Kirchners Saat

 

Wien-Krimi

 

Von Imre Kusztrich


IMPRESSUM

 

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Haftungsausschluss

Dieser Krimi dient ausschließlich Unterhaltungszwecken und ist frei von politischer Motivation. Die Handlung und Personen sind dichterisch erfunden.

 

IGK-Verlag

22393 Hamburg, Deutschland

Copyright © 2019

ISBN: 9783966101172

Fotos: © Kirchnerfoto-Gemeinfrei, Engel-Fotolia.com

 


Drei Frauen.

Verbunden durch einen unfassbaren Vorfall. Mord an einem Mann, der friedfertiger nicht sein kann.

Warum er?

Die erste ist ihm nie begegnet. Sie arbeitet für die Polizei. Die Herausforderung ist enorm. Wien ist prinzipiell keine gute Stadt für Mörder. Das soll so bleiben.

Die zweite trägt nicht mehr ihren Mädchennamen. Mindestens einmal ist sie demnach der großen Liebe schon begegnet. Dann trifft sie ihn. Jetzt ist er tot.

Die dritte ist seine Ehefrau und die Mutter seines Kindes. In erster Linie gehört der Tote ihr. Das macht nichts leichter. Welche Trauer ist angebracht um den Mann, der einen gerade verlässt?

Jede Frau hat eigene Fragen.

Keine wird allein die Antworten finden.

Ob es zu dritt gelingt?


Sofia Frischler, Fachkrankenschwester für Operationsdienst.

Donnerstag, 4. Oktober 2018, gegen 14 Uhr.

 

Logisch kann ich Blut sehen. Ich bin OP-Schwester. Würde ich den Anblick meines eigenen Kindes in seinem Blut verkraften? Meines Mannes? Eine solche Prüfung war noch nicht. Vorahnungen sind nicht meine Sache. Eigentlich denke ich immer nur an den nächsten Patienten.

Gehirntumor. Osteoklastische Trepanation.

Ich eile zu OP-Raum 2.

„Heute bleibt die Bluse zu.“

Assistenzärzte haben den gleichen Stress wie wir. Jeder von uns hat seine individuelle Technik, Spannung abzubauen.

Henning mag ich. Sogar sehr. Obwohl seine Finger noch nie an meinen Knöpfen waren. Aber diese Bemerkung …

„Spinnst du?“

„Der Alte operiert. Sein Steuerberater.“

Oh! Der Name steht im Operationsprotokoll. Aber das sagt uns natürlich nichts aus über die Person.

Öffnung des Schädels. Wiederverschluss durch Implantat. Keine sechzig Minuten, wenn der Chirurg jung und fit ist. Aber nicht für einen ärztlichen Direktor. Sein Platz ist eigentlich am Schreibtisch. Zuständig für Koordinierung und Überwachung der medizinischen Belange.

Aber ich verstehe. Der Typ leistet ihm vermutlich umfassende Hilfe in Steuerfragen. Das muss gewürdigt werden.

Aber der Patient kann einem leidtun. Ein Fall von gefährlicher Sonderbehandlung.

Für die damit verbundenen Risiken besteht seit 1964 der Begriff V.I.P.-Syndrom, zum ersten Mal publiziert von einem Psychiatrieprofessor namens Dr. Walter Weintraub. V.I.P. steht für Englisch: very important person, sehr wichtige Person, und Syndrom für das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Risiken und Krankheitszeichen.

Im „The Journal of Nervous and Mental Disease“ schrieb Dr. Weintraub: „Die Behandlung einer einflussreichen Person kann extrem gefährlich sein für beide, Patient und Arzt.“

Es ist statistisch erwiesen: Besonders wichtige, berühmte oder reiche Patienten können für den Erfolg eines Krankenhauses entscheidend sein und erfahren häufig einen bevorzugten Status. Dann aber wird es kritisch.

Es ist nicht der Reichtum, der gefährlich ist. Es ist das Berühmtsein, das sehr viel ändert.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, wurden die speziellen Umstände eines V.I.P.-Syndroms im Medizinbetrieb bereits in zahlreichen Studien wissenschaftlich analysiert und präzisiert. Alle teilen eine Auffassung. Jedes ärztliche Mehr, jedes ärztliche Weniger stellt eine nicht abgesicherte Abweichung vom bewährten Prinzip dar. Die gängige Standardbehandlung von Patienten ohne besonderen gesellschaftlichen Rang hat sich in Millionen Anwendungen herauskristallisiert, um mit dem sinnvollsten Aufwand das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Ohne Ansehen der Person. Bei V.I.Ps. können die Unterschiede einer medizinischen Betreuung winzig sein. Die Ärzte üben ein bisschen mehr Rücksicht, und auch die Patienten sind ein bisschen anders, weniger kooperativ zum Beispiel. Das wirkt sich unterm Strich eher negativ aus.

Wie bitte?

Privat Versicherte mit einem großen Namen, für die in der Regel die Kosten keine große Rolle spielen, sollen am Ende schlechter dran sein als stinknormale Kassenpatienten?

Die Antwort liegt auf der Hand.

In Deutschland beispielsweise werden jährlich fünfzehn Millionen Eingriffe in Krankenhäusern durchgeführt. Alle Abläufe sind aufs Äußerste perfektioniert, die Vorbereitung, die Operation selbst, die Nachsorge. Das geht nicht besser.

Plötzlich kommt ein V.I.P.-Zeitgenosse in dieses System, und medizinisch-logisch-ethnische Prinzipien werden verletzt.

