Fabian Marcher, geboren 1979 in Tegernsee, ist gelernter Buchhändler und arbeitet als freier Autor. Im Emons Verlag hat er bereits den Inntal-Krimi »Kranzhorn« und – gemeinsam mit seiner Frau Julia Lorenzer – den Reiseführer »111 Orte in Rosenheim und im Inntal, die man gesehen haben muss« veröffentlicht. Die beiden leben in Oberbayern und in Italien.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Christian Bäck
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzeptvon Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-485-8
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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My heart is turned to stone;
I strike it, and it hurts my hand.
William Shakespeare, »Othello«
Lorenz Kastner schaltet einen Gang zurück und tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Motor seines hellblauen Fiat Panda stößt einen ächzenden Klagelaut aus und müht sich weiter die steile, von dichtem Nadelwald gesäumte Straße hinauf.
Hinter der nächsten Kehre öffnet sich eine Lichtung, in deren Mitte drei hohe Masten in den tiefblauen Himmel ragen. Rechteckige Fahnen sind hochkant daran befestigt, sie zeigen das Logo des Internats: die Silhouette eines Raubvogels und quer darüber den schwungvollen Schriftzug »Schule Schloss Falkenberg«.
Noch eine letzte scharfe Kurve, dann ist er angekommen. Die strahlend weiße Fassade, die Lorenz bereits von den Bildern im Internet kennt, leuchtet in der Sonne. Der Parkplatz direkt vor dem Gebäude ist nicht groß und bereits ziemlich voll. Zwischen einem riesigen, silbrig glänzenden Audi und einem dunkelblauen BMW Cabrio findet er noch eine Lücke.
Er hat gerade den Motor abgestellt, da wird der Innenraum des Fiat plötzlich von einer sanften Klaviermelodie erfüllt. Nach ein paar Sekunden bricht sie ab, nur um gleich wieder von vorn zu beginnen. Lorenz runzelt die Stirn. Wo kommt das her? Natürlich, sein neues Handy! Er dreht sich um und kramt das Smartphone aus der auf dem Rücksitz deponierten Tasche. Auf dem Display pulsiert der Name des Anrufers: »Prof. Dr. Beckstein«.
»Kastner.«
»Beckstein hier. Guten Morgen, Herr Kastner. Sind Sie schon unterwegs?«
»Streng genommen bin ich sogar schon da. Ich habe soeben mein Auto vor dem Schloss geparkt.«
»Sehr gut. Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid geben, dass ich erfreuliche Nachrichten von der zuständigen Stelle in Berlin erhalten habe. Wenn wir ein hieb- und stichfestes Gutachten über die Anlage in Falkenberg liefern können, steht der Finanzierung eines länderübergreifenden Forschungsnetzwerks nichts mehr im Weg.«
»Wunderbar.«
»Sie wissen ja bereits, dass ich Sie für die Leitung dieser Gruppe vorschlagen werde. Mein Wort als Inhaber eines der renommiertesten Lehrstühle für mittelalterliche Geschichte im deutschsprachigen Raum hat in dieser Angelegenheit großes Gewicht.«
»Ich weiß. Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Professor Beckstein.«
»Jaja. Aber erst mal brauchen wir Ergebnisse.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Davon bin ich überzeugt. Auf Wiederhören, Herr Kastner, und … gutes Gelingen!«
»Auf Wiederhören.«
Er steckt das Telefon zurück in die Reisetasche und öffnet dann sehr vorsichtig die Fahrertür. Ein Kratzer im Lack des schnittigen BMW wäre wahrscheinlich eine ziemlich teure Angelegenheit.
