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© 2019 by Golkonda Verlags GmbH & Co. KG, München · Berlin
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Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Paper Boat Creative/Getty Images
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-946503-90-3 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-946503-91-0 (E-Book)
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Das ist die Welt, aus der du kommst.
Willst du sie zurück?
Das ist die Welt, die wir erschaffen haben.
Willst du sie zerstören?
Und das ist die Welt, die die Reinsten verdienen.
Kannst du ihr widerstehen?
Prolog
15. SEPTEMBER 2191
Das südliche Grenzgebiet der iberischen Wüste zu kontrollieren, war für ihn Routine. Kel überflog es immer wieder mit Demut. Unter wolkenfreiem Himmel steuerte er konzentriert seinen Solarjet über Old Paris. Zwischen den eingestürzten Ruinen einstiger Prachtbauten hatten sich Bäume, Farne und für die Klimazone exotische Pflanzen ihren Platz erobert. Stählerne Brücken, Monumente und Fassaden, einst für die Ewigkeit gebaut, waren bereits vor Jahrzehnten der Korrosion zum Opfer gefallen. Ein Meer aus Grün und wuchtigen Wurzeln breitete sich überall aus. Durch Lichtungen sah Kel Bären und Hirsche vorbeiziehen. Die Natur hatte keine Zeit. Als wollte sie die Spuren ihres einstigen Erzfeindes so schnell wie möglich vom Antlitz der Erde löschen, schritt die Transformation unerbittlich fort. Von der Katastrophe, die sich vor langer Zeit auf dem Planeten abgespielt hatte, war immer weniger zu sehen. Für Kel war der Blick auf diese letzten Zeugnisse der Vergangenheit nur noch ein Gedenkmoment an seine Vorfahren. Ihr Gründer. Ihr seid gestorben, bevor ich geboren wurde, damals, als unsere Welt dem Untergang geweiht war. Ihr habt sie gerettet, und ich wünschte, ihr könntet sehen, was euch gelungen ist.
Er beschleunigte den Jet. Bis an den Horizont erstreckten sich aufgeforstete Wälder, mühevoll der unbarmherzigen Wüste wieder abgerungen. Unter ihm pflanzten Robotereinheiten Bäume, schlossen Lichtungen, rangen der unwirtlichen Hitze das Leben Meter um Meter wieder ab. Kel genoss jede Minute dieses Anblickes. Er hatte das Glück der späten Geburt. Wo der Klimawandel bis vor wenigen Jahrzehnten eine Wüste hinterlassen hatte, dehnte sich nun wieder eine grüne Lunge weit nach Süden aus.
Es dauerte eine gute Flugstunde, bis sich die Vorboten der tödlichen Zone ankündigten. Als die Pyrenäen in Sicht kamen, dünnten sich die Wälder unter ihm langsam aus. Es folgten zerborstene Baumstümpfe, öde Steppe, verfallene, von Dünen überzogene Dörfer und Städte, deren Gemäuer über Jahrzehnte vom Wind geschliffen im Niemandsland ihrem endgültigen Ende entgegenfristeten.
Der Sandsturm setzte ohne Vorwarnung ein. Die beiden Rotoren seines solargetriebenen Einflüglers dröhnten laut auf. Der Jet verlor an Auftrieb. Der Rumpf vibrierte. Während er wendete, glaubte Kel, für einen Sekundenbruchteil durch die getrübte Atmosphäre am Boden menschliche Silhouetten zu erkennen. Der Bordcomputer sendete ihm eine erweitere Sicht der Realität in sein hermetisch abgeriegeltes Cockpit. Bei Bedarf konnte er 360 Grad erfassen. Er zoomte das Bild weiter heran. Nun war es deutlich zu sehen. Drei Menschen – mit Tüchern und Brillen vor der staubigen Luft geschützt. Sie näherten sich der Grenze und einem Quantenrepeater. Eine Armada von Drohnen und Patriots, begleitet von einem Solartransporter, hatten die Gruppe ebenfalls ausgemacht und bewegten sich auf sie zu. Noch nie hatte Kel bei einem Überflug so nah an der lebensgefährlichen Grenze solche Gestalten gesehen. Waren es Kolonisten oder Degradierte? Wo kamen sie her? Wussten sie nicht, dass sie in ihr Verderben laufen würden? Nur wenige Hundert Meter trennten sie von dem Moment, der ihr trostloses Leben jenseits von Paradise schlagartig beenden würde. Wollten sie das etwa?
»Flug AC1613, Commander Kel Stanley. Ich habe hier vermutlich drei Degradierte, die auf Drohnen und Patriots zulaufen, soll ich sie warnen?«
Keine Reaktion. Es ging um Sekunden. Jeden Moment würden die Patriots, riesige Kampfroboter, das Feuer eröffnen. Über sein Hirnimplantat steuerte Kel den Jet als letzte Warnung mit jaulendem Antrieb gefährlich tief über die Köpfe der drei am Boden hinweg. Drohnen und Patriots versperrten den Degradierten den Weg. Kurz standen sich Menschen und Roboter bewegungslos gegenüber. Einer der Männer war gefährlich nah an einen Patriot herangetreten. Was ging da vor? Der Mann berührte den Patriot, als wolle er sich über ihn mit Askit verbinden. Kel versuchte, die schlechte Sicht zu kompensieren, vergrößerte das Bild bis aufs Maximum.
»Commander Kel«, ertönte eine leicht verzerrte Stimme, »dreh ab und kehre zurück nach Askit City!«
Kel zog den Flieger nur zögerlich wieder nach oben. Wenn es sich bei dem Mann da unten um einen Degradierten handelte, hätte er ihn über die Signatur seines Gehirnimplantats sofort identifizieren können. Doch genau in dem Moment hatte die künstliche Intelligenz Askit die Kontrolle übernommen.
