Craving You. Henry & Lauren

Die Autorin

Sarah Glicker – Foto © privat

Sarah Glicker, geboren 1988, lebt zusammen mit ihrer Familie im schönen Münsterland. Für die gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte gehörten Bücher von Kindesbeinen an zum Leben. Bereits in der Grundschule hat sie Geschichten geschrieben. Als Frau eines Kampfsportlers liebt sie es, Geschichten über attraktive Bad Boys zu schreiben.

Das Buch

Rich Girl meets Biker mit düsterer Vergangenheit
Lauren ist im Luxus aufgewachsen und hat immer getan, was ihre Eltern von ihr verlangt haben. Doch dann begegnet sie Henry und plötzlich ist alles anders. Der sexy Biker mit seinen Tattoos und der rebellischen Einstellung fasziniert Lauren vom ersten Augenblick an. Als er sie um ein Date bittet, sagt sie zu, obwohl sie weiß, dass es ein Fehler ist, sich auf ihn einzulassen. Immer weiter wird sie in seine Welt aus Verlangen, Lust und Gefahr hineingezogen. Bis die Grenzen zwischen richtig und falsch schließlich verschwimmen und sie nicht mehr weiß, wem sie trauen kann …

Sarah Glicker

Craving You. Henry & Lauren

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-262-2

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Teil 1

1


Seufzend lasse ich meinen Kopf auf das Lenkrad meines Mercedes Coupés sinken. Seit einer Ewigkeit stehe ich nun schon im Stau und es ist kein Ende in Sicht. Dabei hätte ich eigentlich schon vor einer halben Stunde bei meiner Freundin Jennifer sein sollen, um die Aufzeichnungen der Kurse mit ihr durchzugehen.

In drei Monaten haben wir endlich die alles entscheidenden Prüfungen und damit unser Medizinstudium abgeschlossen. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass ich auch wirklich so gut abschließe, wie ich es mir wünsche.

»Verdammt«, fluche ich, als ich mich prüfend nach rechts und links umsehe. Nirgends erkenne ich die kleinste Lücke, durch die ich meinen Wagen lenken könnte. Dabei ist der doch gar nicht so groß.

Es sind nur noch wenige Meter bis zur nächsten Kreuzung, an der ich abbiegen müsste, um endlich aus diesem Chaos zu entkommen. Mir schießen ein paar Flüche durch den Kopf, die ich gerade nur zu gerne gerufen hätte und die eindeutig nicht jugendfrei sind. Aber das kann ich mir in letzter Sekunde gerade verkneifen. Es würde ja doch nichts bringen, überlege ich, während ich wenige Zentimeter nach vorne rolle. Da kann ich mir die Mühe auch sparen.

Stattdessen hebe ich meine Hand und löse das Gummi, das meine langen blonden Haare zusammenhält und kämme sie einige Male mit den Fingern durch. In der Vergangenheit habe ich gelernt, dass es besser für meine Nerven ist, wenn meine Finger in solchen Situationen etwas zu tun haben.

Nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe, greife ich in meine Tasche und wühle solange darin herum, bis ich mein Handy gefunden habe. Schnell entferne ich die Displaysperre und scrolle durch das Telefonbuch, bis ich den Namen meiner Freundin gefunden habe. Dann drücke ich auf das grüne Symbol und halte mir das Telefon ans Ohr.

»Hi, Süße. Wo bleibst du? Ich warte schon auf dich«, begrüßt mich Jenny, noch bevor ich die Chance habe, etwas zu sagen.

»Hi«, erwidere ich, wobei ich den genervten Unterton in meiner Stimme nicht unterdrücken kann.

»Was ist los?«, fragt sie mich sofort alarmiert.

»Ich stehe mitten im Stau. Eigentlich sind es nur noch zehn Minuten, dann wäre ich bei dir, aber ich komme weder vor noch zurück.«

»Aber du kommst doch, oder?« In ihrer Stimme höre ich Unsicherheit. Kurz runzle ich die Stirn, doch ich beschließe, dass ich nicht weiter darauf eingehen werde. »Es kann sich nur noch um Stunden handeln, aber irgendwann werde ich bei dir sein«, antworte ich ihr.

»Jetzt übertreib mal nicht. Zum Glück habe ich heute nichts anderes mehr vor.«

Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sie mit den Schultern zuckt. Dieses Bild entlockt mir ein leises Lachen. »In diesem Fall bin ich mir nicht so sicher, ob ich wirklich übertreibe.«

Jennifer ist das genaue Gegenteil von mir, sie ist unter völlig anderen Umständen aufgewachsen als ich. Mein Vater ist Chefarzt in einer Privatklinik. Und nicht in irgendeiner, sondern in der berühmtesten an der Westküste. Jennys Dad hingegen gehört eine Autowerkstatt.

Am Anfang fanden meine Eltern es nicht gut, dass ich mich mit ihr treffe. Um genau zu sein, waren sie dagegen. In ihrer privilegierten Welt darf man nur mit Menschen derselben Gesellschaftsschicht verkehren. Doch in diesem Fall habe ich meinen Willen durchgesetzt. Genauso wie später bei meiner Wohnung.

»Dann sieh mal zu, dass du hier ankommst, damit wir lernen können. Wenn ich mich vorhin nicht verhört habe, haben meine Eltern entschieden, dass sie grillen wollen, sodass auch für unser leibliches Wohl gesorgt ist.«

Bei ihren Worten bildet sich ein leichtes Lächeln auf meinem Gesicht. Ich liebe meine Eltern, trotzdem ist es immer wieder schön, Zeit mit Jenny und ihrer Familie zu verbringen. Bei ihnen ist alles so viel entspannter als bei meiner Familie. Während meine Eltern sehr darauf bedacht sind, was ihre Freunde von ihnen halten, habe ich bei Jenny einfach Spaß.

