaime wirbelte herum, er presste den Rücken sowie seine Handflächen gegen die Tür. Ein Mann mit einem Zylinder und einem zerknitterten Gehrock sah ihn unter buschigen Brauen mit bösem Blick an. Mehr aus Gewohnheit als aus Furcht verhielt sich Jaime ganz still. Der ältere Mann hatte einen dreizehnjährigen Jungen vor sich – der zweifellos lauschte –, dessen verstohlenes Benehmen gar nicht zu dem Eton-Anzug und dem einreihigen Mantel, den er trug, passte. Nur wenige Menschen kamen auf die Idee, sich über die Anwesenheit des Jungen in Burlington House zu wundern, wo die Veranstaltung der Königlichen Gesellschaft Londons zur Verbesserung des Wissens über die Natur stattfand; noch weniger Leute unterzogen das ängstliche, beinahe zarte Gesicht einer näheren Musterung.

Hinter seiner Stahlbrille zogen sich die milchig blauen Augen des Mannes zusammen, er wirkte beinahe wie eine Imitation von Scrooge bei Charles Dickens. »Du bist Shane McKinnons Junge, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Sein Neffe, Sir.« Der unangenehme Kloß in Jaimes Magen löste sich langsam auf. Der Mann bedeutete keine Bedrohung für ihn. »Ich helfe ihm manchmal.«

»Nun, um Himmels willen, spricht er nicht gerade?«, fragte der Ältere und blinzelte kurzsichtig zu der Tür, die mit ihrem übertriebenen Schnitzwerk wie die Tür eines römischen Miniaturtempels aussah.

»Jawohl, Sir. Aber ich warte lieber draußen. Ich meine, bis er zu Ende geredet hat.«

Der Gentleman verdrehte die Augen; er machte sich nicht lange die Mühe, sich zu verabschieden, sondern kehrte Shane McKinnons Helfer ganz einfach den Rücken und schlurfte zur Treppe. »Kohlkopf, genau wie der Onkel«, murmelte er laut genug, dass Jaime es hören konnte.

Aus dem Inneren des Versammlungssaales wurde Jaime wieder von der wohl bekannten Baritonstimme Shanes zur Tür gezogen – die Stimme stieg an und fiel ab wie ein Musikstück. Nur die Macht seines Crescendos und die viel sagende Pause, die darauf folgte, verlieh ihr Bedeutung. Erfolg. Absoluter Erfolg. Trotz der momentanen Stille war Jaime ganz sicher, dass der Ehrenwerte Shane McKinnon, genau wie der berühmte Mesmer, seine Zuhörer in der Hand hatte.

Zögernd entfernte er sich von der Tür und setzte sich auf den kalten Boden. Vielleicht hatte Scrooge ja Recht. Wenn Jaime in den Saal ging, würde niemand auf den mageren Jungen mit den sandfarbenen Locken achten, der in der hintersten Reihe stand. Aber in gewisser Weise gehörte Shanes »Neffe« nach draußen.

Geheimnisse, dunkle, unsägliche Geheimnisse – Geheimnisse, so gründlich verborgen, dass Jaime sie manchmal selbst glaubte – hielten Shanes Helfer davon ab, den heutigen Triumph mit ihm zu teilen.

Der Knabe rieb sich mit beiden Händen über die wollenen Mantelärmel. Den Kopf lehnte er zurück an die Wand, deren Stuckverzierung rankenden Weinreben ähnelte; tief atmete er den Geruch von Leinöl ein und lauschte dem hohlen Echo eines Stockes, der auf der Treppe klapperte. Es schien ein halbes Leben her zu sein, doch in Wirklichkeit war nur ein halbes Jahr vergangen; seit Jaime Torf gesammelt hatte für das Abendfeuer, während er gleichzeitig gegen die bittere Kälte ankämpfte, im Vergleich zu der der Versammlungssaal wie eine gemütliche Zuflucht erschien. Plötzlich war Shane auf dem Berg aufgetaucht, hoch zu Ross, und er hatte ausgesehen wie ein Ritter in einer glänzenden Rüstung.

Allein der Schnitt seiner Kleidung verriet Wohlstand und Bildung, und Jaime wusste sofort, wer da gekommen war. Niemand von Bedeutung bereiste jemals dieses einsame Tal, in dem Jedediah, der halb verrückte Kleinpächter, bei dem Jaime lebte, wie ein König herrschte. Es musste Shane sein, elegant in Schwarz gekleidet, der jeglicher Beschreibung gerecht wurde, die Jaimes Mutter ihm vor ihrem Tod gegeben hatte.

»Wenn du ihn triffst, mein Schatz – und so Gott will, wirst du ihn treffen –, dann erwarte nicht, dass dein Onkel aussieht wie ich«, hatte sie gesagt und mit ihrem langen Zopf über Jaimes blonde Locken gestrichen. »Sein Haar ist so schwarz wie Pech, und er hat nicht die goldenen Augen der McKinnons, die du geerbt hast. Aber es sind seine Augen, an denen du ihn erkennen wirst. Sie sind grau wie ein Wintersturm, der sich in den Hügeln zusammenbraut. Es sind die Augen eines Zauberers, pflegte unser Vater zu sagen. Und er besitzt wirklich eine Art außerirdischer Kraft, mein Bruder. Er kann dich mit den Sternen vertraut machen.« Sie seufzte und legte ihren dünnen Arm um Jaimes Schultern, während sie sich vor dem rauchenden Feuer zusammenkauerten. »Und er kann dich noch andere wundervolle Dinge lehren, wenn du ihm zuhörst. Ich wünschte, ich hätte das auch getan.«

Jaime lächelte bei der Erinnerung; er glaubte, dass Shane wirklich ein Zauberer war, obwohl dieser es nicht gern hörte, wenn man ihn so nannte. An einem einzigen Tag hatte er die Kälte gebannt, den Hunger und die Unwissenheit, die in Jaimes Leben geherrscht hatten. Und genau wie von Alicia McKinnon angekündigt, ehe sie starb, hatte er Jaime die Sterne gezeigt.