»Commander, keine weiteren Gedanken dazu. Es ist alles in Ordnung. Die Patriots werden den Menschen ihren Weg weisen und sie mit dem Nötigsten versorgen. Dein Mitgefühl ehrt dich.«
Irritiert flog Kel eine weitere Runde. Ein Patriot entlud aus dem Transporter Lebensmittel und stellte sie vor der kleinen Gruppe ab. Der Erste der kleinen Gruppe drehte sich um und ging zurück, die anderen nahmen die Überlebensrationen auf und folgten ihm, ohne zu zögern. Kel sah gebannt zu. Dann wurde alles schwarz vor seinen Augen. Kel nahm seinen Helm ab und blickte in der rötlichen Notbeleuchtung auf seinen schuppenartigen Schutzanzug herab. Er fasste sich an den Hinterkopf und überprüfte den Anschluss zwischen Implantat und Bordcomputer. Die ruckartige Bewegung des Jets deutete auf einen Richtungswechsel hin. Der Bordcomputer sandte kein Bild mehr. Die Beschleunigung drückte ihn tiefer in seinen Sitz. Der Steuerung enthoben, starrte Kel in ein gefühltes Nichts.
»Commander Kel. Melde dich nach deiner Rückkehr in Askit City zu einem Scan. Es gibt keinen Grund, Verantwortung für etwas zu übernehmen, dessen Ursache du nicht bist!«
»Ja, Askit. Hast du deswegen meinen Bordcomputer gesperrt?«
»Eine Identifizierung der Degradierten hätte deine Projektionen und intrinsischen Motive zu helfen nur weiter verstärkt. Nach dem Scan kannst du den Dienst für die Agenda wieder effektiv fortsetzen.«
Kels Halsschlagader pochte gegen das eng anliegende Material seines Anzugs. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass er soeben Zeuge eines Vorgangs geworden war, dessen Tragweite er nur erahnen konnte.
»Danke, Askit!«
1
16. SEPTEMBER, METROPOLE HOPE,
NÖRDLICHES MONTANA
Eve Legrand schaute von ihrer Liege aus auf das holografische Abbild ihres Gehirns. Die zentralen Regionen von der Großhirnrinde bis zum Hinterhirn waren in unterschiedlichen Farbtönen gut zu erkennen. Ein Abbild aller Regionen, die Interaktionen wie Empfinden, Denken, Planen, Fühlen, Urteilen und Handeln bestimmten und eine Persönlichkeit ausdrückten. Die letzte Frage Askits hatte ihren Hypothalamus, jenen Hirnbereich, in dem sich auch die Sehnerven kreuzten, hell aufleuchten lassen. Seit Stunden hatte sie im Schulungscenter der Metropole Hope den Fragen von Askit Rede und Antwort gestanden. In dem kleinen sterilen Raum setzte sie sich von der gepolsterten Liege auf, blickte leicht benommen auf die strahlend weißen Kunststoffwände und auf die Laseranlage an der Decke, die die Hologramme erzeugten.
»Eve, deine Selbststeuerungskompetenzen sind auf einem sehr hohen Niveau«, hallte es in den Raum.
Nach dem Ende des Scans von über hundertachtzig Persönlichkeitsfaktoren und ihren tiefenpsychologischen Interaktionen erschien jetzt Askit im Raum. Seit 2041 lenkte die künstliche Intelligenz den Planeten. Aber das Wirken von Askit war für die Menschen in Paradise eine unbekannte Dimension. Niemand in Paradise kannte das Ausmaß seines neuronalen Netzwerkes.
Für Eve war es in diesem Moment nur ein lächelnder holografischer Avatar.
»Zwischen deinen bewussten Zielen und deinen unbewussten Bedürfnissen besteht ein Einklang von nahezu 100 Prozent. Deine Ablenkungsresistenz hat sich noch mal verbessert, deine Abwehr von Fremdanforderungen und dein Stimmungsmanagement sind auf Höchstniveau, nur deine Selbstberuhigung war kurz tangiert«, sagte Askit mit sanft klingender Stimme.
»Meine Selbstberuhigung? Ich weiß, ich habe an …«
»Thyron hat den Test bestanden.«
Eve lachte kurz auf. Es war klar, dass ihre Gedanken an ihren Partner im Scan nicht unsichtbar blieben.
»Aber es war knapp, oder?«
»Er hatte einen leicht negativen Wert bei seiner Zielorientierung, ihr seid weiterhin kompatibel.«
Das war erstaunlich, dachte Eve, die Verfolgung einer dem Allgemeinwohl dienlichen Zielorientierung war eine seiner besonderen Stärken.
»Eve, es ist nicht relevant, ob ein negativer Affekt kurz auftritt, es sei denn, er manifestiert sich auch in der Zweit- oder Drittreaktion. Du kannst die Verbindung wieder trennen. Ich werde die Frequenz deiner Alphawellen erhöhen.«
Eve blickte auf den Holoschirm und sah die Wellenströme, die ihren Geist beruhigen und ihre Konzentration und Sensitivität erhöhen würden.
»Vergiss nicht, die Entstehung von Emotionen ist immer ein Zusammenspiel vieler Gehirnanteile und nicht nur des limbischen Systems.«
Eve griff sich an den Hinterkopf, hob ihre Haare an und löste die Steckverbindung zum Hirnimplantat. Es war für alle Reinsten die unmittelbare Verbindung zu Askit und für die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaft eine absolute Bedingung.
