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Marie Rutkoski

Spiel der Ehre

Kestrel ist die Verlobte des Prinzen – für viele ein Traum. Aber für Kestrel fühlt es sich an wie ein Käfig, den sie selbst errichtet hat. Je näher die Hochzeit rückt, desto mehr sehnt sie sich danach, Arin die Wahrheit zu sagen: Sie hat eingewilligt, den Prinzen zu heiraten, um Arin zu schützen. Doch kann Kestrel Arin trauen? Kann sie sich selbst trauen? Andere zu täuschen fällt ihr erschreckend leicht. Als sie Spionin am Hof des Imperators wird, verrät sie das Reich Valoria, das sie so sehr liebt. Es gibt nur eins, das sie noch mehr liebt: Arin.

Noch spannender, romantischer und überraschender – Band 2 der Fantasy-Serie »Die Schatten von Valoria«.

Die Schatten von Valoria

Spiel der Macht (Band 1)

Spiel der Ehre (Band 2)

In Vorbereitung:

Spiel der Liebe (Band 3)

Wohin soll es gehen?

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FÜR KRISTIN CASHORE

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1

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Sie schnitt sich, als sie den Umschlag öffnete.

Kestrel war neugierig gewesen, eine Närrin, dass sie den Brief nur aus dem Grund gleich öffnete, weil er in herranischer Schrift an sie adressiert war. Der Brieföffner rutschte ab. Blut tropfte auf das Papier und verlief dort hellrot.

Der Brief kam natürlich nicht von ihm, sondern von dem neuen herranischen Landbauminister. Er wollte sich ihr vorstellen. Er freue sich auf ein persönliches Kennenlernen. Ich glaube, Ihr und ich, wir haben viel gemeinsam und viel zu besprechen, schrieb er.

Kestrel war sich nicht sicher, was er damit meinte. Sie kannte ihn nicht, hatte nicht einmal von ihm gehört. Obwohl sie davon ausging, dass sie sich irgendwann einmal mit dem Minister würde treffen müssen – immerhin war sie die Botschafterin des Imperiums im nunmehr unabhängigen Territorium Herran –, war Kestrel nicht erpicht darauf, Zeit mit dem Minister für Landbau zu verbringen. Sie hatte nichts zu sagen zu Felderwirtschaft und Dünger.

Kestrel erkannte die Überheblichkeit dessen, was sie da dachte. Sie fühlte, wie ihr Mund schmallippig wurde. Sie begriff, dass dieser Brief sie wütend machte.

Auf sich selbst. Auf ihr Herz, das einen Freudensprung gemacht hatte, als sie ihren Namen in herranischer Schrift auf dem Umschlag gesehen hatte. Sie hatte so sehr gehofft, dass er von Arin kam.

Aber sie hatte nun schon seit fast einem Monat keinen Kontakt mehr zu ihm, seitdem sie ihm die Freiheit seines Landes offeriert hatte. Und das auf dem Umschlag war nicht seine Handschrift. Die kannte sie. Sie kannte die Finger, die den Schreibstift gehalten hätten. Kurz geschnittene Nägel, silbrige Narben von alten Verbrennungen, die Schwielen an seinen Handballen – all das in seltsamem Widerspruch zu seiner eleganten Schreibschrift. Kestrel hätte sofort wissen müssen, dass der Brief nicht von ihm war.

Und dennoch: das rasche Aufschlitzen von Papier. Und dennoch: die Enttäuschung.

Kestrel legte den Brief beiseite. Sie zog die seidene Schärpe von der Hüfte, fädelte sie unter dem Dolch heraus, den sie wie alle Valorianer an der Seite trug. Sie wickelte die Schärpe um ihre blutende Hand. Es ruinierte die elfenbeinfarbene Seide. Ihr Blut befleckte sie. Doch eine ruinierte Schärpe spielte keine Rolle, nicht für sie. Kestrel war mit Prinz Verex verlobt, dem Erben des valorianischen Imperiums. Der Beweis dafür wurde jeden Tag in einer öligen, glitzernden Linie zwischen ihren Brauen nachgezogen. Sie besaß Schärpen über Schärpen, Kleider über Kleider, ein Meer aus Juwelen. Sie war die künftige Imperatrix.

