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Thomas Biebricher

Geistig-moralische Wende

Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Anatomie des Konservatismus

2. Geistig-moralische Wende

Geistig-moralische Wende in der Praxis: Die Regierungspolitik 1982–89

Konservative Politik im Zeichen der Wende: Zwischenbilanz

3. Neokonservatives Denken

1968 und die konservative Kritik

Von stabilen Institutionen und den Grenzen des Fortschritts – konservative Positionen in den 1970er- und 1980er-Jahren

Neokonservatismus gegen Kritische Theorie: Werteverfall, ziviler Ungehorsam und der Historikerstreit

4. Berliner Republik

Die Wiederentdeckung des Kanzlerwahlvereins: Die CDU in den 1990er-Jahren

Wirtschaftspolitik im Schatten der Wiedervereinigung

Nation, Neue Rechte und Europa

5. Interregnum

6. Merkel

Die Krisen-Kanzlerin: Von »Too big to fail« zu »Madame Non«

Schlussbetrachtung: Die Erschöpfung des Konservatismus

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Hätte es einer letzten Bestätigung bedurft, dass sich der politisch organisierte Konservatismus in Deutschland seit längerer Zeit in schwerem Fahrwasser bewegt, dann wurde diese auf eindrucksvolle Weise Mitte 2018 durch das Gerangel zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU um die Schließung der Grenze für bestimmte Asylsuchende geliefert – inklusive angedeuteter Rücktrittsankündigung von Innenminister Horst Seehofer, die dann in einer charakteristischen Wendung umgehend wieder zurückgenommen wurde. Die Gründe des schon länger schwelenden Konflikts gingen über persönliche Animositäten zwischen Minister Seehofer und Kanzlerin Merkel oder rein wahltaktisch geprägte Erwägungen hinaus; sie berühren auch und nicht zuletzt das Schicksal des deutschen Konservatismus. Den deutlichsten Hinweis auf diese Dimension gab Anfang Januar 2018 der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag Alexander Dobrindt in einem Gastbeitrag für die Welt.

Offensichtlich hatte keiner seiner Referenten Alexander Dobrindt auf die geistesgeschichtliche Vorbelastung und die inneren Paradoxien der ›Konservativen Revolution‹ hingewiesen, und dem Vernehmen nach ging es ihm ohnehin eigentlich um »eine konservativ-bürgerliche Wende«, was die Forderung angesichts seit 12 Jahren fortwährender christdemokratischer Kanzlerschaft nicht weniger seltsam erscheinen ließ. Zudem rief Dobrindt mit diesen Worten unweigerlich Erinnerungen an die »geistig-moralische Wende« hervor, die vor 35 Jahren zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung das programmatische Leitbild der ersten Regierung Kohl/Genscher bezeichnet hatte. Mit dieser Anspielung stellte er die Frage nach der geistigen Situation der Zeit aber – unbewusst – umso prägnanter: Denn was ist in den 35 Jahren, die zwischen den beiden Wende-Forderungen liegen, mit dem Konservatismus in Deutschland geschehen; welche Entwicklungen und Verschiebungen liegen zwischen dem Regierungswechsel 1982/83 und der mutmaßlich letzten Regierung Merkel und wie lassen sich diese Veränderungen einordnen? Wie also kann es kommen, dass trotz eines nur siebenjährigen rot-grünen Regierungsintermezzos zwischen 1998 und 2005 und seitdem nur CDU/CSU-Regierungsführungen eine Wende eingefordert wird, die zwar nicht die radikal-gewaltsamen Assoziationen einer Revolution auslöst, aber doch gemeinhin mit der Vorstellung einer Kursänderung von 180 Grad verknüpft ist? Und wie schließlich ist es zu beurteilen, dass die Kohl’sche Forderung der geistig-moralischen Wende zwar schon damals Anlass zur Belustigung gab, aber dennoch als kraftstrotzender Ausdruck eines geradezu auftrumpfenden konservativen Gestaltungswillens galt, wohingegen die beinahe gleichlautende Forderung Dobrindts nun in der öffentlichen Wahrnehmung vornehmlich als hohl klingende Beschwörung gedeutet wurde? Dies sind die Fragen, zu deren Klärung im Folgenden beigetragen werden soll.

Doch auch wenn es das Privileg von Wissenschaft ist, legitimerweise alles zur Forschungsfrage zu erheben, ließe sich doch in diesem Fall möglicherweise von skeptischer Seite darauf hinweisen, dass es drängendere Themen gebe als den Entwicklungsgang und aktuellen Zustand des deutschen Konservatismus. Hätte man jene Fragen noch Mitte 2017 gestellt, so wäre die Reaktion wohl eher gleichgültig ausgefallen. Schließlich eilte zumindest der politische organisierte Konservatismus in Form seiner Hauptrepräsentanten CDU und CSU seinerzeit noch von Wahlerfolg zu Wahlerfolg – nicht zu Unrecht war die Rede von einer Ära Merkel. Die Union, die sich immer wieder als Volkspartei eines mythisch verklärten Orts namens ›Mitte‹ bezeichnet, hatte zumindest in Sachen Volkspartei keinen ernsthaften Konkurrenten mehr im Parteienspektrum und verpasste 2013 nur um ein Haar die absolute Mehrheit. Auf Bundesebene regieren heißt seit nunmehr über zehn Jahren als Juniorpartner der Union regieren.

Allerdings steht die anhaltende Regierungsvorherrschaft der Union in einem geradezu paradoxen Verhältnis zu ihrer immer weiter schwelenden Identitätskrise: Die Union siegt, doch unter ihren Parteigängern bleibt zunehmend unklar, in wessen Namen dies geschieht und zu welchem Zweck die errungene politische Macht eingesetzt werden soll. Im öffentlichen Diskurs ist von der Sozialdemokratisierung der CDU unter Merkel die Rede, und es ist ein geläufiges Urteil, dass in den diversen großkoalitionären Regierungen vor allem Forderungen der SPD umgesetzt würden – sofern die Union überhaupt welche formuliert hätte. Immer wieder wurden Stimmen laut, die vor einer konservativ entkernten Union warnten; solange die Union siegte, verhallten die Kassandrarufe jedoch weitgehend folgenlos.