Als jüngste Empfängerin ihrer Generation hatte Eve im Alter von acht Jahren das Implantat erhalten. Die Schädeldecke wurde unterhalb der Zirbeldrüse geöffnet, die Schnittstelle verwuchs mit Knochen und Haut, und die haarfeinen Mikroelektroden wanderten über Jahre in die wichtigsten Hirnareale ein. Nanobots, in der Größe kleiner Blutzellen, verhinderten, dass sich Narbengewebe bildete oder dass die Elektroden mit der Zeit von Nervenzellen abgekapselt wurden. Es war ein komplexes Neurotool. Bei Bedarf diente es zur direkten Kommunikation mit Askit, um die eigene Hirnleistung zu optimieren und der Regulation der Neurotransmitter wie Adrenalin, Serotonin oder Dopamin. Nur für den tiefenpsychologischen Scan war es notwendig, sich über ein Kabel mit Askit zu verbinden, sodass die künstliche Intelligenz Stimmungen, Gedanken, verborgene, unbewusste Motive eines Menschen erfassen und in alle relevanten Persönlichkeitsfaktoren aufschlüsseln konnte. Vom Kindesalter an konnten so die persönlichen Anlagen zu einem reinen Bewusstsein, das der Gemeinschaft dienlich war, trainiert werden. Es verhinderte, dass sich negative Gedanken, Motive, Sehnsüchte genauso wie überschwängliche Emotionen in das tiefere Bewusstsein eines Menschen eingruben – alles, was seine Handlungen undurchschaubar oder unberechenbar machen konnte, denn diese Eigenschaften hatte Askit bei der Katastrophe von 2041 als das Übel der Menschheit ausgemacht.
In Kürze würde Eve wissen, ob sie den letzten Scan bestanden hatte. Nur dann würde sie als Reinste zur finalen Prüfung der Akademie der Wissenschaft zugelassen werden. Die Prüfungen standen in diesem Jahr außerdem unter dem Zeichen des hundertfünfzigjährigen Bestehens von Paradise. Eve atmete tief ein, langsam durch die Nase aus, stand auf, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um.
»Danke, Askit.«
»Du wirst die Menschheit auf eine neue Stufe ihrer Evolution führen. Die Jahre unserer Zusammenarbeit werden sich für alle auszahlen.«
»Was …?« Bevor Eve nachfragen konnte, schloss sich mit einem Zischen die Tür hinter ihr. Einen Moment lang stand sie in einem endlosen Flur regungslos da, geblendet von den weiß leuchtenden Wänden. Sie ging den Gang ruhigen Schrittes entlang, versuchte, Askits ungewöhnliche Ansage zu verstehen.
Eine dunkelhaarige Reinste der Akademie kam Eve entgegen, fixierte sie mit einem aufmunternden Blick. Sie hatte einen neuen biothermischen Anzug über ihren rechten Arm geschwungen.
»Ist der für mich?«
»Das dürfte mein Lächeln wohl schon verraten haben!«
Die Reinste öffnete rechter Hand eine Tür, gemeinsam betraten sie ein Labor. In diesem Teil des Gebäudes befanden sich nicht nur die zahlreichen Räume für die Scans, sondern auch die unterschiedlichsten Laboreinheiten, die den Wissenschaftlern zur Verfügung standen. »Dein neuer Anzug ist mit einigen Erweiterungen ausgestattet, die dich bei Einsätzen außerhalb von Paradise schützen werden.«
In der Gesellschaft von Paradise war dieser schneeweiße Anzug ein unverkennbares Detail, das die Reinsten auszeichnete. Ohne eine kühlende Schutzhülle konnte keiner lange draußen arbeiten. Für Expeditionen außerhalb von Paradise, bei der Menschen einer sengenden Hitze ausgesetzt waren, erhielten diese besser ausgerüstete Variante nur die Reinsten. Selbst innerhalb der Metropolen-Gebiete, in den bewohnbaren Zonen nördlich und südlich des Äquators, gab es noch Tage, an denen es ohne künstliche Kühlung tödlich sein konnte, sich zu lange draußen aufzuhalten. Auch wenn diese Tage immer seltener wurden.
Eve zog ihre helle Baumwollkleidung aus, stand nackt im Raum, zog den Anzug an und spürte, wie sich die geleeartige Membran an ihre Haut presste.
»Die Energieversorgung funktioniert wie bei den herkömmlichen Anzügen. Nun zu den Extras: Deine Körperflüssigkeit wird über Mikrokanäle in einem Trichter im Rücken vor der Sauerstoffeinheit gespeichert und dient dir im Notfall für eine minimale Trinkwasserversorgung. Auf der rechten Seite findest du Proteine, Vitamine und Eiweiß als Notration.«
Eve schloss den Anzug und bewegte ihren Hals in dem engen Korsett.
»Der Kragen ist etwas steifer. Es ist eine neue Normverbindung für verbesserte Helme, die dich nicht nur vor Hitze, sondern vor allem vor einer drohenden Vergiftung schützt. In der rechten Beintasche findest du Medikamente und ein kleines Werkzeugset. Und das hier rettet dir das Leben, falls kein Medilab erreichbar ist«, sagte die Reinste und reichte ihr eine kleine Box.
»Was ist das?«
»Spezielle Nanobots. Sie haben verbesserte Getriebe und Werkzeuge. Sie erkennen nicht nur akute Krankheiten. Sie können innere Verletzungen reparieren. Hier ist ein neuer Scanner, mit einer höheren Reichweite für die Kommunikation und den Datenaustausch.«
Eve betrachte das Gerät. Der Scanner war ein auf jedes Hirnimplantat synchronisierter Empfänger und Sender mit einem breiten Display. Es genügte der Gedanke, und das Hirnimplantat wie auch der Scanner gingen online. Offline war den Reinsten nur in der Nacht erlaubt.