»Ich beeil mich.« Mehr sage ich nicht, sondern lege auf.

Kaum ist mir ein leiser Seufzer über die Lippen gedrungen, kommt wieder etwas Bewegung in die Schlange, sodass ich meinem Ziel ein paar Meter näher rücke.

Allerdings sind es wirklich nur ein paar Meter.


Eine halbe Stunde später halte ich endlich vor dem Haus von Jennifers Eltern. In der Auffahrt zur Garage parkt ihr Wagen, während sich mitten auf dem Rasen, der den Vorgarten ziert, zwei Motorräder befinden. Ich weiß, dass das rote ihrem Bruder Lukas gehört. Er arbeitet zwar in der Werkstatt seines Vaters und wohnt auch noch zu Hause, ist aber nicht sehr oft hier. Meistens trifft er sich mit seinen Kumpels oder verbringt seine Zeit bei Motorradrennen, bei denen er auch mal als Mechaniker einspringt. Wem das zweite gehört, weiß ich nicht, aber es zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist pechschwarz. Aufkleber oder bunte Bilder gibt es keine.

Nachdem ich meinen Wagen am Straßenrand abgestellt habe, ziehe ich den Schlüssel heraus, greife nach meiner Tasche mit den Unterlagen und steige aus. Kaum habe ich das gekühlte Innere verlassen, schlägt mir die warme Luft entgegen. In der gleichen Sekunde fange ich wieder an zu schwitzen.

Bevor ich mich in Bewegung setze, werfe ich noch einen Blick auf die Maschine. Sie sieht geheimnisvoll aus, und obwohl ich keine Ahnung von Motorrädern habe, erkenne ich, dass diese Maschine Power hat.

Mit schnellen Schritten gehe ich über den Kiesweg durch den Vorgarten auf das Haus zu. Doch noch bevor ich die Tür erreicht habe, öffnet sie sich und Jenny streckt ihren Kopf heraus. »Da bist du ja endlich.«

Ich höre den erleichterten Unterton in ihrer Stimme, gehe aber nicht darauf ein. Stattdessen bleibe ich dicht vor ihr stehen und umarme sie. Als ich mich von ihr löse, lächelt sie mich an. »Ich habe schon gedacht, ich müsse den Verstand verlieren. Meinem Bruder und seinem Kumpel zuzuhören ist echt nicht lustig.« Während sie spricht, verdreht sie die Augen, und ich muss lachen.

»Ach komm schon. Ich weiß, dass du jede Minute mit Lukas genießt«, wende ich ein. Obwohl die beiden Geschwister sich gerne gegenseitig aufziehen, halten sie doch zusammen und sind unzertrennlich.

»Ja, du hast recht. Aber von zwei Typen umgeben zu sein, die beide meinen, sie wären die größten Helden der Stadt, ist nicht einfach. Zwei Alpha-Männchen, wie sie im Buche stehen. Ohne weibliche Unterstützung steuere ich geradewegs in eine Katastrophe hinein. Zum Glück sind sie erst gekommen, nachdem du angerufen hattest.«

»Und wieso bist du nicht in dein Zimmer geflüchtet?«, erkundige ich mich.

»Ich muss doch wissen, über wen die beiden lästern. Wie soll ich denn sonst auf dem Laufenden bleiben?« Geschockt verzieht Jenny das Gesicht.

Sie und Lukas verstehen sich gut mit ihren Eltern. Und das nicht nur oberflächlich, wie es bei mir und meiner Familie der Fall ist. Ich bin mir sicher, dass ihre Mom und ihr Dad alles über sie wissen. Genauso, wie sie ihre Kinder bei allem unterstützen. Zumindest hatte ich bis jetzt diesen Eindruck. Und ich kenne Jenny schon seit einigen Jahren.

Jenny macht einen Schritt zur Seite, damit ich ins Haus treten kann. Im Gegensatz zu draußen ist es hier drin beinahe dunkel. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, doch dann sehe ich wieder klar und deutlich. Der Flur geht direkt ins Wohnzimmer über, beide bilden einen großen Aufenthaltsraum. Jennys Eltern haben ihn in einem dunklen Braun gestrichen, was dem Haus eine gemütliche Atmosphäre verschafft. Ich finde, dass das Ambiente perfekt zu Jennifer und ihrer Familie passt.

»Mein Dad hat gesagt, dass wir sein Arbeitszimmer benutzen dürfen. Da können wir uns am großen Tisch breitmachen und keiner stört uns.« Während Jenny spricht, schließt sie die Tür hinter mir und geht voraus zur Küche. »Willst du was trinken?«

»Wasser, danke«, antworte ich und folge ihr.

»Es führen so viele Wege von der Uni hierher und du nimmst ausgerechnet die Straße, in der es sich staut«, sagt Jenny seufzend und dreht sich dabei zu mir.

Ich kann das belustigte Funkeln in ihren Augen genau erkennen und lache leise. »Glaub mir, ich hätte mir auch in den Hintern beißen können. Das war aber nicht vorhersehbar. Schließlich ist es eigentlich der kürzeste Weg.«

»Das nächste Mal fährst du am besten außen herum. Dann bist du zwar ein paar Minuten länger unterwegs, aber auf der sicheren Seite.«

Während Jenny spricht, geht sie mit großen Schritten auf die Tür zu, hinter der sich die Küche befindet. Kaum hat sie die geöffnet, dringen die Stimmen von zwei Männern an meine Ohren. Die eine gehört ihrem älteren Bruder Lukas. Die andere kann ich nicht zuordnen. Deswegen gehe ich davon aus, dass sie dem Besitzer des zweiten Motorrads gehört.