Wer ihm Anvertraute beeindrucken möchte oder auf Wünsche von Patienten hört, bricht bewährte Regeln und setzt die Person, der man Gutes zukommen lassen will, vermeidbaren Risiken aus. Am stärksten gefährdet sind alle, die für Medien am interessantesten sind. V.I.Ps. eben.

Was wird bei ihnen anders?

Wahrscheinlich erfolgen aus Rücksicht weniger Untersuchungen als normal … oder zur Sicherheit vielleicht mehr. Nicht jede eigentlich unerlässliche Frage wird wirklich gestellt … und wie werden sie jetzt beantwortet? Wir reden von Leuten, die den Erfolg gepachtet haben, von Egoisten, von Besserwissern, von eingebildeten Wichtigtuern. Die lassen sich nichts sagen. Und zuletzt wird von ihnen noch erwartet, dass sie der ranghöchste Arzt im Haus selbst operiert.

Aus all diesen Gründen ist das Behandlungsergebnis bei V.I.Ps. insgesamt medizinisch eindeutig schlechter.

Seit Jahrzehnten ist diese Sorge Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und Erörterungen. Viele Antworten liegen auf dem Tisch.

Für Ärzte kann es beispielsweise ungewohnt schwer sein, einem inneren Drang zu widerstehen, angesichts eines besonderen Zeitgenossen die üblichen Prozeduren zu vereinfachen oder abzukürzen, um dem außergewöhnlichen Patienten Unbehagen möglichst zu ersparen.

Ärzte können besonders rücksichtsvoll agieren oder sie können ihr klares Urteilsvermögen einschränken, wenn sie es mit einem vermeintlich wichtigen Patienten zu tun haben. Es entsteht das Risiko, Notwendiges zu unterlassen. Andrerseits kann ein übervorsichtiger Arzt zu viel veranlassen. Er will einem späteren Vorwurf entgegenwirken, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein. Solche negativen Schlagzeilen wären verheerend für die Institution und für die Karriere des Mediziners. Gleichzeitig lockt bei besonderer Zuwendung die Chance auf gute Noten durch den namhaften Patienten und auf höhere Umsätze. So oder so ein definitiv medizinisches Problem, das die Berühmten, die Wichtigen, die Erfolgreichen und besonders Schönen, very important persons eben, bedroht. Patientenzufriedenheit ist in diesen Beziehungen plötzlich das höchste Ziel.

Forscher der University of California in Davis fanden in einer Langzeitstatistik heraus: Unter den Untersuchten verursachten die bevorzugt Behandelten die höchsten Kosten und verbrauchten die meisten Medikamente. Sie veranlassten unterm Strich zwölf Prozent mehr Krankenhauseinweisungen als der Durchschnitt. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler lässt wenig Spielraum: Eine Überbehandlung ist ein stilles Todesrisiko, wörtlich: silent killer. Wir können überbehandeln und überverschreiben, der Patient ist glücklich, gibt uns gute Noten und ist in Wirklichkeit schlechter dran. Noch schlimmer: Der zufriedenste Patient kann in dreißig Minuten tot sein.

Ich bin Operationstechnische Assistentin. Habe nur mittlere Reife. Aber an mir ist eine Ärztin verloren gegangen. Zur Kompensation sauge ich alles auf, was ich über Medizin erfahren kann. Fragen Sie meine Kollegen zum V.I.P.-Syndrom … wetten? nie gehört.

Kein vernünftiger Arzt wird beispielsweise deshalb selbst an einen Angehörigen Hand anlegen, niemals.

Auch jetzt sind wir wie meistens beinahe ein Dutzend Leute. Chirurgen, Assistenzärzte, die Anästhesistin, OP-Schwestern wie ich, manchmal auch ein paar Studenten.

Ein Radio läuft. Ein Handy klingelt. Gedämpfte Dialoge.

Alles Routine.

Wir haben an unserem Allgemeinen Krankenhaus in Wien die großartigsten Neurochirurgen, Operateure für Mund, Kiefer, Gesicht, Schädel und Wirbelsäule. Und jetzt liegt also unter den Augen unseres nicht gerade beliebten Chefs dieser V.I.P.-Mensch auf dem Tisch. Sein Schädel ist rasiert. Die Schnittführung ist mit schwarzem Filzstift markiert.

Ich komme mir lächerlich vor mit meiner Ansage an das OP-Team: „Identität des Patienten überprüft.“

Er kennt ihn ja.

Aber auch das gehört zu meinem Job. Wir haben unsere Listen. Name … Aufgabe. Muss natürlich zusammenpassen. Damit wir nicht einem Falschen einen Stent setzen oder den Bauch eröffnen.

Eine OP-Schwester braucht einen guten Magen und muss mehrere Stunden auf den Beinen sein können. Schon vor der Operation immenser Zeitdruck. Millimetergenau werden die Instrumente ausgelegt. Am Ende wird nachgezählt. Liegt alles wieder auf dem Tisch?

Funktioniert etwas nicht wie erwartet, kriegen zuerst wir es ab. Also nicht alles persönlich nehmen.

Der Direktor mustert das Team mit Dompteurblick. Er sieht einige, die er nicht kennt.

Mich fragt er: „Und wer sind Sie?“

„Frischler. Vierzehn Jahre hier.“

Er ergreift eine spezielle Microsäge mit extrem geringer Blattdicke, Osseoskalpell genannt, und startet den Antrieb. Der Motor surrt wie ein Zahnarztbohrer und treibt mittels Pendelhub ein winziges Loch in die Schädeldecke. Feine Knochenspäne fliegen davon. Die Instrumente bestechen durch ihre Kompaktheit und grazile Komposition. Große Laufruhe. Höchste Schnittpräzision.

Gleich wird die örtliche Knochenzerstückelung folgen.

Da, peng!

Der Motor stoppt.