Erst seit dem Jahr 2015 stellt sich die Frage nach politischer Verortung, ideeller Prägung, gesellschaftlicher Verankerung und allgemeiner Zukunft der rechten Mitte mit einer Schärfe, die existenzielle Dimensionen annimmt. Denn mit der Alternative für Deutschland ist der Union insbesondere vor dem Hintergrund der Flüchtlingspolitik allem Anschein nach eine ernstzunehmende Konkurrentin am rechten Rande des Parteienspektrums erwachsen, die sich immer wieder auch als Repräsentanz eines heimatlos gewordenen Konservatismus und seiner Anhänger darstellt. Diesbezüglich – wie in vielen anderen Punkten – markiert die Bundestagswahl 2017 einen Kulminationspunkt von Entwicklungen, die sich schon über längere Zeit hinweg anbahnten, aber davor jedoch noch heruntergespielt werden konnten. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass sich eine rechtskonservative Partei anschickt, ein vermeintliches Vakuum rechtsseitig der ›Volkspartei der Mitte‹ auszufüllen. Doch wenn auch die protorechtspopulistische Schill-Partei in Hamburg kurzzeitig und skandalträchtig als Junior-Regierungspartner in die Bürgerschaft einzog und die Republikaner in den 1990er-Jahren beachtliche Erfolge bei süddeutschen Landtagswahlen erzielten, war den rechten ›Protestparteien‹, wie sie damals hießen, auf Bundesebene niemals nennenswerter Erfolg beschieden. Und so hielt sich nicht nur in der Union, sondern auch in anderen Parteien lange Zeit die erfahrungsgesättigte Hoffnung, dass sich das Problem AfD auf die eine oder andere Art und Weise selbst erledigen werde. Ihre neuen Landtagsfraktionen würden sich beizeiten überwerfen und Schritt für Schritt selbst entzaubern, sodass es nur noch der bewährten Taktik aus Totschweigen und Stigmatisieren bedürfe. Diese Taktik ist mit dem donnernden Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 und ihrer seitherigen Erfolgsgeschichte überdeutlich gescheitert. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation erlangt die Frage nach Entwicklungsdynamik und Zustand des Konservatismus in Deutschland eine neue, und zwar überaus politische Brisanz, konkurrieren aktuell doch Union und AfD auch zumindest in gewissem Maß um die Rolle als legitime Repräsentanz konservativer Vorstellungen sowie der Menschen, Gruppen und Milieus, die Träger jener Vorstellungen sind. In dieser Auseinandersetzung wird viel davon abhängen, ob es der AfD gelingt, sich das Label des Konservativen dauerhaft anzueignen und/oder es zumindest dem politischen Konkurrenten erfolgreich abzusprechen, der sich nicht länger vom berüchtigten »grün-versifften« Einheitsbrei der Mainstreampolitik abhebe, sondern restlos in ihm aufgegangen sei – oder ob es umgekehrt die Repräsentanten der Christdemokratie fertigbringen, einen respektablen Konservatismus von einem despektierlichen ›Rechtspopulismus‹ der AfD abzugrenzen. Sollten sie daran scheitern, so ist nicht ausgeschlossen, dass Konservatismus über kurz oder lang in Rechtspopulismus kollabiert, die intellektuell-politischen Brandmauern nach rechts abgetragen werden und letztendlich auch einer politischen Kooperation nichts mehr im Wege steht. Dementsprechend erscheint es dringend angebracht, sich ein detailliertes Bild von der jüngeren Geschichte und Gegenwart jener politischen Strömung zu machen, um deren Deutungshoheit hierzulande nun ein wegweisender Kampf entbrannt ist, den deutschen Konservatismus.

Aber auch wenn es im Folgenden fast ausschließlich um den Konservatismus im deutschen Kontext gehen soll, so hat die Fragestellung implizit auch eine internationale Dimension. Denn der Blick auf andere Länder belegt, dass die Aussicht eines implodierenden Konservatismus nicht als alarmistische Spekulation abzutun ist und die entsprechenden Entwicklungsdynamiken weit weniger hypothetisch sind, als dies zunächst den Anschein haben mag. Der Verweis auf die Zustände der drei großen westlichen Demokratien Großbritannien, Frankreich und die USA reicht aus, um sich die prekäre Situation des Konservatismus zu verdeutlichen. Die Marginalisierung der Konservativen gegenüber dem Front National bzw. mittlerweile Rassemblement National in Frankreich, das potenzielle Auseinanderbrechen der Tories über den durch die UKIP gepflanzten Spaltpilz Brexit und die Trumpisierung der Grand Old Party in den USA: In allen drei Fällen droht der Kollaps des politisch organisierten Konservatismus in den autoritären Populismus.

Natürlich muss hier sofort zu Bedenken gegeben werden, dass der parteipolitische Konservatismus in den jeweiligen Kontexten sehr unterschiedlich verfasst und ausgerichtet ist und die Dynamik des konservativen Niedergangs ebenfalls beträchtlich variiert. Dennoch können auch unterschiedliche Entwicklungen ähnliche Resultate zeitigen, und bei allen angebrachten Einschränkungen bleibt festzuhalten, dass die traditionelle Repräsentanz der politisch organisierten rechten Mitte keinesfalls nur hierzulande unter Druck steht. Im Gegenteil, die Entwicklungen in Frankreich, Großbritannien und den USA könnten sich als ein Menetekel für die Bundesrepublik erweisen und das Bild einer internationalen Krise des Konservatismus erkennen lassen.

Dabei muss an die exakte Bedeutung des ursprünglich aus der Medizin stammenden Begriffs der krisis erinnert werden, womit schließlich nicht notwendigerweise der unvermeidliche Niedergang bzw. Exitus des von der Krise betroffenen Organismus gemeint ist, sondern der Moment, in dem die Krankheit ihr wahres Gesicht zeigt und der so zum Umschlagpunkt zum Besseren oder Schlechteren werden kann. Sofern also von einer Krise des Konservatismus die Rede ist, darf dies nicht als ein weiterer vorschneller Nachruf auf eine dem Untergang geweihte traditionsreiche Denkströmung missverstanden werden, denn aus der Krise könnte diese auch in gewandelter Form hervorgehen.

