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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-350-0
Geräuschlos schritt die Nonne zu dem Altar hin, beugte sich nieder zu der hier Knienden, tief ergriffen von dem Schmerz, den ihre Haltung und ihr Antlitz in gleicher Weise kundtaten.
»Komtesse – Ihre Mutter ist soeben eingetroffen.«
Die Frau erhob sich seufzend, warf sich, wie Schutz suchend, an die Brust der Nonne.
»Ist man gekommen, um mir mein Kind wegzunehmen?«
Nach einer kleinen Weile löste sie sich aus den Armen der Schwester.
»Schwester Verena, gibt es eine Macht auf Erden, die befugt ist, Mutter und Kind voneinanderzureißen?« fragte Irmingard von Dronthem-Ghilen die vor ihr Stehende flehend.
Tiefes Mitgefühl mit diesem unglücklichen, beinahe noch kindlichen Geschöpf trieb der Nonne Tränen in die Augen. Liebevoll strich ihre schlanke weiße Hand die Locken aus der Stirn der Komteß, zog die krampfhaft Schluchzende an ihre Brust und begann, mütterlich auf sie einzusprechen.
»Komteß Irmingard! Kind! Beruhige dich, du wirst mir sonst krank! – Komm! Du weißt, deine Mutter wird leicht ungeduldig.«
Ein trauriges Lachen kam von den Lippen Irmingards. »Ach, krank! Was tut das schon! Was gilt mir das Leben ohne mein Kind!«
Mit einer heftigen Bewegung riß sie sich los, eilte hin zu dem Altar und warf sich erneut auf dessen Stufen nieder. »Mutter Maria! War meine Sünde wirklich so groß, daß man mich so grausam straft? Erhalte mir mein süßes, kleines Mädelchen!« Erschöpft sank die junge Frau zusammen.
Im Nu eilte Schwester Verena herbei. Liebevoll hob sie die Schmerzgebeugte empor und begann, auf sie einzusprechen.
»Irmingard«, flüsterte sie, »wie gern würde ich dir helfen! Aber dem Befehl der Frau Gräfin darf sich niemand widersetzen, selbst wenn…« Sie verstummte jäh. Erschrocken über das, was sich über ihre Lippen hatte drängen wollen. Schweigend wandte sie sich ab.
Erneut schrie da die Komteß auf. »Helft mir, Verena! Laßt mich irgendwo in der Verborgenheit mit meinem Kind leben! – Gern will ich arbeiten, um mit meinem Töchterchen das Leben zu fristen! Nur – laßt mir mein Kind!«
Ratlos stand Schwester Verena da. Wie gern hätte sie geholfen, doch sie mußte ausführen, was man ihr befohlen. Sie gab sich einen Ruck.
»Komteß«, sie bediente sich jetzt der förmlichen Anrede, »ich muß Sie dringend bitten, mir zu folgen, sonst könnte uns der Zorn der Frau Äbtissin treffen.« Sie atmete auf, als sie es ausgesprochen hatte.
Irmingard fühlte sich wie gelähmt. Worauf sie eben noch gehofft hatte, brach jäh zusammen. Einen letzten verzweifelten Blick warf sie auf das Muttergottesbild. Dann ließ sie sich aus der Kapelle führen.
Vor einer hohen Eisentür machten sie halt.
Liebevoll streichelte Schwester Verena der jungen Komteß die bleichen Wangen und flüsterte ihr zu: »Fasse dich, Kind! Vergiß nicht, daß es deine Mutter ist, die auf dich wartet. Vielleicht…«
Ohne den Satz zu vollenden, schob sie das junge Mädchen durch die Tür.
Neue Hoffnung belebte Irmingard. Sich zusammennehmend, betrat sie den Raum, schritt auf die Mutter zu und führte deren Hand an die Lippen.
Jetzt nahm die Gräfin das Wort. Wie hart ihre Stimme das Ohr traf!
»Meine Tochter, viel Zeit verging, bis du meinem Ruf folgtest.«
»Verzeih, Mutter! Ich betete in der Kapelle!«
Gräfin Dronthem-Ghilens Stimme klang jetzt freundlicher. »Ich nehme an, daß du ein Dankgebet zum Herrn erhoben hast, daß alles sich zum Guten wenden wird, zu deinem Glück.«
Mit einem Freudenlaut ergriff Irmingard die Hand der Mutter. »So darf ich mein Kind behalten?«
Doch hastig entzog die Mutter ihre Hand. »Hast du vergessen, daß du dich heute von deinem Kind trennen mußt?«
»Mutter!« Irmingard warf sich zu der Gräfin Füßen nieder, umfaßte deren Knie. »Ich werde wahnsinnig bei dem Gedanken daran!«
»Eine Komteß Dronthem-Ghilen sollte sich zu beherrschen wissen! Steh auf!« Kalt und streng klang es.
»Beherrschen, Mutter?!« rief Irmingard außer sich. »Ich kann mich nicht beherrschen, wenn man mir das Herz aus der Brust reißt! Du bist doch meine Mutter! Habe doch Erbarmen mit mir! Erbarmen mit dem Kind!«
»Genug!« Die Stirn der Gräfin legte sich in drohende Falten. »Du weißt, was der Familienrat beschlossen hat. Lasse es mich wiederholen: Man ist bereit, die Schande zu vergessen, die du auf unseren Namen gehäuft hast, sofern du dich bereit erklärst, die Hand des Grafen Bardenhooven anzunehmen. Die Vermählung wird schnellstens erfolgen, und bis dahin wirst du in der Obhut der Weißen Schwestern bleiben.« Sie hielt einen Augenblick inne und schien auf eine Entgegnung zu warten. Da diese ausblieb, fuhr sie fort: »Ich erwarte, daß du dich allem fügst und keinen Widerstand leistest. Wenn doch, werden wir Mittel und Wege finden, diesen zu brechen.«
Jedes Wort traf die junge Mutter wie ein Peitschenhieb.
Schande! Dieses furchtbare Wort wollte sich nicht aus Irmingards Ohr verlieren.