Ein Defekt.

Wir haben Stress genug, wenn alles genial klappt. Schon vorher wird angetrieben, gebrüllt. Denn es muss alles bereit sein, wenn der Operateur kommt. Aber oft geht nichts nach Plan. Ein Patient wird zu spät angeliefert. Der nächste hockt noch auf der Toilette. Dann fehlt eine Schwester, ein Techniker.

Seit 2008 hat die Weltgesundheitsorganisation Mobbing im OP-Saal ausdrücklich als Hochrisiko untersagt. Konkret geht es um jedes Verhalten, das die Kultur der Sicherheit untergräbt. Aber in unserem Alltag ist die Vermeidung noch nicht wirklich angekommen.

Wir brauchen ein dickes Fell.

Beleidigung, Bedrohung, Erniedrigung und Arbeitsbehinderung.

Auch die Auslöser wiederholen sich.

Handwerkliche Fehler. Komplikationen. Medizinische Irrtümer. So gut wie nie wird ein linkes Bein mit dem rechten Bein verwechselt … aber ob Schleim diagnostisch in dem linken oder rechten Lungenflügel aufgenommen wird oder welche Seite genau im Rachenraum durch optisches Gerät inspiziert werden soll, das kann schon mal schiefgehen.

Ich weiß also, was jetzt folgt.

Aber, sensationell. Der ärztliche Direktor … total unter Kontrolle.

„Sie besorgen einen Ersatz. TCM 3000. Für Osseoskalpell mit Pendelhub nach Sachse 68.24.06 … das kriegen wir hin.“

Ja. Er spricht mit mir. Ganz unaufgeregt.

Ich bin schon auf dem Weg nach draußen. TCM 3000. Osseoskalpell mit Pendelhub nach Sachse 68.24.06.

Auf dem Flur rennt mir eine Kollegin aus der Verwaltung entgegen. Ich kenne nur ihren Vornamen. Vera. Jetzt kommt sie gezielt auf mich zu. Sie hält ein Telefon in der Hand.

„Sofia, deine Tochter … „.

„Ich kann jetzt nicht … ich rufe gleich zurück.“

„Du musst. Ich glaube, es ist etwas passiert …“

Ich ergreife den Hörer. Ja, es ist Lina.

„Mami, komm‘ … sie haben Papa erstochen.“

Ich werde wahnsinnig.

„Was hast du gesagt?“

„Mami, sie haben Papa erstochen, zwei Männer, auf der Terrasse, jetzt sind sie wieder weg. Bitte, bitte, komm schnell …“

Papa … erstochen. Ich habe richtig gehört.

„Lina, Schatz, wo bist du?“

„Oben im Haus.“

„Du bleibst da, verstanden … Ich komme.“

Meinen Auftrag wälze ich auf Vera ab.

„OP-Raum 2 braucht einen Ersatzmotor. TCM 3000. Für Osseoskalpell mit Pendelhub nach Sachse 68.24.06. Bitte übernimm‘. Verzeih‘ mir. Ich muss nach Hause.“

Nie hätte ich gedacht, dass es einmal eine solche Pflichtverletzung geben könnte.

Ich renne in Richtung Schwesternzimmer. Ich brauche auf jeden Fall meine Handtasche. Wegen dem Hausschlüssel. Natürlich enthält sie auch den Autoschlüssel, alle Karten, die Papiere und das Handy. Gleichzeitig wähle ich am Telefon in meiner zitternden Hand 144. Rettung. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass ich in unserer Notaufnahme gleich einen Arzt oder eine Ärztin sehe und zu einem Einsatz überreden kann. Ein Notarzt vom Rettungsstandort Gilmgasse in unserem Bezirk ist definitiv auch schneller bei uns zuhause.

Es dauert endlose Sekunden.

Jetzt habe ich mich unter Kontrolle.

Ich ertrage geduldig die überflüssig erscheinenden Fragen und wiederhole im Rennen mit fester Stimme meine Angaben. Einen Notarzt nach Dornbacher Weg 52 C. Männliches Opfer, 39 Jahre, mit lebensgefährlichen Stichverletzungen. Wahrscheinlich auf der Terrasse hinterm Haus. Schnellstens, bitte. Und die Polizei! 133.

Ich werde schon glücklich sein, wenn ich einen Fahrer finde, der mich mit Blaulicht nach Hernals fährt. Aber ich glaube schon. In aller Regel sind am Haupteingang Einsatzkräfte, die gerade jemanden abgeliefert haben. Sie warten auf ihren Schützling. Oder sie ziehen einen Kaffee aus dem Automaten. Alle schnaufen erst einmal durch.

Ich denke kurz an meinen Wagen, der einige hundert Meter entfernt in der Personalgarage steht. Dorthin zu laufen und selbst zu fahren, das erscheint mir als eine ganz schlechte Wahl.

Sofort und mit Blaulicht wäre unschlagbar.

Ich habe Glück.

Einen Fahrer kenne ich vom Sehen. Er hört fassungslos, was ich berichte, schubst mich in einen Wagen, programmiert die Navi, schaltet die Signale ein und gibt richtig Gas.

Fünf Kilometer.

Währinger Gürtel, auf Höhe der Severingasse unter der Hochbahn auf die andere Seite, dann nach rechts Jörgerstraße, Elterleinplatz und Hernalser Hauptstraße. Das nächste ist schon der Dornbacher Weg.

Verkehrte Welt. Ich sitze in einem dieser Rettungsfahrzeuge, von denen Hunderte jeden Tag Patientinnen und Patienten in unser riesiges Klinikum bringen.

Was wird mich erwarten?