Der raue Klang der zweiten Stimme dringt mir durch Mark und Bein. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Meine Hände beginnen sogar zu zittern. So etwas habe ich noch nie erlebt. Die Stimme meines Freundes Jonathan schafft es auf jeden Fall nicht, mich so sehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bisher hat mir noch kein Mann so eine Reaktion entlockt, und schon gar nicht einer, den ich nicht kenne.

Langsam, ein wenig zögerlich, betrete ich hinter meiner Freundin den Raum.

Sofort entdecke ich Lukas. Er hat sich lässig gegen die Küchenschränke gelehnt und dabei die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab, sodass es aussieht, als wäre er gerade erst aufgestanden. Auf seiner weiten Jeans kann ich ein paar Ölflecken erkennen. Auch sein eigentlich helles Shirt ist nicht mehr sauber.

Sein Aussehen zeigt, dass er gerade aus der Werkstatt kommt oder irgendwo anders an seinem Motorrad gebastelt hat.

Als er mich sieht grinst er mich von einem Ohr bis zum anderen frech an. »Hi, Lauren«, begrüßt er mich gut gelaunt.

So kenne ich ihn. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde es nichts geben, was ihm die Laune verderben könnte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ihn jemals mit schlechter Laune gesehen hätte.

»Hi«, gebe ich zurück, nachdem ich stehen geblieben bin.

»Du siehst fantastisch aus. Die Hose steht dir.« Noch während er spricht, schaut er mich von oben bis unten an, als hätte ich ein Vorstellungsgespräch. Und auch seine Tonlage passt dazu.

»Danke«, antworte ich leise und versuche ihm auszuweichen, was aber gar nicht so einfach ist.

Ja, ich gebe zu, dass ich nicht oft Komplimente bekomme. Schon gar nicht von einem Mann. Jonathan sieht mich meistens nur anerkennend an. Aber sagen tut er nichts. Und das, obwohl ich es gerne mal aus seinem Mund hören würde. Aber dafür ist er viel zu beherrscht, wie er es selber nennen würde. Deswegen brauche ich mir da überhaupt keine Hoffnung zu machen. Das ist ein weiterer Beweis für unsere merkwürdige Beziehung, falls man es überhaupt so nennen kann.

Bei dem Gedanken kann ich es mir gerade noch verkneifen, dass mir ein enttäuschter Seufzer über die Lippen dringt.

»Fahrt ihr noch mal in die Werkstatt?«, fragt Jenny nun und lenkt ihren Bruder so von mir ab, worüber ich froh bin.

Obwohl ich mich gut mit Lukas verstehe ist es mir doch etwas unangenehm, wenn er so etwas zu mir sagt. Er zwinkert mir noch einmal zu, ehe er sich zu seiner Schwester dreht.

»Nein, wir werden hierbleiben. Wir können auch in der Garage ein wenig schrauben. Ihr braucht euch also keine Gedanken zu machen, dass euch jemand entführt. Wir passen auf euch auf.«

Beim Klang der Stimme drehe ich mich ruckartig um. In der Sekunde, in der ich ihn erblicke, verschlägt es mir den Atem. Am Küchentisch sitzt ein Mann, der vielleicht drei oder vier Jahre älter ist als ich. Lässig hat er sich nach hinten gelehnt, während er mich betrachtet. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, würde ihn aber nicht als herausfordernd einstufen. Dafür strahlt er zu viel Ruhe aus. Ruhe, um die ich ihn beneide. Denn mir fehlt sie definitiv. Ich fühle mich, als hätte ich die Nacht durchgefeiert, so aufgedreht bin ich.

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich mich wieder gefangen habe. Doch dann schlucke ich und betrachte ihn ein wenig genauer. Sein weißes Shirt ist so eng, dass ich jeden einzelnen Muskel darunter erkennen kann. Und das sind nicht gerade wenige. Seine Oberarme machen den Eindruck, als würde er gerne und viel ins Fitnessstudio gehen. Und ich bin mir sicher, der Rest seines Körpers steht dem in nichts nach.

Doch das ist es nicht, was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch nicht das unwiderstehliche Grinsen, das er mir nun schenkt, oder die kleinen Fältchen, die sich dabei um seine Augen bilden.

Es sind eher die zahlreichen Tattoos, die ich auf seinen Armen erkennen kann. Ein paar von ihnen sind größer, andere etwas kleiner. Manche sind bunt, andere bestehen nur aus schwarzer Tinte. Als ich sie genauer betrachte frage ich mich, ob sie irgendeine Bedeutung für ihn haben. Doch das werde ich wohl so schnell nicht erfahren. Ich kenne ja bis jetzt nicht einmal seinen Namen. Aber das ändert nichts daran, dass ich kurz nicht weiß, was ich sagen soll. Mein Gehirn hört für wenige Sekunden auf zu arbeiten, sodass ich es schon fast bereue, dass ich ihn mir näher angesehen habe.

»Darf ich dir meinen Freund Henry vorstellen?«, fragt Lukas mich und reißt mich so aus meinen Gedanken, bevor ich etwas sagen konnte.

Kurz schaue ich zu Lukas, bevor ich mich wieder zu seinem Freund drehe.

»Henry, das ist Lauren, eine Freundin von Jenny. Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht.«

»Nein, daran würde ich mich mit Sicherheit erinnern«, erwidert Henry und steht auf.

Stumm schaue ich ihm dabei zu, wie er auf mich zukommt. So sehr ich es mir auch wünsche, ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen oder irgendetwas zu erwidern. Es kommt mir sogar so vor, als würden meine Füße darauf bestehen, an Ort und Stelle Wurzeln zu schlagen. »Freut mich«, erklärt Henry mit fester Stimme, als er vor mir stehen bleibt. Dabei streckt er seine Hand nach mir aus.