»Sieh nicht direkt hin«, flüsterte Shanes melodiöse Stimme in dieser ersten Nacht vor sechs Monaten, und sein Atem wehte wie eine weiße Fahne um das Teleskop. »Schau eine Minute lang zur Seite, Junge, und dann lässt du sie ganz langsam in dein Blickfeld rücken. Also, bist du jetzt so weit? Es ist wie eine Hand, die vier Sterne in ihrer Handfläche hält.«

»Es ist wunderschön«, flüsterte Jaime und blinzelte, weil das Teleskop an seinem Auge so kalt war. »Wie eine Kette aus Diamanten in einem Netz aus Rauch!«

Shane stand in Hemdsärmeln neben dem Teleskop, die beißende Kälte der Lowlands schien er überhaupt nicht zu bemerken. Seine Leidenschaft für seine Arbeit hielt ihn warm. Er lachte leise. »Eine recht angemessene Beschreibung. Der große Orion-Nebel kann ziemlich beeindruckend sein.« Er machte eine Pause, ehe er mit seiner sanften Rattenfänger-Stimme weitersprach. »Denk nur, Jaime, obwohl es uns jetzt erst erreicht, hat das Licht, das wir von dem Nebel sehen, vor über tausend Jahren gebrannt. Was für Wunder es wohl miterlebt hat? Was für Geschichten es erzählen könnte von seinem Beobachtungsplatz am Himmel?«

Eine inzwischen vertraute Wärme erfüllte Jaime und vertrieb die Kälte der Halle von Burlington House. Wie ein großer Poet konnte Shane McKinnon den dunklen Himmel mit seinen Erklärungen zum Leben erwecken. Sicher gab es Menschen, die ihn hinter seinem Rücken den Schwarzen Zauberer nannten, sie taten seine unverstandenen Theorien als Bauernfängerei ab. Ein wahres Genie weckte immer Kontroversen. Aber schon bald wird es ihnen allen Leid tun, dachte Jaime. Heute würde die wissenschaftliche Gemeinschaft Shanes kostbarste Entdeckung akzeptieren. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

Jaime stellte sich den Versammlungssaal mit den vielen Reihen feierlich gekleideter Gestalten vor, die wie Krähen auf ihren Stühlen hockten. Shane würde auf dem Podium hin und her laufen, er würde dramatisch mit den Armen fuchteln, während er die eigenartige Diskrepanz beschrieb, die er entdeckt hatte, beim Messen der Positionen der Sterne während der letzten Sonnenfinsternis in Indien. Er würde sein Publikum gefangen nehmen, das einzige Geräusch wäre Shanes Stimme, ab und zu ein verwundertes Aufkeuchen, wenn er seine Sternenkarten präsentierte, und das Geräusch seiner Stiefel auf den Eichendielen – vor lauter Energie blieb er nie länger als für einen Atemzug still stehen.

Die Tür flog auf. Jaime rückte schnell zur Seite und entging so der Masse der Stiefel, die an ihm vorüberstürmten. Ängstlich betrachtete er die Gesichter der Männer, um ihre Reaktion zu prüfen. Shanes Helfer betrachtete die blassen Gesichter, einige davon mit Koteletten verziert, andere mit gepflegten Spitzbärten oder Schnäuzern. Doch ihre Züge verschwammen, als sie an ihm vorbeieilten. Einen Augenblick lang konnte Jaime das eigenartige Summen nicht verstehen, als die Menge die zierliche Gestalt in dem eleganten Eton-Anzug mit sich zog, weg von der Tür des Saales. Das Summen schwoll an und wieder ab, ein Donner, der immer lauter wurde, bis er sich schließlich in den ersten deutlichen Sätzen Luft machte.

»Der Schwarze Zauberer hat wieder einmal einen seiner alten Streiche gespielt. Stell dir mal vor, er behauptet, dass sich die Sterne bewegen! Also wirklich, allein die Optik ...«

»Ein Riss in der Struktur der Newton-Physik – Unsinn! Wenn du mich fragst, ein verschwendeter Nachmittag, an dem man sich solchen Hokuspokus anhört.«

»Wirklich? Ich fand ihn recht unterhaltsam. Im Gegensatz zu uns allen besitzt er die Dramatik eines Schauspielers. Das muss man dem Schwarzen Zauberer lassen, er ist niemals langweilig.«

Bei dem überheblichen Lächeln vieler Besucher und dem verwirrten Gesichtsausdruck einiger weniger, zog sich Jaimes Magen zusammen; es fiel ihm schwer, Luft zu holen.

»Angeblich ist er blind, müssen Sie wissen. Aber das kann ich nicht glauben.«

»Farbenblind, Martin! Er kann keine Farben unterscheiden. Überhaupt keine Farben. Nur Schwarz und Weiß. Es ist, als würde man eine riesige Daguerreotypie betrachten. Sehr selten, so viel steht fest! Aber sicher trägt es nicht dazu bei, seine Vorstellungskraft einzuschränken. Leider wird er keinen Penny vom Rat bekommen. Ich habe gehört, dass die Astronomische Gesellschaft ihn auch abgewiesen hat.«

Jaime schob einen der Männer zur Seite und rannte los, er hörte gar nicht dessen Ermahnung: »Achte auf deine Manieren, Junge!« Er lief den Gang zwischen den Holzstühlen entlang, beinahe wäre er über den Teppich gestolpert. Dann sah er Shane, eine einsame Gestalt, die schweigend im Scheinwerferlicht stand.

Wo waren die Horden der eifrigen Wissenschaftler? Die vielen Stimmen, die ihm Fragen zuriefen, um Shanes Beobachtungen besser zu verstehen? Mindestens einer oder zwei junge Männer – diejenigen, die den Mut besaßen, gegen die nüchternen Auffassungen der Alten anzukämpfen – hätten wenigstens bleiben sollen. Doch unter der vergoldeten Bogendecke befand sich nur Shane, während sich der Versammlungssaal schnell leerte.

Die Beine hatte er ein wenig gespreizt, eine Hand ruhte auf dem Podium neben ihm, und Shane McKinnon starrte geradeaus. Erst vor kurzer Zeit hatte Jamie von Shanes achromatischer Sicht erfahren. Der Unfall, der ihm jeglichen Farbensinn genommen hatte, hatte seiner visuellen Schärfe allerdings nicht geschadet, und Shane verbarg seine Behinderung sehr geschickt. Jaime hatte erfahren, dass der Schwarze Zauberer viele Dinge hinter dem stoischen Blick seiner silbergrauen Augen verbarg. In diesem Moment war es unmöglich, von Shanes Gesichtsausdruck abzulesen, ob er sich geschlagen gab oder ob sein offensichtlicher Misserfolg ihn nicht berührte. Jaime unterdrückte ein Aufschluchzen, er fühlte die Niederlage bis in sein Innerstes.