Auch der Fahrer denkt voraus. Er nutzt die Minuten, um Informationen einzusammeln, die er gleich brauchen wird, um professionell zu handeln.

Dornbacher Weg 52 in Fahrtrichtung links, ja?

Ja. Zwei neue Gebäude.

52 C eine Doppelhaushälfte?

Ja. Das zweite Gebäude. Der rückwärtige Teil. Etwa fünfzig Meter Zufahrt weg von der Straße.

Gibt es dort einen Stellplatz?

Ja. Aber wenn mein Mann tatsächlich zu Hause ist … war, steht dort jetzt sein Auto.

Wir lassen sowieso die Zufahrt frei für die Kollegen. Wir werden auf der Straße halten. Vielleicht sind sie ja bereits da.

Total kontrolliert.

Ich staune auch über meine augenscheinliche Ruhe. Der Fahrer muss sich eigentlich wundern.

Wenn er wüsste …

Während ich mich bemühe, diese Unterredung mit ihm zu führen, habe ich auch noch diese Zwiesprache mit mir selbst, in der ich immer wieder denken muss: Harte Woche, harte Woche … unfassbar.

Weiß Gott!

Heute ist Donnerstag, und Sonntag vor einer Woche, mit dem Ende einer „Tatort“-Sendung“ im Ersten, die wir gemeinsam sehen, blickt mein Mann mich sehr eigenartig an. Ich spüre irgendwie, dass er nach Worten sucht. Gleich wird er etwas sagen, was ihm schwerfällt und was ziemlich unerwartet ist. Aber was?

Er kündigt an, dass er mich verlassen wird. Er hat sich in eine Anwältin verliebt.

Es ist völlig unerwartet. Ich bin wie gelähmt.

Währenddessen erzählt er, welchen Flug in die Karibik sie schon gebucht haben.

„Sorry … wirklich.“

„Das ist nicht dein Ernst, nein? Das sagst du mir heute? Du hast schon noch drauf, was morgen ist?“

Tagelang hatten wir nämlich überlegt und diskutiert, wer am Montag – dem Tag nach seiner Ankündigung – um 19:02 Uhr am Gleis 6 des Hauptbahnhofs stehen und meine Mutter in Empfang nehmen wird. Ich bestimmt nicht. Die Frau war bei der Buchung ihrer Bahnfahrt nicht zu bewegen gewesen, meinen Schichtplan zu berücksichtigen.

Schließlich hatte er eingewilligt.

„Ja, weiß ich … das wird schon irgendwie.“

Als sei es das Wichtigste, betone ich: „Ich werde nicht den Kopf haben, in dieser Situation mit meiner Mutter über uns zu diskutieren. Also das ist das Mindeste … dass wir diesen Besuch erst einmal hinter uns bringen.“

Leider misslingt das völlig.

Montag holt mein Mann die Schwiegermutter ab und ist im Anschluss am Abend mehrere Stunden verschwunden, unter einem Vorwand. Dienstag stehe ich irgendwie noch durch. Mittwoch und Donnerstag kann ich fast nicht mehr. Es kommt zu einer Auseinandersetzung, und nicht lange, dann beschimpft meine eigene Mutter mich. Wie ich es so weit kommen lassen kann, meine Familie zu verspielen.

Am Freitagnachmittag bringe ich sie zu ihrem Zug nach Graz. Nach meiner Rückkehr schnappt mein Mann ein fertig gepacktes Carry-on und entschwindet.

Samstag, Sonntag … ich allein mit meinen Gedanken und mit Lina.

Und jetzt das. Donnerstag. Der Anruf meines Kindes.

Wahrlich, eine Horrorwoche.

Der Fahrer hat inzwischen wohl alle wichtigen Details eingesammelt … und nun ist bei ihm die Gefühlsebene dran.

„Das ist ja furchtbar, was Ihre Tochter Ihnen da gesagt hat …“

„Ja, alles schrecklich, einschließlich des Umstands, dass mein Mann vor elf Tagen beschlossen hat, dass er ausziehen wird, dass er uns verlassen wird.“

„Oh, das tut mir aber Leid …“

„Ja“, sage ich. „Aber seien Sie versichert: Es sitzt keine Mörderin neben Ihnen.“

Ich hätte über meine Worte erschrecken können. Sie setzen voraus, dass mein Mann schon tot ist. Offensichtlich ist das für mich in meiner Vorstellung Realität, seit jener Sekunde, in der mein Kind das Wort erstochen ausgesprochen hat.

Wahnsinn!

Vor dem Grundstück Dornbacher Weg 52 stehen drei Polizeifahrzeuge. Den Notarztwagen sehen wir erst, als wir selbst neben der Zufahrt halten. Unmittelbar vor der Rettung mit immer noch blinkendem Blaulicht parkt hinten am Ende der Audi meines Mannes, an der Stelle wie immer. Sein Auto ist eine schreckliche erste Bestätigung dessen, was meine Tochter mir berichtet hat.

Vier Einsatzfahrzeuge. Das bedeutet acht bis zehn Leute. Was immer mich erwartet, ich bin nicht allein. Ich fühle mich erleichtert.

Ich renne in Richtung zweites Doppelhaus. Den Fahrer lasse ich zurück ohne ein Wort des Dankes oder eine freundliche Geste zum Abschied. Habe ich vergessen. Ungewöhnliche Ereignisse haben das Potenzial, Menschen zu verändern. Ist es bei mir schon so weit?

Drei Meter vom Gehweg entfernt beginnt das erste Gebäude. Es ist fünfzehn Meter lang. Danach folgen zwanzig Meter Gartenfläche bis zum zweiten Haus.

Nach ungefähr weiteren zehn Sekunden Rennen nähere ich mich unserer Haustüre.