Doch als sie von ihrem geschnitzten Stuhl aus Ebenholz aufstand, fühlte sie sich unsicher auf den Beinen. Sie sah sich in ihrem Arbeitszimmer um, einem der zahlreichen Räume in ihren Gemächern. Die steinernen Wände verursachten ihr Unbehagen, die Ecken, die mit solchem Nachdruck vollkommene rechte Winkel bildeten, die Art, wie zwei schmale Flure in den Raum hineinschnitten. Es hätte Kestrel einleuchten müssen, denn der imperiale Palast diente auch als Festung. Schmale Gänge fungierten als Flaschenhals und zwangen einfallende Truppen durch einen Engpass. Aber es wirkte unfreundlich und fremd. Es war so anders als ihr Zuhause.

Kestrel rief sich in Erinnerung, dass ihr Haus in Herran nie wirklich ihre Heimat gewesen war. Sie mochte in jener Kolonie aufgewachsen sein, aber sie blieb Valorianerin. Sie war jetzt dort, wo sie sein sollte. Wo zu sein sie sich entschieden hatte.

Die Schnittwunde hatte zu bluten aufgehört.

Kestrel beachtete den Brief nicht mehr und ging, um sich zum Abendessen umzukleiden. Dies war ihr Leben: kostbare Stoffe und geflammte Seidenbordüren. Ein Abendessen mit dem Imperator … und dem Prinzen.

Ja, dies war ihr Leben.

Sie musste sich daran gewöhnen.

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Der Imperator war allein. Er lächelte, als sie das Esszimmer mit den blanken Steinwänden betrat. Sein graues Haar war im selben militärischen Schnitt gestutzt wie das ihres Vaters, sein Blick dunkel und scharf. Er stand nicht von der langen Tafel auf, um sie zu begrüßen.

»Eure Imperiale Majestät.« Sie beugte den Kopf.

»Tochter.« Seine Stimme hallte in dem Gewölbe wider. Sie ließ die leeren Teller und Gläser klirren. »Setzt Euch.«

Sie machte Anstalten, seinem Befehl Folge zu leisten.

»Nein«, sagte er. »Hier zu meiner Rechten.«

»Das ist der Platz des Prinzen.«

»Der Prinz, so scheint mir, ist nicht hier.«

Sie setzte sich. Sklaven servierten den ersten Gang. Sie schenkten Weißwein ein. Sie hätte nun fragen können, warum er sie zum Abendessen gebeten hatte und wo der Prinz sich aufhielt. Doch Kestrel hatte gesehen, wie sehr es der Imperator liebte, Schweigen zu einem Werkzeug zu formen, das die Ängste anderer Menschen offenlegte. Sie ließ das Schweigen anschwellen, bis es ebenso ihr Werk war wie seines, und erst als der dritte Gang aufgetragen wurde, ergriff sie das Wort. »Ich habe gehört, dass der Feldzug gegen den Osten gut vorankommt.«

»Euer Vater schreibt Euch also von der Front. Ich muss ihn für diesen ausgezeichnet geführten Krieg belohnen. Oder vielleicht seid Ihr es, Lady Kestrel, die ich belohnen sollte.«

Sie trank einen Schluck aus ihrem Pokal. »Zu seinem Erfolg habe ich nichts beigetragen.«

»Ach nein? Ihr habt mich dazu gedrängt, der Herrani-Rebellion ein Ende zu setzen und dem Territorium die Selbstverwaltung nach meinem Gesetz einzuräumen. Ihr habt argumentiert, dass dadurch Soldaten und Geld für meinen Krieg im Osten verfügbar würden, und so« – er machte eine wedelnde Handbewegung – »ist es ja auch gekommen. Was für ein kluger Rat von jemandem, der so jung ist.«

Seine Worte machten sie nervös. Wenn er den wahren Grund wüsste, warum sie für die Unabhängigkeit der Herrani gesprochen hatte, würde sie dafür bezahlen müssen. Kestrel kostete das sorgfältig zubereitete Essen. Auf ihrem Teller lagen kleine Schiffchen aus Fleischpastete mit Segeln aus durchsichtiger Gelatine. Sie aß langsam.

»Schmeckt es Euch nicht?«, fragte der Imperator.

»Ich habe keinen großen Hunger.«

Er klingelte mit einer goldenen Glocke. »Nachtisch«, befahl er dem Diener, der umgehend erschien. »Wir überspringen die übrigen Gänge. Ich weiß, wie sehr junge Damen süße Sachen mögen.« Aber als der Bursche mit zwei kleinen Porzellantellern zurückkehrte, die so fein waren, dass Kestrel das Licht an den Rändern durchscheinen sah, sagte der Imperator: »Nichts für mich«, und einer der Teller wurde zusammen mit einer seltsam leichten und transparenten Gabel vor Kestrel abgestellt.