Die beiden Flügel der gläsernen Eingangstür schieben sich lautlos zur Seite, als Lorenz näher kommt. Er durchschreitet den hellen Vorraum, öffnet die nächste Glastür mit der Hand und findet sich in einem großzügigen Foyer wieder: Ein mit funkelnden Kristallen geschmückter Kronleuchter hängt von der hohen Decke, purpurne Läufer bedecken den blitzsauberen Marmorboden. Durch eine geöffnete Tür zu seiner Linken fällt sein Blick in den dahinterliegenden Saal: blank poliertes Parkett, riesige Fenster, schwere Vorhänge, holzvertäfelte Wände und ein großformatiges Porträt in Öl. Niemand ist zu sehen, aber er hört gedämpfte Stimmen und das Klappern von Geschirr. Rechts führt eine breite Treppe in den ersten Stock. Er zögert einen Moment, geht dann aber hinauf.
»Entschuldigen Sie, ich suche das Büro von Herrn Dr. Brenner.«
Neben ihm ist eine ganz in Weiß gekleidete junge Frau gerade dabei, Lachsbrötchen dekorativ auf einem Silbertablett anzurichten. Sie lächelt Lorenz kurz an, unterbricht ihre Arbeit aber nicht.
»Im zweiten Stock«, sagt sie. »Rechts den Gang runter. Die vorletzte Tür auf der linken Seite.«
»Danke.«
Auf der langen Tafel mit den blütenweißen Tischdecken sind weitere Tabletts mit appetitlich aussehenden Häppchen arrangiert, daneben edle Metallbehälter, die dem in der Luft liegenden Geruch zufolge warme Speisen enthalten. An anderer Stelle ist eine bunte Obstpyramide angerichtet, deren Mittelpunkt eine kunstvoll in Rosenblütenform geschnitzte Wassermelone bildet. Am Ende des geräumigen Flurs stehen auf einem Tisch verschiedene Getränkeflaschen und eine Menge Gläser bereit.
Man wird doch nicht extra für ihn einen Empfang vorbereitet haben?
Während er die Treppe ins nächste Stockwerk hinaufsteigt, geht Lorenz verzweifelt den Inhalt seiner Reisetasche durch. Nein, er hat nichts Repräsentativeres dabei als das kurzärmlige Sommerhemd und die zwar bequeme, aber nicht gerade nagelneue Hose, die er gerade trägt. Er seufzt. Dem ersten Eindruck des Schlosses nach könnte das ein ziemlich peinlicher Auftritt werden.
Hier muss es sein, die vorletzte Tür auf der linken Seite. Daneben ein Schild: »Dr. Julius Brenner, Schulleitung«. Lorenz klopft an.
»Herein.« Eine Frauenstimme.
Er öffnet die Tür und betritt ein kleines Vorzimmer – offenbar das Reich der adretten, etwa fünfundvierzigjährigen Dame mit Brille und Hochsteckfrisur, die ihn hereingebeten hat. Sie sitzt hinter einem Computer und sieht Lorenz fragend an.
»Mein Name ist Kastner, ich komme vom Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität München.«
»Herr Kastner, herzlich willkommen.« Die Dame steht auf und reicht ihm die Hand. »Daniela Weinhold, ich bin die Sekretärin des Internatsleiters. Wir haben Sie schon erwartet. Herr Dr. Brenner müsste jeden Moment wieder da sein. Kann ich Ihnen inzwischen etwas anbieten? Einen Kaffee? Ein Glas Wasser?«
»Nein danke. Aber ich hätte eine Frage.«
»Ja?«
»Der Empfang, der gerade im ersten Stock vorbereitet wird … also … ist das …?«
»Welcher Empfang?« Frau Weinhold scheint von nichts zu wissen.
»Nun ja, die Getränke, die Tische mit den weißen Decken, das Büfett …«
»Ach das.« Sie wirft einen Blick auf ihre kleine silberne Armbanduhr. »Es ist kurz vor elf. Gleich haben wir große Pause.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage, Frau Stahl. Bei aller Liebe, das kann ich nicht genehmigen.«
Dominik Zeller, Leiter der Mordkommission Rosenheim, rollt mit seinem giftgrünen Sitzball ein paar Zentimeter nach vorn, stützt sich mit den Ellenbogen auf den Schreibtisch und macht mit seinen Händen eine Geste, die aussieht, als streichelte er eine imaginäre Bowlingkugel.