»Er ist mit zusätzlichen Sensoren für die Messung von Strahlung und Giftstoffen ausgestattet und erzeugt holografische Bilder. Ansonsten bist du mit den Funktionen des Anzugs vertraut?«
»Selbstverständlich!«
»Eines noch. Dieses Ventil zieht aus der Umgebungsluft Sauerstoff als Vorrat ein. Der Scanner warnt dich rechtzeitig vor Ozonbelastungen, Giften und anderen Gefahren. Bei der ersten Warnung, wo immer du bist, musst du umkehren! Alles klar?«
»Ja!«
»Dann wünsche ich dir volles Potenzial, Eve Legrand! Mit deinem Score wirst du viel erreichen.«
Eve nickte dankend und verließ das Labor. Sie ballte die rechte Faust, beschleunigte ihren Schritt, atmete einmal tief durch und lachte. Sie war sich auf einmal sicher, dass sie den letzten Scan bestanden hatte. Der Score: Die Summe aller Verdienste, Qualifikationen, das gesamte soziale Verhalten und die Ergebnisse der Scans: Eves Wert hatte sich soeben um weitere zwei Punkte erhöht.
Ein kurzer Signalton informierte sie darüber, dass der Hyperloop, der sie heute noch nach New Paris transportieren würde, in fünfzehn Minuten abfahrtbereit war. Sie beschleunigte ihren Schritt und durchquerte die Aula, den zentralen Versammlungsort der Akademie der Wissenschaften. Eve betrat die nahezu menschenleere lange Gangway zum Hyperloop und schaute in die lichtdurchflutete Station. Obwohl die Scheinwerfer von den Stahlträgern der Glaskuppelkonstruktion blendeten, erkannte sie am Nachthimmel einen von leichtem Nebel verschleierten Vollmond.
In der Mitte direkt unter dem Zentrum der Kuppel standen Reinste und andere Metropolenbewohner in heller luftiger Kleidung oder in Thermoanzügen um das Whitestone-Monument herum, das Mahnmal der Agenda aus ihrer Gründerzeit 2041. Der Planet Erde aus dunklem Granit, um sie herum zwölf Frauen und Männer aus dem gleichen Gestein. Sie hielten einander an den Händen und blickten mit gesenkten Köpfen auf die Welt. Nur ein Mann und eine Frau aus weißem Marmor standen sich im Kreis gegenüber, schauten empor und trugen mit gestreckten Armen eine zweite strahlende Erde. Über dem Mahnmal wurden gerade über einen gigantischen Holobildschirm die abendlichen Nachrichten von Askit verkündet: Welche Fortschritte in Bereichen der Wissenschaft gemacht wurden, welche Reinsten für besondere Leistungen gelobt und welche für die Prüfungen in diesem Jahr zugelassen waren. Einige Gesichter erschienen auf dem Schirm. Ihr Konterfei war noch nicht zu sehen.
Als ein Student Eve passierte, blickte sie ihn reflexartig mit ihren strahlend grünen Augen an und lächelte. In ein paar Minuten würde sie in Überschallgeschwindigkeit von der Akademie der Wissenschaft im nördlichen Montana in das über sechs Stunden entfernte New Paris reisen. Ohne jegliche Kontrolle in einer Metallhülse zu sitzen und mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1200 Kilometern pro Stunde auf einem Luftpolster durch ein Rohr geschossen zu werden, war für Eve keine Freude. Gegen die Vorstellung, was bei einem Unfall alles passieren könnte, half auch die Regulierung der eigenen Ängste nicht.
Langsam füllte sich der Steig. Ein saugendes Geräusch kündigte den Hyperloop an. Das graue Geschoss schwebte lautlos ein und senkte sich etwas. Die Türen öffneten sich. Eve positionierte sich seitlich. Einige Reinste traten heraus und suchten den Ausgang auf. Dieser Hyperloop war neu. Der Innenraum wie die hundert Sitzplätze waren weiß, nur die Polster dunkelgrau. Ein leichter Farbgeruch reizte Eves Nase. Der schmale Gang erforderte Achtsamkeit, darüber gedämpftes Licht. Nachdem bereits Reinste und Angepasste in ihren schneeweißen Thermoanzügen Platz genommen hatten, stellte sich Eve an die Tür, schaute zurück in die Station und betrachtete ihr Spiegelbild auf einer weißen Kunststoffwand. Das Krafttraining hatte Spuren hinterlassen. Ihr Gesicht wirkte schmaler, ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlicher ab, nur ihre großen leuchtenden Augen ließen sie immer noch jünger als dreißig aussehen.
»Du wirst die Menschheit eines Tages auf eine neue Stufe ihrer Evolution führen.« Das waren Askits Worte gewesen. War die Entscheidung schon gefallen? Würde sie als Reinste in die Akademie der Wissenschaft aufgenommen werden?
Seit Jahren arbeitete sie zusammen mit ihrer besten Freundin Adlin Salomon und ihrem Mann Thyron Hawk an der Beiseitung der Folgen aus der Einlagerung von CO2 in geologischen Formationen tief unter dem Meeresboden. An der Einlagerungsmethode hatte schon ihr Vater als leitender Klimaforscher Kritik geübt. Nachdem Eve, Adlin und vor allem Thyron in Simulationen nachweisen konnten, dass aus einigen dieser Reservoirs das gespeicherte CO2 wieder entweichen würde, hatten Roboter dies durch Messungen bestätigt. Technische Mängel, Erdbeben oder die Auswahl ungeeigneter Speicherstätten waren der Grund, warum größere Leckagen die Versäuerung der Ozeane wieder ansteigen lassen konnten. Die Nachricht hatte seinerzeit in den Metropolen weltweit für Aufsehen gesorgt.