Zudem ist es erforderlich, sich die zeitliche Dimension des Krisenbegriffs in seiner ursprünglichen Bedeutung noch einmal vor Augen zu führen. Wenn Krisen so verstanden immer auf einen Entscheidungspunkt zulaufen, ist die Krise als Dauerzustand, wie sie gerade in unseren Zeiten des Öfteren verkündet wird, eigentlich ein Widerspruch in sich, der letztlich die Spezifik des Begriffs verwischt, denn in einer Welt allgegenwärtiger und nicht enden wollender Dauerkrisen sind diese nicht mehr von der Normalität zu unterscheiden. Die Diagnose der Krise setzt also eigentlich voraus, dass es einen nicht krisenhaften Status quo ante gab, denn nur wenn nachweisbar ist, dass der Konservatismus nicht nur in mythischer Urzeit, sondern zumindest irgendwann in den letzten Dekaden als intakt und nicht von Krisen geschüttelt gelten konnte, ergibt die Rede von einer aktuellen Krise Sinn. Dies bedeutet, dass die mittlerweile gut eingeübten Feuilleton-Niedergangsbefunde, denen zufolge Merkel mit ihrer Räumung konservativer Bastionen von der Atomenergie bis zur Einführung des Mindestlohns die Krise des Konservatismus verursacht hat, womöglich nicht falsch sind, aber doch zu kurz greifen. Denn zu prüfen wäre doch, ob sich der deutsche Konservatismus davor in einer grundsätzlich anderen Art und Weise präsentiert hat. Daher wird hier bewusst ein längerer historischer Rahmen gewählt, in dem sich Momentaufnahmen und auch etwaige ›Krisen‹ innerhalb der umfassenden Einordnung möglicherweise auch relativieren. Und so ist der Ausgangspunkt der Untersuchung mit der geistig-moralischen Wende auch deshalb gewählt, weil mit dem Regierungswechsel 1982/83 doch möglicherweise genau ein solcher Punkt des noch oder wieder vitalen Konservatismus bezeichnet ist, von dem aus sich die nachfolgenden oder aktuellen Entwicklungen tatsächlich als Krise bezeichnen ließen – wenn nicht eine andere charakterisierende Kennzeichnung am Ende doch ein adäquateres Bild ergibt.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, deutlich zu machen, wovon hier eigentlich die Rede ist, wenn vom politischen Konservatismus und seinem vermeintlichen Niedergang gesprochen wird. Denn der politische Konservatismus in einem umfassenderen Sinn geht keineswegs in Parteipolitik auf, und dies gilt insbesondere, wenn es sich um christdemokratische Parteien handelt. Vielmehr führt der Konservatismus als intellektuelle Tradition und als politischer Diskurs ein Eigenleben in mitunter beträchtlicher Distanz zum politischen Betrieb, ohne dass dies eine indirektere und grundsätzlichere Wirkmächtigkeit ausschlösse. Daher widmen sich die folgenden Betrachtungen nicht nur einer Untersuchung des politisch organisierten Konservatismus, sondern versuchen auch, das breite Panorama konservativer Debatten und Diskurse zumindest in Ansätzen miteinzubeziehen. Es handelt sich also weder um eine reine Parteiengeschichte der politischen Praxis noch um eine ausschließliche Intellectual History des konservativen Denkens, denn beide Perspektiven für sich genommen müssten unweigerlich zu einem verkürzten Verständnis des Konservatismus führen. Vielmehr soll über weite Strecken der folgenden Ausführungen zwischen beiden Ebenen changiert werden, um so die inhaltliche Breite des praktisch-theoretischen Spektrums des Konservatismus im Blick zu behalten, aber auch um die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen konservativen Diskursen und (Regierungs-)Politik erfassen zu können. Konservatives Denken, dies wird im folgenden Kapitel genauer zu erläutern sein, zeichnet sich nicht zuletzt durch seine Reaktivität auf konkrete (Fehl-)Entwicklungen aus, und von daher erscheint es wenig sinnvoll, es entkoppelt von konservativer und politischer Praxis insgesamt zu betrachten.

Umgekehrt darf man sich sicherlich nicht zu der Vorstellung versteigen, Politiker würden regelmäßig bewusst an der Umsetzung konservativer Ideen arbeiten. Hierin würde sich eine unter Theoretikern beliebte Überschätzung von Theorien verraten, aber auch eine zu simple Vorstellung hinsichtlich der Wirkweise von diskursiven Phänomenen, die schließlich selten genug in der Form von konkreten Handlungsprogrammen auftreten und, wenn überhaupt, die grundsätzlicheren Haltungen von Akteuren in einer für diese selbst nicht immer durchschauten Art und Weise zu prägen. In diesem Zusammenhang hat nach wie vor das Diktum von John Maynard Keynes Bestand: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiberling ein paar Jahre vorher verfaßte.«1 Dies gilt auch für konservative Politik(er), selbst wenn diese typischerweise jedwede Art von ideologischer Prägung von sich weisen.

Diese Erkundung der Geschichte des deutschen Konservatismus in Theorie und Praxis der letzten vierzig Jahre unter Rückgriff auf die Mittel und Erkenntnisse der politischen Theorie und der Parteienforschung füllt gleichzeitig einer Leerstelle in der Debatte über die Gegenwart, die von zwei miteinander verwobenen Narrativen dominiert wird. Das Erste ist der Aufstieg des Rechtspopulismus, der in den letzten Monaten und Jahren unter großem medialen Widerhall kenntnisreich und kritisch dokumentiert sowie analysiert worden ist. Der Rekurs der Neuen Rechten auf eine so nie existiert habende Konservative Revolution, die erst im Nachhinein von Armin Mohler erschaffen wurde, ist wohlbekannt,2 man weiß, wie man mit Rechten zu reden oder auch nicht zu reden hat,3 und mancher Soziologe ist sogar im Auftrag der Wissenschaft eine kurzzeitige Brieffreundschaft mit dem rechtsnationalen Vordenker Götz Kubitschek eingegangen.4 Die interessierte Öffentlichkeit weiß zwischen Identitären, AfD und Pegida zu unterscheiden – oder sie weiß gegebenenfalls, warum zwischen ihnen allen in ihrem neurechten Gedankengut doch letztlich kein Unterschied besteht. Kaum eine Diagnose der Gegenwart kommt aus ohne den Verweis auf den rechtspopulistischen Tritonus aus Trump, Brexit und AfD, der sich gegebenenfalls mit FPÖ und Viktor Orbán zum Vollakkord ausbauen lässt.