»Es geht um das gemeinsame Erlebnis, und Teambuilding kann nur funktionieren, wenn auch wirklich das ganze Team vor Ort ist, nicht wahr?«
Hauptkommissarin Tamara Stahl nickt resigniert. Das war zu erwarten. Wenn Zeller sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt man ihn nicht so leicht davon ab. Aber auch sie gibt nicht ohne Weiteres auf.
»Ich weiß.« Sie versucht, zerknirscht zu klingen, und fährt sich mit der rechten Hand durch die kurzen blonden Haare wie jemand, der vor einem echten Dilemma steht. »Ich ärgere mich ja selbst darüber, dass ich nicht früher von dem Vortrag erfahren habe. Aber das Thema Profiling ist in letzter Zeit in aller Munde, und wenn ich mich dahingehend weiterbilde, könnte ich meine neu erworbenen Fähigkeiten ebenfalls zum Wohl des gesamten Teams –«
»Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns in Rosenheim, Frau Stahl?«
»Zwei Jahre, vier Monate.« Tamara ist selbst erstaunt, dass sie das so genau weiß.
»Mhm, mhm.« Zeller nimmt eine schmale Mappe von einem Stapel zu seiner Rechten und blättert gedankenverloren darin herum. »Am Anfang war es sicher nicht einfach für Sie. Als jüngste Kommissarin, die es hier je gegeben hat. Und als erste Frau überhaupt beim Mord.«
Sie zuckt mit den Schultern, doch bevor sie etwas erwidern kann, fährt ihr Vorgesetzter auch schon fort.
»Aber Sie haben die Herausforderung sehr gut gemeistert. Sie sind fleißig, zuverlässig, diszipliniert. Und dieser Fall damals in – wo war das gleich noch mal? – Oberaudorf, richtig. Jedenfalls war das gute Arbeit, damit haben Sie sich Respekt verschafft. Aber klug, wie Sie sind, wissen Sie sicherlich auch, dass moderne Ermittlungsarbeit immer eine Gemeinschaftsleistung darstellt. Deshalb ist es mir so wichtig, dass meine Teams zusammenwachsen und als Einheit agieren. Und das geschieht nicht von selbst.«
Wieder blättert er in der Mappe. »Wie ich sehe, haben Sie in den zwei Jahren und vier Monaten, die Sie bereits bei uns sind, noch nie an einer Teambuilding-Maßnahme teilgenommen. Beim letzten Mal waren Sie verhindert wegen«, Zeller klappt die Mappe geräuschvoll zu, »der schweren Krankheit Ihrer Großmutter. Geht’s ihr inzwischen besser?«
»Wem? Ach so … Ja. Ich meine, nein. Sie ist tot.« Und zwar schon seit fünfzehn Jahren, doch das verschweigt Tamara lieber.
»Sie ist mittlerweile verstorben? Das tut mir leid.«
»Schon in Ordnung.«
»Jedenfalls wird es so einen Vortrag zum Thema Profiling bestimmt bald wieder geben, und dann werde ich der Letzte sein, der Sie davon abhält, ihn zu besuchen. Aber diesmal hat der Teambuilding-Workshop absolute Priorität.«
Zeller steht auf, um unmissverständlich anzuzeigen, dass das Gespräch beendet ist. »Ich freue mich also darauf, Sie heute Abend in Seeon als Teil der Gruppe anzutreffen.«
Tamara erhebt sich ebenfalls, schüttelt ihrem Chef über den Schreibtisch hinweg die Hand und verlässt deprimiert das Büro.