Sie redete sich selbst gut zu. Der Imperator kannte die Wahrheit über jenen Tag nicht, an dem sie auf die Beendigung des Herrani-Aufstands hingewirkt hatte. Niemand kannte sie. Nicht einmal Arin wusste, dass sie ihm die Freiheit mit ein paar strategischen Worten erkauft hatte … und mit dem Versprechen, den Kronprinzen zu heiraten.

Wenn Arin es wüsste, würde er etwas dagegen unternehmen. Er würde sich selbst zugrunde richten.

Wenn der Imperator wüsste, warum sie es getan hatte, würde er sie zugrunde richten.

Kestrel blickte auf den Klecks rosafarbener Schlagsahne auf ihrem Teller und auf die durchsichtige Gabel, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie musste ihre Worte vorsichtig wählen. »Welche Belohnung brauche ich, da Ihr mir doch Euren einzigen Sohn gegeben habt?«

»Ja, er ist tatsächlich ein stolzer Siegespreis. Doch wir haben noch keinen Tag für die Hochzeit festgelegt. Wann soll sie stattfinden? Ihr habt Euch bisher darüber ausgeschwiegen.«

»Ich fand, Prinz Verex sollte das entscheiden.« Wenn die Wahl dem Prinzen überlassen blieb, würde die Hochzeit niemals stattfinden.

»Warum entscheiden nicht wir das?«

»Ohne ihn?«

»Mein liebes Mädchen, wenn der Prinz so vergesslich ist, dass er sich nicht einmal den Tag und die Stunde eines Essens mit seinem Vater und seiner Verlobten merken kann, wie können wir da von ihm erwarten, dass er sich an der Planung eines der wichtigsten Staatsereignisse seit Jahrzehnten beteiligt?«

Kestrel antwortete nichts darauf.

»Ihr esst ja gar nicht«, sagte er.

Sie grub die Gabel in die Creme und führte sie anschließend zum Mund. Die Zinken der Gabel schmolzen auf ihrer Zunge. »Zucker«, sagte sie überrascht. »Die Gabel ist aus Zucker.«

»Schmeckt Euch die Nachspeise?«

»Ja.«

»Dann müsst Ihr sie aufessen.«

Aber wie, da die Gabel sich mit jedem Bissen weiter auflöste? Sie hatte den größten Teil der Gabel noch in der Hand, aber das würde nicht so bleiben.

Ein Spiel. Der Nachtisch war ein Spiel, die Unterhaltung war ein Spiel. Der Imperator wollte sehen, wie sie sich schlagen würde.

Er sagte: »Ich denke, Ende dieses Monats ist der ideale Zeitpunkt für eine Hochzeit.«

Kestrel aß weiter. Die Zinken waren nun vollständig verschwunden. Etwas, das wie ein deformierter Löffel aussah, blieb zurück. »Eine Hochzeit im Winter? Es wird keine Blumen geben.«

»Ihr braucht keine Blumen.«

»Wenn Ihr wisst, dass junge Damen Nachspeisen mögen, dann müsst Ihr ebenfalls wissen, dass sie auch Blumen mögen.«

»Ich nehme also an, dass Ihr eine Hochzeit im Frühling vorzieht.«

Kestrel hob eine Schulter. »Eine im Sommer wäre am besten.«

»Glücklicherweise beherbergt mein Palast Treibhäuser. Selbst im Winter könnten wir den großen Saal mit einem Teppich aus Blütenblättern auslegen.«

Kestrel wandte sich schweigend wieder ihrem Nachtisch zu. Die Gabel schmolz zu einem platten Stäbchen zusammen.

»Es sei denn, Ihr wollt die Hochzeit verschieben«, sagte der Imperator.

»Ich denke nur an unsere Gäste. Das Imperium ist gewaltig. Es werden Leute aus allen Provinzen kommen. Der Winter ist eine schreckliche Reisezeit, und der Frühling ist auch nicht viel besser. Es regnet. Die Straßen werden schlammig.«

Der Imperator lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er sie mit amüsiertem Gesicht musterte.