»Schande!« Mit einer ihr ungewohnten Heftigkeit stieß sie es heraus. »Schande nenne ich etwas anderes!« Fester und fester wurde ihre Stimme – »Ich leugne nicht, daß mein Kind ein Kind der Liebe ist, und ich schäme mich dieses Umstandes nicht. Und daß der, dem mein ganzes Herz gehört, mir seinen Namen nicht zu geben vermag, das ist…«, sie zögerte einen Augenblick, »das ist Schicksal!«
Die Mutter glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu sollen. Noch niemals hatte die Tochter es gewagt, so zu ihr zu sprechen.
»Oh, Fluch über euch und euren Adelsstolz!« fuhr Irmingard fort, und ihre Augen blitzten. »Erbarmungslos schreitet ihr über blutende Menschenherzen hinweg, wenn es gilt, das zu wahren, was euch mehr bedeutet als alles andere – den Schein!«
Irmingard schwieg, überwältigt von der eigenen Erregung. Sie täuschte sich jedoch, wenn sie geglaubt hatte, das Herz der Mutter zu rühren.
Regungslos stand diese da.
Unfähig, die Stille länger zu ertragen, schrie Irmingard leidenschaftlich auf: »Meinethalben verstoßt mich! Ich bin bereit, den Namen Dronthem-Ghilen abzulegen, damit nichts daran erinnert, daß ich eures Blutes bin! Warten will ich, geduldig warten, bis der Augenblick kommt, da der Vater meines Kindes mich als seine Frau heimzuführen vermag. Nur trennt mich nicht von meinem Kind!« Sie suchte die Rechte der Mutter zu erhaschen.
Ihre Absicht erkennend, legte die Gräfin die Hände auf den Rücken.
»Törichtes Kind! Meinst du wirklich, dieses mir verhaßte Kind und dessen Vater bedeuten für dich ein Glück?«
»Mutter«, Irmingard war außer sich, »hör auf! Ich ertrage es nicht, daß du so lieblos von meinem Kind und dessen Vater sprichst!« Mit bebenden Händen tastete sie nach ihren brennenden Schläfen.
Die Gräfin zuckte zusammen.
»Genug!« Sie warf einen Blick auf ihre mit Brillanten besetzte Uhr, »beenden wir diese Unterredung! Höre aber mein letztes Wort: Du hast dich bedingungslos dem zu unterwerfen, was der Familienrat beschlossen hat! Immerhin: ein Letztes sei dir zugestanden, und daran magst du erkennen, daß ich trotz allem nicht vergessen habe, daß ich deine Mutter bin – es sei dir gestattet, von deinem Kind Abschied zu nehmen.«
Sie wandte sich der Äbtissin zu, worauf diese auf den Knopf des Läutewerkes drückte.
Kaum, daß sie es getan, öffnete sich die Tür, und Schwester Verena erschien, ein weißes Bündel in den Armen haltend.
Mit einem freudigen Ausruf flog Irmingard der Nonne entgegen, entriß ihr das Bündel, preßte es fest an ihr Herz und bedeckte das Antlitz ihres Kindes mit unzähligen Küssen. Vergessen hatte sie alles um sich her.
Allmählich fand Irmingard zurück zu sich selbst. Ihr Töchterchen fest an die Brust pressend, sagte sie: »Mutter, ich fühle mich außerstande zu tun, was ihr von mir verlangt. Mein Kind bleibt bei mir! Wahrhaftig, Grausameres konntet ihr nicht ersinnen, um mich eurem Willen gefügig zu machen! Möge es euch niemals gereuen, so erbarmungslos mit mir verfahren zu sein, möge…« Sie begann zu schwanken.
Schnell sprang Schwester Verena hinzu, sonst wäre das Kind Irmingards Händen entglitten.
Eine wohltuende Ohnmacht nahm dieser jedes weitere qualvolle Denken.
*
Achtzehn Jahre waren seitdem vergangen.
Inmitten eines alten Parkes in dem Studentenstädtchen Hainberg lag die prächtige Villa des Grafen Bardenhooven.
An einem der hohen Fenster lehnte eine schlanke Frauengestalt. Sie träumte in die junge Maisonne.
Ihre Brust hob sich in tiefen Atemzügen. Angesichts der Feierlichkeit, in der die Natur sich aufzulösen schien, verstummte all ihr Leid. Nichts als ein sehnendes Herz blieb, das in die Stille des Morgens hineinträumte.
Vom See herauf drangen acht helle Schläge, und Gräfin Irmingard schrak zusammen. Schon eine Stunde hatte sie verträumt, und um, acht Uhr wurde das Frühstück eingenommen.
Schnell wandte sie sich der Terrasse zu, wo bereits der Frühstückstisch gedeckt war und der Diener anrichtete.
Graf Jochen, eine schlanke, gepflegte Erscheinung, trat ihr erregt entgegen. Man konnte ihn mit seinem reichlich verlebten, schmalen Gesicht gut für fünfzig Jahre halten.
»Irmingard, ich finde es rücksichtslos von dir, mich zehn Minuten warten zu lassen!«
Gräfin Irmingard unterdrückte eine heftige Erwiderung. Sie wußte genau, die leiseste Widerrede konnte ihn in Wut versetzen. So antwortete sie nur sanft: »Entschuldige, Jochen, ich habe die Zeit verträumt, und außerdem wähnte ich dich noch schlafend.«
Graf Jochen ließ sich am Tisch nieder, mit einem Brummen, das wie »Appetit verdorben« klang, und gab dem Diener einen Wink, aufzutragen.
Während Gräfin Irmingard einige Bissen hinunterzwang, aß Graf Jochen mit gutem Appetit, entgegen seiner eben geäußerten Feststellung. Er streifte dabei mit einem Blick seine Gattin. Ungeachtet des Dieners platzte er los: »Ich bitte dich, Irmingard, wie oft habe ich dich schon gebeten, nicht in diesem Aufzug zu erscheinen! Schließlich bist du doch keine x-beliebige Operettendiva!«
Die taktlosen Bemerkungen Graf Jochens trieben Gräfin Irmingard die Tränen in die Augen; sie schämte sich für ihren Gatten vor dem alten Diener, der sofort die Terrasse verließ.
Arme, arme Gräfin, dachte er. Was für eine Szene wird das wohl wieder geben!
Doch so schlimm sollte es diesmal nicht kommen. Graf Jochen sah, wie Röte und Blässe auf dem Antlitz seiner Frau wechselten und lenkte ein.