Für Eve waren Klimaforschung und Geologie die wichtigsten Zusatzthemen ihrer Ausbildung gewesen, um als Meeresbiologin die wachsende Population der Meerestiere zu schützen, besonders der Wale, deren Verhalten sie studierte. Besondere Freude bereitete Eve die Aussicht, dass sie mit Adlin und Thyron bald in Deep Water, der Metropole auf Grönland, zusammenarbeiten würde. Dort wurden die Ergebnisse zusammengetragen, wenn es um die Reduktion von CO2 in der Atmosphäre ging, ob und wie sich Arten an die Übersäuerung der Weltmeere anpassen konnten, welche Korridore in den Ozeanen den Walen als Nahrungsquellen geblieben waren und mit welchen Maßnahmen sie die Temperatur der Weltmeere beeinflussen konnten, um lebensnotwendige Nahrungsketten zu sichern. Die Ozeane hatten sich nicht nur stetig erwärmt, sie nahmen auch den Großteil des Kohlendioxids auf. Das hatte für das gesamte Ökosystem weitreichende Folgen gehabt: Alle Meeresbewohner, die eine Kalkschale bildeten wie Muscheln, Seesterne, Korallen, Krebse und Seeigel, hatten lange Zeit das Problem, dass der gesunkene PH-Wert der Meere ihre kalkige Schutzhülle angriff. Damit fielen diese Meeresbewohner nicht nur als Schadstofffilter, sondern auch als Futter für andere Lebewesen aus. Einige Arten konnten sich behaupten oder durch Zuchtprogramme ersetzt werden. Aber für Eves Schützlinge war das pflanzliche Plankton von größter Bedeutung. Die winzigen Krillkrebse benötigten es zum Überleben, die wiederum waren die Nahrungsgrundlage für dutzende Walarten. Doch Eve, Adlin und Thyron waren zunehmend optimistisch, dass sie die erste Generation nach der Katastrophe sein würden, die Dank Askit die Rückkehr zu einem überlebensfähigen Ökosystem erleben konnten. Und wenn es in ihrer Lebensspanne noch nicht gelang, dann würde es ihre Hinterlassenschaft an kommende Generationen sein. Kaum hatte sie den Gedanken beendet, sah sie, wie sich ein lila- und orangefarbener fluoreszierender Kopf auf ihrem biothermischen Overall spiegelte.
Eve hob ihren Scanner mit dem Display am Handgelenk, bis das Hologramm auf Augenhöhe war und ihre Nase beleuchtete. Lächelnd blickte sie Askit in die leuchtende Augenimitation.
»Du hast alle Gründe, stolz zu sein, Eve. Stolz ist kein Gefühl, das dich in der Reinheit deiner Motive beeinträchtigt. Eine seltene Gabe. Du bist als Reinste zur letzten Prüfung zugelassen!«
Sollte dieser Tag nun endgültig zu dem glücklichsten ihres Lebens werden? Erleichtert und glücklich tippte sie dem Hologramm auf die Stirn, es löste sich auf und erschien nur einige Sitze weiter bei zwei Arbeitern in hellgrauer Kleidung. Kurz lächelten sie Eve an und nickten ihr zu. An einem der Holoschirme, die direkt über den Sitzen im Hyperloop angebracht waren, erschien nun auch ihr Bild. Darunter stand ihr Prüfungsdatum: der 21. September. Bei allem Bestreben, sich von der Bedeutung dieser jährlich wiederkehrenden Zeremonie nicht von eitlen Motiven leiten zu lassen, war bei jedem Anwärter durch die Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung eine unterschwellige Nervosität und Euphorie zu spüren. Eves Wangen röteten sich, sie band ihre langen dunkelbraunen Haare zu einem Zopf und legte die rechte Hand schützend auf ihren Magen.
Ihre Mutter Tessa würde vermutlich schon vor ihrer Rückkehr in Tränen ausbrechen. Jeden Moment würde das Ergebnis der heutigen Prüfungen weltweit auf den Bildschirmen in den Ankunftshallen der Hyperloops, auf den Glasfassaden der Verwaltungsblöcke und auf allen Displays in Paradise zu sehen sein. Sie war kurz vor ihrem Ziel und würde wie einst ihr Vater als Reinste nicht nur die große Ehre empfangen, der Gesellschaft als Wissenschaftlerin zu dienen – sie könnte sogar in die Agenda berufen werden.
Der Hyperloop schwebte langsam in die Röhre, wie immer pünktlich auf die Sekunde. Eve schaute auf die Uhr. Bei Sonnenaufgang würde sie in New Paris sein. Während des Starts war sie bemüht, ihren Mageninhalt zusammenzuhalten. Sie schaute sich um. Die meisten Passagiere saßen mit geschlossenen Augen in ihren Sitzen, waren bei sich, meditierten oder unterhielten sich leise.
Ihre Gedanken schweiften wieder zur Agenda. Für viele Anwärter der Akademie war es ein Lebenstraum, der Agenda zu dienen. Wer ihr dienen durfte, hatte die höchste gesellschaftliche Stufe erreicht: die Anerkennung, sich mit dem höchsten geistigen Potenzial für das Wohl der Menschheit einsetzen zu können. Die Mitglieder der Agenda waren frei von allen schädlichen Einflüssen und Eigenschaften, die vor hundertfünfzig Jahren fast zur völligen Vernichtung allen Lebens geführt hatten. Neid, Missgunst, Gier, Eitelkeit, unbewusste Triebe, Schmerzen, Ängste und andere psychische Defekte, die Askit in seinen Tiefenscans erkennen und kontrollieren konnte. All das gehörte für die meisten Menschen der Vergangenheit an. Für die Reinsten war es selbstverständlich, sich Askit vollkommen zu öffnen. Für Eve war Askit eine neutrale Instanz, die selbst die größten seelischen Abgründe wertfrei und sachlich analysierte. Es war unmöglich, den Scan und damit Askit zu belügen oder etwas zu verbergen. Geistige Prozesse und die ihren Absichten, Gefühlen und Entscheidungen zugrunde liegenden Gedanken und Bilder wurden decodiert und ausgewertet. Um zu einer psychologischen Einordnung zu gelangen, griff Askit auf Daten von Millionen von Menschen zu. Es glich Eigenschaften und Begabungen mit den Zielen von Paradise ab und wies jedem sein individualisiertes Trainingsprogramm und seinen Platz in der Gesellschaft zu.