Im Vorbeigehen sieht sie Heinrich Schmitterer, der mal wieder das »Rosenheimer Tagblatt« auf seinem stattlichen Bierbauch ausgebreitet hat. Er grüßt, indem er zwei Finger hebt, ohne den Blick vom Sportteil zu lösen. Sein Arbeitsplatz könnte als Symbolbild für »Chaos« dienen: mehrere ungespülte Kaffeetassen, Teller mit Krümeln darauf, dazwischen irgendwo die Akten, die er eigentlich bearbeiten soll. Aber Schmitterer lässt es wie immer ruhig angehen. Wobei er stets einen herablassenden Spruch für jeden parat hat, der ihm zu ehrgeizig und pflichtbewusst erscheint.
Tamara stöhnt innerlich auf. Mit dem wird sie also ab morgen früh im Stuhlkreis sitzen und über ihre Gefühle sprechen. Nun ja, falls es eine Vertrauensübung geben sollte, bei der man sich rücklings in die Arme des anderen fallen lassen muss, würde sich wohl niemand wundern, sollte ihr Heinrich Schmitterer mit seinen zweieinhalb Zentnern Lebendgewicht aus Versehen durchrutschen.
Sie kann sich glücklich schätzen, dass das moderne Großraumbüro im Rosenheimer Kommissariat noch nicht Einzug gehalten hat und sie jederzeit die Tür hinter sich schließen kann. Während sie das tut, meldet sich ihr Handy auf dem Schreibtisch.
Eine Kurznachricht. Wie immer in den letzten Wochen scheint ihr Herzschlag bei diesem Ton eine Sekunde lang auszusetzen. Sie wirft einen Blick auf das Display, und das kleine Fünkchen Hoffnung, das sich soeben erst entzündet hat, verglimmt sofort. Die Nummer des Anrufers ist nicht in ihren Kontakten gespeichert – aber irgendwie kommt ihr die Zahlenreihe mit den zwei Fünfern in der Mitte bekannt vor. Sie ruft die Nachricht auf.
Hey tamara! hab grad die teilnehmerliste vom seminar in seeon durchgeschaut – ihr aus rosenheim seid auch dabei?? cool ;-) freu mich tierisch, dich zu sehen! tobi
Tobi. Die Hauptkommissarin lässt sich in ihren Bürostuhl fallen und liest die Nachricht noch einmal. Damit hat sie nun wirklich nicht gerechnet. Aber die Seminare in dem ehemaligen Kloster nahe dem Chiemsee werden jedes Jahr allen Präsidien der Bayerischen Polizei angeboten, und anscheinend kommen diesmal auch Kollegen vom Betrugsdezernat in München, wo Tamara nach der Ausbildung ihre erste Stelle als Kommissarin innehatte – und in dem ihr damaliger Freund Tobi noch immer arbeitet.
Wann hat sie das letzte Mal mit ihm gesprochen? Sie erinnert sich wieder. Ein paar Monate nach der Trennung und ihrem Umzug nach Rosenheim, als sie an dieser Oberaudorf-Sache dran war, hat sie ihn angerufen. Damals ging die Praktikantin mit der piepsigen Stimme ran, der die männlichen Kollegen im Betrugsdezernat andauernd auf den Hintern geglotzt hatten. Wie hieß die noch? Johanna? Egal. Jedenfalls war das der richtige Moment gewesen, Tobi und seine Nummer aus ihren Kontakten zu löschen und ihn endgültig zu vergessen. Was sie auch getan hat. Bis heute.
Tamara legt das Handy weg und kaut geistesabwesend auf ihrer Unterlippe herum, denkt an Oberaudorf, wo sie Lorenz kennengelernt hat. Am Anfang kam er ihr reichlich seltsam vor, aber irgendwie ging er ihr trotzdem nicht mehr aus dem Kopf, auch als der Fall längst gelöst war. Sie trafen sich noch einmal, telefonierten ab und an, und als er dann nach Südtirol zog, um endlich seine Doktorarbeit abzuschließen, hätten sie sich beinahe aus den Augen verloren. Aber eben nur beinahe.