»Mach nur nicht ein so trauriges Gesicht; du kannst dich doch auch wirklich ein wenig nach mir richten!«
Ein bitteres Lächeln grub sich um Gräfin Irmingards Mund. Und ergeben, mit ein wenig Ungeduld, antwortete sie: »Ja, ja! Ich werde mich für die Zukunft nach deinem Wunsch richten; doch bitte, Jochen, nicht im Beisein des Dieners so unvorsichtig sein. Derartige Äußerungen heben das Ansehen der Gräfin Bardenhooven nicht besonders.«
Graf Jochen trat an die Brüstung der Terrasse. Seine langen, unruhigen Hände entzündeten eine Zigarette, und anzüglich warf er über die Schulter zurück: »Ich deinem Ansehen zu nahe treten? Ich glaube, du könntest von Glück reden, dich Gräfin Bardenhooven nennen zu dürfen!«
Unter gesenkten Augenlidern beobachtete er die Wirkung seiner Worte und konnte vollauf zufrieden sein; denn Gräfin Irmingard, die sich erregt erheben wollte, fiel erblassend in ihren Sessel zurück. – Da war sie wieder, die Anspielung auf ihre Vergangenheit!
Die Bitterkeit unterdrückend, sagte sie leise: »Jochen, müssen wir uns immer mißverstehen? Und heute, ich – ich wollte dich um einiges bitten.«
Ein teuflisches Lächeln lief über sein Gesicht. Doch gleichgültig fragte er: »Das wäre?«
Gräfin Irmingard spielte eine Weile mit den Bändern ihres Morgenkleides, bevor sie sich zu einer Antwort entschloß.
»Jochen, ich halte dieses Warten nicht mehr aus! Hast du einen endgültigen Bescheid erhalten von – von –?« brach es aus ihr heraus.
Graf Jochen setzte sich ihr gegenüber. »Tja, bei solchen Angelegenheiten muß man sich in Geduld fassen. Das, was du zu hören wünschst, kann ich dir leider nicht mitteilen. Die Spuren, die mein Beauftragter verfolgt, machen eine weite Reise nötig. Wenn du das Geld opfern willst?«
Mit einem Laut der Überraschung richtete sich Gräfin Irmingard in die Höhe. »Alles, alles lege ich willig in deine Hände! Nur einmal eine gute Nachricht erhalten! Bedenke, achtzehn Jahre währt dieser Kampf!«
»Willst du damit sagen, daß ich mich nicht genügend dieser Angelegenheit angenommen habe?
»Nein! Nein!« Es war ein einziger gequälter Schrei. »Herrgott, sei nur nicht gleich so aufbrausend. Verstehst du denn nicht, daß ich mich unsagbar danach sehne, mein Kind in die Arme schließen zu können? Wie oft gaukeln mir die Träume die entsetzlichsten Bilder vor! Während wir in Wohlstand leben…« Den Rest ihrer Worte verschlang ein Schluchzen, das den zarten Körper schüttelte.
Graf Jochen schaute gelangweilt auf sie. Obwohl er wirklich nicht das geringste Interesse daran hatte, daß sie jemals ihr Kind wiederfand, ließ er es in Abständen zu solchen Ausbrüchen kommen und benutzte sie als Druckmittel, Unsummen aus ihr herauszuholen.
Und sie gab mit vollen Händen, nur von dem einen Gedanken getrieben: bald würde die Leidenszeit vorüber sein und ihr Kind an ihrem Herzen ruhen.
Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte sie, unter Tränen zu ihm aufsehend: »Und wieviel benötigt dein Gewährsmann?«
Graf Jochen zwang sich, ruhig zu erscheinen. »Einige Tausender mußt du schon flüssig machen.«
»So viel? – Und darf ich wissen, wohin die Spur führt?«
Ungeduldig sprang er in die Höhe. »Darüber hüllt er sich in Schweigen. Mißtraust du mir etwa?« fragte er gespannt.
»Nein!« Überzeugt schüttelte sie den Kopf. »Ich bin dir sehr dankbar für deine Mühe. Einmal muß ich doch die Früchte unserer Bemühungen ernten, und dann wandelt sich mein Leid in Glück.«
Kalt ruhte Graf Jochens Blick auf dem Antlitz seiner Gattin. Solange ein Funken Leben in ihm war, durfte und würde dieses Kind niemals gefunden werden! Dafür würde er schon sorgen! Heuchlerisch trat er zu ihr und fuhr ihr dann ganz leicht über das lockige Haar.
»Beruhige dich, Irmingard, du kannst deinem liebebedürftigen Mutterherzen bald Genüge tun.« Das letzte klang unendlich spöttisch, aber sie spürte es nicht.
»Gott mag mir beistehen, daß sich alles zum Guten wendet! Umsonst kann doch ein Mensch nicht so gelitten haben wie ich! Weißt du…«
»Weiß ich«, unterbrach er sie ungehalten. »Vor allen Dingen möchte ich dich bitten, mit dieser Heulerei aufzuhören! Es ist mir zuwider, meine Frau ständig in Tränen aufgelöst zu sehen!«
»Ich bin ja schon ganz still.« Hastig trocknete sie die Tränen. Leise kam es von ihren Lippen: »Ich werde mich in Zukunft besser beherrschen, aber ich habe doch sonst keinen Menschen, mit dem ich mich aussprechen kann; und bei dir hoffte ich Verständnis zu finden.«
»Habe ich das nicht schon bewiesen? Hätte ich dich sonst wohl geheiratet?«
Die Gleichgültigkeit, mit der er die Worte hinwarf, strafte ihn Lügen.
Sie schloß die Augen. – Längst ahnte sie, daß es keine Liebe war, die ihn zu ihr gezogen hatte.
»Da du einmal vom Vergangenen sprichst, möchte ich dir erneut ins Gedächtnis zurückrufen, daß ich nur unter Zwang deine Frau geworden bin, und du mir versprachst, mit mir nach meinem Kind zu forschen.«
»Habe ich mein Versprechen nicht gehalten?«
In der Nähe klirrte ein Fenster. Die beiden erregten Menschen achteten nicht darauf.
