Im Schatten des Mondkaisers
Es war noch früh am Morgen, als sie das Dorf der Mutanten verließen. Der Himmel wölbte sich klar und weit über ihren Köpfen, und die am Horizont aufgehende Sonne färbte ihn in fahlen Gelb- und Orangetönen. Ein weiterer sengend heißer Tag kündigte sich an.
Sie waren zu dritt: Carya, Jonan und der Mutant Mablo, der ihnen in der Wildnis den Weg wies. Trockenes Gras knisterte unter ihren Füßen, und dornige Büsche strichen ihnen um die Beine. Carya war froh, dass sie die feste Hose trug, die eine der Dorfbewohnerinnen ihr geschenkt hatte. Für jemanden, der normalerweise Röcke gewohnt war, mochte sie ein wenig eng und unbequem sein, aber die Alternative wäre gewesen, sich gehörig die Waden zu zerkratzen.
Ihr Weg führte sie querfeldein durch die Wiesen. Einen Pfad gab es nicht. Doch ihr Ziel lag auch nicht in der Zivilisation, sondern in der hügeligen, dicht bewaldeten Einöde östlich der Siedlung der Ausgestoßenen. Wobei sie eigentlich gar kein festes Ziel hatten. Carya und die beiden Männer waren auf der Jagd.
Ursprünglich hatte Mablo Carya gar nicht mitnehmen wollen. Jagen sei nichts für die Tochter des Himmels, hatte er gesagt, als er mit Jonan gestern Abend diese Unternehmung geplant hatte. Und ein Teil von Carya gab ihm sogar recht, wenngleich aus anderen Gründen. Sie hegte kein besonderes Bedürfnis, irgendwelche Tiere mit Pfeil und Bogen zu erlegen. In den letzten Wochen hatte sie mehr Tod gesehen, als ein Mädchen von sechzehneinhalb Jahren kennen sollte.
Den ersten kaltblütigen Mord hatte sie in der Richtkammer im Keller des Tribunalpalasts im Herzen von Arcadion miterleben müssen, als Inquisitor Loraldi auf Befehl von Großinquisitor Aidalon den angeklagten Invitro Mondo Laura mit einer Art Hammer exekutiert hatte. Nach der grausamen Folter, die der Mann zuvor hatte durchleiden müssen, war sein Tod beinahe ein Gnadenakt gewesen.
Wenig später hatte Carya selbst ihren ersten Menschen getötet, Tobyn, den Invitro-Geliebten ihrer besten Freundin Rajael, der nach Mondo Laura vor die Richter geführt worden war. Eigentlich hätte Rajael, die sich mit Caryas Hilfe bei dem nur für ausgewähltes Publikum zugänglichen Prozess eingeschlichen hatte, den Todesschuss abfeuern sollen. Schließlich war sie es auch gewesen, die die Waffe ohne Caryas Wissen in den Tribunalpalast eingeschmuggelt hatte. Doch kurz vor dem Abdrücken hatte sie der Mut verlassen, und so war es an Carya gewesen, Tobyn diesen außergewöhnlichen Liebesdienst zu erweisen.
Und damit hatte die Spirale des Leids erst begonnen, sich zu drehen. Kurz darauf war Rajael selbst in den Freitod gegangen. Dann waren die Inquisitoren und ihre Schwarzen Templer gekommen und hatten Caryas Eltern festgenommen, und bei dem Versuch, sie zu befreien, hatte Carya höchstwahrscheinlich einen jungen Wachsoldaten umgebracht. Wie viele Menschen gestorben waren, als die Inquisition Jonan, Pitlit und sie nach ihrer gemeinsamen Flucht aus Arcadion hier in der Wildnis bei den Mutanten aufgespürt hatte, wagte Carya sich gar nicht auszumalen. Die Häscher des Lux Dei hatten mithilfe einer angeheuerten Motorradgang ein schreckliches Blutbad unter den Männern, Frauen und Kindern angerichtet, die Carya und ihren Gefährten eine zeitweilige Bleibe geboten hatten.
Und schließlich wäre sie beinahe selbst gestorben. Von den Schwarzen Templern verschleppt und gemeinsam mit ihren Eltern der Gerichtsbarkeit von Großinquisitor Aidalon unterworfen, hatte man sie zum Tod durch den Strang verurteilt. Erst in letzter Sekunde, als Carya bereits auf dem Quirinalsplatz vom Galgen baumelte und qualvoll erstickte, war Jonan gekommen und hatte sie alle gerettet.
Auch hierbei waren Menschen gestorben, schuldige und unschuldige. Nur der eine, der Urheber für all das Leid, hatte überlebt: Aidalon! Carya hatte ihn in ihrer Gewalt gehabt. Der Lauf ihrer Pistole, einem toten Wachmann aus der kalt werdenden Hand gerungen, hatte bereits an seiner Schläfe gelegen, und der Großinquisitor, eingeklemmt unter dem schweren, gepanzerten Leib eines seiner Templergardisten, war vollkommen wehrlos gewesen.
Doch sie hatte nicht abgedrückt. Vielleicht hatte Jonan sie davon abgehalten, der plötzlich hinter ihr aufgetaucht war und beschwörend auf sie eingeredet hatte. Vielleicht war es aber auch der Teil ihres Inneren gewesen, der kein besonderes Bedürfnis hegte, irgendwelche Tiere mit Pfeil und Bogen zu erlegen.