Kurz betrachte ich sie, als würde ich abwägen wollen, was passieren kann, wenn ich sie berühre. Doch da ich mir da selber nicht so sicher bin, komme ich zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Langsam hebe ich meinen Kopf und schaue wieder in sein Gesicht. Ich bemerke, dass er mich genau beobachtet. Irgendwie habe ich das Gefühl, als könnte er meine Gedanken lesen, obwohl mir klar ist, dass das Quatsch ist. Er kennt mich ja schließlich nicht. Genauso wenig wie ich ihn.

Wie von alleine hebt sich meine Hand. Als sich unsere Finger berühren, bereue ich es jedoch sofort. Die Luft zwischen uns beginnt zu knistern und mir wird schwindelig. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als würde ich gleich umkippen, geradewegs in seine Arme. Doch da lässt er meine Hand schon los, sodass ich auch mein Gleichgewicht wiederfinde.

»Mich auch«, gebe ich zurück, als mir klar wird, dass ich noch nichts gesagt habe. Dabei versuche ich, meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen. Aber ob mir das wirklich gelingt, weiß ich nicht.

Eine Weile ist es ruhig in der Küche. Mir ist klar, dass Jenny und Lukas uns wahrscheinlich beobachten. Aber so sehr ich es auch versuche, ich kann mich einfach nicht von Henry abwenden. Der Mann hat mich in seinen Bann gezogen.

»Na gut«, sagt Jenny schließlich. Beim Klang ihrer Stimme zucke ich erschrocken zusammen und reiße mich von Henry los. »Tut uns aber bitte einen Gefallen und seid nicht so laut. Wir müssen lernen«, erklärt sie und drückt mir eine Wasserflasche in die Hand.

»Versprochen, Schwesterherz. Du wirst keinen Mucks von uns hören.« Ein letztes Mal sieht Lukas in meine Richtung. Ich habe das Gefühl, als würde er mir stumm irgendetwas sagen wollen. Doch noch bevor ich herausfinden kann, was es ist, wendet er sich von mir ab. »Komm, lass uns die Maschinen in die Garage bringen.« Mit diesen Worten stößt er sich von der Arbeitsplatte ab und bedeutet seinem Freund, dass er ihm folgen soll.

Henry grinst mich an. Doch in der nächsten Sekunde hat er sich bereits umgedreht und folgt Lukas aus dem Haus.

Kurz bleibe ich noch stehen, ehe ich mich wieder meiner Freundin zuwende. Doch ich habe noch immer sein Gesicht vor Augen und spüre das Gefühl seiner Finger auf meiner Haut.

Als ich es endlich schaffe, das Bild von ihm zur Seite zu schieben, merke ich, dass Jenny mich beobachtet. Ein amüsierter Ausdruck hat sich in ihre Miene geschlichen.

»Henry ist Single«, klärt sie mich auf.

»Und?«, frage ich nach. Dabei versuche ich so zu erscheinen, als hätte ich keine Ahnung, wovon sie spricht.

Aber leider weiß ich das nur zu genau. Sie hat in der Vergangenheit schließlich nie ein Geheimnis daraus gemacht, was sie von Jonathan hält.

»Nichts, ich dachte nur, dass es vielleicht interessant sein könnte.« Unschuldig zuckt sie mit den Schultern.

Ich überlege, ob ich sie daran erinnern soll, dass ich mehr oder weniger in einer Beziehung stecke. Ja, mehr oder weniger. Denn es gibt tatsächlich Momente, in denen ich mir da nicht so sicher bin. Um genau zu sein, habe ich die meiste Zeit keine Ahnung. Allerdings habe ich mir das in der Vergangenheit nicht anmerken lassen, und ich habe nicht vor, damit ausgerechnet jetzt anzufangen.

»Und Jonathan ist übrigens ein Langweiler«, fügt sie hinzu und tut dabei so, als würde sie gähnen.

»Das hattest du schon gesagt«, erwidere ich.

»Henry und Lukas verbindet eine echte Männerfreundschaft«, fährt sie fort, als hätte sie die vorherige Bemerkung nie gesagt.

»Männerfreundschaft?«

»Ja, die beiden kennen sich schon ewig. Früher haben seine Eltern nur ein paar Häuser weiter gewohnt, bevor sie in das Haus seiner Großeltern gezogen sind, was sie geerbt haben. Und obwohl ihre Interessen nicht ganz die gleichen sind, sind sie immer noch die besten Freunde.«

Es dauert eine Weile, bis ihre Worte bei mir angekommen sind. Doch dann hebe ich meine Brauen und sehe sie fragend an. »Wie meinst du das?«

»Man könnte sagen, dass Lukas die Maschinen repariert, die Henry zu Schrott fährt.«

Da ich noch immer keine Ahnung habe, wovon meine Freundin spricht, kann ich nicht verhindern, dass sich ein irritierter Ausdruck auf meinem Gesicht breitmacht.

»Henry fährt Motorradrennen.«

Ich bin mir sicher, hätte ich gerade einen Schluck Wasser genommen, dann hätte ich mich verschluckt. Ich war ja irgendwie auf alles gefasst, aber damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.

Jennys Stimme hört sich so an, als wäre es das Normalste auf der Welt. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht so ist. Mechaniker zu sein, so wie Lukas, das ist normal. Aber Rennfahrer? Nur die Wenigsten wollen das. Zumal es alles andere als ungefährlich ist.

»Motorradrennen?«, frage ich nach einer Ewigkeit, um sicher zu gehen, dass ich sie richtig verstanden habe. Denn ich muss zugeben, dass ich es noch immer nicht glauben kann.

»Ja, er ist sogar sehr gut.«

Meine Augen werden immer größer, während ich mich zur Tür drehe, durch die die beiden Männer gerade verschwunden sind.

Motorradrennen.