Der junge Graf Armin stand im Begriff, sich aus der Bibliothek ein Buch zu holen, als er plötzlich den Wortwechsel von der Terrasse hörte. Er trat an eines der geöffneten Fenster und sah die Eltern in erregtem Gespräch sitzen.
Gespannt beugte er sich weiter hinaus und spielte den unfreiwilligen Zuhörer. Donnerwetter! Also daher bekam Vater die Mittel zu seinem verschwenderischen Leben! Das war ja außerordentlich interessant!
Die eben gemachte Entdeckung würde ihm von Nutzen sein. Ein dunkler Punkt war im Leben seiner Mutter, und diesen nutzte der Vater aus. Eigentlich schamlos! Doch nun sollte Vater ihm gegenüber nur nicht mehr so knauserig sein, da er um das Geheimnis wußte!
Grübelnd ließ er sich in der Nähe des Kamins nieder und starrte vor sich hin. Er mußte etwas unternehmen. Das Geld gehörte ihm, ihm allein, und keiner sollte es ihm nehmen!
Schließlich hatte er sich zu einem klaren Entschluß durchgerungen.
Eine Viertelstunde später suchte er seinen Vater auf.
»Verzeih, Vater. Hoffentlich habe ich dich nicht gestört?«
Wie auf Abwegen ertappt, drehte sich Graf Jochen blitzschnell seinem Schreibtisch zu. »Nein, du hast mich nicht gestört«, sagte er gleichmütig. »Was hast du mir zu sagen?«
Armin machte sich seine eigenen Gedanken und bat: »Vater, kann ich etwas Bargeld haben?«
Graf Jochen war in keiner guten Stimmung. »Wo soll ich das viele Geld hernehmen? Kannst du nicht sparsamer wirtschaften?« fuhr er seinen Sohn scharf an, so daß dieser heimlich die Faust ballte und an die Summen dachte, die der Vater der Mutter schon abgeschwatzt haben mochte.
Sich mühsam beherrschend, stieß er hervor: »Aber etwas kannst du mir doch aushändigen!«
»Nein!« Hart war die Stimme des Älteren. »Ich bin keine Geldquelle, die ewig unerschöpflich für dich fließt.«
Unbeherrscht rief Armin dem Vater entgegen: »Aber Mutter!«
Entsetzt fuhr Graf Jochen herum. »Was willst du damit sagen?«
»Daß ich Mutter ebenfalls meine Dienste anbieten will. Vielleicht habe ich mehr Erfolg als du!«
»Lump!« schrie Graf Jochen.
Armin spielte aber weiter den Gleichgültigen. Die Hände in den Taschen seines Sakkos vergraben, wollte er scheinbar das Zimmer verlassen. Drehte sich aber noch einmal um und sagte: »Du scheinst mich absichtlich mißverstehen zu wollen. Ich bin ja zu dir gekommen; wenn dir das andere jedoch lieber ist…«
Da stand der Vater abermals vor ihm. »Du willst mich also erpressen!« höhnte er. Dann lachte er grell auf. »Schön, mein Söhnchen, du sollst dein Geld haben, aber dann laß mich allein.«
Äußerlich ruhig, steckte Armin das Bündel Banknoten in seine Tasche und sagte, schon im Gehen: »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten, Vater. Du wirst noch einmal an diese Stunde zurückdenken.«
Graf Jochen stand wie versteinert. Dann fiel er in seinen Sessel, stützte stöhnend das Gesicht in die Hände. Wie konnte er sich nur so schwach seinem Sohn gegenüber zeigen! Der Gedanke, einen Mitwisser des Geheimnisses zu besitzen, hatte ihn so plötzlich getroffen, daß er jede Gewalt über sich verloren hatte. Wenn seine Frau davon erfuhr, daß er untätig gewesen war, daß das viele Geld nur in seine Tasche geflossen war, um es seiner Spielleidenschaft zu opfern!
Trotz der Hitze fror ihn plötzlich. Jetzt mußte er nach dem Verbleib des Kindes forschen, um es dann verschwinden zu lassen.
Schwerfällig erhob er sich und fuhr in den Klub.
Erst spät nach Mitternacht kehrte er wieder in sein Heim zurück – mit leerer Brieftasche; seine gesamte Barschaft war dahin, verspielt.
In den nächsten Tagen trafen sich Vater und Sohn nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Grüßten sich stumm, und Gräfin Irmingard ließ fragende Blicke zwischen ihnen hin- und hergehen. Was lag da vor?
Als sie ihren Sohn eines Tages zur Rede stellte, antwortete er ihr ausweichend: »Vater hält mich so knapp an Geld, da sind wir zusammengeraten. Mach dir darüber keine Kopfschmerzen, Mutter; der Sturm legt sich auch wieder.«
Da gab sie sich zufrieden, beobachtete aber Vater und Sohn, die sich weiterhin aus dem Wege gingen.
Eine schwüle Stimmung lag über der Villa Bardenhooven. Es war Mittagszeit.
Schweigsam verlief das Mahl. Nur ab und zu wandte sich Gräfin Irmingard mit kurzen Fragen an ihren Sohn, die er zwar höflich, aber zerstreut beantwortete.
»Wann beginnen deine Ferien, Armin? Reisen wir miteinander?«
Armin zuckte zusammen, wie aus einem Traum erwachend. »Verzeih, Mutter. Ich hatte die Absicht, mit meinen Freunden in die Berge zu fahren. Das dürfte wohl zu anstrengend für dich sein!«
Bitter lächelte sie vor sich hin. »Da werde ich also wieder einsam sein und hierbleiben. Was soll ich allein draußen; außerdem möchte ich, wenn unsere Bekannten von ihren Reisen zurück sind, ein Gartenfest geben. Und du, Jochen«, richtete sie das Wort an ihren Gatten, »was hast du dir vorgenommen?«
Dieser dachte an seine erschöpften Geldmittel. »Ich kann heute noch nichts Bindendes sagen.«
Sie fragte nicht mehr.
Nach dem Essen trat Armin zu seinem Vater.
»Vater, dürfte ich dich um den Schlüssel zum Gewehrschrank bitten? Ich möchte die Gewehre in Ordnung bringen, da wir zu jagen beabsichtigen.«
Kalt ruhten Graf Jochens Augen auf dem Sohn. »Bitte!« Er reichte Armin die Schlüssel.