Sie muss jetzt noch lächeln, wenn sie an seinen Anruf vor ziemlich genau zwei Monaten denkt. Ob sie Lust habe, mit ihm auf sein erfolgreich verlaufenes Kolloquium anzustoßen.
»Selbstverständlich, Herr Dr. Kastner. Meinen Glückwunsch!«
Das darauffolgende Treffen in Rosenheim lief wirklich gut. Das nächste – der Erinnerung wegen im »Weber an der Wand«, dem Höhlenwirtshaus in Oberaudorf – noch besser. In den Tagen danach fühlte sie sich richtiggehend beschwingt.
Und ging dann in ihrer Euphorie zu weit. Nun ist es schon beinahe zwei Wochen her, dass sie die dämliche Idee hatte, zu Lorenz nach München zu fahren, um ihn mit einer Essenseinladung zu überraschen. Das war offenbar zu viel, sie hat ihn überrumpelt. Ob er sich überhaupt noch mal meldet?
Aber jetzt genug davon. Schließlich liegen nicht nur auf Schmitterers Schreibtisch ein paar Akten, die bearbeitet werden wollen, auch wenn es in den letzten Monaten kaum einen interessanten Fall, sondern fast nur Routineangelegenheiten gegeben hat. Leider. Das bedeutet: viel Papierkram, wenig Inhalt.
Die einzige Ausnahme war der sportliche Herr mittleren Alters, der vor knapp zwei Wochen leblos im Flur seiner Rosenheimer Altstadtwohnung gefunden wurde. Keine Zeichen äußerer Gewalteinwirkung, aber laut Ersteinschätzung des Arztes auch kein Herzinfarkt. Für ein paar Stunden war das ganze Kommissariat mit Ermittlungen beschäftigt, bis die Gerichtsmedizin anrief: Man habe die Verschlusskappe eines Augentropfen-Fläschchens in der Luftröhre der Leiche gefunden. Damit war die Todesursache geklärt. Auch wenn sich Tamara immer noch nicht erklären konnte, was genau mit dem Mann geschehen war.
Doch glücklicherweise hat sie mit Hauptkommissar Josef Burger einen Kollegen, der zwar eher selten durch brillante Einfälle auf sich aufmerksam macht, im Gegenzug dafür während der Frühlings- und Sommermonate aber unter heftigen Allergieanfällen leidet, weshalb er über jede Menge Erfahrung mit Augentropfen verfügt. Als sie Burger den Fall schilderte, kam er sofort auf die Lösung: Der Mann hatte sich den Deckel des Fläschchens zwischen die Zähne geklemmt und dann den Kopf in den Nacken gelegt, um sich die Tropfen in die Augen zu träufeln. Das kleine Plastikteil musste ihm dabei in den Rachen gerutscht sein, er konnte es nicht mehr ausspucken oder herauswürgen – und sein Schicksal war besiegelt.
Das war der aufregendste Fall der letzten Wochen: weder Mord noch Selbstmord. Tamara muss den Bericht dazu noch abschließen. Sie stöhnt. Da sie heute wegen des Seminars nur einen halben Tag arbeiten wird, sollte sie wohl besser sofort damit beginnen. Als sie die Akte zur Hand nimmt, fällt ihr Blick wieder auf das Handy.
Kaum zu glauben, dass sie Tobi schon heute Abend wiedersehen wird. Ihr Vorgesetzter, ihr Ex-Freund, sie selbst und noch dazu eine ganze Horde Beamter der bayerischen Kriminalpolizei, alle eingesperrt in einem ehemaligen Kloster. Das kann ja heiter werden.