Wohin stürze ich zuerst? Hinter das Gebäude auf die Terrasse? Zum wahrscheinlichen Schauplatz eines schrecklichen Geschehens. Oder erst ins Haus, zu meiner geliebten Tochter? Die braucht mich jetzt wohl am dringendsten.

Ich entscheide mich dennoch schnell für einen Blick mit eigenen Augen auf das Geschehene.

Ich kann gar nicht anders.

Ich sehe Menschen in Polizeiuniform. Ich sehe Nachbarn. Ich sehe die rot-weiße Kleidung von Sanitätern. Ich sehe meinen Mann.

Auf unserer Terrasse steht eine Möbelgruppe aus Rattan. Eine Zweierbank, vier Stühle, zwei Hocker, ein Tisch mit schwarzen Glasplatten.

Darauf sehe ich einige unbeschriebene Blätter Büropapier, einen Stift.

Einer der Stühle ist seltsam weggedreht. Unmittelbar davor liegt ein männlicher Körper.

Auf dem Steinboden sehe ich das Handy meines Mannes.

Sollte es sein privates sein, ist es ein schon älteres SAMSUNG Galaxy Neo III. Sein Firmenhandy ist ein SAMSUNG6, glaube ich.

Die liegende Gestalt ist mit einer dunklen Hose und einem weißen Hemd bekleidet. Im Bereich des Brustkorbs sehe ich massiv mit Blut eingefärbte Großflächen. Mund und Nase werden von einer Sauerstoffmaske bedeckt. Dennoch erkenne ich den Mann wieder, der mich vor zehn Jahren heiratete und vor elf Tagen unser Zusammenleben aufkündigte.

Zwei Mediziner knien neben ihm.

Das Hemd ist aufgetrennt. Ich nehme Kabel wahr, die zu einem Defi gehören. Ein Schockgeber zur Defibrillation oder zur Kardioversion. Das Gerät kann durch automatisch gesteuerte Stromstöße ein Herz von lebensgefährlichen Erregungen befreien. Es erzeugt eine Art Mininarkose, bis wieder eine natürliche Stimulation die Steuerung übernimmt.

Die Helfer bewegen sich ohne jede Hektik.

Ich sehe keinerlei Anzeichen einer Wiederbelebung der Herz-Lungen-Funktion.

Ich erkenne eine Nachbarin. Sie macht eine Geste in Richtung Terrasse und dreht das Gesicht zur Seite. Eine weitere Nachbarin, Ehefrau und Mutter eines Kindes wie ich, hat einen Gesichtsausdruck, wie nur die Konfrontation mit einem Alptraum ihn hervorbringt. Irgendwie von allen Sinneswahrnehmungen entleert, von Hören und Sehen verlassen … wer das einmal so formuliert haben mag?

Ich habe mich wohl sehr rasch bewegt. Ich spüre den Kreislauf. Eine dicke Strähne fällt über mein Gesicht, bildet eine Art Schleier und schützt mich gleichzeitig davor, zu schnell zu viele Einzelheiten wahrzunehmen und aufzusaugen.

Ich nähere mich.

Die Nachbarn sagen zu einigen Polizisten Worte wie „Das ist Frau Frischler“.

Zwei Beamte stellen sich in den Weg.

„Ich möchte zu ihm … Wie ist sein Zustand?“

Sie lassen es nicht zu und drängen mich ab.

Ich drehe mich zum Haus und blicke nach oben. An einem Fenster im Obergeschoß sehe ich meine Tochter. Sie kann ihren Blick offenbar nicht losreißen.

Hier auf der Terrasse scheint mich niemand wahrzunehmen oder zu brauchen. Ich winke ihr zu und eile nach vorne.

Jetzt zittere ich am ganzen Körper, während ich die Haustüre aufschließe.

„Mein Engel, ich bin da …“

Sie kommt mir auf der Treppe entgegen. Ich nehme sie an der Hand und führe sie wieder nach oben. Ich könnte mich nicht im Wohnzimmer auf sie konzentrieren … mit all diesen Menschen auf der Terrasse. In ihrem Zimmer ziehe ich instinktiv die Vorhänge zu.

Ich habe mein Kind heute früh kurz nach sechs Uhr geweckt.

Ich war mit ihr im Bad, habe gesehen, wie sie sich ankleidet, und habe für sie Frühstück gemacht. Ich setze mich mit einer Tasse Kaffee zu ihr.

In dieser Woche beginnt mein Schichtdienst um 13:00 Uhr. Ich hätte sie zur Schule bringen können. Aber ich habe meinem Mann derart zugesetzt, dass er sich bereit erklärte, in der Früh zu erscheinen und Lina an der Schule abzusetzen. Das hat er auch gemacht. Denn egal, was wird, er ist und bleibt der Vater, und ich werde nicht zulassen, dass er das eine Sekunde vergisst. Die weitere Organisation der Betreuung unserer Tochter in den kommenden Tagen war bestenfalls vage geplant … bisher hatten wir eine Tagesmutter als Stand-by. Eine solche Lösung, das war klar, wird in Zukunft nicht ausreichen … jetzt erst recht nicht.

Ich weiß gar nicht, wie der Tag dann tatsächlich war. Anders als in fast jeder anderen Mutter-Tochter-Beziehung hat mein Kind unter normalen Bedingungen keine Gelegenheit, mit mir zu telefonieren, während ich in der Klinik bin.

Ich habe das Haus gegen zwanzig Minuten nach zwölf verlassen. Wann kam er wieder? War er möglicherweise gar nicht in seiner Firma? Das wäre sehr ungewöhnlich.

Aber was ist jetzt nicht ungewöhnlich?