Armin dankte, ging nach dem Erdgeschoß und betrat das Jagdzimmer.
Seine Hand zitterte heftig, als er den Schlüssel im Schloß des Gewehrschrankes drehte. Mit fahriger Hand griff er in den Schrank und wählte sich eine Waffe aus.
Dann schloß er sorgfältig die Tür und eilte fluchtartig in sein Zimmer.
Er zitterte am ganzen Körper und fiel vor dem Fenster in einen Sessel; die Waffe hielt er krampfhaft in den Händen.
Geistesabwesend ließ er seine Blicke in den Park schweifen.
Heiß brannte die Mittagssonne hernieder. Schwül und erdrückend lastete die Hitze, legte sich aufreizend Graf Armin auf das erregte Gemüt.
Er biß die Zähne zusammen und begann, noch Kleinigkeiten zu verpacken. Das große Gepäck war bereits an die Adresse, die ihm sein Freund aufgegeben hatte, zur Bahn gebracht worden.
Den Eltern, die er in dem Glauben gelassen hatte, er führe mit seinen Freunden in die Berge, verschwieg er, daß er sich erst später mit ihnen treffen würde.
Zwei Tage später befand er sich tatsächlich auf dem Weg in die Berge. Seine Freunde waren entsetzt über sein Aussehen und bestürmten ihn mit Fragen, auf die er aber die Antwort schuldig blieb. Sie schüttelten nur den Kopf über ihn, weil er sich in einem haltlosen Taumel von einem Vergnügen ins andere stürzte. Und ließen ihn gewähren.
*
Über dem Thüringer Wald lag Sonntagsruhe. Im Osten ging soeben die Sonne auf, und bald erglänzten die zarten Blätter der schlanken Birken am Rande des Waldes in sattem, warmem Grün.
Am Saum des Waldes, wo die Straße nach dem Oldenbergischen Landsitz abbog, lag das Forsthaus.
Förster Wilken, eine erdverbundene Gestalt mit langwallendem Bart und hellen, durchdringenden Augen, lebte mit Frau und Kind nun schon seit Jahren in dieser Einsamkeit und fühlte sich außerordentlich wohl dabei.
Langsam erwachte nun auch das Forsthaus zu neuem Leben.
Frau Hannelore, ein wenig zur Fülle neigend, das Gesicht vor Lebensfreude strahlend, trat in den Hof. Noch während sie die Hunde aus ihrem Zwinger befreite, die sich mit einem Freudengeheul auf sie stürzten – denn nur Harras, der große Schäferhund, durfte sich als treuer Wächter des Hauses nachts der Freiheit erfreuen –, trat schon der Förster aus dem Walde.
»Hallo, Hannelore! Läufst du auch schon der Sonne entgegen?«
»Eben hab’ ich die Rasselbande erlöst.«
Kaum waren die Hunde des Försters ansichtig geworden, stürzten sie auf ihn zu.
Wilkens dunkler Baß war voll Frohsinn. »Sachte, es kommt jeder an die Reihe. Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein«, begrüßte er Diana, die Dackelhündin. Dann streichelte er Fritz, dem größten der Hunde, das glänzende Fell.
»Großen Kaffeedurst habe ich mitgebracht!«
»Kann ich mir denken. Und Evchen hat fast geweint. Du hast ihr doch versprochen, sie mit in den Wald zu nehmen?«
»Der Tag hat ja erst begonnen. Gleich nach dem Morgenkaffee geht es los.«
»Dann wäre ja alles in schönster Ordnung!«
Sie gab ihm einen freundschaftlichen Klaps. »Nun aber komm! Evchen wird den Kaffeetisch in der Sommerlaube gedeckt haben.«
Gemeinsam schritten sie dem Garten zu. Hier schaltete Evchen als Herrscherin.
»Evchen! Wo steckst du denn?«
»Hier, Mutti! Ich bringe schon den Kaffee. Darf ich bitten?« Mit einladender Bewegung wies sie auf die Korbsessel. Dann flog sie dem Förster um den Hals.
»Väterchen, ich müßte dir ja den Morgenkuß verweigern. Läßt mich einfach sitzen!« Sie zupfte den Förster strafend am Ohr.
»Gnade!« flehte der Förster. »Ich verspreche dir hiermit feierlichst: in einer Stunde ist Aufbruch.«
»Oh! Dafür sollst du aber auch belohnt werden.« Nun kam der Vater doch noch zu seinem Morgenkuß, und sie nahmen Platz. Aufmerksam bediente Eva die beiden Alten.
»Meister Elbing verschläft sicher wieder den schönen Morgen!« meinte die Försterin.
Doch eine Stimme widersprach energisch. »Falsch geraten. Das könnte Ihnen so gefallen, den guten Kaffee allein zu trinken. Guten Morgen, Herrschaften!«
Meister Elbing trat in die Rosenlaube. Ein unscheinbares Männchen. Doch sofort wurde der Besucher von seinem Charakterkopf gefesselt. Wuchtig war der Schädel, das schlohweiße Haar zu einer mächtigen Mähne nach hinten gekämmt. Das Schönste aber waren die Augen, die in jugendlichem Feuer glühten.
Seit Jahren gehörte Meister Elbing zur Familie. Eines Tages hatte Frau Hannelore in ihrem Rosengärtchen gestanden. Als sie sich von ihren Blumen aufrichtete, hatte sie am Zaun ein kleines Männchen bemerkt, das mit sehnsüchtigen Augen all ihr Tun verfolgte.
Freundlich grüßend, war die Försterin zu ihm getreten und sie kamen ins Gespräch. Und nach und nach fand man Gefallen aneinander. Die Försterin lud ihn zu einer Erfrischung ein, und als dann Förster Wilken hinzukam, wurde ein sehr gemütliches Plauderstündchen daraus. Meister Elbing, ein Jünger der Kunst und bekannter Musikprofessor, sprach von seiner Sehnsucht nach Einsamkeit und nach dem Walde. Das war natürlich Förster Wilkens Lieblingsgespräch, und er lud Meister Elbing zur Sommerfrische ein.