Ein riesiger antiker Schreibtisch aus dunklem Holz, darauf nur ein Telefon, ein zugeklappter Laptop und ein antiquiert wirkender Füllfederhalter, dahinter ein breites Fenster, das einen beeindruckenden Bergpanoramablick erlaubt. Am anderen Ende des Zimmers eine Sitzecke mit schwarzen Ledersesseln und ein niedriger Glastisch auf kühl glänzenden Metallbeinen. Im Kontrast dazu die alten, ledergebundenen Bücher, eine betagte Schreibmaschine und ein Globus. Offensichtlich versucht Internatsleiter Dr. Julius Brenner durch die Einrichtung seines Arbeitszimmers genau die Verbindung von Altbewährtem und Modernem auszustrahlen, von der er Lorenz in diesem Augenblick berichtet.
»Ein Internat wie unseres ist gewissermaßen ein Hybrid. Einerseits vermitteln wir traditionelle Werte. Gerade für Kinder, die aus einer privilegierten Familie stammen, ist das wichtig. Viele von ihnen werden später die verantwortungsvollen gesellschaftlichen Positionen einnehmen, die heute ihre Eltern ausfüllen.«
Dr. Brenner lehnt sich ein wenig zurück und blickt über seinen Zuhörer hinweg an die Zimmerdecke. Lorenz schätzt ihn auf Mitte fünfzig. Er ist nicht besonders groß, aber sehr schlank und eine äußerst gepflegte Erscheinung. Sein Maßanzug sitzt perfekt, das volle dunkelbraune Haar ist nur an den Schläfen leicht ergraut.
»Aber Tradition allein genügt heutzutage bei Weitem nicht mehr«, fährt er fort. »Schließlich sollen die Schülerinnen und Schüler hier bestmöglich auf eine Welt vorbereitet werden, die sich ständig weiterentwickelt.«
Der Internatsleiter wendet sich kurz dem Panoramafenster zu, wie um zu verdeutlichen, dass er von der Welt da draußen spricht. Dann dreht er sich wieder zu Lorenz um und sieht ihm direkt in die Augen.
»Deshalb ist es mindestens ebenso bedeutsam, am Puls der Zeit zu sein. Wir sind die erste Schule in Deutschland, die digitales Lernen konsequent umsetzt. Bei uns gibt es papierlosen Unterricht, jeder Schüler hat ein eigenes Tablet, mit dem alle Übungen und sogar die Prüfungen absolviert werden und auf dem das gesamte Lehrmaterial abgespeichert ist. Keine Hefte, keine Bücher.«
Lorenz hebt erstaunt die Augenbrauen. An den Gedanken, dass der Verzicht auf Bücher beim Lernen Vorteile bringen soll, muss er sich erst noch gewöhnen. Doch Dr. Julius Brenner ist jetzt richtig in Fahrt und redet schon weiter.
»Das mag Ihnen vielleicht etwas extrem erscheinen, doch ich halte Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien für die Schlüsselqualifikation der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Auch wenn ich selbst alles andere als begeistert von dieser Entwicklung bin. Gerade in der Kommunikation sind heutzutage Dinge selbstverständlich geworden, deren Tragweite wir kaum noch verstehen. Soziale Netzwerke, Chatprogramme für Handys oder die gute alte E-Mail machen vertraulichen Informationsaustausch meiner Meinung nach nur scheinbar einfacher, während ihre Funktionsweise in Wirklichkeit für den Laien kaum zu durchschauen ist. Aber ich schweife ab. Der moderne, zukunftsweisende Aspekt ist in den vergangenen Jahren jedenfalls besonders wichtig für unser Marketing gewesen. Als Privatschule sind wir ein Unternehmen, das sich auf einem anspruchsvollen Markt behaupten muss. Würden wir uns nur auf die Tradition und den Charme dieser großartigen Immobilie verlassen, kämen wir nicht weit. Die Besten gehen nur zu den Besten, sage ich dem Kollegium immer.«