Zum Narrativ des Aufstiegs des Rechtspopulismus existiert auf der anderen Seite eine Art Pendant, nämlich die Rede von der Krise der Sozialdemokratie, die bekanntlich nicht nur in Deutschland schwere Zeiten durchlebt. Der Niedergang der linken Mitte ist in den vergangenen Jahren mindestens ebenso ausführlich besprochen worden, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil beide Phänomene als miteinander verknüpft erscheinen. Der Zusammenhang wird in der Regel in der Abkehr der sozialdemokratischen Parteien von ihrer einstigen Stammklientel verortet, die einstmals unter dem Begriff der Arbeiterklasse firmierte. Auf dem Weg in die ›Neue Mitte‹, von der etwa die Schröder-SPD schwärmte, verloren die Parteien des »kleinen Mannes« diesen aus den Augen bzw. erklärten ihn für wahlstrategisch irrelevant. Standen die entsprechenden Milieus wirtschaftspolitisch eher links, so zeichnete sie zumindest in Teilen gesellschaftspolitisch eine eher autoritäre Prägung aus. In dem Maß, in dem sich die Sozialdemokratien von der klassischen Umverteilungspolitik lossagten und sich wirtschafts- und sozialpolitisch immer mehr ihren liberalen und konservativen Rivalen annäherten, so das Narrativ, wurden die traditionell sozialdemokratischen Milieus politisch heimatlos, und erst durch dieses Vakuum eröffnete sich dem Rechtspopulismus ein Möglichkeitsfenster, das er konsequent für seinen Aufstieg zu nutzen wusste. Als hätten die Sozialdemokraten nicht schon genug Probleme, wird ihnen hier also angelastet, nicht nur am eigenen Niedergang, sondern darüber hinaus auch noch am Aufstieg des Rechtspopulismus schuld zu sein.

Zu Recht entzünden sich an den Details und auch den grundsätzlichen Annahmen der jeweiligen Narrative Diskussionen über ihre Plausibilität, hinzu tritt allerdings noch ein anderes Problem: Denn diese dominanten Gegenwartsdiagnosen produzieren blinde Flecken in den Fachdiskussionen und der breiteren öffentlichen Debatte und verdecken durch ihre Dominanz möglicherweise andere Entwicklungen. Sicherlich handelt es sich sowohl beim Aufstieg des Rechtspopulismus als auch der Schwächung der Sozialdemokratie um überaus wichtige und von vielen Seiten mit Besorgnis verfolgte Entwicklungen. Doch möglicherweise bringt der Niedergang des Konservatismus mindestens ebenso bedenkliche Nebenwirkungen mit sich, wenn sich etwa nicht nur das linke Spektrum der Parteienlandschaft kannibalisiert, sondern Ähnliches auch auf der rechten Seite geschieht. So stellt dieses Buch nicht zuletzt den Versuch dar, dem Konservatismus gerade im Moment seiner möglichen Erschöpfung die angemessene analytische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die selbst Konservative ihm allzu oft versagen. Möglicherweise stehen wir an der Schwelle einer radikalen Neuordnung des politischen Spektrums in Deutschland (und darüber hinaus), dabei die Rolle dieser wichtigen ideenpolitischen Strömung auszusparen, wäre weder ihrer großen Tradition noch den Kritiken, die sich an ihr abgearbeitet haben, angemessen.

1. Anatomie des Konservatismus

Wenn im Titel des Buches und in der Einleitung leichtfertig von dem »Konservatismus« die Rede ist, soll hier zunächst nochmal grundsätzlich gefragt werden: Gibt es überhaupt etwas, das als konservatives Denken, wenn nicht gar Ideologie bezeichnet werden könnte? Schon an diesem eher grundlegenden Punkt gehen die Meinungen auseinander, denn gerade Konservative weisen üblicherweise die Vorstellung eines ideologiegeprägten Denkens und Handelns weit von sich. Der Konservatismus, so die Argumentation, zeichne sich gerade dadurch aus, dass er konsequent antiideologisch und dementsprechend pragmatisch ausgerichtet sei. Und nicht nur Vertreter des Konservatismus, sondern auch Stimmen aus der Forschung schreiben ihm eher eine charakteristische Haltung als eine Ideologie zu.5 Stellenweise wird die Entideologisierung des Konservatismus – auch von seinen Gegnern – sogar so weit getrieben, ihm die grundsätzliche Theorie- und damit auch intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit abzusprechen: Von John Stuart Mill stammt die berühmte Charakterisierung der Tories nicht als »natural party of government«, wie sie sich selbst bis heute verstehen, sondern schlicht als »the stupidest party«. Konservative haben sich nicht immer derart energisch gegen solche Unterstellungen gewehrt, wie man es vermuten könnte. Im Gegenteil, oft genug wird geradezu damit kokettiert, dass der Konservatismus eben kein hochgestochenes Elitenprojekt sei und eher von einem Bauchgefühl als von streng deduktiver Logik getrieben sei. Doch obwohl sich sogleich zeigen wird, dass dieses Selbstverständnis einen wahren Kern hat, darf es nicht unhinterfragt akzeptiert werden. Schließlich trägt der Anspruch eines ausschließlich dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Pragmatismus selbst den Ideologieverdacht in sich, speist sich das Vertrauen in die pragmatische Vernunft doch ebenso wie andere Ideologien auch aus gewissen Grundüberzeugungen. Zudem kann man hinter der vermeintlich bescheidenen Selbstbeschreibung als einfacher Bürger aus dem Volke nicht zuletzt eine Selbstverkleinerungsstrategie vermuten, um in der breiten Bevölkerung um Zustimmung zu werben. Diesen antiideologischen Zuschreibungen widerspricht, dass die konservative Erfahrung, auf die wir im weiteren Verlauf zu sprechen kommen werden, überaus kompliziert ist und sie eigentlich nur unter erheblichem psychologisch-intellektuellen Aufwand sinnhaft und somit auch tragbar erscheint.