»Außerdem«, fuhr sie fort, »lasse ich nicht gern günstige Gelegenheiten verstreichen. Ihr wisst, dass die Adeligen und Statthalter Euch im Gegenzug für die besten Plätze auf der Hochzeit geben werden, was sie können – Gefälligkeiten, Informationen, Gold. Das Rätsel, was ich tragen werde und welche Musik man spielen wird, wird das gesamte Imperium beschäftigen. Da wird es niemand bemerken, wenn Ihr eine Entscheidung fällt, die sonst den empörten Aufschrei Tausender zur Folge hätte. An Eurer Stelle würde ich die lange Verlobungszeit auskosten. Macht sie Euch zunutze, so gut es geht.«

Er lachte. »Ach, Kestrel. Was für eine Imperatrix werdet Ihr sein.« Er erhob sein Glas. »Auf Eure glückliche Verbindung am Erstsommertag.«

Sie hätte mit ihm darauf anstoßen müssen, hätte nicht Prinz Verex das Speisezimmer betreten und wäre abrupt stehen geblieben. Seine großen Augen zeigten ein Wechselbad an Gefühlen: Überraschung, Verletztheit, Wut.

»Du kommst spät«, sagte sein Vater.

»Nein.« Verex ballte die Hände zu Fäusten.

»Kestrel ist es gelungen, rechtzeitig hier zu sein. Warum dir nicht auch?«

»Weil du mir nicht die richtige Uhrzeit gesagt hast.«

Der Imperator sagte: »Tsts. Das hast du falsch in Erinnerung.«

»Du machst einen Dummkopf aus mir!«

»Ich mache nichts dergleichen aus dir.«

Verex presste die Lippen aufeinander. Sein Kopf hüpfte auf dem dünnen Hals auf und ab wie etwas, das die Strömung erfasst hatte.

»Kommt«, sagte Kestrel sanft. »Esst den Nachtisch mit uns.«

Der Blick, den er ihr zuwarf, verriet ihr, dass er die Spielchen seines Vaters hassen mochte, aber noch mehr hasste er ihr Mitleid. Er verließ fluchtartig den Raum.

Kestrel spielte mit dem Stummel ihrer Zuckergabel. Selbst als der geräuschvolle Abgang des Prinzen den Korridor entlang verhallt war, hütete sie sich, das Wort zu ergreifen.

»Seht mich an«, befahl der Imperator.

Sie hob den Blick.

»Ihr wünscht Euch nicht wegen der Blumen oder der Gäste oder des politischen Nutzens eine Hochzeit im Sommer«, sagte er. »Ihr wollte sie einfach so lange wie möglich hinauszögern.«

Kestrel packte die Gabel fester.

»Ich werde Euch geben, was Ihr Euch wünscht – in angemessenem Rahmen«, fuhr er fort. »Und ich sage Euch auch, warum. Denn ich kann es Euch angesichts Eures Bräutigams nicht verdenken. Denn Ihr bettelt nicht um das, was Ihr Euch wünscht, sondern versucht, es Euch zu erkämpfen. Wie ich es tun würde. Wenn Ihr auf mich blickt, seht Ihr, wer Ihr sein werdet. Jemand, der herrscht. Ich habe Euch auserwählt, Kestrel, und ich werde Euch zu allem machen, was mein Sohn nicht sein kann. Zu jemandem, der geeignet ist, meinen Platz einzunehmen.«

Kestrel sah ihn an, und ihr Blick wurde starr. Sie fragte sich, wie viel Zukunft ihr bei einem alten Mann blieb, der zu Grausamkeiten seinem eigenen Kind gegenüber fähig war.

Er lächelte. »Ich möchte, dass Ihr morgen den Hauptmann der imperialen Garde kennenlernt.«

Sie war dem Hauptmann noch nie begegnet, war aber vertraut mit seiner Rolle. Offiziell war er verantwortlich für die persönliche Sicherheit des Imperators. Inoffiziell erstreckten sich seine Pflichten auch auf andere Bereiche, über die niemand sprach. Bespitzelung. Meuchelmord. Der Hauptmann war gut darin, Menschen verschwinden zu lassen.

»Er hat Euch etwas zu zeigen«, sagte der Imperator.

»Was denn?«

»Eine Überraschung. Nun schaut doch etwas froher drein, Kestrel. Ich gebe Euch alles, was Ihr Euch nur wünschen könnt.«

Manchmal war der Imperator tatsächlich großzügig. Sie hatte Audienzen beigewohnt, bei denen er Senatoren Ländereien in neuen Kolonien übereignet hatte oder mächtige Sitze im Quorum. Aber sie hatte auch gesehen, wie seine Großzügigkeit andere dazu verleitet hatte, um noch ein wenig mehr zu bitten. Dann wurden seine Augen zu schmalen Schlitzen, wie die einer Katze, und sie wurde Zeuge, wie seine Geschenke Menschen dazu brachten, das, was sie wirklich wollten, zu offenbaren.