So war dieser ins Forsthaus gekommen und es wurde bald ein Zuhause für ihn. Er rückte mit einem wundervollen Flügel und alten, kostbaren Möbeln an und bezog die Mansardenwohnung. Dort zauberte er ein Reich hervor, das das helle Entzücken der damals siebenjährigen Eva hervorrief. Scheu schlich sie an dem Flügel vorbei, wagte auch ab und zu mit zarter Hand über das Holz zu streichen.
Bis eines Tages Meister Elbing die kleine Person überraschte, als sie dem Instrument kleine Weisen entlockte. Da begann er sich für Eva zu interessieren und mußte erkennen, daß in dem zarten Mädchen ein ungeahntes Talent schlummerte.
Sein größter Ehrgeiz war seitdem, Evchen der Kunst zuzuführen. Dem Försterpaar war der Gedanke erst sehr unangenehm; denn sie hielten die Freude Evas für eine Augenblicks- Spielerei. Sie sollten jedoch eines Besseren belehrt werden. Denn als Evchen die beiden Eltern zu ihrem »ersten Konzert« einlud, war die Überraschung auf ihrer Seite. Nun begannen sie, auch Evas Talent ernster zu nehmen. Evchen sollte aber trotzdem nicht in die Künstlerlaufbahn gedrängt werden. Die Förstersleute wollten ihre Tochter nicht verlieren.
Und Evchen war mit ihrem jetzigen Leben auch vollkommen zufrieden. Sie ging in der Liebe zu ihren Eltern auf und betrachtete die Musikstunden, zum großen Leidwesen Meister Elbings, als Feierstunden. Doch tröstete sich dieser damit: Auch seine Zeit würde noch kommen und Eva seinen Plänen geneigter werden.
Jetzt schob Eva sofort Meister Elbing einen Sessel zu.
»Bitte, Meister, Platz zu nehmen. Es gibt noch reichlich von dem braunen Getränk.«
Ein lustiger Wortstreit ging hin und her, als nach kurzer Zeit leichtes Räderrollen zu hören war.
»Wer kommt denn so früh?« Wilken sprang auf und ging um das Haus herum. Er kam gerade zurecht, als das leichte Jagdgefährt seines Dienstherrn vor dem Hause hielt.
Graf Oldenberg übergab seinem Diener die Zügel und sprang vom Wagen.
»Grüß Gott, Wilken! Verzeihen Sie den Überfall am frühen Morgen. Mein Weg führt mich hier vorüber, da ich zur Bahn will. Mein Sohn und dessen Freund kommen zu den Ferien. Gleichzeitig wollte ich Sie bitten, sich für die nächsten Wochen für meinen Sohn bereit zu halten. Sie wissen ja, er ist ein leidenschaftlicher Naturliebhaber.«
»Zu dienen, Herr Graf. Es wird mir eine Freude sein.« Wilken nahm dankend die Hand seines Dienstherrn.
Graf Oldenberg, der sich sehr gern im Forsthaus aufhielt, machte keine Anstalten, weiterzufahren. »Ist die Familie schon beim Morgenkaffee?«
»Jawohl, Herr Graf. Wenn ich Sie einladen darf?«
»Wird dankend angenommen.«
Leichtfüßig schritt er neben dem Förster der Laube zu.
Eilig fuhr die Försterin in die Höhe, als ihr Mann mit dem Grafen auf dem Laubenweg erschien.
»Schnell, Evchen! Hole noch ein Gedeck herbei, der Herr Graf scheint Kaffee mittrinken zu wollen.«
Eva flitzte davon.
»Guten Morgen, Frau Försterin. Bitte, lassen Sie sich nicht stören.« Er begrüßte Meister Elbing, mit dem er sich sehr gern unterhielt. »Und das Töchterchen?«
Da kam Eva schon zurück. Das Gesicht leicht gerötet, stellte sie das Gedeck vor dem Grafen nieder und reichte ihm lächelnd die Hand.
»Fräulein Eva! Wie machen Sie das nur, daß Sie immer schöner werden?«
»Dafür kann ich nichts, Herr Graf! Das hat mir der Herrgott geschenkt«, entgegnete sie. Die unverhohlene Bewunderung des Grafen machte sie sehr verlegen.
Schwer fiel es Graf Oldenberg, sich von dem liebreizenden Anblick Evas loszureißen.
Im Laufe der Unterhaltung huschte immer wieder sein Blick zu ihr, dabei trat ein Grübeln in seine Augen, als denke er ganz angestrengt über etwas nach.
Nach kurzer Zeit verabschiedete er sich herzlich.
Der Förster gab ihm das Geleit zum Wagen und kehrte bald wieder zurück.
»So, Evi, jetzt geht’s in den Wald!«
Mit einem Jauchzen hing sie sich in seinen Arm, und bald waren die beiden den Blicken der Zurückbleibenden entschwunden.
Graf Oldenberg fuhr der nahen Kreisstadt zu. Nachdenklich lehnte er im Rücksitz des Wagens.
Wie schön die Försterstochter geworden war!
Immer wieder grübelte er. Jemandem glich sie, den er einst gekannt hatte. Aber wem?
Das Pfeifen des heranschnaufenden Zuges riß ihn aus seinem Grübeln. Richtig, er wollte ja seinen Sohn abholen.
Mit schlanker Hand fuhr er sich über die Stirn, als könne er damit die Gedanken verdrängen.
Als er durch die Sperre ging, hielt der Zug bereits.
In alter Frische entstieg einem Wagen zweiter Klasse sein einziger Sohn, Graf Lutz von Oldenberg.
»Hallo! Mein Junge!« Herzlich drückte er ihn an sich.
»Wochen freie Zeit vor uns, Vater!« In jugendlichem Ungestüm streckte er die Arme weit von sich. »Wie ich mich auf meinen geliebten Wald freue!«
»Mich vergißt du wohl dabei?« Es klang ein wenig vorwurfsvoll.
Lachend nahm Lutz ihn beim Arm. »Aber Vater! Du gehörst doch unbedingt dazu!«
Da fiel ihm ein, daß er nicht allein gekommen war. »Bin ich nicht ein entsetzlicher Egoist? Arnd, altes Haus, darfst dich nicht verdrängen lassen.«
»Keine Bange, ich komme schon noch zu meinem Recht«, lächelte Arnd von Redwitz. Taktvoll hatte er sich im Hintergrund gehalten.