Mir wird bewusst, was meine Tochter urplötzlich neben allem, was sie jetzt und in alle Ewigkeit für mich ist … mein wichtigster Antrieb, mein Leben zu meistern … zusätzlich ist und bleiben wird: Zeugin eines unfassbaren, unbegreiflichen Geschehens. Sie hat etwas gesehen, was sich wahrscheinlich als das Wahnsinnigste herausstellen wird, was sich in meinem und in ihrem Schicksal ereignen kann. Ihr Papa ermordet. Mein Ehemann ermordet.

Einfach unfassbar.

Ich weiß gar nicht, was ich sie zuerst fragen soll.

Ich habe gar keine Erwartung, weder, dass sie völlig apathisch ist, wie gelähmt, kein Wort herausbringt, noch dass sie jetzt hemmungslos aufschreit und sich fallen lässt … noch sonst eine konkrete Reaktion.

„Was ist mit Papa … ist er tot?“

Ich versuche auszuweichen … „Ja, vielleicht, er hat sehr viel Blut verloren, die Ärzte kämpfen … aber, sag‘, mein Engel, wie geht es dir?“

Ihr ist es wichtig, zu schildern, was sie gesehen hat, was sie weiß … vielleicht gibt es ihr Halt, zu wissen, dass wir dieses fürchterliche Geschehen irgendwie miteinander teilen.

Meine Tochter erzählt, dass sie von der Schule zu Fuß nach Hause kommt und völlig überraschend Papas Auto neben unserem Haus stehen sieht. Das freut sie, und sie läuft gleich bis zur Terrasse. Sie findet ihn mitten auf unserer kleinen Gartenfläche stehend, einige Blätter in der Hand, einen Stift. Er begrüßt sie herzlich und meint, dass er heute ein paar Stunden Auszeit genommen hat, um sich paar Dinge durch den Kopf gehen zu lassen.

„Mein Liebling“, sagt er wohl sinngemäß, „ich bin gar nicht wirklich da … mach bitte deine Aufgaben, vielleicht habe ich später noch Zeit für dich, bevor ich ins Büro fahre.“

Meine Tochter - was aktuell unsere Ehe betrifft noch ahnungslos - genießt es jedenfalls sehr, ihn so nah zu wissen. Sie sperrt mit ihrem eigenen Schlüssel die Haustüre auf und geht nach oben.

Direkt über der Terrasse liegen unsere zwei am schönsten platzierten Räume, links das Elternschlafzimmer und rechts das Kinderzimmer. Von dort wird sie sehen, was dann passiert.

Unmittelbar an dem bodentiefen Doppelfenster – die untere Hälfte ist fixiert und nicht zu öffnen – steht ein Arbeitstisch. Hier nimmt sie Platz und beginnt, sich mit diesem und jenem zu beschäftigen. Eigentlich vergisst sie bald, dass da unten ihr Papa ist, und sie kriegt auch gar nicht mit, was er macht oder ob er überhaupt etwas Erkennbares unternimmt oder verfolgt.

Plötzlich nimmt sie zwei fremde Männer wahr, drei Meter tiefer, auf der Terrasse. Woher und wie sie auftauchen, das sieht sie nicht. Sie sind einfach da. Jetzt sieht sie auch ihren Papa wieder. Er macht einige Schritte auf die beiden zu. Ein bisschen hebt er den Kopf, das ist alles, was ihr im Gedächtnis bleibt. Ohne rasche Bewegungen kommen sich die drei näher, irgendwie gemächlich. Auf meine konkrete Nachfrage ist sie sich ganz sicher … es scheint ohne Feindseligkeit, ohne Aggression zu sein. Am Verhalten ihres Papas deutet nichts auf Angst, auf Abwehr, auf eine Fluchtabsicht hin.

Fast … das ist meine erste Interpretation … würde dazu wohl eine für ihn typische Aussage passen wie „Hallo, kann ich Ihnen helfen?“

Wie man vielleicht mit Paketboten spricht, die sich offensichtlich geirrt haben.

Jetzt stehen die beiden Fremden und ihr Papa in normaler Gesprächsdistanz, immer noch unaufgeregt.

Die Zwei nehmen vermutlich wie abgesprochen eine Position nebeneinander ein, vielleicht zwei Schritte voneinander getrennt. Mein Mann steht ihnen gegenüber, ziemlich in der Mitte, und das bedeutet auch: Von den Händen und Armen der beiden links und rechts vor ihm ist er etwa gleich weit entfernt.

Jetzt sieht meine Tochter bei beiden fremden Männern stichartige Bewegungen in Richtung zu ihrem Papa. Der links Stehende mit dem linken Arm, der andere von der rechten Seite. Jeder hält ein Messer oder einen ähnlichen Gegenstand in der Hand und rammt seine Waffe in die Gestalt vor ihm. Vermutlich von unten in den Bauch und sowohl in die Brust wie in den Rücken. Wieder und wieder und wieder.

Ihr Papa bricht zusammen. Im Stürzen fällt ein Terrassenstuhl um.

Lina lässt die Täter jetzt nicht mehr aus den Augen. Die beiden Männer verstauen ihre Messer in einer Plastiktüte, bewegen sich nach rechts in Richtung Zufahrt zum Haus. Immer noch wie unaufgeregt.

So verschwinden sie aus dem Blickfeld meines Kindes.

Meine Tochter möchte natürlich hinunter und hinaus zu ihrem Papa. Jedoch erinnert sie sich gleichzeitig an eine unüberwindliche Angst, nach diesem Vorfall das Haus zu verlassen. Sie ist alt genug und denkt an den Polizeinotruf, an einen Notarzt. Aber auf keinen Fall will sie irgendwas unternehmen, ohne vorher mit ihrer Mama telefoniert zu haben.