»Hilf mir mal, Jaime. Ich denke, ich bin hier nicht mehr erwünscht.«

Schweigend folgte Jaime Shanes Befehlen, er kletterte auf die Bühne und nahm das erste der Schaubilder von dem Ständer. Mit zitternden Fingern rollte er die wenigen Meter Pergament auf, auf das Shane die Figuren gezeichnet hatte. Nun richtete Jaime seine sanften goldenen Augen auf den Mann, den er wie einen Vater liebte und wie einen Helden verehrte.

Das Gaslicht aus den Wandhaltern warf einen blauen Schein auf Shanes Haar und spiegelte sich in seinen silbernen Augen wider. Seine Schultern waren kräftig und straften sein Gelehrtenleben Lügen; sie zeugten eher von seinen Abenteuern und Reisen, während seine elegante Erscheinung einen Stil aufwies, der tatsächlich zu dem Erbe einer Baronie passte. Er schien jünger als seine einunddreißig Jahre zu sein; doch seine federnde Kraft, die für Jaime deutlich in seiner Haltung lag, verblasste sogar noch gegenüber der Energie in seinem Blick – seinen Augen, die aus Gründen, die selbst die Ärzteschaft erstaunten, nur eine Welt grauer Farben sahen. Augen, die Jaime an die Sterne erinnerten.

»Der Vortrag«, flüsterte Jaime. »Ist er gut gelaufen?«

Als Antwort erhielt er nur ein kurzes Lachen. »Das ist Ansichtssache. Ich dachte, es wäre alles ganz gut gegangen. Aber in Wirklichkeit ...«, Shane wandte sich um und blickte in den leeren Saal, »... bin ich, wie es scheint, in der Minderheit.«

Sein Lächeln war hell und strahlend, genau das gleiche unmögliche Grinsen, das er aufgesetzt hatte, als er damals Jaime aufforderte, die wenigen Sachen zusammenzupacken, die er in Jedediahs Kate besaß und zu ihm in sein Stadthaus in London zu ziehen. Jaime bewunderte Shanes geschmeidige Bewegungen, als er seine Taschenuhr öffnete und nachsah, wie spät es war – wie er dann seine Papiere auf dem Podium zusammenpackte und noch einen Blick auf jede einzelne Seite warf. Shane konnte ein ganzes Journal lesen in der Zeit, in der Jaime nur einige wenige Seiten schaffte. Allein ihm zuzusehen ließ Jaime seine eigene Tollpatschigkeit schmerzlich begreifen. Und als er auf das Pergament blickte, das er zwischen seinen schweißfeuchten Händen hielt, konnte er bereits die dunklen Flecken sehen, die das teure Papier beschmutzten.

Sanfte Finger lösten Jaimes Hände von der Karte. Shane beugte sich zu ihm. »Ich frage mich, wieso ich je etwas anderes als diesen Empfang heute erwartet hatte«, flüsterte er ihm zu. »Die erhabenen Mitglieder des Rates besitzen alle das Vorstellungsvermögen von Schafen.«

Ein kleines Stück Eis schmolz in Jaimes Herzen. Sie hatten Shane nicht verletzt. So lange wie Shane sich nicht verletzt fühlte, ging es Jaime auch gut.

Shane verstaute das Schaubild in einem Behältnis, das er für genau diesen Zweck entworfen hatte. So etwas tat Jaimes Onkel immer, er organisierte alles in hübscher Ordnung. Schon jetzt lagen seine Notizen auf dem Pult in einem Stapel, keine einzige Seite lugte aus dem säuberlichen Stoß hervor. Jaime trat hinter den Tisch, auf dem die kleineren Schaubilder lagen, und nahm die oberste Zeichnung in die Hand, das Bild eines Refraktor-Teleskops mit perfekter französischer Optik; dazu kam ein Rahmen, der die nötige Stabilität gab, um weniger als zwei Bogensekunden Unterschied in der Position der Sterne erkennen zu können. Jaime betrachtete die wunderschönen kühnen Linien, und sein Herz tat ihm weh. Sie sind dumme Schafe. Er hätte es schaffen können! Wenn sie ihm doch nur zugehört hätten.

Mit einem leisen Schnüffeln nahm Jaime das Bild des Teleskops in die Hand und auch all die Papiere, die darunter lagen. Er machte nur zwei kleine Schritte, als sich der Stapel gefährlich neigte und die glatten Papiere zu rutschen begannen, sie glitten ...

»Komm schon, Jaime.« Shane packte die Hälfte des Stapels, ehe alles auf den Boden fiel; dann fuhr er ihm durch seine kurzen blonden Locken. »Himmel, wir sind doch nicht erledigt! Wenn diese Schafe mit den dicken Köpfen ihren Verstand nicht so weit öffnen können, dass sie die einfachsten Theorien verstehen, dann werden wir ihnen unbestreitbare Beweise bringen. Sobald wir von dieser Sonnenfinsternis im nächsten Jahr zurückkommen, werden sie sich überschlagen, unsere nächste Expedition finanzieren zu dürfen.«

Shane schob die Seiten ohne Mühe in die Fächer seines Koffers, dann wandte er sich wieder um zu dem Tisch. Als Jaime es ihm nachmachen wollte, zerknitterte er dabei einige Blätter.

»Ein Jahr«, sagte Shane und rollte die Karten ein, auf denen die Sternenfelder illustriert waren vor und nach einer totalen Sonnenfinsternis. Er hatte die Absicht zu beweisen, dass es keinen Planeten Vulkan gab, der verantwortlich war für Merkurs besondere Umlaufbahn; deshalb hatte Shane die Positionen der Sterne während der Sonnenfinsternis in Indien gemessen und plötzlich kleinere Diskrepanzen festgestellt. »Das ist nicht mehr viel Zeit, aber ich sollte in der Lage sein, genau auszurechnen, wo auf Gottes schöner Erde ich mich aufhalten muss, um diesen Schafen zu beweisen, dass ich Recht habe. Wir werden ihre eigenen althergebrachten Theorien nutzen, um zu beweisen, dass etwas anderes für die Verschiebung der Sterne verantwortlich ist, die ich neben den Flausen in meinem Kopf gesehen habe. Inzwischen sollen sie ruhig ihre Zeit und ihr Geld verschwenden, indem sie den Planeten Vulkan zu entdecken versuchen. Wenn wir mit unseren Fotos zurückkommen, wunderschönen, klaren und deutlichen Aufnahmen, mit denen wir vor ihren angeberischen Nasen herumwedeln werden, müssen sie endlich akzeptieren, dass es hier um mehr geht als um einen Planeten, der gar nicht existiert.«

Er redete ununterbrochen weiter und hüllte Jaime in eine Woge von Energie ein. Die Art, wie Shane das Wort »wir« hervorhob, wie er sie beide zusammen als Team betrachtete gegen die engstirnigen Wissenschaftler, denen sie eine Lektion erteilen würden, zauberte ein scheues Lächeln auf Jaimes Gesicht.