Ihr zweites Ich, ihre Kämpfernatur, die an dem Abend, als sie Tobyn den Gnadenschuss gab und anschließend auf seine Richter feuerte, erstmals zum Vorschein gekommen war und sie seitdem immer häufiger übermannte, bedauerte diese Entscheidung noch immer. Einen Mann wie Aidalon beschämte man nicht dermaßen und ließ ihn danach am Leben. Früher oder später würde er kommen, um sich an Jonan und ihr zu rächen. Mit Blut auf den Lippen hatte er es ihnen versprochen.
Diese Kämpfernatur war es auch, die Carya dazu bewogen hatte, darauf zu bestehen, Mablo und Jonan bei der Jagd begleiten zu dürfen. »Wir sind jetzt nicht mehr in Arcadion«, hatte sie zu den beiden gesagt. »Wir befinden uns in der Wildnis. Und, Jonan, wir haben keine Ahnung, was uns noch bevorsteht. Ich muss lernen, zurechtzukommen, zu überleben. Dazu gehört auch, hier draußen Nahrung zu finden. Beeren von Sträuchern und Äpfel von Bäumen pflücken, das kann ich. Aber wie man jagt, das weiß ich nicht.«
Widerstrebend hatten die Männer nachgegeben. Und nun waren sie zu dritt unterwegs durch das wilde Land abseits aller schützenden Mauern und Handelsstraßen. Sie liefen den Hang eines Hügels hinunter, durchquerten ein schmales Tal und tauchten dann in den Schatten schlanker, doch vielfach verästelter und eng beisammenstehender Bäume ein. Zwischen den Stämmen wuchs das Buschwerk so dicht, dass es stellenweise kaum ein Durchkommen gab. Carya konnte sich nicht vorstellen, dass hier Tiere lebten, die größer waren als Hasen oder Wildhunde.
Als sie noch innerhalb der Mauern Arcadions das Leben einer behüteten Städterin geführt hatte, war ihr die Welt jenseits des Aureuswalls stets wie eine unwirtliche, lebensfeindliche Wüstenei erschienen – daran hatte selbst der Ausflug ans Meer, den Carya vor ein paar Jahren mit der Templerjugend unternommen hatte, wenig geändert, so aufregend er auch gewesen war. Natürlich färbte der Ausblick, den man von den Mauern der Stadt aus hatte, die Sicht der Bürger auf die Dinge. Ruinen erstreckten sich, so weit das Auge reichte, um Arcadion herum – die verfallenen Zeugen einer Zivilisation, die es seit dem Sternenfall und den Dunklen Jahren nicht mehr gab.
Nur Verbrecher, Glücksritter und Mutanten lebten dort draußen, hatte man sie gelehrt. Und Leben konnte man das eigentlich auch nicht nennen. Sie schliefen auf Müll, ernährten sich von dem wenigen, was sie dem Land und sich gegenseitig rauben konnten, und töteten einander selbst für ein Paar Stiefel, einen Mantel oder einen Kanister mit unverdorbenem Wasser. Diese und ähnliche Lügen waren ihr an der Akademie des Lichts eingetrichtert worden.
Nun gehörte Carya selbst zu diesem Menschenschlag von Flüchtlingen und Ausgestoßenen, und obwohl sie – gerade im Trümmergürtel rund um die Stadt – Leben in tiefster Armut und schnell kommenden Tod kennengelernt hatte, war nicht alles schlecht in der Wildnis.
Die Mutantengemeinschaft beispielsweise, der auch Mablo angehörte, hatte Jonan, Pitlit und sie freundlich aufgenommen. Wie viel der empfangenen Gastfreundschaft und Ehrerbietung dem Umstand geschuldet war, dass man Carya hier für eine Art Prophetin hielt, die alles Leid, das mit dem Sternenfall gekommen war, wiedergutmachen würde, vermochte sie nicht zu sagen. Sicher spielte es eine Rolle, dass sie die Frau war, der die silbrig weiße Kapsel gehörte, die vor zehn Jahren in der Wildnis abgestürzt von den Mutanten gefunden worden war und seitdem als eine Art Heiligtum verehrt wurde. Aber die Ausgestoßenen – den herabwürdigenden Begriff Mutant mochte Carya eigentlich gar nicht mehr verwenden – entsprachen auch sonst so gar nicht dem Bild der barbarischen, Menschen fressenden Schrecken, als die sie die Propaganda des Lux Dei darstellte.
Und genauso wie das Bild der Bürger von Arcadion über die Wildnisbewohner verzerrt war, entsprach auch ihre Vorstellung von der Wildnis selbst nur ansatzweise der Wahrheit. Die Todeszonen, in denen Strahlung und Gifte jedes Leben nach wie vor unmöglich machten, existierten tatsächlich. Carya hatte die gelbbraune Einöde in der Ferne gesehen – das versehrte Land, das sich von den Ereignissen der Dunklen Jahre niemals erholt hatte. Aber es gab auch ganz andere Landstriche, in denen die Natur, weitgehend unberührt von Menschenhand, blühte und gedieh, wie im Fall dieses Waldes, dem etwas regelrecht Urtümliches anhaftete.
Sie erklommen einen weiteren Hügel. Jenseits des Kamms erstreckte sich eine weite Senke, an deren Grund ein kleiner Tümpel lag, der von einem Bach, eigentlich nur einem Rinnsal, gespeist wurde.
Mablo hob die Hand und ging in die Hocke. Er legte seinen Speer neben sich auf den Boden und zog seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen vom Rücken. »Hier bleiben wir.«
Carya verstand. Statt dem Wild Kilometer um Kilometer nachzulaufen, es zu suchen und womöglich im dichten Wald doch nicht zu finden, war es zweifellos klüger, an Orten auf der Lauer zu liegen, an denen die Tiere höchstwahrscheinlich auftauchen würden: etwa in den frühen Morgenstunden an einem Wasserloch.