Dennoch konnte sie nicht umhin zu hoffen, dass sich die Hochzeit länger als nur um ein paar Monate verschieben ließ. Erstsommer war natürlich besser als nächste Woche, aber immer noch zu bald. Viel zu bald. Würde der Imperator mit einem Jahr einverstanden sein? Oder mehr? Sie sagte: »Erstsommer –«

»Ist das perfekte Datum.«

Kestrels Blick fiel auf ihre geschlossene Hand. Sie öffnete sich süß duftend und blieb leer auf dem Tisch liegen.

In der Wärme ihrer Faust hatte sich die Zuckergabel restlos aufgelöst.

2

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Arin hielt sich im Arbeitszimmer seines Vaters auf. Es als sein eigenes zu betrachten, dazu würde er wahrscheinlich niemals fähig sein – gleichgültig, wie alt die Geister seiner toten Angehörigen auch wurden.

Es war ein klarer Tag. Aus dem Fenster des Arbeitszimmers sah man die Stadt gestochen scharf, auch jene Flecken, die während des Aufstandes zerstört worden waren. Die blasse Wintersonne hüllte den Hafen Herrans in ein verschwommenes Glühen.

Arin dachte nicht an sie. Nein, das tat er nicht. Er dachte daran, wie langsam der Wiederaufbau der Stadtmauern vonstattenging. Daran, dass die Herdnussernte, die Herran den dringend benötigten Nachschub an Nahrung und einen Aufschwung des Handels bescheren würde, bald in den südlichen Teilen des Landes anstand. Er dachte nicht an Kestrel oder daran, dass er seit einem Monat und einer Woche nicht an sie gedacht hatte. Aber nicht an sie zu denken war, als würde er Felsbrocken stemmen. Er war so abgelenkt von der Anstrengung, dass er weder hörte, wie Sarsine ins Zimmer trat, noch sie überhaupt bemerkte, bevor sie ihm einen geöffneten Brief reichte.

Das gebrochene Siegel zeigte zwei gekreuzte Schwerter. Ein Brief vom Imperator. Sarsines Gesicht verriet Arin, dass ihm nicht gefallen würde, was er gleich zu lesen bekommen sollte.

»Worum geht’s?«, fragte er. »Noch eine Steuer?« Er rieb sich die Augen. »Der Imperator muss doch wissen, dass wir sie nicht zahlen können, nicht schon wieder, nicht so bald nach der letzten Eintreibung. Das wäre unser Ruin.«

»Nun, jetzt wissen wir, warum der Imperator den Herrani so freundlich Herran zurückgegeben hat.«

Sie hatten schon früher darüber gesprochen. Es war die scheinbar einzige Erklärung für solch eine unerwartete Entscheidung. Steuererhebungen aus Herran wanderten für gewöhnlich in die Taschen der valorianischen Aristokraten, die das Territorium kolonisiert hatten. Dann waren der Erstwinteraufstand und das Dekret des Imperators gekommen, und die Aristokraten waren in die Hauptstadt zurückgekehrt. Der Verlust ihrer Ländereien wurde als »Kriegskosten« verbucht. Nun war der Imperator in der Lage, Herran durch Steuern ausbluten zu lassen, gegen die das Volk nicht aufbegehren konnte. Das Vermögen des Territoriums floss geradewegs in die imperiale Schatzkammer.

Ein hinterhältiger Schachzug. Aber was Arin am meisten Sorgen bereitete, war das nagende Gefühl, dass ihm etwas Wesentliches entging. An jenem Tag, als Kestrel ihm das Angebot und die Forderungen des Imperators unterbreitet hatte, war es schwer gewesen, klar zu denken. Es war schwer gewesen, etwas anderes als die goldene Linie zu sehen, mit der ihre Stirn gezeichnet war.

»Sag mir einfach, wie viel es diesmal kosten soll«, sagte er zu Sarsine.

Ihr Mund wurde verkniffen. »Keine Steuer. Eine Einladung.« Dann verließ sie den Raum.

Arin faltete das Papier auseinander. Seine Hände erstarrten.

Als Statthalter von Herran wurde Arin zu einem Ball in der valorianischen Hauptstadt gebeten. Zu Ehren der Verlobung von Lady Kestrel mit Kronprinz Verex, stand da.