Ich brauche eine Weile, bis ich die Bedeutung dieses Wortes wirklich verstanden habe. Doch dann würde ich mir am liebsten in den Hintern treten.

Bei so einem Beruf bin ich mir sicher, dass die Frauen ihm reihenweise zu Füßen liegen. Und obwohl ich nie zu solchen Weibern gehören wollte, die Sportler aus der Ferne anhimmeln, habe ich es unwissentlich doch geschafft. Und zwar in dem Moment, in dem er meine Hand in seiner hielt.

Noch immer kann ich seine Haut an meiner spüren, was mich nervös werden lässt. Da ich mir bewusst bin, dass Jenny mich aufmerksam betrachtet, presse ich die Lippen aufeinander. Damit will ich verhindern, dass etwas aus meinem Mund dringt, was ich früher oder später bereuen würde.

»Ist alles in Ordnung? Du siehst so komisch aus«, fragt Jenny mich, nachdem ich auch nach einer gefühlten Ewigkeit nichts gesagt habe.

So unauffällig wie möglich schüttle ich den Kopf und bekomme mich wenigstens wieder ein wenig in den Griff. »Ja, alles bestens«, antworte ich ihr und bin stolz auf mich, weil ich die Worte ohne Probleme herausbekomme.

»Lass uns an die Arbeit gehen. Sonst werden wir heute überhaupt nicht mehr fertig.«

Einen Augenblick lang sieht sie mich noch an, als würde sie etwas sagen wollen. Und leider kann ich mir nur zu gut vorstellen, was ihr durch den Kopf geht. Aber sie sagt nichts, wofür ich ihr dankbar bin. Stattdessen nickt sie nur und geht voraus in das Arbeitszimmer ihres Vaters.

2


Während Jennifer und ich über unseren Unterlagen hocken, schaffe ich es nicht, mich zu konzentrieren. Ich sehe Henrys Gesicht vor mir, obwohl ich wirklich versuche, es irgendwie abzuschütteln. Dabei rufe ich mir mehr als einmal ins Gedächtnis, wie wichtig diese Prüfung für mich ist und dass ich sie nicht versauen darf. Aber Jenny hat das Fenster offen gelassen und die Stimmen von Lukas und Henry dringen zu uns ins Zimmer. Vor allem die von Henry lenkt mich gewaltig ab.

Jedes Mal, wenn er etwas sagt, läuft ein Schauer über meinen Rücken. Die Tatsache, dass er mich so beschäftigt, macht mir ein wenig Angst. Vor allem, weil wir uns kaum richtig unterhalten haben.

Am liebsten würde ich alles stehen und liegen lassen und verschwinden, nur damit ich endlich wieder ruhiger werde. Doch mir ist klar, dass das wahrscheinlich merkwürdig wäre, weswegen ich es mir gerade noch verkneifen kann. Jenny würde mir danach Fragen stellen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich die passenden Antworten darauf kenne.

Trotzdem zucke ich jedes Mal zusammen, wenn Henry wieder etwas sagt. Das geht die nächsten drei Stunden so, bis ich schließlich die Stimmen von Jennys Eltern höre. Sie unterhalten sich auf dem Hof mit den beiden Jungs und fragen sie, wann sie fertig sind.

»Okay«, sagt Jenny ernst und lässt dabei ihren Stift sinken. »Würdest du mir nun endlich sagen, was mit dir los ist? So bist du doch sonst nicht.« Abwartend betrachtet sie mich.

»Was soll denn mit mir los sein?«, stelle ich die Gegenfrage, um wenigstens noch ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen.

»Das frage ich dich. Seitdem du hier bist, bist du schon so merkwürdig. Liegt es vielleicht an Henry?«

»Nein«, sage ich schnell und versuche dabei so energisch wie möglich zu klingen.

»Und was ist es dann?« Mit diesen wenigen Worten macht sie mir klar, dass ich ihr nicht ausweichen kann.

»Es ist eher, dass ich kein medizinisches Wort mehr lesen kann.« Während ich spreche, streiche ich mir ein paar Haare aus dem Gesicht und lasse mich nach hinten sinken.

»Deine Eltern sollten aufhören, dich so unter Druck zu setzen. Ich finde, sie können stolz darauf sein, dass du in den letzten Jahren so viel erreicht hast. Schließlich bist du Jahrgangsbeste und gehst neben dem Studium noch im Krankenhaus arbeiten, damit du deine Wohnung finanzieren kannst.«

Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie sauer ist. Aber irgendwie hat Jenny auch recht. Meine Eltern haben hohe Erwartungen an mich. Schließlich wollen sie, dass ich in der Klinik meines Vaters anfange. Und diesen Erwartungen gerecht zu werden ist nicht einfach.

Trotzdem glaube ich nicht, dass sie es mit Absicht machen. Sie sind selber mit diesem Leistungsdruck groß geworden und geben ihn nun an mich weiter.

»Hm«, brumme ich zur Antwort, da ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

»Ich bin mir sicher, dass du eine gute Ärztin werden wirst. Egal, ob du die Noten hast, die deinen Eltern vorschweben oder nicht. Die Patienten im Krankenhaus werden sich glücklich schätzen können, dich zu haben«, erklärt Jenny und versucht, mich ein wenig aufzubauen.

»Ach, und du wirst keine gute?«, frage ich sie, während ich meine Sachen zusammenräume.

»Doch, aber nicht so wie du. Was mit Sicherheit auch daran liegt, dass mein Dad nicht der Chefarzt einer Privatklinik ist.«

»Und was soll das heißen?«

»Du hast es einfach im Blut.«

Nachdenklich schaue ich an ihr vorbei, um mich wieder zu sammeln. Unwissentlich hat sie mit ihren Worten eine wunde Stelle in meinem Inneren erwischt. Auch Jonathan hatte mich schon einmal darauf angesprochen und mich gefragt, ob ich, wenn ich die Chance hätte, auch im städtischen Krankenhaus arbeiten würde. Wo ich nicht so viel verdiene. Damals habe ich mit Ja geantwortet und meine Meinung hat sich nicht geändert.

