Einleitung
Mit dem Evangelium kann man keine Politik machen?
»Kümmern Sie sich mal lieber um das Seelenheil Ihrer Schäfchen und überlassen Sie uns die Politik!«
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen oder ähnlich lautende Appelle schon gehört habe. Meistens kommen solche Ermahnungen aus dem Mund von Politikerinnen und Politikern christlicher Parteien – vor allem dann, wenn sich die christlichen Kirchen zu brisanten gesellschaftlichen Fragen äußern oder gar das Handeln von Regierenden öffentlich kritisieren.
Im Februar 2015 sorgte der damalige Innenminister Thomas De Maizìere für eine heftige Diskussion, als er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Haltung der Christen in der Asylpolitik kritisierte. Vor allem die vielen Kirchenasyle waren ihm ein Dorn im Auge. »Ja, das geht eben nicht, dass eine Institution sagt: ›Ich entscheide jetzt mal, mich über das Recht zu setzen.‹ Ich will mal ein etwas anderes Beispiel nehmen: Die Scharia ist auch eine Art Gesetz für Muslime, sie kann aber in keinem Fall über deutschen Gesetzen stehen« (DLF 08.02.15). Der Minister erntete dafür heftige Kritik aus den Kirchen, aber auch aus der eigenen Partei. Wenig später relativierte er den Scharia-Vergleich.
Nicht erst beim Stichwort »Scharia« fangen die Alarmglocken zu tönen an. Droht eine Vermischung von Religion und Politik, die, wie es der Innen- und Verfassungsminister damals befürchtete, vielleicht sogar den Rechtsstaat und damit das Grundgesetz infrage stellt?
Für mich nur ein weiteres Beispiel für einen Grundkonflikt, in dem wir uns als Gesellschaft derzeit befinden. Es gibt zwar immer weniger Christen in Deutschland und überhaupt geht die Zahl der Menschen mit einem religiösen Bekenntnis zurück. Gleichzeitig ist Religion ein öffentliches Thema wie schon lange nicht mehr. Und das liegt nicht nur an den vielen Diskussionen rund um den Islam.
Einerseits ziehen Politikerinnen und Politiker – nicht Kirchenvertreter! – den Begriff des Christlichen ständig in die politische Debatte, wenn sie in Parlamenten, in Interviews und auf der Straße davon sprechen, das Christentum gehöre zu Deutschland, und damit ausgesprochen oder indirekt ausdrücken: der Islam nicht. Damit machen sie das Christentum zum Gegenstand von Politik.
Das Christliche erscheint mir dabei vor allem zu einer Art Sammelbegriff für all das geworden zu sein, was man gegen den Islam an Haltungen, Werten und Gebräuchen anzubringen versucht. Laut tönen Rechtspopulisten, aber auch manche Vertreter christlicher Parteien, die »christlich-abendländische Tradition« müsse gegen den Islam verteidigt werden. Die christlich-jüdische Prägung Deutschlands wird behauptet, um vor einer vermeintlichen Überfremdung durch den Islam zu warnen. Diese durch Politiker demonstrierte und beschworene christliche Prägung gilt als Garant für Freiheitsrechte, Menschenwürde und Demokratie.
Ich wundere mich immer wieder über die Geschichtsvergessenheit, die einem solchen Denken anhaftet. Wie kann man ausblenden, dass uns genau diese Prägung nicht davor bewahrt hat, im zwanzigsten Jahrhundert einer menschenverachtenden und todbringenden Ideologie zu verfallen, die vielen Millionen Menschen die staatlich angeordnete Ermordung in Konzentrationslagern oder den sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld brachte? Wie kann man vergessen, dass die angeblich jüdisch-christliche Prägung unseres Landes über Jahrhunderte vor allem darin bestand, dass Christen Juden verfolgten, ermordeten und für politische Zwecke missbrauchten? In dieser Tradition war die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung 1933 übrigens der festen Überzeugung, das Judentum gehöre nicht zu Deutschland.