Sarsine hatte es eine Einladung genannt, aber Arin erkannte, was es wirklich war: ein Befehl, einer, den zu missachten er nicht die Macht besaß, auch wenn er vermeintlich kein Sklave mehr war.

Arin hob den Blick von dem Papier und ließ ihn über den Hafen schweifen. Als er in den Docks gearbeitet hatte, hatte es dort einen Sklaven gegeben, der als »Gefälligkeitshüter« bekannt war.

Sklaven hatten keinen persönlichen Besitz, oder zumindest nichts, was ihre valorianischen Eroberer als solchen bewertet hätten. Selbst wenn Arin etwas besessen hätte, hätte er keine Taschen gehabt, um es darin zu verwahren. Kleider mit Taschen bekamen nur Haussklaven. Dies war die Maßeinheit des Lebens unter den Valorianern gewesen: dass die Herrani daran ihren Platz erkannten, ob sie Taschen und die Illusion hatten, etwas Persönliches besitzen zu dürfen.

Und dennoch kannten Sklaven eine Währung. Sie tauschten Gefälligkeiten aus. Nachschlag beim Essen. Eine dickere Pritsche. Den Luxus einiger Minuten Ruhe, während jemand anders für sie arbeitete. Wenn sich ein Sklave im Hafen etwas wünschte, fragte er den Gefälligkeitshüter, den ältesten Herrani von ihnen allen.

Der Gefälligkeitshüter bewahrte ein Knäuel Garn auf, in dem es ein verschiedenfarbiges Stück Schnur für jeden einzelnen Mann gab. Wenn Arin eine Bitte gehabt hätte, wäre seine Schnur um eine andere gewickelt und gewunden worden, vielleicht um eine gelbe, und diese gelbe Schnur hätte vielleicht eine grüne umschlossen, je nachdem, wer wem was schuldete. Der Knoten des Gefälligkeitshüters protokollierte alles.

Aber Arin hatte keine Schnur gehabt. Er hatte um nichts gebeten. Er hatte nichts gegeben. Damals bereits ein junger Mann, hatte er den Gedanken verachtet, in irgendjemandes Schuld zu stehen.

Nun studierte er den Brief des Imperators. Er war wunderschön mit Tinte geschrieben. In kunstvollen Formulierungen abgefasst. Er passte gut zu Arins Umgebung, dem wässrigen Lack auf seines Vaters Schreibtisch und den Bleiglasfenstern, durch die das Winterlicht in den Raum drang.

Das Licht machte die Worte des Imperators nur zu gut lesbar.

Arin zerknüllte das Papier in seiner Faust. Er wünschte sich einen Gefälligkeitshüter herbei. Er hätte seinem Stolz abgeschworen für ein simples Stück Schnur, wenn er nur hätte haben können, was er sich wünschte.

Arin hätte sein Herz eingetauscht gegen einen Knoten im Garn, wenn er Kestrel niemals würde wiedersehen müssen.

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Er beriet sich mit Tensen. Der alte Mann las die Einladung, die wieder glatt gestrichen worden war, und seine blassgrünen Augen strahlten. Er legte das dicke, zerknitterte Blatt Papier auf Arins Schreibtisch und tippte mit einem seiner faltigen Finger auf die erste Zeile. »Das«, sagte er, »ist eine hervorragende Gelegenheit.«

»Dann wirst du hinfahren«, erwiderte Arin.

»Natürlich.«

»Ohne mich.«

Tensen schürzte die Lippen. Er bedachte Arin mit jenem schulmeisterlichen Blick, der ihm als Lehrer valorianischer Kinder bereits gute Dienste geleistet hatte. »Arin. Lassen wir doch den Stolz.«

»Es ist nicht Stolz. Ich bin zu beschäftigt. Du wirst Herran auf dem Ball vertreten.«

»Ich glaube nicht, dass der Imperator mit einem kleinen Landbauminister zufrieden sein wird.«

»Ich gebe nichts auf die Zufriedenheit des Imperators.«

»Mich allein zu entsenden wird den Imperator entweder beleidigen oder ihm verraten, dass ich wichtiger bin, als es den Anschein hat.« Tensen rieb sich über das grau gestoppelte Kinn. Dabei ließ er Arin nicht aus den Augen. »Du musst hingehen. Es ist eine Rolle, die du spielen musst. Du bist doch ein guter Schauspieler.«

Arin schüttelte den Kopf.