Gemeinsam mit Jonan ließ Carya sich neben Mablo nieder. Auch sie holte ihren Bogen und die Pfeile hervor. Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Waffe eindeutig nicht von den Ausgestoßenen hergestellt worden war. Der Bogen fühlte sich zu glatt, zu perfekt an und schien aus einem Material gefertigt, das fester und zugleich biegsamer war als Holz. Carya konnte nur vermuten, dass die Waffe noch aus der Zeit vor dem Sternenfall stammte. Vielleicht handelte es sich um ein Familienerbstück. Damit wäre der Bogen eigentlich viel zu wertvoll gewesen, um ihn einer Anfängerin wie ihr zu überlassen. Andererseits bin ich die Tochter des Himmels, dachte sie nicht ohne einen Anflug von Zynismus. In den Augen dieser Menschen ist das Beste gerade gut genug für mich.
Die Pfeile dagegen bestanden aus gewöhnlichem Holz. Sie waren mit Vogelfedern befiedert und wiesen eine flache, geschmiedete Metallspitze mit scharfen Kanten auf, dazu gedacht, möglichst glatt Haut und Fleisch zu durchschneiden und dem Tier bei einem Treffer ins Herz oder in die Halsschlagader einen schmerzlosen, schnellen Tod zu bringen. So hatte Mablo es ihr zumindest erklärt, als er ihr das Jagdgerät übergeben hatte.
Der Anblick der messerscharfen Pfeilspitzen weckte einige unangenehme Erinnerungen in Carya, Erinnerungen an ein Skalpell in der Hand eines sadistischen Mannes, das vor nicht allzu langer Zeit in ihr eigenes Fleisch geschnitten hatte. Inquisitor Loraldi hatte sie in irgendeinem Kellerloch tief unter dem Tribunalpalast unter Drogen gesetzt und gefoltert, um sie dazu zu bringen, mehr über sich, ihre Herkunft und ihre Ziele preiszugeben. Was genau sie ihm verraten hatte, wusste Carya nicht. Viel konnte es nicht gewesen sein. Außer einer Zahlenkombination, die für Koordinaten stehen mochte, und der flüchtigen Vision eines Labors, durch dessen Fenster man die Erdkugel sehen konnte, war ihr über die Zeit vor ihrer Ankunft in Arcadion praktisch nichts bekannt. Sie hoffte, dass sie dem Lux Dei selbst diese wenigen Informationen vorenthalten hatte.
»He, Carya, pass auf«, sagte Jonan zu ihrer Rechten und holte sie damit aus ihren Gedanken.
Verwirrt blickte sie ihn an. »Hm?«
Er deutete mit einem Nicken auf den Pfeil in ihrer Hand. »Diese Dinger sind scharf.«
Sie senkte den Blick und stellte überrascht fest, dass sie sich am linken Daumen geschnitten hatte. Es war ihr gar nicht aufgefallen. Rasch löste sie die Hand von der Pfeilspitze und steckte den schwach blutenden Daumen in den Mund. »Du hast recht«, nuschelte sie.
Jonan runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
Carya nickte. »Ich war nur einen Moment lang in Gedanken.«
»Nicht gut«, zischte Mablo. Er deutete mit zwei Fingern seiner linken Hand auf seine Augen. »Ihr müsst wach sein, wenn Ihr auf die Jagd geht, Tochter des Himmels. Aufmerksam. Oft habt Ihr nur einen Schuss. Verschlaft Ihr ihn, geht Ihr ohne Beute nach Hause.«
»Tut mir leid«, erwiderte Carya schuldbewusst. »Ab jetzt passe ich besser auf und …«
Mablo, der seinen Blick bereits wieder dem Tümpel zugewandt hatte, gebot ihr mit einer Geste, still zu sein. Wortlos deutete er nach vorne.
Aus dem Unterholz war ein Reh an die Wasserstelle getreten. Scheu sah es nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass keine Gefahr drohte. Dann stakste es langbeinig näher, bis es den Rand des Tümpels erreicht hatte. Es senkte den schlanken Hals und begann zu trinken.
Der Ausgestoßene deutete auf Caryas Bogen und auf das Tier. Die Aufforderung war eindeutig. Sie sollte ihre Fähigkeiten beweisen. Er hat mich keinen einzigen Probeschuss abfeuern lassen, dachte Carya. Wie kommt er auf den Gedanken, dass ich das überhaupt kann? Die Antwort auf diese Frage war so einfach wie fehlgeleitet: Sie war die Tochter des Himmels. Man musste ihr nichts beibringen, auch wenn sie ausdrücklich gesagt hatte, dass sie vom Jagen wenig verstand.
Vorsichtig legte sie einen Pfeil auf die Sehne. Dann hob sie den Bogen, zog die Sehne bis zur Wange durch und zielte. Das Reh befand sich direkt in ihrer Schussbahn. Arglos labte es sich am kühlen braunen Wasser des Tümpels.
Es war ein so hübsches Tier. Sein haselnussbraunes Fell glänzte und war ohne Makel, die auf frühere Verletzungen oder Krankheiten hingewiesen hätten. Nicht wenige Tiere, so hatte Mablo ihnen verraten, trugen Spuren von Aufenthalten in den Todeszonen. Diese durfte man nicht jagen, denn sie brachten nur noch mehr Krankheiten über die bereits vom Schicksal geschlagenen Ausgestoßenen. Aber dieses Reh wirkte jung und gesund, mit wachen Augen und anmutigen Bewegungen.
Wie kann ich ein so schönes Geschöpf töten?, fragte sich Carya. Welches Recht habe ich dazu, ihm das Leben zu nehmen?