Während also einerseits Religion durch Vertreter der Politik zum Thema gemacht wird, mischen sich andererseits tatsächlich mittlerweile auch immer mehr Christen oder offizielle Repräsentanten der Kirchen in politische Diskussionen ein. Nach meinem Eindruck geschieht dies jedoch meistens eher als Reaktion auf die Politik. Immer häufiger geht es bei solchen Äußerungen darum, sich das Christliche nicht durch Äußerungen oder Aktionen von Politikerinnen und Politikern wegnehmen zu lassen. Der Vorwurf steht im Raum, das Christentum werde hier für politische Zwecke missbraucht, zum Beispiel für eine Politik der Abgrenzung gegenüber dem Islam. Wobei der Islam eher als Platzhalter für das größere Thema Zuwanderung steht.
Tatsache ist also: Es geht gar nicht mehr um die Frage, ob Religion überhaupt eine Rolle in der Politik spielen darf. Das tut sie nämlich längst. Und sie wird es auch weiterhin tun. Da hilft es wenig, wenn eingefleischte und fundamentale Verfechter einer Trennung von Staat und Kirche bei jeder Gelegenheit tönen: »Religion ist Privatsache!« und auf das Unheil hinweisen, das in der Geschichte durch eben diese Verbindung von Religion und Politik über die Menschheit gekommen ist. Dem Schlagwort »Scharia« werden dann noch die »Kreuzzüge« und die »Hexenverbrennung« an die Seite gestellt, und schon ist das Angstszenario einer unheilvollen Vermischung von Politik und Religion perfekt. Dabei steht hinter jedem dieser Begriffe tatsächlich eine Geschichte, die zeigt, wohin es führen kann, wenn Religion und Politik sich gegenseitig benutzen. Aber helfen uns Diskussionen weiter, die sich auf Schlagworte beschränken, die zunehmend zu Kampfbegriffen aufgeladen werden?
Warum landet beinahe jede Debatte um das Verhältnis von Christentum und Politik nach wenigen Sätzen bei der missbräuchlichen Verwendung des einen durch das andere? Als ob es nicht auch so etwas geben könnte wie ein positives politisches Engagement, das seine Motivation aus der eigenen Religion bezieht. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Religion umso mehr zum politischen Streitthema wird, je weniger inhaltlich gefüllt ist, was christliche Werte eigentlich sind. Nicht ohne Grund wird inzwischen immer wieder darüber gewitzelt, dass die tapfersten Verteidiger des christlichen Abendlandes in den Reihen derer zu finden sind, die wenig bis gar keine Kenntnis oder eigene Erfahrung mit dem Christentum verbindet.
Deshalb ist es für mich an der Zeit, jenseits der Schlagworte ernsthaft und mit Inhalten gefüllt die Frage zu stellen: Darf es so etwas geben wie ein politisch engagiertes Christentum? Oder muss es vielleicht sogar so etwas geben wie eine Neuentdeckung eines christlich begründeten politischen Engagements? In welchem Verhältnis stehen politisches Christentum und Rechtsstaat oder politisches Engagement von Christen und Demokratie tatsächlich zueinander?
Alte Beschreibungen einer christlichen Politik scheinen nicht mehr zu überzeugen. Sie spielen zumindest gegenwärtig kaum noch eine Rolle. Dabei haben sie schließlich einmal zu den Parteien geführt, die heute noch ein »C« im Namen tragen. Immer häufiger wird aber infrage gestellt – nicht zuletzt aus den Reihen der Kirchen –, dass die Politik der christlichen Parteien tatsächlich auch christlich ist. Was aber ist »christliche Politik«? Woran ist sie zu erkennen? Es ist an der Zeit, diese Frage inhaltlich zu beantworten und sich damit zu befassen, was die christliche Botschaft, was das Handeln und die Predigt Jesu mit Politik zu tun haben. Dafür braucht es einen Blick in die Bibel.