Tensens Blick wurde dunkel. »Ich war an jenem Tag dort.«

An jenem Tag letzten Sommer, an dem Kestrel Arin gekauft hatte.

Arin spürte wieder, wie der Schweiß ihm den Rücken hinuntergelaufen war, während er unten in dem Pferch neben der Auktionsgrube wartete. Er war überdacht gewesen, sodass Arin die Menge über ihm, zu ebener Erde, nicht hatte sehen können – nur Preller, der mitten in der Grube stand.

Arin roch seinen eigenen Gestank, fühlte den Kies unter seinen nackten Füßen. Er hatte Schmerzen. Während er zuhörte, wie Prellers Stimme in dem neckenden Singsang eines erfahrenen Auktionators an- und abschwoll, betastete er zaghaft seine blutunterlaufene Wange. Sein Gesicht sah aus wie eine faulende Frucht.

Preller war an diesem Morgen fuchsteufelswild gewesen. »Zwei Tage«, hatte er geknurrt. »Ich habe dich nur für zwei Tage vermietet, und so kommst du zurück. Was ist so schwer daran, eine Straße zu bauen und deinen Mund zu halten?«

Während er in dem Pferch neben der Grube wartete, ohne wirklich auf den Fortgang der Auktion zu achten, vermied Arin es, an die Schläge zu denken und an das, was dazu geführt hatte.

In Wahrheit veränderten die Blutergüsse gar nichts. Arin machte sich nichts vor: Preller würde ihn nicht an einen valorianischen Haushalt verkaufen können. Valorianer legten Wert auf die äußere Erscheinung ihrer Haussklaven – und Arin hätte dieses Kriterium auch dann nicht erfüllt, wenn sein Gesicht nicht zur Hälfte in den verschiedensten Lilatönen erblüht wäre. Er sah wie ein Arbeiter aus. Er war einer. Arbeiter ließ man nicht ins Haus, doch in den Häusern musste Preller Sklaven unterbringen, die der Rebellion treu ergeben waren.

Arin legte den Kopf zurück an die grobe Holzwand des Wartebereichs. Er rang seinen Missmut nieder.

Es folgte eine lange Stille in der Grube. Dies bedeutete, dass Preller den laufenden Verkauf abgeschlossen hatte, während Arin nicht aufgepasst hatte. Er war ins Auktionshaus gegangen, um eine kleine Pause einzulegen.

Dann: ein heuschreckenartiges Summen, das sich von der Menge erhob. Preller kehrte in die Grube zurück und trat neben das Podest, auf dem gleich ein weiterer Sklave stehen würde.

Zu seinem Publikum sagte Preller: »Ich habe da etwas ganz Besonderes für Euch.«

Jeder Sklave im Pferch straffte sich. Die Dumpfheit des Nachmittags war wie weggeblasen. Selbst der alte Mann, der, wie Arin später erfahren sollte, Tensen hieß, wurde mit einem Schlag wachsam.

Preller hatte einen Code benutzt. »Etwas ganz Besonderes« übermittelte den Sklaven eine geheime Bedeutung: nämlich die Gelegenheit, verkauft zu werden, um der Rebellion zu dienen. Zu spionieren. Zu stehlen. Vielleicht zu morden. Preller hatte viele Pläne.

Es war das Wörtchen ganz in Prellers Ankündigung, das Arin zur Verzweiflung trieb. Denn dieses Wort signalisierte den wichtigsten Verkauf von allen, den, auf den sie gewartet hatten: die Möglichkeit für einen Rebellen, in General Trajans Haushalt eingeschleust zu werden.

Wer stand dort oben in der Menge der Valorianer?

Der General persönlich?

Und Arin, der dumme, dumme Arin, hatte seine Chance auf Rache vertan. Preller würde ihn niemals für diesen Verkauf in Betracht ziehen.

Doch als der Auktionator sich zum Pferch umdrehte, sah er Arin direkt in die Augen. Prellers Finger schnippten zweimal. Das Signal.

Arin war der Auserwählte.