Nachdem sie mich noch einmal kurz betrachtet hat, nickt Jenny und steht auf. Schweigend folge ich ihr.

Durch die große Glastür treten wir einige Sekunden später vom Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse.

»Braucht deine Mom Hilfe?«, frage ich Jenny, nachdem ich mich zu ihr umgedreht habe. Doch sie kommt nicht mehr dazu etwas zu sagen, da in diesem Moment Schritte hinter uns zu hören sind.

»Nein, ich brauche keine Hilfe. Setzt euch bloß hin und genießt die Ruhe. Nach den letzten Tagen habt ihr es verdient.« Erschrocken drehe ich mich zu Ann herum und sehe, dass sie nur wenige Schritte hinter mir steht. Ihre Stimme ist streng und gibt mir zu verstehen, dass sie keinen Widerspruch duldet.

»Sicher?«, frage ich sie trotzdem. Ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, sie alles alleine machen zu lassen.

»Sonst würde ich es nicht sagen.« Ann stellt ein paar Schüsseln auf den Tisch, die mit unterschiedlichen Salaten gefüllt sind.

Als ich mich zu Jenny wende bemerke ich, dass sie sich bereits auf einen der Stühle gesetzt hat und nun mit den Schultern zuckt.

Kurz frage ich mich, ob ich nicht einfach in die Küche gehen soll, doch bereits in der nächsten Sekunde entscheide ich mich dagegen. Ich weiß eigentlich, dass Ann sich darüber freut, wenn sie sich um alle kümmern kann. So war sie schon immer. Jenny hat mir erzählt, dass sie ihre Arbeit geschmissen hat, als sie erfuhr, dass sie mit Lukas schwanger war. Und seitdem ist sie nur noch Hausfrau. Auch heute geht sie noch darin auf, wenn sie sich um alle kümmern darf.

Ich lasse mich auf den Stuhl sinken, der meiner Freundin gegenüber steht. »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber genieß einfach ein wenig die Ruhe und tank Kraft für die nächsten Vorlesungen. Oder für die nächste Unterhaltung mit deinen Eltern. Je nachdem, was zuerst kommt.« Aufmunternd lächelt sie mich an. Mir kommt es so vor, als wüsste sie genau, was in meinem Kopf vor sich geht. Sie kennt mich schon seit ein paar Jahren. Und in manchen Dingen kennt sie mich sogar besser, als ich mich selber.

»Dann wohl eher das Gespräch mit meiner Mom.«

Kaum habe ich ausgesprochen, höre ich, wie die Garagentür, die in den Garten führt, geöffnet wird. Neugierig drehe ich mich um und beobachte Henry und Lukas dabei, wie sie sich uns langsam nähern. Sie unterhalten sich über irgendetwas. Doch da sie sich noch zu weit entfernt befinden, verstehe ich kein einziges Wort.

Trotzdem muss ich ihn einfach ansehen. Henrys Bewegungen sind leicht, aber sie strotzen nur so vor Kraft.

»Du magst ihn«, dringt Jennys Stimme an meine Ohren.

»Wen?«, frage ich, obwohl ich mir bereits denken kann, wen sie meint.

»Henry«, antwortet sie, als würde sie mich für bescheuert erklären wollen, weil ich überhaupt gefragt habe.

»Darf ich dich daran erinnern, dass ich ihn überhaupt nicht kenne? Man kann also nicht unbedingt sagen, dass ich ihn mag. Er wirkt nett, ja. Aber ich würde nicht so weit gehen und das behaupten.«

»Okay, vielleicht ist es das falsche Wort. Aber mir ist vorhin schon aufgefallen, dass da etwas zwischen euch ist.« Ihr Ton klingt verschwörerisch und sie zwinkert mir sogar einmal zu.

»Nein, ich glaube nicht.«

Da die beiden Männer sich schon in Hörweite befinden, sagt Jenny nichts weiter dazu. Das hindert sie aber nicht daran, mir noch stumm zu verstehen zu geben, dass sie mir kein Wort glaubt.

»Na, habt ihr schön gelernt?«, fragt Lukas, nachdem er sich neben seine Schwester an den Tisch gesetzt hat.

»Nur weil du zu faul dafür bist, heißt das nicht, dass ich es auch sein muss«, zieht Jenny ihren Bruder auf und streckt ihm kurz die Zunge raus.

»Ich würde es nicht als zu faul bezeichnen.«

»Sondern?«

»Ich bin der Meinung, dass es wichtigere Dinge gibt, als stundenlang irgendwelche Fachbegriffe zu lernen.« Lukas grinst von einem Ohr zum anderen, während er nach einem Stück Brot greift und abbeißt.

Ich will ihn gerade fragen, ob er während seiner Ausbildung nicht auch lernen musste, als ich merke, dass Henry sich direkt neben mich setzt.

Meine Nackenhaare stellen sich auf und mein Atem geht schneller. Alles um mich herum verschwimmt. Ich nehme nur noch ihn wahr, obwohl die Stimmen unserer Freunde weiterhin laut und deutlich zu hören sind.

Während wir darauf warten, dass Jennys Dad das fertige Fleisch auf den Tisch stellt, unterhalten die drei sich über irgendetwas. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, meine Reaktion auf diesen Mann zu beherrschen, als dass ich etwas zur Unterhaltung beitragen könnte. Stattdessen spiele ich mit dem Wasserglas in meiner Hand. Aber diese Technik scheint nicht zu funktionieren. Ich bin nervös. Und daran ist nur Henry schuld. Wenigstens das kann ich mir eingestehen.