Hatte sie das Recht, nur weil sie stärker war und in der Natur schon seit jeher der Stärkere den Schwächeren tötete? War ihr eigenes Leben mehr wert als das dieses Rehs? Und mal ganz abgesehen davon: Hing ihr eigenes Leben überhaupt vom Leben dieses Rehs ab? Oder konnte sie nicht einfach kehrtmachen und auf dem Weg nach Hause ein paar Beeren und Äpfel sammeln? Sie hatte in den letzten Tagen so viel Tod gesehen, so viele Unschuldige, die durch jene umgekommen waren, die sich für besser und stärker hielten und sich daher das Recht herausnahmen, zu morden.
Caryas Hand, die den Bogen hielt, begann zu zittern. Es mochte die Anstrengung sein, die Sehne so lange gespannt zu halten, oder eine Folge ihres inneren Haderns.
»Carya?«, fragte Jonan leise.
»Still«, flüsterte sie. Eine unnatürliche Ruhe bemächtigte sich ihrer. Die Stimme des Zweifels verstummte und wurde durch eine andere Präsenz ersetzt, die mit kühler Klarheit das Zittern ihrer Hand beendete und ihr Augenmaß schärfte. Du bist hier in der Wildnis. Schwäche kannst du dir nicht leisten. Wenn du nicht schwach werden willst, musst du Fleisch essen, gesundes Fleisch, wie das dieses Tieres. Sein Tod ist notwendig.
Bedächtig entließ sie die vor Anspannung angehaltene Luft aus ihren Lungen. Dann gab sie den Pfeil frei. Mit einem kaum hörbaren Zischen schoss er seinem Opfer entgegen und traf es direkt in den Hals.
Das Reh zuckte zusammen und gab einen erstickten Laut von sich. Blut trat in pulsierenden Stößen aus der zerschnittenen Halsschlagader. Das Tier machte noch zwei schwankende Schritte, bevor es neben dem Tümpel zusammenbrach. Binnen weniger Augenblicke war es tot.
»Ein perfekter Schuss«, staunte Mablo. Er ließ seinen eigenen Bogen sinken und nickte Jonan zu. »Komm. Wir müssen das Tier vom Wasserloch wegziehen und hier oben ausweiden. Danach bringen wir es ins Dorf. Heute Abend wird es gutes Essen geben.«
Während die Männer loseilten, um ihre Beute zu bergen, ließ Carya ihren Bogen fallen und sackte in sich zusammen. Mit großen Augen starrte sie auf den Kadaver, und ein Teil von ihr konnte nicht fassen, was sie soeben getan hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit gnadenloser Präzision getötet hatte. Doch sowohl in der Richtkammer des Tribunalpalasts als auch während des Kampfes um die Gefängniskutsche in den Straßen Arcadions oder beim Angriff der Motorradgang auf das Dorf der Ausgestoßenen, hatte sie mehr oder minder in Notwehr gehandelt, aus einer Stresssituation heraus.
Diesmal war es anders gewesen. Diesmal hatte sie völlig ruhig aus dem Hinterhalt heraus einem unschuldigen Wesen den Tod gebracht.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete Carya sich davor, was ihr neues Leben aus ihr machen könnte. Wer bin ich?, fragte sie sich unwillkürlich. Und wer werde ich sein, wenn all dies hier vorüber ist?
Als sie mit ihrer Jagdbeute ins Dorf der Ausgestoßenen zurückkehrten, herrschte dort große Aufregung. Allerdings war nicht das prächtige Reh, das sie erlegt hatten, der Grund dafür. Irgendetwas war während ihrer Abwesenheit vorgefallen. »Was ist denn hier los?«, fragte Carya den Erstbesten, der ihnen über den Weg lief.
Der Jugendliche, dessen braune Haut von rotem Ausschlag übersät war, blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Sie haben einen Mann gefunden. Er hat das Dorf beobachtet. Es soll ein Soldat aus Arcadion sein.«
»Ein Soldat?« Carya spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Sie wechselte einen besorgten Blick mit Jonan. Wenn das stimmte, hatten sie ein Problem. Dann hatte sich der Lux Dei von Jonans Angriff auf die Innenstadt von Arcadion vor einer Woche anscheinend so weit erholt, dass Großinquisitor Aidalon seine Klauen bereits wieder nach ihnen ausstreckte.
Er hatte ihnen hasserfüllt versprochen, dass sie sich wiedersehen würden, als sie ihn, eingeklemmt unter der Rüstung eines seiner Templersoldaten, auf dem Quirinalsplatz zurückgelassen hatten. So bald hätte Carya seine Männer jedoch nicht erwartet. Aber welchen Grund sollte es sonst für einen Soldaten aus Arcadion geben, das Dorf der Ausgestoßenen zu belauern, wenn nicht die Frage, ob sich Jonan und sie noch immer dort aufhielten?
»Los, das schauen wir uns an«, sagte Jonan, dessen Gedanken sich offenbar in eine ähnliche Richtung bewegten. »Mablo, kannst du das Reh alleine abliefern?«
Dieser nickte knapp.
»Wo ist der Gefangene jetzt?«, wollte Carya von dem Jugendlichen wissen.
»Sie sind alle in Orduns Haus.«
»Danke.«
Gemeinsam liefen Carya und Jonan die Dorfstraße hinunter bis zum Haus des Priesters und Stammesführers. Es handelte sich um ein zweistöckiges Gebäude, das aussah, als sei es früher, bevor die ursprünglichen Dorfbewohner verschwunden waren und die Ausgestoßenen sich hier angesiedelt hatten, das Rathaus gewesen.