Doch wenn Konservatismus mehr ist als gesunder Menschenverstand in der Praxis, wie ließe er sich in seinen Konturen präziser erfassen? Hier soll folgendermaßen vorgegangen werden. In der Literatur zur Interpretation des Konservatismus gibt es eine Reihe sehr hilfreicher Unterscheidungen, die aber zu oft dichotomisch missverstanden werden. Dazu gehört die Differenzierung zwischen einem substanziellen und einem prozeduralen Konservatismus, die sich darin unterscheiden sollen, dass es im ersten Fall um die Verteidigung einer bestimmten Ordnung geht und im zweiten darum, die Modalitäten des Wandels jedweder Ordnung gemäß konservativer Vorstellungen zu gestalten. Doch diese Vorstellungen schließen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Aspekte eines Konservatismus, mit denen aber natürlich beträchtliche Instabilitäten in dessen Architektonik angelegt sind. Korrespondierend zu dieser Unterscheidung findet sich die zwischen einem rein reaktiven Konservatismus, der geradezu nominalistisch den Status quo als Status quo verteidigt und sich ausschließlich über seine Gegnerschaft definiert sowie einem Konservatismus, dem nichts ferner liegt als ein solcher Relativismus und der stattdessen seine raison d’être gerade aus der Kontemplation überzeitlicher Wahrheiten und Werte zieht, die es politisch zu bewahren, zu verwirklichen oder wiederherzustellen gilt.6 Auch in diesem Fall schließen sich die beiden Ausrichtungen nicht gegenseitig aus, ja, in gewisser Weise bedingen sie sich sogar: Schließlich kann man sich kaum vorstellen, dass ein rein reaktiver Konservatismus wirklich jeden Status quo bis hin zum real existierenden Sozialismus verteidigen würde, weshalb er wie auch immer gearteter inhaltlicher Orientierungsmarken hinsichtlich des zu Bewahrenden bedarf. Umgekehrt ist aber auch der wesensschauende Konservatismus der überzeitlichen Einsicht letztlich auf sein reaktives Pendant angewiesen, denn nur in der Herausforderung durch politische Gegner und Entwicklungen enthüllt sich dem Konservativen das zu Verteidigende in seiner Konkretion – wenn auch auf tragische Weise, wie sich zu Ende des Kapitels zeigen wird.

Im Folgenden werde ich also diese zwei Seiten des Konservatismus, die ich vereinfachend als Ideologie und Erfahrung bezeichnen möchte, herausarbeiten, und zwar mit Bezug auf Edmund Burke, der als Stammvater des Konservatismus gilt – nicht um einen Idealtypus des Konservatismus zu entwickeln, den es ohnehin nicht gibt, sondern um uns in heuristischer Absicht mit einigen konservativen Motiven und Elementen vertraut zu machen, die uns im weiteren Verlauf immer wieder als Referenzpunkte dienen können.

Von Michael Freeden stammt der Vorschlag, Ideologien weitgehend werturteilsfrei als mehr oder weniger systematisch verknüpfte Kombination von Konzepten zu begreifen, die sich als mehrdimensionale Struktur beschreiben und analysieren lassen.7 Freeden glaubt, Ideologien in konzentrischen Kreisen kartieren zu können, in deren Mittelpunkt sogenannte Kernkonzepte liegen, um die herum in einem ersten Gürtel die anliegenden Konzepte und in einem zweiten die peripheren Konzepte zu finden sind.

Dieser morphologische Ansatz dient mir im Folgenden als Leitfaden bei der Beschreibung des Burke’schen Konservatismus, wobei ich mich hier ausschließlich auf die Kernkonzepte konzentrieren werde, die offensichtlich die wichtigsten und stabilsten einer Ideologie sind.

Wie lässt sich nun also mithilfe von Freedens analytischem Instrumentarium Burkes Denken darstellen, und wie begründet sich überhaupt dessen Ruf als Ahnherr des Konservatismus? Bevor wir uns näher mit den einzelnen Elementen seines Denkens beschäftigen, gilt es also in aller Kürze Burkes Status als konservativer »Archetypus« zu reflektieren, nicht zuletzt, um Missverständnisse zu vermeiden. Edmund Burke wurde 1729 in Dublin geboren, studierte Rechtswissenschaften, war aber vor allem in jungen Jahren eher dem literarisch-philosophischen Genre zugeneigt und machte sich so zunächst einen Namen mit entsprechenden Werken über The Vindication of Natural Society und vor allem der Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, die 1756 bzw. 1757 veröffentlicht wurden. Eine politische Wendung nahm Burkes Karriere in der Folge, als er Sekretär des Whig-Anführers Lord Rockingham wurde. Ebenfalls der Partei beigetreten, wurde er 1774 Mitglied des Unterhauses, wo er sich einen Ruf als brillanter Redner erwarb und kontroverse Positionen zu einer Vielzahl von Themen bezog, die von wirtschaftspolitischen Fragen bis hin zur Kolonialpolitik und der Diskriminierung von Katholiken in seiner Heimat Irland reichten. Wie sich schon aus dieser biografischen Skizze erkennen lässt, gab Burke bis 1789 noch recht wenig Anlass, ihn zum Ahnherren des Konservatismus zu küren: Immerhin war er gerade kein Tory, sondern Mitglied der eher liberalen Whigs, und in den vielfältigen politischen Scharmützeln, in die er verwickelt war, vertrat er mehr als einmal eher regierungskritische Positionen, die oft genug mit entsprechenden Reformvorschlägen einhergingen. Viele seiner Zeitgenossen waren daher von Burkes Reflections on the Revolution in France, das 1790 erschien und die Revolution in aller Schärfe verurteilte, durchaus überrascht. Es ist diese Schrift, die sowohl bei Befürwortern als auch Gegnern der Revolution schon bald als definitives antirevolutionäres Statement galt und auf der in erster Linie Burkes Ruf als Begründer des Konservatismus und sein bis heute bestehender Status als Bezugsfigur beruht – wobei festzuhalten ist, dass diese Zuschreibungen erst viel später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzten, wie auch der Begriff des Konservatismus erst zu Beginn jenes Jahrhunderts, etwa zwanzig Jahre nach Burkes Tod im Jahr 1797, als politische Gattungsbezeichnung entstand.8 Burke war also ein Konservativer avant la lettre, dessen Denken in der Folge als Bezugsrahmen dienen soll.

Burkes Betrachtungen sind in Form eines Briefes an einen französischen Freund verfasst, der mehrere hundert Seiten lang ist und sich nicht durch übermäßige Stringenz auszeichnet. Daher müssen die zentralen Topoi oder Kernkonzepte im Sinne Freedens aus der epischen Darstellung herausdestilliert werden. Als Ausgangspunkt bietet sich Burkes Bestimmung der Conditio Humana an, von der aus sein Politikverständnis erschlossen werden kann. Dieses speist sich aus einer gewissen Vernunftskepsis und gibt einer erfahrungsbasierten Politik den Vorzug, und hält doch gleichermaßen Abstand vom Ideal einer nüchternen Technokratie, insofern Burke die affektive Dimension des Politischen hervorhebt, die eine erfolgreiche Regierungskunst nicht ignorieren könne. Die Skepsis gegenüber den Ansprüchen einer weltgestaltenden Vernunft wirft die Frage auf, woher Politik alternativ ihren Orientierungsrahmen beziehen soll, was auf Burkes emphatisches Verständnis von ›Vorurteil‹ und Tradition, aber auch Religion, einer ständisch-hierarchisch gegliederten Gesellschaftsstruktur und einer auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsform als stabilisierende Elemente verweist. Garantiert werden diese Komponenten durch einen Staat, der aber nur als Stellvertreter einer umfassenderen Ordnung agiert, deren transzendente Autorität die Richtigkeit von Burkes Vorstellungen verbürgt.