Sie ruft mein Handy an und erreicht mich nicht. Das Mobiltelefon ist während meines Dienstes im Schwesterzimmer eingeschlossen. So etwas hat sie jetzt erwartet. Sie erinnert sich, dass auf einer Memotafel in der Küche eine Karte mit meinem Namen und einer Durchwahlnummer in der Klinik befestigt ist. Sie wählt die Nummer … und irgendwie gelingt es ihr, die Person am anderen Ende davon zu überzeugen, dass es um etwas außerordentlich Wichtiges geht. Nur deshalb wird ihr Anruf in die Verwaltung durchgestellt. Wieder Glück, dass sie bei einer so vifen Person wie Vera landet.

Nicht auszudenken, das hätte nicht geklappt.

Ich werde immer dafür dankbar sein, dass mein Kind vielleicht nur zwanzig Minuten allein war mit dieser fürchterlichen Situation.

Jetzt bin ich bei ihr.

Während ich sie in meinen Armen halte, blicken wir beide auf die Terrasse. Es sind mittlerweile zehn, zwölf Personen zu sehen. Einige tragen die weißen Schutzanzüge, die man aus dem Fernsehen kennt. Die auf dem Boden liegende Gestalt erinnert immer weniger daran, dass sie einmal voller Leben war.

In einer Ecke der Terrasse bewegt sich jetzt eine Frau. Sie trägt gewöhnliche Kleidung, keine Uniform. Etwa mein Alter. Seltsam. Sie wirkt auf mich im Vergleich zu den übrigen wie unbeteiligt, ohne irgendeine Aufgabe, von jeder Pflicht befreit.

Sie ist einfach da.

Ich denke urplötzlich: Ist es womöglich sie? Die andere? Die Anwältin? Die Neue?

Es wäre schon ein starkes Stück … in dieser Situation hier aufzukreuzen. Ist ja praktisch gar nicht möglich. Wie denn?

Andrerseits, es wäre vielleicht verständlich aus ihrer Sicht.

Auch für sie eine wahnsinnige Woche, weiß Gott.

Ich verwerfe meinen Gedanken. Ich beruhige mich.

Die Frau da unten ist kein Fremdkörper in diesem Gewusel aus Medizinern und Polizisten. Jedenfalls scheint sie die anderen keinesfalls zu stören. Sie gehört irgendwie dazu.


Sofia Frischler, Fachkrankenschwester für Operationsdienst.

Donnerstag, 4. Oktober 2018, gegen 17 Uhr.

 

Neue Vorhaltungen meiner Mutter würde ich heute nicht ertragen. Dieser Anruf kann warten.

Ich staune über meine Verfassung. Vor etwa drei Stunden wurde mein Mann getötet, aber von irgendeinem Zusammenbruch bin ich noch weit entfernt.

Was fühle ich? Bin ich eher Witwe oder verlassene Frau? Das eine wie das andere ist mir so fremd wie nur möglich.

Es ist so irreal. Noch vor einem Monat waren wir in diesem fantastischen Beziehungs-Musical „Die letzten 5 Jahre“. Bei einem Crowdfunding habe ich für 50 Euro zwei Premierentickets erworben. In Wiener Neustadt. Stühle, zwei Tische, zwei Schauspieler. In 14 Songs erzählen sie ihre Geschichte. Sie von heute an rückwärts, er vom ersten Augenblick an chronologisch. In der Mitte treffen sie sich, das war ihre Verlobung. Er singt sinngemäß: Würde ich nicht an dich glauben, würde ich sagen, Glückwunsch, du hast recht und bin weg.

Und der Mann, mit dem ich das erlebe, praktiziert heimlich schon seine Trennung! Dabei ein Gefühlsmensch, aber nicht mehr für mich.

Ich bin siebenunddreißig. Ich habe ja gespürt, dass sich unsere Beziehung verändert. Aber ich habe mich nur stumm auf sein ziemlich selbstsüchtiges, egoistischer werdendes Verhalten konzentriert. Mir wurde zunehmend bewusst, wie einseitig unser Zusammenleben geworden ist. Sehr viel Input von mir, hauptsächlich. Mein Mann, seine wenigen Freunde können stundenlang dasitzen und über sich und ihren Fußballverein und ihre Arbeit und ihre Cleverness reden, und keiner fragt einmal mich nach meinen Gefühlen, Prioritäten. Jeder Vorschlag muss von mir kommen, alles Organisieren ebenso. Wochenenden, Besuche, Urlaub, Kindergeburtstag … und natürlich alle Termine sogar in seiner Familie. Ohne mich würde er jeden Geburtstag der Eltern und Geschwister vergessen.

Ich habe es irgendwie akzeptiert, ist typisch Mann, gedacht und bin davor zurückgeschreckt, es anzusprechen.

Jetzt muss ich es auch nicht mehr.

Eine Kriminalbeamtin hat sich in groben Zügen von meiner Tochter schildern lassen, was sie gesehen hat. Diese Unterredung wird in den nächsten Tagen im Kommissariat in aller Ruhe ausführlich wiederholt und protokolliert.

Danach erfasst sie auch gleich schon alle wichtigen persönlichen Daten des Opfers dieses Gewaltverbrechens am heutigen Tag. Name, Geburtstag, Körpergröße, Gewicht, Handynummer, Arbeitgeber, Krankenkasse.

Unter Familienstand melde ich verheiratet.

Sein Tablet packt die Polizistin gleich ein.

Ich werde konkret zum Privathandy meines Mannes befragt. Die Beamtin braucht alle verfügbaren Identifikationsnummern: SIM-Kartennummer, PIN, PIN2 und die achtstelligen PUK und PUK2.