»Leider gibt es da noch die Frage der Mittel. Ich hatte gehofft, dass diese Schafe mit den dicken Köpfen ...« Shane nahm das nächste Schaubild zur Hand; auf diesem war die Theorie der Schwerkraft von Newton dargestellt und außerdem, dass sie nichts taugte bei der Vorhersage der eigenartigen Umlaufbahn Merkurs. Seine silbernen Augen schauten nachdenklich drein, als er die Karte zu denen packte, die er bereits aufgerollt hatte.

»Du könntest deinen Vater fragen«, schlug Jaime leise vor und nahm eine weitere Karte vom Tisch.

Der Blick der silbernen Augen wurde hart, ganz plötzlich schien er überhaupt nicht mehr in Gedanken versunken zu sein. Er zog eine dunkle Braue hoch. »Ich frage mich wirklich, ob ich meinen gesamten Stolz hinunterschlucken könnte, ohne daran zu ersticken.«

Es ging gar nicht um Stolz, das wusste Jaime. Nur wegen Jaime hatte Shane sich von seiner Familie entfremdet. Shanes Vater war es gewesen, der Alicia aus dem Haus geworfen hatte, nachdem sie von einem Mann kompromittiert worden war, der schließlich der Vater ihres Bastards wurde. Und selbst vierzehn Jahre später hatte Ian McKinnon seiner Tochter immer noch nicht verziehen. Als Shane mit Jaime im Schlepptau auf dem Gut seines Vaters aufgetaucht war, hatte Ian sich geweigert, seinen »Enkel« anzuerkennen – keine Tochter, kein Enkel!

Niemals würde Jaime die eisige Wut in Shanes Augen vergessen, als er seinem Vater erklärte, dass es ganz sicher eine Alicia gegeben hatte und dass Ian McKinnon in der Hölle verrotten möge, für ihre Verstoßung. Dies waren die letzten Worte gewesen, die die beiden miteinander gewechselt hatten, danach war er mit Jaime nach London abgereist.

»Nein«, sagte Shane, als hätte er gründlich über die Möglichkeit nachgedacht, seine Familie um Geld zu bitten, etwas, das Jaime ernsthaft bezweifelte. »Nicht einmal die Dame Wissenschaft kann mich dazu bringen, mich mit so viel Gift auseinander zu setzen. Glücklicherweise gibt es da noch eine andere Dame, die sich für unseren Fall interessiert.«

Die Karten glitten Jaime aus den Händen, sie rutschten raschelnd über den Tisch. »Nicht Millicent Tompkins!«

Shane runzelte die Stirn. »Millie ist sehr darum bemüht, die Interessen der Wissenschaft zu fördern.«

»Ich weiß ganz genau, welche Interessen sie fördern möchte. Oh, Shane«, ahmte Jaime ihre Falsett-Stimme nach. »Vielleicht möchte dein Neffe ein wenig warme Milch und ein paar Kekse in der Küche zu sich nehmen, während wir beide uns oben unterhalten.« Jaime griff erneut nach den Karten und rollte sie viel zu fest zusammen. »Es genügt nicht, dass sie dich zwei Nächte in der Woche für sich hat, für ihre ›Unterhaltungen‹.«

Jaime erntete einen nachdenklichen Blick. »Wie es scheint, ist mal eine Unterhaltung zwischen uns beiden fällig.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Darüber weiß ich Bescheid.« Jaime schob sich an Shane vorbei und versuchte, den Ärger abzuschütteln, der ihn bei der Vorstellung gepackt hatte, dass Millicent Tompkins Shanes Expedition finanzierte. Was wäre, wenn die Frau darauf bestand, sie zu begleiten? Ein eisiger Schauder rann über Jaimes Rücken. Was wäre, wenn Shane sich in die Witwe verliebte und sie schließlich heiratete? Was würde dann aus Jaime werden? Wieder ein einsamer Junge ... oder zu einem anderen Verwandten abgeschoben, der nicht so freundlich oder sanft mit ihm umginge wie Shane. »Sie sieht dich an, als wärst du eine köstliche Süßigkeit und sie könne es gar nicht erwarten, dich zwischen ihre Zähne zu bekommen.«

»Da das ziemlich genau meinen Gefühlen für Millie entspricht, stimme ich dir gern zu. Trotzdem hasse ich es, von ihr Geld annehmen zu müssen.«

»Warum?« Jaime wirbelte empört herum. »Nach allem, was ich gesehen habe, hast du hart dafür gearbeitet, es dir zu verdienen.«

Shane warf den Kopf zurück und lachte; damit machte er die von Jaime erhoffte Wirkung zunichte und beschämte ihn. »Millie ist eine zauberhafte, intelligente Frau, deren Gesellschaft ich seit mehr Jahren genieße, als du auf der Welt bist«, versuchte Shane seine Erheiterung zu überspielen und fuhr Jaime noch einmal durch seine Locken. »Man hat mir schon vieles vorgeworfen, wenn es um Frauen geht – aber noch niemals die Tatsache, dass ich sie nur wegen ihres Geldes liebe.«

Mit einer eleganten Bewegung warf Shane seine Jacke mit der Kapuze über den Arm, griff nach dem Kartenbehälter und seinem Koffer. Jaime seufzte. Es hatte keinen Zweck, sich mit Shane zu streiten. Schon sehr bald hatte Jaime begriffen, dass ein Eingreifen des Himmels nötig war, um den einmal gefassten Entschluss zu ändern, wenn sich sein Onkel etwas in den Kopf gesetzt hatte.

»Lass uns Millie für einen Augenblick vergessen«, meinte er und reichte Jaime seine Mappe; dann versicherte er sich, ob sie auch sorgfältig geschlossen war. Auf dem Weg nach Burlington House hatte es ein kleines Unglück gegeben, als Jaime sich der Mappe bemächtigen wollte ...