Burkes Menschenbild ist ein skeptisches, das von einem schwachen und zur Vollkommenheit unfähigen Menschen ausgeht,9 und nicht zuletzt aus diesem Grund hegt er massive Vorbehalte gegenüber den revolutionären Umtrieben im benachbarten Frankreich. Er warnt vor der »furchtbaren Kraft« (57) des Volkes, das, von seinen »heilsamen Banden« befreit, zum »Rasenden« würde. Zumindest für die große Mehrzahl der Menschen gilt, dass sie domestizierte Tiere sind, deren Leidenschaften mehr oder weniger umhegt, aber keineswegs verschwunden sind. Die Kräfte, die sich aus diesen Leidenschaften speisen, können ganze Gesellschaften aus den Angeln heben, wie die Revolution beweist, daher besteht die Kunst des Regierens in erster Linie in der Kanalisierung und Mäßigung dieser Kräfte, was für Burke eine kaum zu überschätzende Aufgabe der Unterwerfung darstellt: »Wenn die Gesellschaft bestehen soll, ist es nicht hinlänglich, daß die Leidenschaften des einzelnen gehorchen: auch wenn der vereinigte Haufen, auch wenn eine große Masse wirkt, ist es schlechterdings notwendig, daß ihren Neigungen oftmals Widerstand geleistet, ihrem Willen Einhalt getan, ihrer Begierde eine Grenze gesetzt werde.« (135) Nicht nur handelt es sich hier um ein überaus komplexes Unterfangen, auf dessen Einzelaspekte noch einzugehen sein wird, die Folgen eines Scheiterns könnten sich auch als fatal erweisen. Ist der Mensch nur ein notdürftig gezähmtes Tier, so könnte er bei falscher Behandlung in seiner Raserei das Gebäude der Zivilisation bis auf die Grundmauern einreißen, befürchtet Burke.10 Damit steht viel auf dem Spiel, zu viel, um es dem politischen Verstand Einzelner zu überlassen, über Richtig und Falsch zu entscheiden. Und dies ist einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte, die Burke gegen die revolutionäre Politik der Franzosen vorbringt: Die Revolution verlasse sich in größter Fahrlässigkeit auf die Reißbrettentwürfe Einzelner und ihrer Vorstellung einer natürlichen Freiheit, die nun Allgemeingültigkeit erlangen solle, aber genauso gut in die Anarchie führen könne. Es handele sich um »bloße Theoretiker« (103) mit ihren »spekulativen Projekte[n]« (142), die zu sehr der »trüglichen und schwachen Erfindung der Vernunft« (95) vertrauten und so die Stabilisierungsstruktur des Ancien Régime erschütterten – eine Anklage, die eine lange Tradition der konservativen Intellektuellenschelte begründet, die uns auch im deutschen Kontext wiederbegegnen wird. Die Rousseaus und Diderots hätten mit ihrer Rede von Aufklärung und der natürlichen Freiheit aller zwar möglicherweise die deduktive Logik auf ihrer Seite, doch Burke wendet dies gegen sie: »Die eingebildeten Rechte dieser Theoretiker sind lauter Extreme: und je mehr sie im metaphysischen Sinne wahr sind, desto mehr sind sie im moralischen und politischen falsch« (138), denn Recht und Freiheit etc. könne es nur in konkreten Kontexten geben: Burke meint die Rechte und Freiheiten der Engländer wie die der Franzosen, die sich aber nicht zu jenen allgemeinen Menschenrechten abstrahieren ließen, die schon bald in Paris verkündet werden sollten. Die Abstraktion und der Rationalismus sind Burkes vorzüglichstes Angriffsziel, wenn es um die epistemologische Seite seiner Kritik geht. Die Selbstüberschätzung der menschlichen Vernunft, die ihre eigenen Grenzen missachte, führe letztlich in die kollektive Katastrophe, da sie die Aufgabe des Regierens unterschätze, und dies nicht zuletzt, weil sie die Objekte dieser Regierungsaufgabe in ihrer Eigenheit verkenne: Menschen, die mindestens so sehr durch ihre Gefühle und Leidenschaften wie durch ihre Vernunft geprägt seien; eine feingewobene Welt des Sozialen, die sensibel und unvorhersehbar auf Erschütterungen reagiere, und lang eingeübte Sitten, Gebräuche und kulturelle Praktiken, die die abstrakte Vernunft auf die Gefahr hin ignoriere, mit ihren wohldurchdachten Rezepten die Zustände eher zu verschlimmern als zu verbessern.11

Was stellt Burke dem utopischen Politikverständnis der Revolutionäre entgegen? Auf einer ersten Ebene ist es eine geradezu prosaische Vorstellung von Politik: Die Wissenschaft des Staates und der Gesellschaft sei keine apriorische, d. h. die Entwürfe der transformierenden Vernunft müssten unter allen Umständen erfahrungsgesättigt sein, um nicht fehlzugehen; »und die Erfahrung, die uns in dieser bloß praktischen Wissenschaft unterrichten soll, darf keine kurze Erfahrung sein« (136). Hier erscheint nun also das schon oben als typisch konservativ gekennzeichnete Lob des Pragmatismus und der Empirie, die sich zumindest auf den ersten Blick als entscheidende Determinanten konservativer Politik darstellen. Die Komplexität der Gesellschaft erfordert das kleinteilige Agieren, und wenn Politik für Max Weber das Bohren dicker Bretter war, so ist es für Burke das Drehen an kleinsten Schrauben zu Zwecken der Neujustierung oder das, was Karl Popper im 20. Jahrhundert als ›piecemeal engineering‹ bezeichnen sollte. Systemtheoretisch gesprochen, verweist Burke auf die vielfältigen Kontingenzen einer komplexen Gesellschaft, deren Steuerung unweigerlich vielfältige intendierte und nichtintendierte Folgen mit sich bringt, die bei jedem Eingriff mitbedacht werden wollen, denn »die einladendsten Pläne, unter den günstigsten Aussichten eingeführt, nehmen oft ein schmähliches und jammervolles Ende« (ebd.). So wird gerade erfahrungsbasierte Politik oftmals und aus gutem Grunde die Form der kleinen Schritte und des Auf-Sicht-Fahrens annehmen, um die Kollateralschäden des politischen Gestaltungswillens möglichst gering zu halten. In die gleiche Richtung weist Burkes Lob einer unheroischen Politik der nüchternen Aushandlungsprozesse: »Wir gleichen aus, wir vereinigen, wir wägen gegeneinander ab« (305), umschreibt er die geeignete Vorgehensweise in Konfliktsituationen.12 So reduziert sich gute Politik vermeintlich auf das, was heute mehr oder weniger abschätzig als muddling through bezeichnet wird – ein inhaltsarmes Austarieren der Interessen, die auch Burke im Auge zu haben scheint, wenn er von einer »moralischen Rechenkunst« (140) schreibt und die Geduld der Verhandlung der Gewalt der Umstürze gegenüberstellt (305).13 Mit Blick auf die Debatten über inhaltliche Entkernung des Konservatismus, die uns in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen werden, lässt sich also festhalten, dass es nicht zuletzt die inhaltsfreie Kunst der Moderation widersprüchlicher Positionen ist, die etwa Burke zur konservativen Kernkompetenz erhebt.