Ich werde sie in den Vertragsunterlagen mit der Telefongesellschaft A1 eruieren und vorbeibringen.

Etwa zwei Stunden später erhalte ich den Anruf, den ich selber schon überlegt habe. Seine Firma.

Mein Mann ist Geschäftsführer eines Start up-Unternehmens. Aerhawk GmbH. Geschäftsidee: kommerzieller Einsatz von Drohnen. Man kann ohne Übertreibung sagen, eine der interessantesten Technologiegründungen der neuesten Generation in Österreich.

Die Kripo spurt, wirklich erstaunlich. Sie war schon in der Firma meines Mannes und hat auch dort sein Laptop konfisziert. Die Beamten haben dem Vertreter meines Mannes in der Geschäftsführung einige Fragen gestellt, und dieser Kollege ruft mich sofort an. Er ringt um Fassung.

Ich nutze den Kontakt auch, um selbst Fakten zu sammeln und zu ordnen.

„Weiß jemand in der Firma, warum mein Mann heute Mittag überhaupt zuhause war?“

Sein Arbeitsplatz ist mindestens vierzig Autominuten Mittagsverkehr entfernt. Sich das anzutun, ist überhaupt nicht typisch für ihn. Wenn er es überraschend getan hat, akzeptiere ich völlig, dass er mir nicht Bescheid sagt, dass ich es nicht weiß. Weil es nicht geht. Ich bin in meinem Dienst telefonisch so gut wie nicht zu erreichen.

Der Kollege verspricht, sich schlau zu machen und sich schnellstens wieder zu melden.

Auf unserer Terrasse wird die Menschenansammlung zusehends kleiner. Ohne dass wir es mitbekommen, wurde der Leichnam meines Mannes bereits entfernt. Beschlagnahmt für eine Untersuchung im Gerichtsmedizinischen Institut.

Die Glasplatten des Tisches sind leer. Handy und die Blätter sind ebenfalls nicht mehr da.

Später fällt mir auf: Auch der Audi meines Mannes wurde entfernt. Abtransportiert. Vielleicht finden sich ja Spuren, die mit der Tat zusammenhängen können.

Geräuschlos ist eine neue Aktion Wahrheitsfindung der Wiener Polizei angelaufen.

Niemand hält es für nötig, mir einen Ton zu sagen.

Aus dem Wohnzimmer habe ich jetzt einen ungehinderten Blick auf die zurück gebliebenen Blutspuren.

Die unfassbare Realität lässt sich immer weniger leugnen.

Müsste ich toben? Müsste ich schluchzen? Ich weiß es nicht.

Ich weiß überhaupt nichts.

Irgendwie drängt sich mir eine einzige Erklärung für das Unfassbare auf: Dass mein Mann auf grausamste Weise bestraft werden sollte. Aber wofür? Von wem? Da muss schon in irgendjemandem eine gewaltige böse Energie stecken. Nicht in den Killern. Dass die beiden Täter mit den Messern selbst einen persönlichen Grund haben, ihn umzubringen, schließe ich völlig aus. Eine direkte Beziehung zwischen ihm und ihnen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Ein Auftragsmord.

Ich kann mir aber nicht denken von wem, warum.

Jetzt fällt mir der ärztliche Direktor ein. Eine innere Stimme befiehlt mir, ihm persönlich zu erklären, warum ich urplötzlich verschwunden bin.

Ich wähle die Durchwahl der Verwaltung und bitte, mit ihm verbunden zu werden. Erstaunlicherweise haben die Kolleginnen und Kollegen schon erfahren, was sich zugetragen hat. Ich kann mir zwar nicht erklären, wie, aber Wien ist irgendwie ein Dorf. Jeder kennt irgendwo jemanden, in den Medien, bei einer Behörde, und schließlich waren ja auch soeben Sanitäter auf unserer Terrasse im Einsatz.

Ich höre von Kolleginnen erste Kondolenzbezeugungen. Es ist eine Erleichterung, dass ich nicht von vorne anfangen muss mit dem Erklären. Das wird es auch erträglicher machen mit meinem Chef.

Dieser Mann überrascht mich ein zweites Mal an diesem Nachmittag. Total verständnisvoll, mitfühlend. Ich komme kaum dazu, meine Worte der Entschuldigung loszuwerden. Kein Problem!

Von sich aus spricht er an, wie es in den nächsten Tagen weitergehen soll. Die Schichtpläne wurden bereits umgestellt, ohne mich. Die Kollegen haben super reagiert - was bei einer normalen Krankmeldung oder einem anderen triftigen Grund nicht unbedingt gang und gäbe ist. Ich bin erst einmal inoffiziell freigestellt, kann mich aber jederzeit von selbst wieder einklinken, wenn mir danach ist. Und in ein, zwei Tagen aktualisieren wir die Situation.

„Und wie geht es dem Patienten?“ … fällt mir gerade noch ein.

„Danke, bestens.“

Durchatmen.


Franziska Fahrensteiner, Kriminalhauptkommissarin, Fallanalytikerin.

Donnerstag, 4. Oktober 2018, gegen 18 Uhr.

 

Auf meinem Schreibtisch steht eine Glaskugel. Es war ein Scherz meiner Kollegen von der Mordkommission, als ich in die Abteilung Operative Fallanalyse wechselte. Manche verwechseln das mit Hellsehen. Gleichzeitig fragen sie sich schon: Bringt das was?

Ich bin seit sechzehn Jahren Analytikerin. Wir kümmern uns nicht um Spuren. Das machen die Ermittler. Unser Tatort liegt im Kopf des Schwerverbrechers.