»Wir haben ein Jahr Zeit«, wiederholte Shane. »Ein ganzes Jahr, um das Geld zusammenzubekommen und den genauen Ort zu bestimmen, an den wir unsere Hintern verfrachten müssen für diese verdammten Fotos.« Als Jaime hinter Shane herlief, blieb dieser noch einmal stehen und sah sich ein letztes Mal in dem Raum um. »Ich war noch nie in Amerika, Jaime. Wie ich gehört habe, kann man in dem klaren Himmel der Wüste im Westen die unglaublichsten Dinge entdecken. Aber nichts ist vergleichbar mit der Sonnenfinsternis selbst. Nicht viele Menschen erleben eine totale Sonnenfinsternis. Totalität nennt man das. Es ist ein seltenes Geschenk. Ein Geschenk des Mondes.« Shane lächelte, dann schob er Jaime zur Tür. »So Gott will, werden wir beide das nächste Mal dabei sein und jede einzelne Sekunde davon genießen.«

2. KAPITEL

Der Legende nach war der Zauber des Kalebassenbaumes verantwortlich dafür, dass die Tochter des Herrschers der Unterwelt in ihr Haus zurückkehrte und Zwillinge empfing.

Notizen Edward Babcocks über das Popol Vuh, Tagebuch III

Cincinnati, Ohio, 1877

»Und meiner geliebten Tochter Polly hinterlasse ich meinen wertvollsten Besitz ...«

Dr. Polly Babcock schüttelte den Kopf auf dem Federkissen, sie war gefangen in den Bildern ihres Albtraumes. Sie war wieder in diesem trüben Zimmer in Boston. Der Anwalt saß am Ende des langen Tisches. Sein verzerrtes Bild spiegelte sich in dem polierten Holz wider und ließ den Mann noch ausgemergelter erscheinen. Cass, ihr Zwillingsbruder, lehnte sich in den Ohrensessel zurück und tat so, als ginge ihn das Ganze keinen Deut etwas an. Doch Polly wusste es besser. Innerlich beschwor er sie mit aller Leidenschaft, das Erbe ihres Vaters zu vergessen.

»... dir, Polly, hinterlasse ich meine Tagebücher, die ausführliche Notizen über meine Suche nach dem größten Schatz aller Zeiten enthalten – der Träne der Mondgöttin.«

Ihre Finger krallten sich in die verschwitzten Laken. Hatte sie nicht schon vor Jahren der fixen Idee ihres Vaters den Rücken gekehrt? Es sah dem großen Edward Babcock, dem Archäologen aus Amerika, ähnlich, seine kalte Hand aus dem Grab zu recken und sie dazu zu bringen, seine Befehle zu befolgen.

»Ich hege die inbrünstige Hoffnung, dass du, meine Tochter, mein Vorhaben aufnimmst und das Schmuckstück findest, das sich mir entzogen hat. Wenn du die Entscheidung triffst, meine Suche fortzusetzen, dann verspreche ich dir das größte Abenteuer deines Lebens.«

Abenteuer. Jawohl, ihr Vater hatte immer Abenteuer erlebt. Wenigstens gemäß seiner Definition dieses Begriffes. Endlose Stunden im feuchten Dschungel, meterweise Moskitonetze über schwerer Kleidung, ständige Ausschläge und immer wieder Fieber. Polly hatte zahllose Erinnerungen an Abenteuer, während derer sie und ihre Mutter vergebens gegen das Unterholz des Dschungels ankämpften, während ihre Arme schmerzten und nach Ruhe verlangten – während Cass in irgendeinem Bungalow seine Wunden leckte, in dem sie jeweils zu Hause waren. Aber niemals hatte es Liebe gegeben. Niemals Akzeptanz.

»Denke daran«, sprach die monotone Stimme des Anwaltes weiter, als er die Worte ihres Vaters verlas, »die Träne der Mondgöttin besitzt heilende Kräfte. Es ist mein tief sitzender Glaube, dass der Bruch zwischen uns geheilt werden wird, wenn du diesen Schatz findest. Wenn du ihn in Händen hältst, wirst du mir meine Sünden vergeben und mir nicht mehr zum Vorwurf machen, dass ich immer nur diesem heilenden Stein nachgejagt bin. Tu es für mich, Polly. Tu es, weil du mich einmal geliebt hast.«

Und genau diese letzten Worte hatten ihr Schicksal besiegelt. Nicht, weil er von Liebe sprach, sondern eher, weil er den Mangel daran angedeutet hatte.

Weil sie ihn einmal geliebt hatte? Er war gestorben in dem Glauben, die Tochter verloren zu haben.

Eingehüllt in den Nebel ihres Albtraumes stand der Anwalt vor ihr, seine hagere Gestalt kam auf sie zu. Vor sich her trug er einen Stapel Tagebücher, eingebunden in rotes, marokkanisches Leder. Er hielt sie in seinen ausgestreckten Händen wie eine Opfergabe. Die Tagebücher schimmerten, verwandelten sich in eine tränenförmige Perle von doppelter Faustgröße. Eine auffällige Jadescheibe, mit Maya-Hieroglyphen von Ixchel, der Mondgöttin, verziert, umgab die Perle. Wieder schimmerte das Arrangement vor ihren Augen wie ein Trugbild. Die Träne der Mondgöttin wurde zu einer Rolle schwerer Ketten, die der Anwalt in Händen hielt. Hinter sich her zog er eine eiserne Kugel.

Cass sprang auf die Beine. Er schüttelte den Kopf. »Nein!«, schrie er.

Weil du mich einmal geliebt hast. Der dicke schwarze Stoff ihres Trauerkleides wurde noch schwerer und hielt sie auf ihrem Stuhl fest. Sie sah, wie sich der Anwalt niederkniete und den metallenen Verschluss der Kugel um ihren Knöchel legte ...

»Verdammt, Polly! Wach auf!«

Polly blinzelte, sie öffnete die Augen und starrte in das Gesicht eines Engels. Cass. Und sie befand sich nicht bei einer Beerdigung in Boston, sondern in ihrem Landhaus in Cincinnati, das sie und der Zwillingsbruder von Elizabeth Babcock, ihrer Mutter, geerbt hatten. Sie sank in die Kissen zurück und seufzte, dankbar, dass dieser beklemmende Albtraum vorüber war. In jeder Nacht der letzten Woche hatten ihr die gleichen, unheimlichen Bilder den Schlaf geraubt. Inständig hatte sie gehofft, dass heute Nacht ...