Bliebe es bei diesem Miteinander aus einer gewissen Skepsis gegenüber der systematischen Theorie – nicht umsonst wählt Burke für die Betrachtungen die Form eines höchst unsystematischen Briefs, dessen Unübersichtlichkeit bei Lesern wie etwas Thomas Paine für Frustration und Spott sorgte – und der Verteidigung eines nüchtern-pragmatischen Politikverständnisses, das sich mutmaßlich aus einer gewissen Demut gegenüber den gewaltigen Kräften des Sozialen speist, so wäre dieser Verbindung von Konzepten zweifellos Konsistenz zu attestieren. Doch wie schon angedeutet, glaubt Burke keineswegs, dass die zur klugen Verwaltung geschrumpfte Politik für sich genommen reüssieren kann. Der Grund verweist zurück auf Burkes Beschreibungen der Conditio Humana. Menschsein erschöpft sich nicht im kühl kalkulierenden Egoismus der Herrschaftsvertragspartner, aus denen Thomas Hobbes ein Jahrhundert vor Burke seinen Leviathan hervorgehen ließ. Es handelt sich vielmehr um »empfindsame Wesen« (304), deren Regierung sich nicht darauf beschränken darf, sie als Maximierer ihres individuellen Nutzens zu adressieren. Burke ist stattdessen überzeugt, dass politische Führung die Herrschaftsunterworfenen auch und insbesondere auf einer affektiven Ebene ansprechen muss, um nicht nur ihre Köpfe, sondern auch ihre Herzen zu erreichen. Es geht also nicht nur darum, die Leidenschaften zu zähmen, sondern auch die »Neigungen« für sich bzw. »für das allgemein Beste zu gewinnen« (163). In diesen Passagen wirkt Burke mitunter wie ein Vertreter der republikanischen Tradition der Bürgertugend, die es in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen gilt.14 Doch damit stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, diese Art von affektiver Loyalität bei den Untertanen hervorzurufen, denn allein durch ›Good Governance‹, wie es heute genannt würde, dürfte dies bei jenen empfindsamen Wesen nicht gelingen. Tatsächlich glaubt Burke, dass mehr vonnöten ist als das bloße Vertrauen auf die Output-Legitimation von Wohlstand und Sicherheit. Die Gefolgschaft der Untertanen wird letztlich am ehesten gesichert durch die »wohltätigen Täuschungen« (161), die nicht zuletzt in den Selbstinszenierungen der Herrschenden bestehen. Hier nun greift Burkes genuin politisches Denken auf seine ästhetischen Überlegungen über das Erhabene zurück. Es ist nämlich weder das Gute noch das Schöne, was als Hebel der Affektivität die größte Wirksamkeit entfaltet. Das Erhabene überwältigt und erfasst seine Betrachter, und zwar gerade weil es in seiner Wirkung unverstanden bleibt. Eine transparente Politik des Interessenausgleichs in fairen Verhandlungen ist das genaue Gegenteil einer solchen mysteriös bleibenden Strategie der Vereinnahmung, die auf Mobilisierung von Massenloyalität abzielt. In diesem Sinn ist Burkes Einschätzung zu verstehen, eine klare und transparente Idee sei bloß »another name for a small idea«, die kaum geeignet sei, politische Dynamik zu entfachen: »Great clearness helps but little toward affecting the passions, as it is in some sort an enemy to all enthusisam whatsoever.«15 Mit dieser Einsicht zeigt sich eine erste Spannung in Burkes Konservatismus, der nämlich zwischen einer buchhaltungsgleichen Pragmatik und deren komplettem Gegenteil oszilliert: einer Großen Politik, die vom Geist des Erhabenen umweht sein muss. Noch komplizierter werden die Dinge dadurch, dass es just die Revolution ist, die in einer Art erhabenen Gewalttätigkeit das »züchtige Gewand« (162) der Gesellschaft des Ancien Régime herunterreißt und gerade in ihrer Maßlosigkeit die Franzosen in ihren Bann schlägt. Hierauf wird noch einmal zurückzukommen sein.