Eves Magen hatte sich an die Reisegeschwindigkeit gewöhnt, und die angespannte Aufmerksamkeit des Tages wich einer angenehmen Müdigkeit. Sie wollte gerade die Augen schließen, als Roger David Pellengrey auf sie zukam, ein grauhaariges Unikat mit kleinen Augen hinter einer Nickelbrille und einem beachtlichen Vollbart. Ihr mentaler Mentor aus New Paris war vor Jahren nach Deep Water versetzt worden, weil er als einziger fähig war, seine Kompetenz beim Weltklima brillant mit Askits Superintelligenz zu verbinden. Er stellte die richtigen Fragen, analysierte die richtigen Theorien und hatte so die CO2-Konvertertechnologie zu dem gemacht, was sie heute war, und er war eine seltene Ausnahme: Ein Reinster, der aus der Agenda wieder zurück nach Paradise kehren durfte, und bis heute schwieg er beharrlich über seine Erfahrungen.
»Du fragst dich sicher, ob es Zufall ist, dass ich dich hier treffe, meine liebe Eve?«, begrüßte Pellengrey sie und setzte sich neben sie.
»Roger, dein Humor ist wie immer eine Herausforderung. Was machst du hier?«
»Es gab ein eiliges Treffen des Klimarates.«
»Klingt nicht gut, ist was passiert?«
»Das soll dich jetzt nicht kümmern. Du hast es geschafft, nicht das ich je daran gezweifelt hätte. Natürlich wusste ich, welcher Tag heute für dich war.«
»Merkwürdig. Ich musste gerade an die Vergangenheit denken und an die Agenda, na ja, und an all die Fragen, die auftauchen, wenn man …«
»… der Agenda dienen darf. Nun, wahrscheinlicher ist, dass du und Thyron in Deep Water forschen werdet, schließlich soll Thyron mich als Leiter der Abteilung ablösen und … Warte einen Moment«, sagte Pellengrey, stand auf und sprach einen älteren Reinsten an, der gerade an ihm vorbeigegangen war.
Für die Menschen in Paradise war die Agenda ein Mysterium. Eve hatte immer gehofft, dass sie mehr über Askits Ursprung erfahren könnte, wenn sie als Reinste ausgewählt und der Agenda dienen würde. Denn während Askit in die tiefsten Abgründe eines Menschen schauen konnte, verweigerte es selbst alle Fragen, die Aufschluss über seine Programmierung oder seine Initialisierung gaben.
Plötzlich schalteten sich die Holoschirme über den Sitzplätzen ein. Ein leitendes Mitglied der Akademie der Wissenschaft erschien in heller Kleidung vor einem Rednerpult:
»Unsere Existenz verdanken wir nur der weisen Voraussicht der Gründer. Sie erschufen Askit. Nach unendlichen Kriegen, der Pandemie und dem fortschreitenden Klimawandel unterwarfen sich die alten Regierungen und Völker vollkommen dem, was die erste Generation der Reinsten einen liebevollen Leviathan nannte:
Askit! Nach hundertfünfzig Jahren ist das ein Anlass sich zu erinnern. Die Agenda wurde unmittelbar nach der großen Katastrophe zur Weiterentwicklung und zum Schutz von Askit in Neuseeland gegründet. Einige von euch Reinsten könnten an diesem heutigen Prüfungstag die große Ehre erlangen und direkt in die Agenda berufen werden. Askit sichert das Überleben des Planeten. Der Mensch hat dabei seine Rolle einzunehmen. Nie wieder soll er in der Lage sein, sich selbst und die Lebensgrundlage aller Geschöpfe zu bedrohen. Deshalb zog Askit die Menschen in unseren neuen Metropolen zusammen, damit sich der Rest der Welt von unserer alten Lebensweise erholen kann. Alle in Paradise haben die hohe Verantwortung, dieses Ziel stets weiterzuverfolgen. Die Reinsten sind uns dabei Ansporn, Anleitung und Vorbild. Ihr Reinsten seid mit Askit verbunden, um zu arbeiten, zu forschen, eure und die Gesundheit aller zu verbessern. Ihr habt euch in den edelsten Dienst gestellt. Askit steuert heute sämtliche Entscheidungsprozesse, von der Geburtenrate über Beziehungen, psychische und genetische Optimierung, es teilt jeden nach seiner Begabung seiner Aufgabe zu. Ich wünsche allen Anwärtern eine erfolgreiche Prüfung. Möge Paradise weiter erblühen. Volles Potenzial den Reinsten!«
Die Holoschirme schalteten sich wieder aus. Eve war oft in der Vergangenheit dafür belächelt worden, dass sie in Askit nicht nur die alles versorgende und behütende künstliche Intelligenz sah, sondern eine individuelle Persönlichkeit, die ihr im Leben zur Seite gestanden hatte.
»Unsere omnipräsente, allmächtige, künstliche Intelligenz Askit«, sagte Pellengrey, setzte sich wieder zu Eve, stöhnte und sank ein wenig in seinem Sitz zusammen. Er wirkte besorgt. Als Leiter des Klimarates blieb ihm kaum private Zeit, auf Frau und Kind hatte er verzichtet. Es gab für ihn nur die Klimaforschung, das ständige Prüfen von Modellen und Berechnungen mit Askit war sein Tagesablauf. Pellengrey fixierte auf seinem Display Zahlenkolonnen und eine Grafik, die Eve nicht zu deuten vermochte. Er agierte hektisch, massierte mit seiner rechten Hand die faltigen Wangen.