»Und was ist mit dir?«, fragt Lukas mich.

»Was soll mit mir sein?«, erwidere ich, da ich keine Ahnung habe, wovon sie gesprochen haben.

»Du hast noch nie erzählt, was du nach deinem Studium am liebsten machen würdest. Und ich meine damit deinen Wunsch und nicht den deiner Eltern.« Abwartend sieht er mich an. Auch Jenny und Henry betrachten mich.

Ich kann nicht verhindern, dass mir bei seiner Frage ein wenig schwindelig wird. Die Tatsache, dass Lukas mich gut genug kennt, um den Unterschied zwischen den Wünschen meiner Eltern und meinen zu wissen, wirft mich ein wenig aus der Bahn. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen.

»Ärztin werden, was sonst?«, antwortet Jenny an meiner Stelle.

Mit den Lippen forme ich ein lautloses Danke, was sie mit einem Lächeln quittiert.

»So Kinder, das Essen ist fertig«, unterbricht uns Bill, Jennys und Lukas‘ Dad, als er mit zwei riesigen Schüsseln in der Hand zu uns kommt.

»Ich glaube nicht, dass wir noch in dem Alter sind, in dem man uns als Kinder bezeichnen kann«, erklärt Lukas, während er sich den Teller vollschaufelt.

»Für Eltern werden ihre Kinder immer Kinder bleiben«, erwidert Ann. »Egal wie alt sie sind.« Wir alle schauen zu ihr, doch niemand sagt etwas.

Bill gibt keine direkte Antwort, sondern lacht nur.

So verläuft das ganze Essen. Lukas und Henry ziehen sich gegenseitig auf, während ich die meiste Zeit ruhig bin. Jenny versucht mich zwar in ein Gespräch zu verwickeln, aber so wirklich funktioniert das nicht. Ich bin in meiner eigenen Welt, in der ich irgendwie ignoriere, dass Henry neben mir sitzt.

Das scheint auch Jenny zu merken. Sie verpasst mir einen kräftigen Tritt unter dem Tisch und nickt dabei mit dem Kopf in Richtung Henry.

Kurz schaue ich ihn an und merke dabei, dass er sich nur wenige Zentimeter von mir entfernt befindet. Das sorgt dafür, dass meine Nervosität schlagartig zurückkommt. Falls sie überhaupt verschwunden war. So sicher bin ich mir da nicht.

Fast schon krampfhaft versuche ich, mir das Gesicht von Jonathan in Erinnerung zu rufen, aber es klappt nicht. Beinahe kommt es mir so vor, als würde ich überhaupt nicht wissen, wie er aussieht. Ich kann mich nicht einmal an den Klang seiner Stimme erinnern.

»Darf ich?«, fragt Henry mich im nächsten Moment und zeigt dabei auf die Salatschüssel, die neben mir steht.

»Sicher«, gebe ich zurück. Dabei versuche ich so gut es geht auszublenden, dass mein Mund trocken wird.

Als er mich dann auch noch anlächelt, bin ich mir sicher, dass ich irgendeinen Blödsinn machen werde, wenn ich nicht schnell etwas Abstand zu ihm bekomme. Aus diesem Grund reiche ich die Schüssel an ihn weiter und wende mich dann von ihm ab.

Als ich mich um neun Uhr abends von Jenny verabschiede, bin ich völlig fertig mit den Nerven. Und das habe ich nur der Tatsache zu verdanken, dass Henry in den letzten Stunden keine Gelegenheit ausgelassen hat, um mir näher zu kommen. Auf jeden Fall kommt es mir so vor, denn wirklich sicher bin ich mir nicht.

»Bis morgen«, verabschiedet sich Jenny von mir und schließt mich kurz in ihre Arme. »Lass dich einfach drauf ein. Henry gehört zu den Guten.«

Mir liegen ein paar Antworten auf der Zunge, doch da Henry sich mit Ann in unserer Nähe befindet, ziehe ich es vor zu schweigen.

»Ich werde auch verschwinden. Morgen ist wieder ein langer Tag für mich«, verkündet Henry. Er verabschiedet sich von allen und verlässt nach mir das Haus.

»Lauren, warte mal«, ruft er hinter mir, als ich meinen Wagen erreiche. Zögerlich drehe ich mich zu ihm herum. Dabei stütze ich mich an der Motorhaube ab, da ich die Befürchtung habe, dass ich sonst das Gleichgewicht verliere. »Kann ich dir helfen?«, frage ich ihn.

Mit seinem Motorradhelm in der Hand steht er nur ein paar Schritte von mir entfernt und betrachtet mich ausführlich. Mir ist klar, dass ihm keine meiner Regungen entgeht. Wie schon in der Küche hat er auch jetzt eine Anziehungskraft auf mich, der ich mich nicht entziehen kann. Ich würde sogar sagen, dass sie dieses Mal noch stärker ist. Schließlich sind wir alleine. Weder Jenny noch Lukas können mich jetzt noch retten.

Mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht kommt er näher. Am liebsten würde ich einen Schritt zurückweichen. Doch ich tue es nicht. Ich lasse nicht zu, dass er mich einschüchtert.

»Ich habe mich nur gefragt, ob du morgen Abend vielleicht schon etwas vorhast.«

Ich ziehe scharf die Luft ein. Ich suche in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er seine Frage nicht ernst meint, doch ich finde nichts.

Nichts!

Abwartend steht er vor mir und sieht mich an. Dabei hat er die freie Hand in der Tasche seiner Lederjacke vergraben, was ihn noch ein wenig geheimnisvoller aussehen lässt.

In meinem Kopf schwirren so viele Gedanken herum, dass ich gar nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Normalerweise fragen Männer wie er Mädchen wie mich so etwas nicht. Nach meinen Erfahrungen machen solche Typen, die Gefährlichkeit ausstrahlen, einen großen Bogen um mich.