Ein kleiner Menschenauflauf hatte sich vor dem Eingang gebildet. Carya sah Pitlit und seine neue Freundin, die zierliche Suri mit dem lichten Haar. Auch die Frau des Dorfarztes Nessuno, der Carya, Jonan und Pitlit bei ihrer Ankunft im Dorf so freundlich aufgenommen hatte, stand dort. In den Armen hielt sie einen Korb mit Pilzen, und ihr Blick war sorgenvoll auf die offene Tür des Hauses gerichtet, vor der einer der Jäger der Gemeinschaft Wache stand.
»Verzeihung. Dürfen wir mal durch?« Mit sanfter Gewalt bahnte Jonan ihnen einen Weg durch die Menge.
Als Pitlit sie bemerkte, drängte er sich zu ihnen herüber. »Habt ihr das mitgekriegt?«, rief er aufgeregt. »Die haben drüben auf dem Hügelkamm einen Spion des Lux Dei überrascht.«
»Wissen wir sicher, dass es sich um einen Mann aus dem Orden handelt?«, wollte Jonan wissen.
Der Straßenjunge aus Arcadion, der sich ihnen auf ihrer Flucht vor der Inquisition angeschlossen hatte, zuckte mit den Schultern. »Na ja, er behauptet natürlich, ein harmloser Reisender zu sein, der zufällig hier vorbeigekommen ist und nur mal schauen wollte, was im Dorf so passiert. Normale Leute lassen sich schließlich nicht einfach so mit Mutanten ein. Nicht nach allem, was man sich über sie erzählt. Aber wenn ihr mich fragt, lügt er.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Carya.
»Bauchgefühl.« Pitlit tippte auf seinen Magen. »Ich kann Leute gut einschätzen. Das musste ich auf den Straßen von Arcadion lernen. Und dieser Kerl hat etwas in seinem Blick, das mir nicht gefällt.«
»Wir werden sehen«, sagte Jonan.
»Ich komme mit«, erklärte Pitlit.
»Nein, Pitlit. Sei so gut und warte hier draußen. Es ist sicher schon voll genug dort drinnen. Wir berichten dir nachher, was vorgefallen ist.«
Der Straßenjunge machte ein missmutiges Gesicht. »Toll«, brummte er leise.
»Warum hast du ihn nicht mitgehen lassen?«, fragte Carya leise, während sie die Stufen zu dem Wachmann hinaufstiegen.
»Weil ich jede Wette eingehen würde, dass dieser Spion gerade gründlich von Ordun befragt wird – und das ist sicher kein schöner Anblick.«
Carya erschrak, auch wenn sie eigentlich damit hätte rechnen müssen. »Du meinst, sie foltern ihn?«
Jonan bedachte sie mit einem seltsamen Seitenblick. »Sicher nicht so, wie die Inquisition des Lux Dei ihre Opfer foltert – aber ja.«
Der Jäger am oberen Ende der Treppe neigte den Kopf und trat zur Seite, um sie durchzulassen. Für die Tochter des Himmels und ihren Begleiter gab es in der Gemeinschaft der Ausgestoßenen keine verschlossenen Türen.
Drinnen wurden sie von Petas, einem weiteren Krieger der Gemeinschaft, empfangen. »Was macht Ihr hier, Tochter des Himmels?«, flüsterte er eindringlich. »Ihr solltet nicht hier sein.«
»Wir wollen den Gefangenen sehen«, antwortete Jonan an Caryas Stelle. »Kommt er wirklich aus Arcadion?«
»Wir wissen es nicht genau … noch nicht. Er wurde ja eben erst entdeckt.« Der Mann warf einen Blick über die Schulter.
Am anderen Ende des Eingangsbereichs stand eine Tür offen. Durch diese sah man den Rücken eines Mannes, der bis auf die Unterwäsche entkleidet worden war und nun gefesselt auf einem Stuhl saß. Ordun, der eindrucksvolle, glatzköpfige Anführer der Ausgestoßenen, und zwei Begleiter, deren Krankheiten ihnen besonders schlimme Entstellungen beschert hatten und die daher ausgesprochen furchteinflößend wirkten, ragten vor ihm auf.
»Verstehen Sie doch: Ich habe nichts getan«, vernahm Carya die Stimme des Mannes. Die Angst verlieh ihm einen schrillen Tonfall. »Ich bin einfach nur ein Wanderer, der zufällig auf diese Siedlung gestoßen ist.«
Ordun packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn kräftig durch. »Sprich die Wahrheit!«, forderte er. Seine Stimme klang dunkel und grollend, und auf seiner Miene lag ein Ausdruck von Gewaltbereitschaft, der Carya erschreckte. Entweder spielte der Stammesführer den bösen Wilden sehr gut oder es gab eine Seite an ihm, die ihr bislang noch nicht aufgefallen war.
»Aber ich sage die Wahrheit«, behauptete sein Gegenüber.
»Niemand wandert einfach so durch die Wildnis. Wo ist deine Ausrüstung? Wie überlebst du ohne sie?«
»Ich … sie wurde mir geraubt.«
»Wer hat sie dir geraubt? Und wo?«
»Ich weiß es nicht«, jammerte der Mann. »Ich habe mich verirrt. Es war weiter südlich, glaube ich. Wilde … ich meine, Banditen auf Motorrädern haben mich überfallen.«
»Also auf der Handelsstraße?«
»Ja, ja, auf der Handelsstraße.«
»Warum bist du nicht dort geblieben? Wenn man Hilfe braucht, läuft man nicht in die Wildnis.«
»Ich … ich musste vor den Banditen fliehen. Querfeldein durch die Wiesen. Sonst hätten sie mich getötet. Und dann habe ich mich verlaufen.«
»Ich glaube dir nicht«, erklärte Ordun. »Die Handelsstraße ist riesig. Man sieht sie von überall. Außerdem hat dich keiner unserer Späher kommen sehen. Du hast dich angeschlichen und wusstest genau, wo das Dorf liegt!«
Als der Gefesselte daraufhin schwieg, schlug Ordun ihm mit der Faust ins Gesicht. »Wer hat dich geschickt? Wie lautet dein Auftrag? Wollt ihr uns wieder überfallen? Habt ihr noch nicht genug von uns getötet?« Er verpasste ihm einen weiteren Faustschlag.