Eine feste Freundschaft verband die beiden so verschiedengearteten Menschen, und Graf Oldenberg hatte seine helle Freude daran; denn er erhoffte viel von dem günstigen Einfluß, den Arnd von Redwitz auf seinen Sohn ausübte.
Arnd hatte früh die Eltern verloren. Mit einem großen Vermögen hatten sie ihn in der Obhut zweier alter, anhänglicher Dienstboten zurückgelassen. So war er immer unter fremden Menschen aufgewachsen, sich unsagbar nach zärtlichen Mutterhänden sehnend.
Lutz hatte seine Mutter zwar auch früh verloren, diese aber nie vermißt. Sein Vater ersetzte ihm alles. In der Erziehung seines Sohnes ging er voll und ganz auf und führte ein zurückgezogenes Leben auf seinem Landsitz, nur unterbrochen durch Reisen, an denen sein Sohn teilnehmen mußte. So hatte Lutz Oldenberg nichts entbehrt.
Nur um einen Lebensinhalt zu haben, hatte sich der ernste, dunkeläugige Arnd noch spät entschlossen, nachdem er bereits seinen Doktor in Philosophie gemacht hatte, Medizin zu studieren. Da hatte er Lutz kennen- und wie einen jüngeren Bruder liebengelernt. Und Graf von Oldenberg bot ihm eine Heimat in seinem Hause, von der er auch regelmäßig zu den Ferien Gebrauch machte.
»Willkommen, Arnd!« Sehr herzlich fiel der Gruß auf beiden Seiten aus, dann schritten sie dem Wagen zu.
»Grüß Gott, Friedrich! Da wären wir wieder einmal.« Munter schüttelte Lutz dem alten Diener die Hand. Und dieser strahlte über das ganze Gesicht. Nun würde es in dem stillen Schloß bedeutend lebhafter zugehen.
»Friedrich, eins bitte ich mir aus: einen recht großen Bogen fahren! Meine Heimat muß gleich ordentlich in Augenschein genommen werden.«
»Zu Befehl, gnädiger Herr!« Behend kletterte der alte Diener auf den Bock, nachdem die Herrschaften und das Gepäck endlich gut untergebracht waren.
Graf Oldenburg musterte Arnd. »Sie sehen recht angegriffen aus, Arnd.«
Lutz übernahm an Stelle von Arnd das Antworten: »Hat ja auch wie toll gebüffelt, der gute Junge.«
»Du bist mindestens ebenso fleißig gewesen wie ich. Doch muß ich bedenken, daß ich mich mit Hingabe dem Nichtstun widmen werde, das heißt wandern, reiten, schwimmen nicht zu vergessen.«
»Hm, das ist wenigstens ein Wort«, brummte Lutz, und Graf Oldenberg lächelte.
»Vorgenommen habt ihr euch ja allerhand. Dennoch dürft ihr dabei die Töchter der Nachbargüter nicht vergessen.«
»Um Gottes willen, Vater! Nun schlepp uns nur nicht zu Besuchen herum.«
So entsetzt klang es, daß die beiden Herren lachen mußten.
»Also Weiberfeind?« forschte sein Vater.
»Nee«, bekannte Lutz freimütig, »aber meine Ferien lasse ich mir durch fade Gänschen nicht verderben.«
Das leichte Jagdgefährt bog eben in den Wald ein.
Ein überraschter Ausruf seines Sohnes ließ Graf Oldenberg aufsehen.
»Ist denn die Waldfee zum Leben erwacht?«
Graf Oldenberg erkannte Eva Wilken. Er schmunzelte.
»Und eben noch hast du behauptet, daß dich Weiberröcke nicht interessieren?«
»Aber Vater!« machte Lutz beleidigt, und zu Arnd sagte er: »Hast du schon einmal so etwas Reizendes gesehen?«
»Ich muß gestehen, daß ich aufs höchste überrascht bin. Wer ist die junge Dame?«
Köstlich belustigte sich Graf Oldenberg über die verblüfften Gesichter der beiden. »Kennt ihr Eva Wilken nicht mehr?«
»Die Eva?«
»Schön versprach sie ja immer zu werden, aber so etwas Liebliches hätte ich mir nicht träumen lassen. Das ist ja direkt…«
Mit einem Satz war Lutz vom Wagen und lief Eva entgegen.
»Eva?«
»Herr Graf?«
»Für dich bin ich immer Lutz. Oder muß ich ebenfalls ›Sie‹ sagen und ›Fräulein Wilken‹?« Glückstrahlend sah er ihr in das taufrische Gesicht. Unbefangen nahm Eva seine Hände und drückte sie leicht.
»Sagen Sie ruhig weiter Eva zu mir. Aber für mich schickt es sich wirklich nicht mehr, das ›Du‹ unserer Kindheit anzuwenden.«
»Das wäre ja noch schöner. Für dich bin ich immer der Lutz. Verstanden?« Ein klein wenig befehlend klang es.
Ruhig kam ihre Antwort: »Darüber hat der Herr Vater zu bestimmen.«
Graf Oldenberg und Arnd kamen langsam näher.
»Vater! Denk nur, Eva will durchaus ›Sie‹ und ›Herr Graf‹ zu mir sagen.«
»Ja, das Evchen war doch im Internat, da hat man ihr das beigebracht«, entschuldigte er Eva. »Aber ihr dürft unbesorgt weiter ›du‹ zueinander sagen.«
»Angenommen?« drängte Lutz.
Zustimmend nickte Eva, und ein verwirrter Blick streifte Arnd von Redwitz.
Lustig sah der große, ernste Arnd auf das kleine, schöne Wunder. »Mich kennen Sie wohl nicht mehr, Fräulein Eva?«
Evas Antlitz war plötzlich in Glut getaucht. Scheu reichte sie Arnd die zarte Hand. »Herr von Redwitz?«
»Natürlich, mein kleines Fräulein. Habe ich mich so sehr verändert?«
»Sie kommen mir so ganz anders vor!« Verwirrt schaute sie auf die Heide hinab, die sie in ihren Armen hielt.