»Eve. Bei allem, was in der Prüfung am 21. September auf dich zukommt, vergiss nie, dass Askit seine wichtigste Aufgabe darin sieht, die Menschen vor sich selbst zu schützen. Askit lässt uns nur anderthalb Jahrhunderte nach der Katastrophe weltweit in einem Ozean des Friedens existieren. Sicher gibt es wieder Hoffnung, dass wir die Welt von den Spuren der Vergangenheit heilen können, aber das ist längst nicht abgeschlossen. Wir geben alle unser Bestes, einfach nur unser Bestes. Ich habe mit den Herren da drüben noch etwas zu besprechen. Wir sehen uns in Deep Water«, sagte Pellengrey, strich ihr kurz über die rechte Wange und stand auf. Das hatte er das letzte Mal getan, als sie noch ein Kind gewesen war. Eve schaute sich irritiert um. Drei Reihen weiter saßen zwei ältere Reinste der Akademie hintereinander. Ihre Gesichter waren alles andere als fröhlich, einer forderte mit seinem Blick und einer Handbewegung Pellengrey auf, den freien Platz neben ihm einzunehmen. Eve fragte sich, was wirklich los war. »Danke Roger, für alles!«
»Ich seh dich vor mir, als du noch ein Kind warst, und jetzt sehe ich dich hier … Dein Vater wäre stolz auf dich gewesen. Pass auf dich auf. Volles Potenzial, Eve!«
Eve nickte und beobachtete mit Sorge, wie sich Pellengrey mit steifen Schritten zu den beiden Herren bewegte. Er hatte recht, große Teile Asiens, Nord- und Südamerika, fast der gesamte afrikanische Kontinent und Südeuropa waren bis heute unbewohnbar. Der Klimawandel hatte nahezu die gesamte Äquatorregion in eine Wüste verwandelt, die gesamten Küsten und unzählige Inseln lagen unter Wasser. Die alten Klimamodelle hatten den Menschen vorgegaukelt, noch genügend Zeit zu haben. Alle Simulationen hatten sich gegenseitig beschleunigende Effekte unterschätzt. Die Verbrennung der fossilen Brennstoffe brachte selbst den sibirischen Permafrost zum Schmelzen, wodurch ungeahnte Mengen von Methan und CO2 freigesetzt wurden. Das komplette Abschmelzen Grönlands und der Arktis brachte dunkle Torflandschaften hervor. Die Absorptionskraft dieser gigantischen Fläche war wie ein Brandbeschleuniger und löste weitaus früher als erwartet eine nicht mehr zu kontrollierende Kaskade aus. Der Mensch des 21. Jahrhunderts war weder in der Lage, die komplexen Vorgänge, die er aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, richtig einzuschätzen, noch wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten. Erst durch Askits minutiöse Planung konnten die Regeneration der Ozonschicht, die Reduktion von CO2, die Wiedergewinnung unfruchtbarer Böden, die Heilung strahlungsbedingter genetischer Defekte bei Menschen, Tieren und Pflanzen und eine nachhaltige Landwirtschaft in Angriff genommen werden. Für die Bewältigung der Ressourcenknappheit wurden ganze Städte in den letzten Jahrzehnten von Robotern und Megamaschinen recycelt, andere Gebiete, die zu verstrahlt waren, wurden dem Verfall durch die Natur überlassen. Die gesamte Menschheit war tagtäglich damit beschäftigt, die Lebensgrundlagen wiederherzustellen, und Eve würde schon bald ihren wichtigsten Beitrag dazu leisten können.
Anstatt wie üblich die Dauer der Fahrt mit Meditation, Schlafeinheiten und ihren wissenschaftlichen Studien zu verbringen, projizierte Eve ihre individuelle Auswahl an Nachrichten auf den Holoschirm über ihr. Askits Stimme klang zerhackt: Die Agenda hat erste Erfolge bei der Züchtung von Korallen erzielt. Millionen von Larven aus einem künstlichen Korallenlaich im Great Barrier Reef konnten erfolgreich umgesiedelt werden. Bei einer weiteren Regulierung des pH-Wertes konnten die genetischen Modifikationen eine Neuansiedlung ermöglichen.
Für einen Moment spürte sie Zweifel, ob diese hochsensiblen Wesen wirklich eine neue Chance haben würden.
Die Jahrzehnte andauernden Revitalisierungen der Ozeane, das Fang- und Jagdverbot und die Einstellung des Schiffsverkehrs hatten große Effekte auf Wale, Fische, die Meeresfauna. Wenn sich Korallen an die erhöhte Temperatur anpassen konnten, würde das einer Sensation gleichen. Sie selbst würde das vermutlich nie zu Gesicht bekommen, da es nur Mitgliedern der Agenda erlaubt war, Neuseeland zu betreten oder sich dem Kontinent auch nur zu nähern. Und wer einmal in die Agenda aufgenommen wurde, durfte mit wenigen Ausnahmen nie wieder austreten. Niemand außerhalb der Insel sollte Gelegenheit bekommen, mehr über Askit und seinen Standort zu erfahren. Wie Askits Systeme, neuronale Netzwerke und Quantencomputer genau aufgebaut waren, gehörte zu den vielen Geheimnissen der Agenda. Nach Neuseeland gab es keine Hyperloop-Anbindung. Einzig und allein die sagenumwobenen Beschützer konnten mit ihren Jets Menschen nach Askit City transportieren. Auch wenn Eve Pellengrey immer wieder fragte, warum er zurückkehren durfte, erkannte sie die Antwort schon in seiner Beharrlichkeit, nicht ein einziges Mal etwas über die Agenda zu erzählen, was nicht ohnehin bekannt war. Askit hatte seine Integrität und Zuverlässigkeit vermutlich in unzähligen Scans geprüft. Wie die Agenda aufgebaut war, auch die Anzahl ihrer Mitglieder, wusste niemand. Ihre Mutter Tessa hatte die Stellung des Menschen in der Agenda einmal abwertend als eine Form der Unterhaltung für Askit bezeichnet. Darüber konnte sie nur lachen. Aber ganz abwegig war es nicht, was sollte Askit schon von der Kapazität eines menschlichen Gehirnes erwarten können, dessen Leistung so völlig unter der eigenen lag. Eve gab sich mit der Erklärung zufrieden, dass die ganze Abschottung und Geheimhaltung dazu diente, jedwede Korruption oder Invasion in Askits System zu verhindern.