Sie blickte unter dem Arm hervor, den sie über ihre Augen gelegt hatte und erblickte die gelassene Miene von Cass. Das Licht der Kerosinlampe warf einen flackernden Schein auf sein rotes Haar und die blauen Augen – Merkmale, die sie beide gemeinsam hatten, wie viele andere Dinge auch. Doch irgendwie verliehen diese körperlichen Attribute, die bei Polly einen Eindruck von zerbrechlicher Unschuld hervorriefen und Leute oft veranlasste, sie als unbedeutendes weibliches Wesen abzutun, Cass eine gewisse Autorität – er erinnerte Polly an die Statuen in der Peterskirche. Welch eine Ironie, dass so viele Menschen behaupteten, ihr Bruder befände sich auf dem geraden Weg zur Hölle!

Sie streckte die Hand aus und streichelte seine Wange, wie Schmirgelpapier fühlte sie die Bartstoppeln unter ihren Fingern. Natürlich kümmerte es Cass überhaupt nicht, was die anderen Leute dachten, und auch Polly interessierte sich nicht dafür. Sie hasste es nur, sich ihren Bruder so verzehren zu sehen wie griechisches Feuer.

»Danke, dass du mich aufgeweckt hast«, flüsterte sie.

»Ich habe dich von meinem Zimmer aus schreien gehört. Was, um alles in der Welt, hast du nur geträumt?«

Sie setzte sich auf und zog die Füße unter den Saum ihres Nachthemdes. Sofort fiel eine ganze Anzahl von Büchern vorn Bett auf den Boden. Plumps, plumps plumps.

In ihrem Schlafzimmer häuften sich die Beweise für zwei Wochen ruheloser Forschungsarbeit. Papiere, geöffnete Tagebücher, weggeworfene Federn lagen auf jeder freien Fläche herum. Der Nachttisch wies Tintenflecken auf, dort, wo Cass die Lampe hingestellt hatte. Er schraubte den Docht hoch, ein warmer Schein fiel auf das Ahornholz und hüllte den restlichen Raum in vage Schatten. Zum ersten Mal bemerkte Polly die Kleidung ihres Bruders. Er hatte das Kostüm an, das man zur Jahrhundertwende am französischen Hof trug. Der Gehrock und die Weste aus purpurnem Brokat waren mit Seidenblumen bestickt – die typische Abendgarderobe für den extravaganten Cass.

»Du hast mich von deinem Zimmer aus gehört?« Trotz der noch anhaltenden Nachwirkung ihres Albtraumes gelang es ihr, ihren Bruder mit gerunzelter Stirn zu mustern; dann warf sie einen weiteren Blick auf das Glas mit Alkohol, der im Licht der Lampe leuchtete. »Wohl eher aus der Bibliothek gegenüber, wo ich meinen guten Brandy aufbewahre!« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wie spät ist es?«

Cass lächelte. »Gerade erst viertel nach drei.«

»Und du bist schon zu Hause? ... Recht früh für dich, mein lieber Bruder! Aber es ist ja auch mitten in der Woche.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht ruhst du dich ja aus für Samstag?«

»Also.« Er rückte näher und schob die Tagesdecke beiseite. Ein weiteres Buch glitt zu Boden, doch er ignorierte es und setzte sich auf die Bettkante. Er machte es sich gerne gemütlich im Haus ihrer Mutter, obwohl es Pollys Heim war und nur hin und wieder ein Zufluchtsort für Cass. Er nahm sein Glas in die Hand. »Du siehst aus, als würdest du das hier mehr brauchen als ich«, meinte er. »Also erzähle mir von dem Albtraum, der dich im Schlaf hat schreien lassen.«

Sie kuschelte sich an ihn und nahm das Glas in beide Hände. Er roch nach Tabak und süßem, aufdringlichem Parfüm. Sie zog die Nase kraus. »Orchidee! Ein überwältigender Duft!«

»Lucinda ist auch eine überwältigende Lady.«

Polly konnte nicht verhindern, dass sich bei dem Gedanken an Cass und eine weitere romantische Beziehung ihr Herz zusammenzog. Alle waren Witwen und immer reich. Sie seufzte. Noch ein Erbe ihres Vaters.

»Hast du wieder von Vater geträumt?«

»Um ehrlich zu sein, ja, das stimmt«, sagte sie und nippte an dem Brandy; sie fühlte, wie die Wärme durch ihren Körper rann.

Er drehte ihr Gesicht zu sich. »Du hast dunkle Ringe unter den Augen.«

Sie schob seine Hand weg. »Meine Augen werden schon wieder klar, wenn ich nur ordentlich geschlafen habe«, behauptete sie und dachte an die Woche mit den schlaflosen Nächten. »Ich träume nur so häufig von Boston.«

»Oh, um Himmels willen! Vergiss all diesen erbärmlichen Unsinn in seinem Testament. ›Vergebt mir, meine geliebten Kinder‹«, wiederholte er. »Was für ein Blödsinn! Das lässt sich leicht hinsagen nach siebenundzwanzig Jahren der Vernachlässigung.«

Polly berührte leicht seine Finger. »Cass? Ich glaube wirklich, dass ihm einige seiner Entscheidungen Leid getan haben.«

»Und welche sollen das, bitte schön, gewesen sein?« Das Licht der Lampe spiegelte sich in den Augen ihres Bruders, als er aufstand. »Die Entscheidung, seine zehnjährige Tochter tagelang nicht schlafen zu lassen, damit sie ein Manuskript abschrieb, das zu einem bestimmten Termin bei seinem Verleger sein musste? Weil – immerhin – nur du und Mutter seine klauenartigen Kritzeleien lesen konnten und Mutter zu krank war mit ihrem hohen Fieber, um die Aufgabe zu übernehmen. Oder vielleicht hat er es bedauert, den Rohrstock auf meinem Rücken tanzen zu lassen, wann immer es mir nicht gelang, die Seiten aus dem Popol Vuh auswendig zu zitieren?« Er sah verächtlich zur Seite. »Herrje! Ich könnte bis morgen früh weitermachen mit Beispielen.«

Abgrundtiefe Bitterkeit lag in der Stimme ihres Zwillingsbruders. Polly meinte beinahe zu hören, wie er daran erstickte. Ihr Vater war unverzeihlich streng gewesen; er hatte Cass förmlich in die Rebellion getrieben und die Schraube von Missetaten und Bestrafungen immer weiter angezogen, die das Verhältnis von Vater und Sohn bestimmten. Nur Polly und ihrer Mutter, die beide stets darum bemüht gewesen waren, ihm zu gefallen, hatte Edward Babcock das seltene Geschenk seines Wohlwollens zukommen lassen – und selbst das blieb nach dem Tod ihrer Mutter aus.