»Ich sage euch gar nichts«, keuchte der Mann. »Ihr seid doch alle nur Barbaren.«
»Richtig«, bestätigte Ordun. »Und da du uns so gut kennst, weißt du sicher auch, was wir mit Gefangenen wie dir machen. Wir quälen sie. Weil es uns Spaß macht. Ah …« Der Stammesführer riss die dunklen Augen auf, wie ein Verrückter, der soeben eine großartige Idee gehabt hatte. Er drehte sich zu einem seiner Leute um. »Gebt mir den Skorpion.«
»Was hat er vor?«, fragte Carya Petas im Flüsterton. Sie spürte eine zunehmende Unruhe in sich aufsteigen. Ganz gleich, was Jonan sagte: Das Geschehen in dem Hinterzimmer erinnerte sie auf erschreckende Art und Weise an die Verhörmethoden der Inquisition.
Petas zuckte mit den Schultern. »Antworten erzwingen.«
Einer der Männer in dem Raum reichte Ordun ein ehemals durchsichtiges, aber mittlerweile furchtbar verkratztes Gefäß von der Größe eines kleinen Blumentopfs. Ein schwarzes Insekt, kaum handtellergroß, aber mit kräftigem, gedrungenem Körper und zwei großen Scherenarmen krabbelte darin herum.
Langsam näherte Ordun das Gefäß dem Gesicht des Mannes. Noch war es durch einen Deckel verschlossen. Doch der ließ sich jederzeit aufklappen. »Es heißt, früher waren Skorpione in unserem Land ungefährlich. Ihr Stich schmerzte, aber man starb nicht.« Er tippte mit einem Finger an die Wand des Gefäßes, und das schwarze Tier richtete drohend Schwanz und Scheren auf. »Aber der hier kommt aus den Todeszonen. Er ist voller Gift und unsichtbarem Tod. Ein Ungeheuer, sage ich dir. Er und seine Brüder brachten fünf unserer Männer und Frauen um, bevor wir lernten, sie zu meiden.« Ordun klappte den Deckel auf. »Ich denke, du wirst reden. Oder ich stecke dir den hier in dein Unterhemd. Ein Stich – und ein qualvoller Tod ist dir gewiss.«
Sein Begleiter reichte dem Stammesführer eine kleine Zange, und dieser holte den Skorpion aus dem Behälter hervor. Das Tier wand sich und zappelte mit seinen acht Beinen in der Luft. Es hatte offensichtlich Angst – und würde sicher zustechen, wenn es Gelegenheit dazu bekam.
»Aufhören!«, rief Carya und machte einen Schritt nach vorne. Petas wollte sie am Arm zurückhalten, aber sie schüttelte ihn ab. Sie betrat den Raum und baute sich vor Ordun auf. Ein Anflug von Unwillen huschte über das Gesicht des Stammesführers. Gleichzeitig wandte der Gefangene überrascht den Kopf. Es handelte sich um einen Mann mit schmalem Gesicht und brauner, wettergegerbter Haut. Auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen, und seine Lippen waren aufgeplatzt und bluteten.
»Was machst du hier?«, fragte Ordun unwirsch, während er den Skorpion rasch wieder in das halb durchsichtige Gefäß steckte und dieses verschloss.
»Ich war neugierig«, antwortete Carya. »Und wie es aussieht, bin ich genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Das da …«, sie deutete auf den Skorpion, »… geht zu weit. Ich dachte, wir sind besser als die Inquisitoren in Arcadion.«
»Erzähl mir nicht, wie ich mit Menschen umgehen darf, die mein Volk bedrohen«, knurrte Ordun. Carya fiel auf, dass er auf jede Höflichkeitsform in der Anrede verzichtete. Er musste ganz schön ungehalten über die Störung sein.
»Das will sie auch gar nicht«, mischte sich nun auch Jonan ein. »Aber sie hat recht. Folter ist keine Lösung. Und sie ist auch vollkommen unnötig. Der Mann lügt eindeutig. Darin sind wir uns alle einig. Das kann nur bedeuten, er verheimlicht uns etwas. Und was könnte das wohl sein? Die Identität seiner Auftraggeber. Womit wir sie im Grunde bereits kennen, ohne dass er ein Wort gesagt hat. Dass der Lux Dei und allen voran Großinquisitor Aidalon unser Feind ist, wissen wir. Also werden entweder der Orden oder der Herr des Tribunalpalasts diesen Mann geschickt haben. Ist es nicht so?«
Jonan trat vor, packte den Gefangenen am Kinn und zwang ihn, ihm in die Augen zu blicken. Carya sah, dass der Mann ihn trotzig anstarrte. Von seiner Fassade als armer, ausgeraubter Wanderer war nicht viel übrig geblieben. Pitlits Bauchgefühl besaß Carya zwar nicht, aber auch wenn keine Arglist im Blick des Fremden lag, so blitzte doch etwas anderes auf, das ihr zu denken gab: Erkennen. Es kam ihr so vor, als habe der Mann Jonan und sie schon einmal gesehen.