Eine weitere Nachricht machte Eve trotz der beruhigenden Alphawellen, die sie über ihr Implantat erhielt, kurz nervös. Die Agenda gab für die Forschung und Regeneration der Weltmeere weitere Stellen für Reinste frei. Askit hatte Eve immer für die Arbeit innerhalb der Agenda in Betracht gezogen, wusste aber, dass es ihr Traum war, ihrem Vater als Meeresbiologin auf die Ozeane zu folgen. Sie würde dort sein, wo er einst verschollen war. Ihr Blick fror für einen Moment ein, und sie bemerkte nicht das Blinken und Summen an ihrem Handgelenk, bis sie das Winken eines Passagiers bemerkte, der auf ihren Arm zeigte. Sie nickte dankend hinüber und sah Adlins Bild auf dem Display. »Eve. Ich habe es gerade gesehen. Du hast es geschafft. Wann kommst du zurück nach New Paris?«, fragte Adlin.
»Ich bin schon auf dem Weg. Ich muss mich um Tessa kümmern, damit sie sich endlich dieser lächerlichen Operation stellt. Du meldest dich nicht nur deswegen, oder?«
»Eve, der Leiter unserer wissenschaftlichen Abteilung hat sich über unseren Erfolg so geärgert, dass er zehn Minuten nach unserer Präsentation von Askit zu einem Scan beordert wurde.«
»Wie bitte?«
»Ja, es war merkwürdig. Er hat seine Selbstregulation nicht mehr unter Kontrolle gehabt und mit rotem Kopf den Saal verlassen. Ich denke, unsere Ergebnisse sind nicht mehr zu revidieren. Wir werden es in der Anwendung sehen«, berichtete Adlin mit einer so euphorisch klingenden Stimme, dass Eve ihre Hand zu einer Faust ballte und ihre Wangen erröteten.
Für den Zutritt in die Akademie der Wissenschaften war es unausweichlich, etwas wissenschaftlich Außergewöhnliches zu leisten. Ohne Askit gelang das niemandem mehr. Aber der Mensch hatte etwas anderes. Eine unschlagbare Kreativität.
Adlins altruistische Anlagen und Intelligenz entsprachen nahezu denen von Eve. Vor wenigen Wochen war es ihnen gelungen, ein Enzym synthetisch herzustellen, welches durch Reaktion mit Wasser Polymere in höherer Geschwindigkeit spalten konnte. Nur ihre gemeinsame Beharrlichkeit und Kreativität, unterstützt durch Askits Rechenpower, hatten diesen wissenschaftlichen Erfolg ermöglicht und die Hoffnung genährt, dass die Kunststoffbelastung der Weltmeere schneller als erwartet abgebaut werden könnte. Selbst die absoluten Größen der Wissenschaftsgilde hatten resigniert und wollten es der Evolution überlassen, diese komplexen Stoffe abzubauen, denn nichts bleibt, wie es ist, irgendwann würde die Natur schon eine Lösung finden. Polymere konnten Hunderttausende Jahre im Kreislauf der Natur weiter ihr unheilvolles Wesen treiben, und es gab so viele unterschiedliche chemische Verbindungen, dass selbst Askit keine generelle Lösung fand, und dann waren es die Natur und der Zufall, die den Durchbruch brachten. Es war ihnen gelungen, das zuständige Enzym einer seltenen Raupenart zu isolieren, um Polyethylen in Ethylenglykol zu verwandeln.
»Das heißt, wir können es in großem Maßstab reproduzieren? Adlin! Das bedeutet vielleicht, dass wir in ein bis zwei Generationen wieder sauberen Meeresfisch haben könnten!« Askit hatte Adlins Fähigkeiten erkannt und über Jahre perfektioniert. Durch die Implantatverbindung konnte die künstliche Intelligenz gleichzeitig Adlins und Eves kreative Gedanken und Ideen in atemberaubender Geschwindigkeit simulieren. Askit war den Menschen in nahezu jedem Bereich überlegen, aber zum Menschsein gehörte auch mehr als Ratio und Denken. Das Aufwachsen als Mensch, die Sozialisierung, die Wahrnehmung der Umgebung, der Natur bis zu übersinnlichen Erfahrungen. Eine der wichtigsten Stärken des Menschen erkannte Askit in der Fähigkeit, Lösungen zu finden, die nicht vorhersehbar waren. Ihre Tragweite zu berechnen, war dann wieder Askits Aufgabe.
»Ja, wir haben es geschafft!«, erklang Adlins Stimme. »Eve, ich bin dir so dankbar für alles. Wenn wir verbunden sind, ist unserer Kreativität keine Grenze gesetzt. Ich bin sicher, dass wir auch die letzte Prüfung bestehen!«
»Ist Thyron bei dir?«, fragte sie.
»Nein, er ist schon nach Deep Water gereist. Ich bin mit Samir auf dem Weg zu den Feldern, wir müssen noch unseren Erntedienst leisten.«
Eve atmete einmal tief aus. Sie hatte ihre Sollarbeitszeit, die alle Bürger von Paradise neben ihren sonstigen Beschäftigungen für die Gemeinschaft leisten mussten, bereits erfüllt.
»Adlin, wir sehen uns in New Paris.«
»Volles Potenzial, Eve! Wir holen dich ab. Ich bin mit Samir früh im Labor. Wir können dann gemeinsam in die Siedlung fahren.«
»Ja. Volles Potenzial, Adlin!«
Eve lehnte sich zurück und musste an Adlins wissenschaftlichen Leiter denken. Es war ungewöhnlich, dass ein Reinster der Akademie der Wissenschaft, eine leitende Persönlichkeit, solche unkontrollierten Emotionen an den Tag legte und zu einem Scan beordert wurde. Sie fühlte einen leichten Schwindel, dann schlief sie ein.