Da machte sich wieder Lutz bemerkbar. »Darf ich mir etwas Heide von dir als Willkommensgruß erbitten?«
»Wenn es dir Freude macht? Gern.« Sie reichte Lutz einige Blüten, der sie freudestrahlend ins Knopfloch steckte. Unentschlossen sah sie zu Arnd hin. »Darf ich Ihnen auch ein paar Blumen spenden?«
Mit einer Verbeugung dankte ihr Arnd.
»Eva, Eva!« Kräftig erschallte der Ruf, der Eva erschrocken zusammenfahren ließ.
»Der Vater! Entschuldigen Sie, bitte, ich muß gehen.« Sie hatte plötzlich Eile.
»Schade!« bedauerte Lutz, doch Graf Oldenberg kam Eva zu Hilfe.
»Aber Lutz, du hast noch genügend Gelegenheit, dich mit Fräulein Eva zu unterhalten. Nicht wahr, Fräulein Eva?«
»Ja. Außerdem liegt Ihnen das Forsthaus ja gerade am Weg. Mutti wird sich bestimmt freuen, wenn Sie einmal bei uns einkehren.« Nach herzlichem Abschied huschte Eva davon.
Jeder der drei Herren sah ihr mit einem eigenen Gefühl nach. Lutz unterbrach das Schweigen.
»Wie ein Elfchen wirkt die Eva.«
Graf Oldenberg drohte scherzhaft. »Junge! Junge! Denk an das, was du mir von den faden Gänschen gestanden hast.«
Etwas kleinlaut entgegnete dieser: »Die Eva Wilken ist etwas anderes.«
»Und Sie, Arnd, Sie sind so still geworden?«
Arnd zuckte zusammen. »Man hat so seine Gedanken«, wich er aus.
Gedankenvoll schritten die drei dem Wagen zu. Heimlich ließ Arnd einige Heideblüten, die Evas Händen entglitten waren, in seiner Brieftasche verschwinden.
Noch keine zehn Minuten war der Wagen dahingerollt, als plötzlich ein Schuß die Stille zerriß.
»Um Gottes willen! Wer schießt um diese Zeit? Friedrich, halten Sie!« befahl Graf Hasso erregt.
»Sollten wir Wilderer im Walde haben?« mutmaßte er, und zusammen mit seinen beiden Begleitern schlug er sich seitwärts in den Wald.
»Eva! Evchen!«
»Das ist Wilken!« flüsterte Graf Oldenberg leise. »Aber Fräulein Eva müßte den Vater doch längst erreicht haben.«
Der Ruf erklang immer näher, und jetzt erschien der Förster zwischen den dicken Bäumen. Bestürzung malte sich auf seinen Zügen.
»Haben Sie den Schuß abgegeben, Herr Graf?«
Dieser verneinte. »Dasselbe wollte ich Sie eben auch fragen.«
»Eigenartig.« Wilken wurde immer verstörter. »Und – und haben Sie meine Tochter gesehen? Sie verließ mich, um Heide zu pflücken.«
Der Schuß interessierte ihn nicht mehr. Eine unerklärliche Unruhe um sein Kind gab keinen anderen Gedanken mehr Raum in ihm.
»Fräulein Eva hielt sich kurze Zeit bei uns auf. Dann hörte sie Ihren Ruf und lief sogleich zu Ihnen. Wir wähnten sie längst in Ihrer Obhut.«
Jetzt erst bot Förster Wilken dem jungen Grafen und seinem Freund flüchtig den Willkommensgruß.
»Entschuldigen Sie, bitte, ich muß meine Tochter suchen.«
»Halt, Wilken! Wir werden Ihnen behilflich sein. Und dann, dieser rätselhafte Schuß. Ich hätte gern gewußt, was das zu bedeuten hat«, sagte Graf Oldenberg.
»Es wird das beste sein, wir verteilen uns«, warf Lutz ein. »Fräulein Eva wird sicher nach den großen Wiesen gegangen sein. Wir treffen uns dort wieder. Einverstanden?«
Dankbar nickte Wilken ihm zu und hastete davon. Die anderen schritten in entgegengesetzter Richtung in den Wald.
Vorsichtig bahnte sich Arnd einen Weg durch das Dickicht.
Plötzlich lichtete sich der Wald etwas – und da – einige Meter vor ihm, lag die Gesuchte am Boden. Mit einigen Sätzen war er bei ihr.
Regungslos lag sie da. Knapp über ihrem Herzen färbte sich der weiße Stoff purpurn. Schmerzvolles Stöhnen kam von den farblosen Lippen.
Hilfesuchend blickte sich Arnd um. In tiefer Sorge um das junge Leben setzte er die Finger an den Mund zu einem Pfiff. Lutz würde ihn sicher vernehmen und sofort hierhereilen.
Zärtlich bettete er sie bequemer, und in seinem Herzen war ein einziges Sehnen. Küß ihn, diesen bleichen Mund, raunte eine innere Stimme. Doch er beherrschte sich.
Da hörte er Brechen von Unterholz.
Förster Wilken erreichte keuchend als zweiter die Unglücksstelle. Entgeistert starrte er auf die Gruppe.
»Herr Baron! Was ist geschehen?«
Arnd deutete auf die sich immer dunkler färbende Stelle und flüsterte ihm zu: »Angeschossen!«
Da brach der starke Mann zusammen, und er schämte sich nicht der Tränen. »Evchen! Liebes Evchen! So öffne doch deine Augen! Evchen! Ich bitte dich, hörst du mich nicht! Evchen! Dein Vater ruft dich!«
Aber der schmerzverzogene Mund blieb stumm.
Da packte den alten Mann ohnmächtige Wut. »Wo ist der Schurke, der mein Kind anschoß? Unser Glück! Unseren Sonnenschein!« Furchterregend war er anzusehen in seinem Zorn.
»Förster Wilken, beherrschen Sie sich!« mahnte Arnd. »Haben Sie Verbandszeug bei sich? Wir müssen die Wunde sofort verbinden und schnell Hilfe herbeiholen.«
Umsichtig ging Arnd dem Förster zur Hand, der mit stark zitternden Fingern die Wunde versorgte.
Schweigend, Eva in Arnds Armen, setzten sie sich dann in Bewegung.