Doch nach wie vor fiel es Polly schwer, die guten Zeiten zu vergessen: die Geschichte, die ihr Vater ihr mit einer solchen Begeisterung vermittelt hatte, die Verwunderung in seiner Stimme, als er sie durch Ruinen geführt hatte, die von lang ausgestorbenen Zivilisationen belebt gewesen waren. Im Gegensatz zu Cass konnte sie ihren Vater nicht nur verurteilen. Oft hatte sie ihn sogar bewundert.

Polly starrte auf ihre Hand, die das Brandyglas so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Er wollte, dass wir große Gelehrte würden«, erklärte sie und mochte kaum glauben, dass sie ihn verteidigte. »Er hat gedacht, wir bräuchten Disziplin.«

»Oh, bitte, erspare mir die Entschuldigungen, Polly! Er hat unsere Mutter umgebracht mit seiner Besessenheit von diesem Stein. Selbst als sie todkrank war mit Malaria, wollte er den Dschungel nicht verlassen.« Er nahm ihr das Glas aus der Hand. Dann hielt er ihre Finger so fest zwischen seinen, dass es schmerzte; er sank neben dem Bett auf die Knie, und sein Blick war entgegen seiner Art sehr ernst. »Lass nicht zu, dass seine Besessenheit dich wie eine Krankheit ansteckt. Verbrenne diese elenden Tagebücher!«

Eine Weile herrschte Schweigen, dann flüsterte Polly: »Ich habe sie gestern Abend zu Ende gelesen.«

Das Licht in Cass' Augen erlosch. Er ließ Pollys Hand wieder los. »Du wirst es tun. Du wirst seine Jagd aufnehmen ...«

»Cass, versteh doch bitte ...«

»Nein! Du musst verstehen!«, schrie er und stand auf. »Nur einmal sollst du unseren Vater so sehen, wie er wirklich war, nicht wie ein Vorbild, das man anbetet, – nur weil er behauptete, er besitze eine höhere Berufung. Er benutzt dich. Sogar nach seinem Tod benutzt er dich noch.«

»Glaubst du nicht, dass ich das weiß? Ich habe ihn auch verlassen, Cass«, sagte sie und erhob ihre Stimme zu der gleichen Lautstärke wie die ihres Bruders. »Als ich gesehen habe, wie er Mutter behandelte, als sie starb, habe ich ihn seinen Grabungen überlassen und habe es nie bedauert. Ich bin bei weitem nicht so naiv und bereit zur Vergebung, wie du es vielleicht annimmst. Ich tue das nicht für ihn – sondern für mich selbst. Mit zwanzig Jahren seines Lebens und seiner Träume habe ich mich beschäftigt, als ich diese Tagebücher las. Und zum ersten Mal ahne ich, dass ich ihn verstehe. Ich muss ihn verstehen. Und deshalb werde ich den heilenden Stein finden.«

»Um Himmels willen!« Er trat einen Schritt zurück. »Die Legende hat auch dich gepackt. Du bist genauso verrückt, wie er es gewesen ist.«

Polly sank zurück in die Kissen, all ihr Mut war verschwunden. Vielleicht hatte Cass ja Recht. Dennoch war bei der Lektüre der Tagebücher ihres Vaters ein unbewusstes Verlangen in ihr gewachsen, das sie nicht ignorieren konnte. Ein Instinkt. Ein Impuls. In den letzten beiden Wochen hatte sie jede freie Minute mit dem Lesen dieser Aufzeichnungen zugebracht; manchmal hatte sie sich sogar den Schlaf versagt, bis langsam, Tag um Tag, Wort um Wort, seine Geschichte die Wucht einer Wagner-Oper angenommen hatte, die sich aufbaute, steigerte und schließlich zum Höhepunkt der Ergriffenheit führte.

Und dann hatte diese kleine Stimme begonnen. Los, Polly. Es ist die Reise deines Herzens.

Sie vernahm die Worte noch immer. Sie waren so deutlich erklungen, dass sie tatsächlich in der Dunkelheit nach demjenigen gesucht hatte, der sie ausgesprochen haben mochte. Doch die Stimme war aus ihrem Inneren gekommen, und auf einmal erinnerte sie sich daran, dass sie eine ähnliche Stimme in ihrer Kindheit gehört hatte. Doch damals hielt sie diese für Gott, der ihre Ängste beruhigte zu Zeiten, in denen sie ihn am nötigsten brauchte.

Diese Stimme hatte etwas in ihr ausgelöst – einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wenn nun die Macht des heilenden Steines Wirklichkeit wäre? Die Beweise, die ihr Vater gesammelt hatte, um diesen Glauben zu festigen, benahmen ihr in ihrer Glaubwürdigkeit fast den Atem. Sie gab zu, dass die Ansicht ihres Vaters sie verführt hatte. Eine Perle, die heilen konnte! Was konnte ein solches Kleinod bedeuten für eine Welt voller Krankheit und Tod? Was würde ein solcher Stein in den richtigen Händen vollbringen?

Wenn du ihn in Händen hältst, wirst du mir meine Sünden vergeben und mir nicht mehr zum Vorwurf machen, dass ich immer nur diesem heilenden Stein nachgejagt bin.

Wäre ein solcher Gegenstand nicht jedes Opfer wert?

Los, Polly. Es ist die Reise deines Herzens!

Und dann setzten immer die Albträume ein – die Augen des Anwalts, die blickten wie die eines Beerdigungsunternehmers, Cass' Proteste, die Fesseln um ihre Knöchel. Er benutzt dich, Polly. Sogar nach seinem Tod benutzt er dich noch.