Das ist allerdings kaum ein Beweis seiner Schuld, schränkte sie nüchtern ein. Unsere Steckbriefe hingen überall in Arcadion und auch in den Räumlichkeiten der Herbergen an der Handelsstraße.
Jonan schien sich seiner Sache sicherer zu sein als sie. Grimmig ließ er von dem Mann ab. »Er gehört dem Templerorden an. Da besteht für mich kein Zweifel. Ich kenne seinen Namen nicht, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihn nicht schon einmal in der Kaserne gesehen habe.«
»So kommt die Wahrheit doch ans Licht«, knurrte Ordun. »Und was treibt ihn hierher?«
»Ich befürchte: Carya und ich«, antwortete Jonan. »Es würde mich wundern, wenn sich die Ordensoberen des Lux Dei oder die Templer plötzlich für Ausgestoßene wie diese Dorfgemeinschaft interessieren. Wären die hohen Herren in Arcadion auf Rache für den Angriff mit dem Leviathan-Panzer aus, hätten sie einen Trupp motorisierter Soldaten geschickt und einfach das Dorf niedergemetzelt.«
»Könnte er nicht ein Kundschafter eines solchen Trupps sein?«, fragte Carya.
Einer der anderen Krieger schüttelte den Kopf. »Wir kennen die Wildnis in der Umgebung besser als jeder Stadtmensch. Ein Trupp Soldaten könnte sich, mitten am Tag, niemals unbemerkt an uns anschleichen. Nicht seit dem letzten Angriff auf das Dorf. Wir haben überall Spähposten. Dass dieser hier es bis auf den Hügelkamm geschafft hat, grenzt an Hexerei.«
»Was dafür spricht, dass er extra ausgewählt wurde, um sich heimlich anzupirschen, das Dorf zu beobachten und sich dann wieder zurückzuziehen, um seinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten«, sagte Jonan. »Sicherlich will Aidalon wissen, ob Carya und ich einmal mehr eure Gäste sind. Und wahrscheinlich sucht er auch nach der Flugkapsel, die wir ihm wieder weggenommen haben. Er schien sehr interessiert daran zu sein. Genauso wie an Carya.«
»Hm«, brummte der Stammesführer. Er wandte sich an den Gefangenen. »Hast du dazu noch etwas zu sagen?«
»Was soll ich denn sagen?«, entgegnete dieser. »Ihr habt euch alles wunderschön zusammengereimt. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Mir glaubt ja doch niemand.« Regelrecht mürrisch blickte er in die Runde. »Und jetzt? Was geschieht mit mir?«
Ordun zog sein Messer und hielt es dem Gefesselten unmittelbar vor die Nase. Seine Miene war so finster wie eine Gewitternacht. »Eigentlich sollten wir dir hiermit das Fleisch vom Leib ziehen, und es vor deinen Augen überm offenen Feuer grillen, um es danach zu verspeisen. Das erwartet ihr doch von uns Mutanten, oder? Aber ich verrate dir ein Geheimnis …« Er beugte sich noch näher heran und umfasste den Kopf des Mannes mit einer seiner riesigen Pranken. »Wir sind nicht die Ungeheuer, für die ihr uns haltet. Und deshalb …« Unvermittelt rammte er dem Mann das Messer in die Brust, direkt ins Herz.
Der Fremde riss die Augen auf und zuckte heftig zusammen.
Carya sog erschrocken die Luft ein, und ihre Hand krallte sich in Jonans Arm.
»… mache ich es so schmerzlos wie möglich für dich«, fuhr Ordun düster fort. Sein Griff verstärkte sich einige schreckliche Augenblicke lang, während der Mann in seinem Arm zuckte, bis er das Bewusstsein verlor. »Obwohl ihr Diener des Lux Dei einen leichten Tod gar nicht verdient habt.«
Beim Anblick des Blutes, das den Stoff des Unterhemds des Mannes binnen Sekunden vollkommen rot färbte, wurde Carya schwindelig. Mit einem so kaltblütigen Mord hatte sie nicht gerechnet, und der Schock hätte ihr beinahe das Bewusstsein geraubt. Aber sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick nicht ab.
Der Stammesführer ließ den Mann los, der auf dem Stuhl zusammensackte. Mit dunklen Augen blickte er Carya und Jonan an. »Es musste sein«, sagte er leise, so als sei ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Tat sehr wohl bewusst. »Hätten wir ihn gehen lassen, hätte er uns verraten.«
»Seine Vorgesetzten hätten ihn nicht geschickt, wenn sie nicht ohnehin das Gefühl gehabt hätten, dass es sich lohnen könnte, euer Dorf noch einmal in Augenschein zu nehmen«, gab Jonan zu bedenken. Auch er wirkte erschüttert. »Der Tod dieses Mannes wird sie kaum aufhalten, weitere Schritte einzuleiten. Wenn er nicht zurückkehrt, denken die sich ihren Teil schon. Ich fürchte, wir sind hier nicht mehr sicher.«
Seufzend fuhr sich Ordun mit der Hand über den kahlen Schädel. »Das fürchte ich auch.« Er wandte sich an seine Männer. »Cassio, lass alle wissen, dass es heute Abend eine Versammlung gibt. Wir müssen eine schwere Entscheidung treffen.«
Gegen Nachmittag kehrten die Männer und Frauen des Dorfes zurück, die zum Jagen und Sammeln morgens in die Wildnis ausgezogen waren. Wie alle anderen wurden auch sie sofort davon unterrichtet, dass am Abend eine Versammlung auf dem Dorfplatz stattfinden sollte. Und so fand sich, als die Sonne den Hügelkuppen am westlichen Horizont entgegensank, die gesamte Gemeinschaft der Ausgestoßenen vor dem provisorischen Tempel der Tochter des Himmels ein, in dem nun wieder Caryas Kapsel untergebracht war.