Von Reichskanzler Bismarck stammt angeblich der Ausspruch: »Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen!« Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß haben diesen Satz später ebenso bemüht wie viele andere, weniger bekannte Politikerinnen und Politiker. Sie alle hielten es entweder für naiv oder für gefährlich, wenn sich Menschen mit Verweis auf die Bibel in politische Diskussionen einschalteten. Man kann und muss also darüber streiten, ob die Bibel dazu geeignet ist, um unmittelbar und konkret Politik zu machen. Aber die biblische Spurensuche nach dem politischen Gehalt des Evangeliums wird zeigen, dass die christliche Botschaft von Anfang an auch politisch verstanden wurde und dass dies Jesus selbst bereits bewusst war. Davon zeugt nicht zuletzt der Auftrag Jesu an die Frauen und Männer, die sich ihm angeschlossen hatten: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein« (Markus 10,42–43). Die Frage wird zu stellen sein, was dieses »Dienen« übertragen in unsere heutige Gesellschaft bedeutet. Der Auftrag Jesu formuliert eine Alternative zu den herkömmlichen Formen der Machtausübung. Wie müsste eine Politik heute aussehen, die sich von diesem Satz leiten lässt? Gibt es tatsächlich so etwas wie eine christlich-alternative Politik?
Neben den aktuellen Ereignissen, die mich dazu drängen, eine Antwort auf die Frage nach einem politisch engagierten Christentum zu stellen, gibt es zwei weitere Motive, die mich bewegen. Das eine verbindet sich für mich mit dem Begriff »historische Verantwortung«, das andere hat mit meiner persönlichen Biografie zu tun.
Mit »historischer Verantwortung« meine ich das weitgehende Schweigen der Christen in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Blick in die Geschichte lehrt, dass Schweigen und ein Sich-Heraushalten mindestens genauso verheerende politische Folgen haben können wie ein Sich-Einmischen. Es gab einzelne mutige Menschen, die aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus nicht weggeschaut haben, sich nicht heraushalten konnten und laut Protest angemeldet haben – auch in der Zeit des Nationalsozialismus. Aber es waren viel zu wenige! Es wurde zu viel geschwiegen und es wurde zu wenig gehandelt.
Beeindruckend für mich war dagegen das Engagement der Kirchen in den letzten Monaten der DDR. Die Kirchen wurden zum Ort des Protestes gegen die Diktatur, boten Raum für die freie Rede und achteten gleichzeitig auf die konsequente Gewaltlosigkeit des Widerstands. Dieser Form des politischen Engagements der Kirchen ist es vermutlich mit zu verdanken, dass die Wende ohne Blutvergießen vollzogen wurde.
Der Blick in die Geschichte macht zumindest eines deutlich: Ganz gleich, ob Christen sich bewusst in die Politik eingeschaltet haben oder aber zugesehen und geschwiegen haben – beide Wege haben Auswirkungen auf die Politik. Die Entscheidung, sich vor dem Hintergrund der eigenen Glaubensüberzeugung zu engagieren, und die Entscheidung, sich mit dem Glauben ins Private zurückzuziehen, sind – ob bewusst oder nicht, ob gewollt oder nicht – jeweils politische Entscheidungen.
Für mich ergibt sich gerade vor diesem historischen Hintergrund angesichts der aktuellen politischen Instrumentalisierung von Religion durch Populisten und Fundamentalisten die Notwendigkeit, sich als Christ einzumischen. Wir dürfen nicht denen das Feld überlassen, die das Christentum vor allem dazu verwenden, um Abgrenzung gegenüber anderen Menschen und ihrer Religion zu betreiben. Diese Stimmen nehme ich zurzeit in der politischen Diskussion sehr laut und dominierend wahr.
Leise oder zumindest zurückhaltend erscheinen mir dagegen die Stimmen derer, die sich aus einem christlichen Antrieb heraus für andere Menschen engagieren und dabei nicht ausgrenzend gegen andere handeln, sondern sich positiv für christliche Werte in der Gesellschaft einsetzen und dies bewusst gemeinsam mit Menschen aus anderen Ländern oder Religionen tun. Es ist an der Zeit, dass wir laut werden! Laut im Sinne von »deutlich und selbstbewusst«. Die christliche Botschaft ist nicht Bollwerk gegen andere Menschen! Sie hat das Potenzial, das friedliche Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen in unserer Gesellschaft zu fördern. Ja, das ist eine politische Botschaft. Stehen wir dazu!
Überlassen wir nicht denen das Feld, die das Christentum dazu missbrauchen, um gegen andere Menschen zu hetzen oder für die das Christentum nur ein anderer Begriff ist für »konservativ sein«. Wenn es so etwas gibt wie ein Lernen aus der Geschichte oder zumindest historische Verantwortung, dann bedeutet dies für mich: Machen wir nicht wieder den Fehler, zu lange zu schweigen, wegzuschauen und uns als Christen nur um die eigenen innerkirchlichen Belange zu kümmern!