»Jener Tag«, sagte Arin nun zu Tensen, als sie im Winterlicht seines väterlichen Arbeitszimmers saßen, »war anders. Alles war anders.«

»Wirklich? Du warst damals bereit, alles für dein Volk zu tun. Jetzt nicht mehr?«

»Es ist nur ein Ball, Tensen.«

»Es ist eine Gelegenheit. Zumindest könnten wir sie dazu nutzen herauszufinden, wie viel von der Herdnussernte uns der Imperator wegzunehmen gedenkt.«

Die Ernte würde bald stattfinden. Ihr Volk brauchte die Nüsse dringend als Nahrungsquelle und Handelsware. Arin drückte die Fingerspitzen an die Stirn. Kopfschmerzen krochen hinter seine Augen. »Was gibt es da schon herauszufinden? Was auch immer er nehmen will, es wird zu viel sein.«

Einen Augenblick lang erwiderte Tensen nichts. Dann sagte er grimmig: »Ich habe seit Wochen nichts von Thrynne gehört.«

»Vielleicht konnte er nicht aus dem Palast in die Stadt, um Kontakt mit uns aufzunehmen.«

»Vielleicht. Aber wir verfügen ohnehin nur über wenige wertvolle Quellen im imperialen Palast. Dies ist eine heikle Zeit. Die Elite des Imperiums verprasst ihr Gold mit vollen Händen, um sich auf den verschwenderischsten Winter der valorianischen Geschichte vorzubereiten – aus Anlass der Verlobung. Und die Kolonisten, die früher in Herran gelebt haben, werden immer aufgebrachter. Es hat ihnen nicht gefallen, dass sie uns ihre erbeuteten Häuser zurückgeben mussten. Sie sind eine Minderheit, das Militär steht unerschütterlich zum Imperator, sodass er sie ignorieren kann. Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass der Hof ein wankelmütiger Ort ist, und wir dürfen niemals vergessen, dass wir dem Imperator vollkommen ausgeliefert sind. Wer weiß schon, was er als Nächstes zu tun beschließt? Oder wie es sich auf uns auswirken wird? Das da« – er wies mit dem Kopf auf die Einladung – »wäre eine Möglichkeit, Thrynnes Schweigen nachzugehen. Arin, hörst du? Wir können es uns nicht leisten, einen so gut platzierten Spion zu verlieren.«

Genau wie Arin gut platziert gewesen war. Meisterlich platziert. An jenem Tag auf dem Markt war er sich nicht sicher gewesen, woher Preller gewusst hatte, dass Arin der perfekte Sklave zum Anpreisen gewesen war. Preller hatte ein Auge für Schwächen. Für Wünsche. Irgendwie hatte er einen Blick ins Herz der Bieterin geworfen und gewusst, wie er sie anpacken musste.

Arin hatte sie zunächst gar nicht gesehen. Die Sonne hatte ihn geblendet, als er in die Grube getreten war. Lachen erscholl. Er konnte die valorianische Menge über ihm nicht erkennen, aber er hörte sie. Ihm machte die Scham, die kribbelnd über seine Haut kroch, nichts aus. Das redete er sich zumindest ein. Was sie sagten oder was er hörte, machte ihm nichts aus.

Dann klärte sich sein Blick. Er blinzelte die Sonne weg. Er sah das Mädchen. Sie hob eine Hand, um zu bieten.

Ihr Anblick war wie ein Schlag ins Gesicht. Er konnte ihre Züge fast nicht erkennen – er wollte ihre Züge nicht sehen, nicht, wenn er schon vor allem anderen an ihr am liebsten die Augen verschlossen hätte. Sie sah sehr valorianisch aus. Goldfarbene Haut und Haare. Fast wie poliert, eine Waffe, die man gegen das Licht hob. Er konnte kaum glauben, dass sie ein Lebewesen war.

Und sie war so sauber, rein an Haut und Gestalt. Sie gab ihm das Gefühl, schmutzig zu sein. Es lenkte ihn einen Augenblick ab, bevor er bemerkte, dass das Mädchen klein war. Zierlich.

Absurd. Es war absurd zu denken, dass jemand wie sie Macht über ihn haben könnte. Und doch wäre das der Fall, wenn sie die Auktion gewann.

Er wollte, dass es so war. Der Gedanke überfiel Arin mit einer gnadenlosen, hässlichen Freude. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber er erriet, wer sie war: Lady Kestrel, General Trajans Tochter.

Die Menge hörte sie bieten. Plötzlich schien es, als wäre Arin doch etwas wert.

Arin vergaß, dass er nun, zwei Jahreszeiten später, am Schreibtisch seines Vaters saß. Er vergaß, dass Tensen auf eine Antwort von ihm wartete. Arin war wieder in der Grube. Er erinnerte sich, wie er zu dem Mädchen hochgestarrt und einen Hass gefühlt hatte, der ebenso hart wie lupenrein war.

Wie ein Diamant.