»Wenn das, woran Vater geglaubt hat, die Wahrheit ist«, begann sie vorsichtig, »wenn die Träne der Mondgöttin wirklich ein heilender Stein ist – glaubst du dann nicht, dass die Welt ihn gut vertragen könnte, Cass?«

»Es ist eine Perle. Eine unverschämt große Perle, in einer hübschen rosa Farbe, mit einer hübschen Fassung aus Jade, aber trotzdem bleibt es nur eine Perle. Sie kann niemandem helfen. Selbst wenn du noch nie auf mich gehört hast, Polly, dann fang jetzt damit an«, bat er. »Verbrenne diese Bücher!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin es leid, vor ihm davonzulaufen, Cass. Stattdessen habe ich zehn Jahre akademische Erfolge hinter mich gebracht – oder vielleicht trifft das Wort Exzess es besser. Ich habe keinen Ehemann, keine Kinder, und mir ist endlich klar geworden, dass ich beides abgelehnt habe, aus Sorge, sie zu vernachlässigen – genau wie Vater uns vernachlässigt hat ...«

»Um Himmels willen, Polly ...«

»Nein, lass mich ausreden. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, und meine Ängste haben mich zu einem Abbild von Edward gemacht. Es wird Zeit, mich der Vergangenheit zu stellen. In meinem Herzen glaube ich, dass diese Suche nach der Träne der Mondgöttin die Heilung sein könnte, die ich brauche, um die Geister loszuwerden. Es ist eine Reise für meine Seele, Cass. Eine Arznei für meinen Geist.«

In dem schwachen Licht der einzigen Lampe beobachtete Cass sie mit dem Einfühlungsvermögen, das nur ein Zwilling für den anderen aufbringt. Die Kaminuhr tickte, während sie beide verstummt waren.

Cass wandte sich ab, der übertrieben lange Schwalbenschwanz seines Gehrockes flatterte hinter ihm her. Er lief durch das Zimmer und hob dann eines der Bücher auf, das sie offen auf dem Sitz eines Sessels hatte liegen lassen. Er legte es über die Armlehne des Sessels, damit sie wusste, an welcher Stelle sie war. »Eine Arznei für deinen Geist?« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich sei derjenige mit der poetischen Ader.« Er ließ sich in den Sessel sinken, legte die Beine hoch und lehnte sich zurück. »Himmel!« Er seufzte tief auf. »Und ich verabscheue Ausgrabungen.«

Ein winziger Teil der Furcht, die ihr Herz gefangen hielt, löste sich. »Du brauchst nicht mitzukommen, Cass«, sagte sie etwas verzagt und sehnte sich verzweifelt danach, dass er ihr widersprach.

»Den Teufel brauche ich!«

Noch ein Teil ihrer Furcht schwand. Es war schon lange her, seit Cass es als seine Aufgabe betrachtete, sie zu beschützen. »Immerhin ist dies meine Besessenheit, wie du es nennst.«

»Genau. Und du brauchst einen Schutzpatron, dass sie dich nicht bei lebendigem Leibe verschlingt – wie sie es bei dem berüchtigten Edward Babcock getan hat.« Er stand auf, seine Augen glänzten ruhelos. »Ich lasse dir das Glas mit dem Brandy hier. Die Flasche nehme ich zur Sicherheit mit in mein Bett.« An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ach übrigens, wohin fahren wir denn?«

»Ich bin noch nicht sicher«, sagte sie und hätte beinahe vor schwindliger Erleichterung gelacht. Schon jetzt wirkte ihre Entscheidung positiv, wenn sie bedeutete, dass sie dadurch Cass von seinen Spielhallen und Witwen fern hielt. »In das Gebiet von Arizona, denke ich.«

»Du liebe Güte! In die glühende Hitze der Wüste«, murmelte er, beinahe wie zu sich selbst. »Ich kann es kaum erwarten!« Dann salutierte er knapp. »Gute Nacht, liebste Schwester. Das Glühwürmchen zeigt, dass der Morgen nicht mehr fern ist und sein ineffektives Feuer beginnt zu verblassen.«

Ein Lächeln lag um ihren Mund. »Hamlet?«

Er sah überrascht aus. »Du bist echt gut, Polly!«

»Du hast das Buch offen auf dem Tisch der Bibliothek liegen gelassen.«

»Ah! Die berühmte Kunst der Schlussfolgerung der Babcocks! Ich muss vorsichtiger sein.« Sein Blick huschte durch den unordentlichen Raum. »Wie es scheint, habe ich in letzter Zeit einige deiner weniger ersprießlichen Eigenschaften angenommen.«

Als sich die Tür hinter ihm schloss, hätte Polly am liebsten vor Freude laut aufgeschrien. Vielleicht brauchte Cass das ja schon lange, damit er von seinem oberflächlichen Lebensstil abkam – vielleicht brauchten sie es beide. Eine Aufgabe – wie die Ritter, die nach dem Heiligen Gral gesucht hatten.

Sie kletterte aus dem Bett und durchblätterte die zinnoberroten Bücher auf dem Boden, viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Das Herz klopfte heftig in ihrer Brust, während ihr Kopf erfüllt war von Plänen für die kommenden Monate: Forschungen, Finanzierung, Ersatz für ihre Unterrichtsstunden am Institut für junge Damen in Mount Auburn – Finanzierung!

Sie nahm den Band, den sie gesucht hatte, in die Hand, zog die Beine unter sich aufs Bett und griff nach dem Brandyglas. Polly betrachtete das einzelne Blatt Pergament, das sie gestern Abend zwischen den Seiten entdeckt hatte. Es war in Maya-Hieroglyphen geschrieben. Sie erkannte nur das Bild der Frau mit der Haarlocke an der Schläfe, die aussah wie ein umgekehrtes Fragezeichen – die Mondgöttin.

Seufzend nahm Polly sich vor, das Buch des Bischofs von Landa in der Bibliothek zu suchen. Der Kirchenmann aus dem sechzehnten Jahrhundert hatte ein primitives Alphabet einiger Maya-Hieroglyphen beschrieben. Sie blickte auf dasjenige Tagebuch, in dem Edward Babcock seine Reise von Yucatan bis in den Westen Amerikas geschildert hatte. Aus einem Impuls heraus blätterte sie zur letzten Seite. Dort stand:

Die Träne der Mondgöttin besitzt geheimnisvolle Kräfte, Kräfte, die niemals von dieser Welt hätten verschwinden dürfen. Diese Magie zurückzubringen wird mein Geschenk an die Maya sein. Ein Geschenk des Mondes.

3. KAPITEL

Die Maid entkam dem Tod und der Unterwelt, um Söhne zu gebären Hunahpu und Ixbalanque, die Zwillings-Helden der Ursprungs-Mythen der Maya. Ich habe oft gedacht, dass ich meine beiden nach ihnen hätte benennen sollen.

Edward Babcocks Notizen über das Popol Vuh, Tagebuch III

Prescott, Arizona, 1878

»Allmächtiger! Hölle auf Erden!«