Schließlich bewegt mich ein ganz persönlicher, biografischer Grund dazu, für ein politisch engagiertes Christentum einzutreten. Ich war es schon als Kind gewohnt, dass bei uns zu Hause am Mittagstisch über Politik diskutiert wurde. Meinen Eltern bin ich für diese Atmosphäre der Offenheit gegenüber politischen Themen, des kritischen Fragens und gleichzeitig des geerdeten Christseins sehr dankbar. In der kirchlichen Jugendarbeit habe ich schließlich in endlosen Versammlungen gelernt, wie Entscheidungen nach demokratischen Regeln getroffen werden. Es mag für manche Ohren seltsam klingen, aber ich habe der katholischen Kirche und ihrer Jugendarbeit zu verdanken, dass ich mich in Verfahrensdebatten sicher bewegen kann, dass ich zu schätzen weiß, dass die Fähigkeit zum Kompromiss kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Stärke ist. Ich habe mein politisches Bewusstsein aber auch Missionarinnen und Missionaren zu verdanken, denen ich schon als Kind und Jugendlicher in meiner Heimatgemeinde begegnet bin und die von ihrem Engagement für mehr Gerechtigkeit und gleiche Lebenschancen in benachteiligten Ländern berichtet haben. Friedensgebete, Lichterketten und Mahnwachen mit Kerzen in den Händen gehörten für mich deshalb schon immer zu meinem christlichen Glauben dazu. Mein Glaube spielte sich nie nur in heiligen Räumen oder im Privaten ab, sondern immer auch auf Straßen und in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit.
Zehn Jahre darf ich schon in einer Hochschulgemeinde arbeiten, in der ich viele junge Leute erlebt habe, deren soziales Engagement und vor allem deren waches Gewissen ich bewundere. Darunter sind auch solche, die sich mit hohem Idealismus auf einem Baum festketten, um zu verhindern, dass er gefällt wird. Es sind Leute darunter, die mutig gegen Rassismus protestieren. Ich bin jungen Menschen begegnet, die sich auf die Straße setzten, um Nazi-Aufmärsche zu verhindern und dafür mit Gerichtsverfahren überzogen wurden. Und ich erlebe viele, die eher zurückhaltend, aber mit der gleichen Deutlichkeit Woche für Woche Treffen mit Geflüchteten organisieren oder die durch ihr Engagement für Häftlinge oder für Menschen mit Behinderungen auf strukturelle Defizite in der Gesellschaft aufmerksam machen.
Gleichzeitig erlebe ich in regelmäßigen Abständen, dass ich – wenn ich zum Beispiel dieses vielfältige Engagement von Studierenden würdige – gefragt werde: »Und wie viel Kapazitäten haben Sie in Ihrer Tätigkeit für das Eigentliche?« Mit dem »Eigentlichen« sind dann häufig gottesdienstliche Angebote, Glaubensgespräche oder Bibelkreise gemeint. Als sei soziales und politisches Engagement in einer Hochschulgemeinde so etwas wie die Spielwiese neben dem »eigentlich Christlichen«.
Diese Auseinandersetzungen begleiten mein ganzes bisheriges berufliches Leben. Immer wieder ist mir der Vorwurf begegnet, ich sei zu politisch. Diesem Urteil liegt aus meiner Sicht aber ein tiefes Missverständnis der christlichen Botschaft zugrunde. Wie auch die Aufforderung, sich lieber um das »Seelenheil« zu kümmern, anstatt sich in die Politik einzumischen: Es ist die Annahme, das Christentum sei ursprünglich eigentlich unpolitisch, die Botschaft Jesus sei keine weltliche, sondern bewege sich abgehoben von der Welt und den Niederungen der Politik. Es ist das Missverständnis, die ursprünglich unpolitische Botschaft des Evangeliums sei erst im Nachhinein politisch aufgeladen und verzweckt worden. Das »Eigentliche« sei also so etwas wie ein von politischer Interpretation befreites »reines« Christentum.
Es ist mir ein ganz persönliches Anliegen, der Frage Raum zu geben, wie politisch engagiert ich als Christ und auch als Priester sein kann oder sein muss.