»Nein«, antworte ich schließlich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe.

Auch wenn es nur ein einziges Wort ist, scheint es ihm zu reichen. Ich sehe, wie sich ein kleines Lächeln auf seine Gesichtszüge schleicht, bei dem mir warm ums Herz wird.

»Hast du vielleicht Lust, mit mir spazieren zu gehen? Wir könnten uns unterhalten, oder etwas anderes machen. Mir egal.«

Ich kann nur schwer verheimlichen, dass ich nicht mehr hinterherkomme. Langsam nimmt mein Gehirn wieder die Arbeit auf und verarbeitet die Worte, die gerade noch aus seinem Mund gekommen sind.

»Spazieren?«, erkundige ich mich. Im nächsten Moment merke ich, dass es wohl doch besser gewesen wäre, wenn ich meinen Mund gehalten hätte, so dünn klingt meine Stimme.

»Ja.«

Denk an Jonathan. Der Typ, der einmal dein Mann werden soll.

Doch der Gedanke hilft nicht. Ich verspüre trotzdem eine gewisse Vorfreude, als ich daran denke, mich mit Henry alleine zu treffen. An einem Ort, wo wir nicht von seinem besten Freund und meiner besten Freundin umgeben sind, die uns mehr als nur etwas beobachten.

»Gerne«, murmle ich also ein wenig verlegen und schaue dabei an Henry vorbei. Ich habe mich mit diesem Mann kaum vernünftig unterhalten, und trotzdem lasse ich mich auf eine Verabredung mit ihm ein. Dass das wahrscheinlich nicht meine beste Idee ist, ist mir klar. Aber es ist, als würde mein Körper einen eigenen Willen haben, wenn Henry so vor mir steht, wie er es gerade tut. »Gibst du mir deine Nummer? Dann melde ich mich morgen bei dir. Ich weiß leider noch nicht, wann ich von der Arbeit wegkomme.«

Die Unsicherheit, die ich in seiner Stimme höre, überrascht mich ein wenig. Er ist nicht der Typ Mann, von dem ich das erwarten würde. Kurz schaue ich ihn irritiert an, bevor ich meine Hand ausstrecke und ihm so signalisiere, dass er mir sein Telefon geben soll.

Ohne sich von mir abzuwenden greift er in die Hosentasche und zieht es heraus.

Während ich meine Nummer einspeichere, denke ich immer wieder daran, dass es ein Fehler ist. Und dafür gibt es mehr als einen Grund. Aber keiner erscheint mir in diesem Moment wirklich sinnvoll zu sein.

Als ich ihm das Handy zurückgebe, streifen seine Finger über meine. Ein elektrischer Schlag durchfährt mich, der mir den Atem raubt. Wenn ich vorhin schon dachte, dass ich ein Problem habe, dann habe ich mich geirrt. Denn das war noch nichts im Vergleich zu jetzt.

So unauffällig wie möglich schüttle ich meinen Kopf, um mich wieder zu sammeln, ehe ich mich räuspere. Aber auch damit kann ich den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, nicht loswerden.

Henry beugt sich ein Stück vor und gibt mir einen kurzen Kuss auf die Wange.

Beim Gefühl seiner warmen Lippen auf meiner Haut schließen sich wie von alleine meine Lider, so sehr genieße ich diese freundschaftliche Berührung.

Ich weiß nicht, ob ich will, dass er sich schnell wieder von mir entfernt oder nicht. Einerseits lässt diese harmlose Berührung mich nervös werden. Andererseits sehne ich mich nach mehr. Doch als er sich ein Stück zurückzieht, kommt es mir vor, als wäre diese Berührung viel zu schnell vorbei gewesen.

Um mich zu sammeln betrachte ich das Haus hinter ihm, wodurch ich Jenny entdecke. Sie steht am Wohnzimmerfenster und beobachtet mich zufrieden. Als sie bemerkt, dass ich sie gesehen habe, streckt sie beide Daumen nach oben.

Ich kneife ein wenig meine Augen zusammen, um ihr klarzumachen, dass sie verschwinden soll. Doch sie gehorcht mir nicht. Stattdessen bleibt sie stehen und macht kein Geheimnis daraus, dass sie nicht vorhat, sich abzuwenden.

»Man sieht sich«, erklärt Henry und sorgt so dafür, dass ich ihn wieder ansehe.

Ein letztes Mal zwinkert er mir noch zu, ehe er sich den Helm aufsetzt und sein Bein über die schwere Maschine schwingt. Mit einem lauten Dröhnen erwacht sie in der nächsten Sekunde zum Leben, sodass ich kurz erschrocken zusammenzucke. Da ich aber weiß, dass Jenny mich noch immer beobachtet, zwinge ich mich dazu, ruhiger zu werden. Dann schaue ich ihm dabei zu, wie er den Ständer nach oben schiebt und vom Hof fährt.

Ich bleibe so lange neben meinem Auto stehen, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Dann drehe ich mich zum Haus um. Ein breites Grinsen hat sich auf Jennys Gesicht geschlichen. Sie strahlt von einem Ohr bis zum anderen.

Beinahe kommt es mir so vor, als hätte ihr Schwarm sie gerade um ein Date gebeten.

Aber wenigstens hat Lukas es nicht bemerkt, überlege ich. Ich schaue mich suchend um, um mich zu vergewissern, dass er auch wirklich nicht in der Nähe ist. Doch dass ich ihn nicht entdecke, ist nur ein schwacher Trost. Ich bin mir sicher, dass Jenny ihm davon erzählen wird.

Ich strecke ihr die Zunge heraus und steige in meinen Wagen. Nachdem ich mich hinters Steuer gesetzt habe, schnalle ich mich an und verschwinde ebenfalls.