Aus der Affektivitätsgebundenheit von Politik in Kombination mit Burkes Vorbehalten gegenüber einer freischwebenden Individualvernunft ergeben sich weitere Schlussfolgerungen, die vermutlich zu seinen bekanntesten und in den Augen der meisten Kommentatoren auch zum Kernbestand konservativer Überzeugungen zählen. Denn die Frage nach den Voraussetzungen einer affektiven Bindung der politischen Tugend an das Gemeinwesen lässt sich nicht nur mit Verweis auf ›Große Politik‹ beantworten. Es geht auch darum, die motivationalen Kräfte in Sitte, Brauch, Tradition und ›Vorurteil‹ entsprechend in den Dienst zu nehmen: »Vorurteil macht, dass die Tugend eines Menschen seine Lebensweise wird« (179). Gesellschaftliche Stabilität wird also nicht nur durch aktive Politik gesichert, sondern insbesondere auch durch die Überantwortung an das, was über Jahrhunderte gewachsen und eingewöhnt ist, seien es Institutionen und Verfassungen oder kulturelle Dispositionen, d. h. ›Vorurteile‹, die in gewisser Weise das Äquivalent dessen darstellen, was später von einem anderen berühmten Konservativen, Michael Oakeshott, als tacit knowledge beschrieben werden wird: ein Wissen, das sich nicht unbedingt selbst Aufschluss über die eigene Validität geben kann, aber dennoch höchst effektiv im Sinn erfolgversprechender Handlungsanleitung ist. Die Vernunft an sich, so Burke, bleibt oft machtlos, verbündet sie sich nicht mit anderen Kräften, wohingegen ein »Vorurteil, das ein Prinzip der Wahrheit enthält, zugleich eine Kraft, um dieses Prinzip zu beleben, und ein Gefühl der Zuneigung, um ihm Dauer zu schaffen, bei sich führt« (179). Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen liegt es nahe, dass Burke seiner Leserschaft das Vertrauen auf Altbewährtes anempfiehlt, denn dieses hat nicht nur für sich, dass es als bekannt und eingeübt erhebliche motivationale Kraft entfaltet und angesichts der in längst vergessener Vorzeit liegenden Ursprünge, die unidentifizierbar bleiben, auch von der Strahlkraft des Erhabenen zehrt, sondern auch als Objektivierung kollektiver Vernunft gelten kann. Die gewachsenen Institutionen und kulturellen Praktiken sind Träger und Verkörperungen eines über Jahrhunderte akkumulierten Wissens, und daraus ergibt sich auch ihre vermutete Überlegenheit gegenüber den Entwürfen der intellektuellen Radikalreformer. Die Staatskunst erfordert bekanntlich Erfahrung, und zwar dermaßen viel, »als der schärfste und unermüdlichste Beobachter im Lauf eines ganzen Lebens nicht erwerben kann: so sollte wohl niemand ohne unendliche Behutsamkeit ein Staatsgebäude niederzureißen wagen, das jahrhundertelang den Zwecken der gesellschaftlichen Verbindung auch nur leidlich entsprochen hat, oder es neu zu bauen, ohne Grundrisse und Muster von entschiedener Vollkommenheit vor Augen zu haben« (137). Während Burke den Revolutionären die Zerstörung des Althergebrachten als Selbstzweck unterstellt, da »Dauerhaftigkeit […] kein Verdienst« (180) für sie darstelle, gebe es doch für nützliche Einrichtungen wie etwa die englische Verfassung nur ein klares Kriterium, nämlich dass sie die »einzig-gültige Probe einer langen Erfahrung bestanden und sich durch zunehmende Staatsmacht und immer steigende Nationalwohlfahrt bewährt hat« (130). Wie sich zeigen wird, ist dieses vermeintlich klare Kriterium allerdings weit weniger eindeutig, als Burke es erscheinen lässt.

Zu den Stabilisatoren, die die Gesellschaft davor bewahren, in Chaos und Anarchie abzugleiten, gehört neben den geschichtlich gewachsenen Traditionen und Institutionen aber auch die Gesellschaftsstruktur mit ihren fest eingezogenen Hierarchiestufen. Wo es gesellschaftliche Klassen gibt, so Burke, »müssen einige Klassen obenauf sein« (115), wobei natürlich von entscheidender Bedeutung ist, dass es die richtigen sind. Adel und Klerus sind diejenigen Gruppen, die zur Herrschaft befähigt und aufgerufen sind, da nur sie die entsprechenden Eigenschaften wie Unabhängigkeit und Parteinahme für das allgemeine Interesse mit sich brächten, wohingegen die werktätigen Klassen dazu nicht in der Lage seien. Gelangen sie in die Position, Macht auszuüben, so geschieht dies letztlich zum Schaden des Gemeinwesens: »Der Staat wird von ihnen unterdrückt« (116). Hier zeigt sich ein wichtiger Charakterzug vieler Varianten des konservativen Denkens. Das Problem der französischen Nationalversammlung besteht daher nicht nur in ihrer schlecht ausbalancierten Machtfülle, sondern auch dem »scheußlichen Gemisch aus allen Ständen, Zungen und Völkern« (149) ihrer politischen Clubs, das jeder Art von Ordnung Hohn spreche. Zwar müsse »jede Stelle im Staat« zugänglich sein, »aber nicht zugänglich ohne allen Unterschied der Person« (117).16 Für die gesellschaftliche Ordnung müsse mit anderen Worten gelten: »To enable men to act with the weight and the character of a people […] we must suppose them […] to be in that state of habitual social discipline in which the wiser, the more expert, and the more opulent conduct, and by conducting enlighten and protect, the weaker, the less knowing, and the less provided with the goods of fortune. If the multitude are not under this discipline, they can scarcely be said to be in civil society«.17 Wie wir gesehen haben, wird man Burke nicht gerecht, wenn man ihn zum nüchternen Pragmatiker der Macht stilisiert, aber gleichwohl findet sich durchaus die elitäre Vorstellung, dass manche Individuen und Gruppen die Qualifizierung zur Herrschaft aufweisen, andere hingegen nicht und dementsprechend gleich den unteren Ständen in Platons Politeia von vornherein ihren angemessenen Platz in der loyalen Unterwerfung unter diejenigen finden, die zur Führung auserkoren sind – gemäß der allgemeinen »Ordnung des großen Ganzen, nach welcher das, was herrscht, immer das Bessere sein soll« (187). Es versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst, dass Burke der Vorstellung von Demokratie mit großer Skepsis gegenübersteht und angesichts der organisierten Verantwortungslosigkeit, die er in ihr verkörpert sieht, befindet, »vollkommene Demokratie [sei] das schamloseste aller politischen Ungeheuer […]. Der Einzelne fürchtet in einer solchen Verfassung nie, daß die Strafe ihn in seiner Person treffen wird« (189). Burke war Kontextualist genug, um die Möglichkeit einer legitimen republikanischen Ordnung im geeigneten Umfeld – wenn auch offensichtlich nicht auf den Britischen Inseln – nicht generell auszuschließen, doch auch eine Republik müsste sich mindestens auf eine konsequente Unterordnung der Volkssouveränität unter substanzielle und unverrückbare politisch-moralische Bewertungsmaßstäbe verpflichten: »Eben deshalb aber ist es von unendlicher Wichtigkeit, daß ein Volk sich ebenso wenig als ein König einbilde, sein Wille sei der Maßstab für Recht und Unrecht« (ebd.). Auf den eigentlichen Maßstab für Recht und Unrecht wird noch detailliert zurückzukommen sein.