Carya traf, in Begleitung von Jonan, als eine der Letzten ein. Im Vorbeigehen nickte sie Nessuno und Petas zu und schenkte jenen, die ihr ehrfürchtige Blicke zuwarfen, ein freundliches Lächeln. Dann gesellte sie sich zu ihren Eltern, die am Rand der Versammlung unweit der Stufen des Tempels standen. Pitlit und Suri hielten sich nur wenige Schritte entfernt auf und winkten, als sie Carya und Jonan sahen.
Schon seit ihrer Rettung aus den Händen der Inquisition war Carya aufgefallen, dass der Straßenjunge fast seine ganze Zeit mit dem Mädchen verbrachte. Dabei schien die Freundschaft zwischen den beiden mit jedem Tag enger zu werden, auch wenn Pitlit alle Hinweise in dieser Richtung mit der Entschiedenheit eines Ertappten von sich wies. Nach den Moralvorstellungen der Bürger Arcadions mochte eine derartige Beziehung zwischen einem frühreifen Dreizehnjährigen und einem vielleicht zwei oder drei Jahre älteren Mädchen fragwürdig sein.
Aber in der Wildnis, und insbesondere unter den Ausgestoßenen, die an vielerlei namenlosen Krankheiten litten, kam der Tod oft verfrüht und mit erschreckender Plötzlichkeit. Für die Leute hier war jeder Tag ihres Lebens ein Geschenk. Dieses Geschenk zu verschwenden, indem man wartete, bis man im gesellschaftlich angemessenen Alter war, um etwa einen Gefährten oder eine Gefährtin zu wählen, und mochte es auch nur für ein paar Wochen oder Monate sein, galt als Frevel.
Diese Art von Denken verstand Carya, und deshalb sagte sie auch nichts, wenn sie Pitlit und Suri zusammen sah, auch wenn sich ein Teil von ihr fragte, ob der vorlaute Straßenjunge überhaupt schon wusste, was Liebe eigentlich war. Die Lebenseinstellung der Ausgestoßenen sorgte auch dafür, dass sie selbst keinen Hehl daraus machte, dass Jonan mehr für sie war als nur ein Beschützer oder Begleiter. Ihre Eltern hatten diesen Umstand eigentlich ganz gut aufgenommen, womöglich weil Carya nun wirklich fast im heiratsfähigen Alter war und weil Jonan eigentlich alles hatte, was man von einem guten Mann erwartete. Er war treu und furchtlos, und er behandelte Carya nicht von oben herab, obwohl er gute sechs Jahre älter war als sie.
Caryas Mutter freute sich jedenfalls für ihre Tochter. Das sah Carya ihr an, wenn die Blicke von Andetta Diodato auf ihr und Jonan ruhten. Ihr Vater hatte zu ihrer Beziehung zu einem flüchtigen Templersoldaten noch nichts gesagt. Aber dass Jonan sie alle buchstäblich vom Galgen gerettet hatte, musste es auch dem einst eher konservativ eingestellten Edoardo Diodato schwer machen, ablehnende Gefühle für ihn zu empfinden.
»Da seid ihr ja«, sagte Caryas Vater. »Es geht gleich los. Der Priester ist im Inneren des Tempels. Er sagte, sobald du eintriffst, Carya, sollst du zu ihm kommen.«
»Ich?«, wunderte sich Carya.
»So sagte er es.«
Carya wechselte einen fragenden Blick mit Jonan.
Der zuckte mit den Schultern. »Geh ruhig. Vielleicht benötigt er deine Unterstützung als Tochter des Himmels, um seinen Leuten die bevorstehende Entscheidung leichter zu machen.«
»Das mag es sein.«
Ratlos stieg Carya die drei steinernen Stufen zu dem scheunentorgroßen Portal des tempelartigen Bauwerks hinauf. Ein Wächter öffnete das Portal gerade so weit, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Im Halbdunkel, das sie dahinter empfing, stand Ordun alleine vor dem zweieinhalb Meter hohen, weißsilbrigen Zylinder der Kapsel. Er hatte die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Es sah aus, als sei er ins Gebet oder zumindest in tiefe Kontemplation versenkt.
Als er Carya nahen hörte, wandte er sich zu ihr um. »Tochter des Himmels …«
Carya seufzte leise. »Wann werden Sie endlich aufhören, mich so zu nennen?«
»Wenn die Gemeinschaft Euch nicht mehr braucht.«
»Aber sie braucht mich doch gar nicht«, wandte Carya ein. »Es war immer nur eine Idee, zu der Sie gebetet haben. Um mich ging es dabei gar nicht. Und ich kann auch gar nichts für diese Menschen tun. Eigentlich bin ich nur eine Gefahr für sie. Das haben wir doch erlebt. Solange Jonan und ich bei Ihnen sind, wird der Lux Dei Soldaten schicken, um uns zu holen. Es wäre besser, wenn Sie uns ziehen ließen.«
»Ich weiß … Carya«, gestand Ordun. »Aber bevor du gehst, musst du mir helfen. Unsere Gemeinschaft lebt seit vielen Jahren in diesem Dorf. Meinen Leuten wird es nicht leicht fallen, es zu verlassen. Sie brauchen ein Licht, dem sie folgen können. Dieses Licht musst du ihnen bieten.«
Unwillkürlich runzelte Carya die Stirn. »Aber wie soll ich das anstellen?«
»Ich werde es dir sagen …«