Dr. Brenner unterbricht sich und starrt einen Moment lang versonnen auf die makellos glänzende Oberfläche seines Schreibtisches. Dann fährt er fort: »Aber zuletzt wurde der Wunsch geäußert, die Außendarstellung der Schule neu zu justieren. Ich kann hier nicht einfach schalten und walten, wie es mir beliebt, müssen Sie wissen. Hinter mir steht das Kuratorium – eine Art Aufsichtsrat – unter dem Vorsitz von Ludmilla von Sternberg, einer Altschülerin, die sich in der Vergangenheit um das Internat sehr verdient gemacht hat. Sie möchte künftig neben unseren hochmodernen Unterrichtsmethoden die geschichtliche Bedeutung des Schlosses stärker in den Fokus rücken, und ich werde mich diesem Wunsch natürlich nicht verschließen. Sie sehen: Das Interesse, das Sie als Historiker an der Erforschung der mittelalterlichen Grundstrukturen dieses Gebäudes angemeldet haben, kommt uns gewissermaßen gelegen. Wir werden Ihnen bei Ihrer Arbeit behilflich sein, wo wir nur können. Meine Sekretärin hat in den vergangenen Wochen bereits alle Pläne und Dokumente zur Architektur des Schlosses zusammengetragen, die wir auftreiben konnten. Alles, was sie in unseren Archiven gefunden hat, steht Ihnen zur Verfügung.« Der Internatsleiter lächelt.
Lorenz nickt. »Das wird sicher sehr hilfreich sein, vielen Dank.«
»Haben Sie eigentlich schon Ihr Zimmer gesehen?«, wechselt Dr. Brenner unvermittelt das Thema. »Nein? Ich werde Frau Weinhold gleich damit beauftragen, es Ihnen zu zeigen. Wir haben Sie im sogenannten Literatenturm untergebracht. Der Name stammt noch aus der Zeit, als regelmäßig Schriftsteller und andere Künstler vom Schlossherrn eingeladen wurden. Ich hoffe, die Räumlichkeiten sagen Ihnen zu. Es ist dort ruhiger als im Ostflügel, wo die Schüler und die Erzieher wohnen. Ach – eines hätte ich fast vergessen.«
Dr. Brenner hat sich schon halb aus seinem Stuhl erhoben, lässt sich jetzt aber wieder zurückfallen.
»Das Kuratorium möchte auch den historischen Tiefbrunnen, der zur Schlossanlage gehört, genauer untersuchen lassen. Eigentlich hatte ich dafür einen Hobby-Höhlenforscher aus dem Dorf engagiert – doch der ist gestern leider mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Tja, und jetzt stehen wir – mit Verlaub – ziemlich dumm da, weil ich bereits vor Wochen für morgen früh die Feuerwehr bestellt habe, damit sie die Brunnenerkundung absichert. Es ist wirklich ärgerlich.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Lorenz hat keinen Schimmer, worauf der Internatsleiter hinauswill.
»Und in dieser unglücklichen Situation … habe ich an Sie gedacht, Herr Kastner.«
»An mich? Inwiefern?«
»Sehen Sie, der Tiefbrunnen wurde im Mittelalter angelegt. Das ist Ihr Spezialgebiet, nicht wahr? Sie sind doch hier, um im gesamten Schloss die Bausubstanz zu begutachten, die aus dieser Epoche stammt.«
»Sie meinen …?«
»Ich meine, dass es im Grunde sowieso viel sinnvoller ist, wenn ein Experte wie Sie bei der Erkundung des Brunnens vorangeht.«
»›Vorangeht‹ im Sinne von …?«
»Im Sinne von: die einzigartigen Relikte vergangener Jahrhunderte, die dort unten warten, als Erster in Augenschein nimmt. Was auch immer auf dem Grund des Brunnenschachtes zu finden ist, es könnte uns wertvolle Informationen über die Menschen geben, auf deren Schultern – bildlich gesprochen – die Schüler, meine Kollegen und ich heute arbeiten und leben. Und seien Sie unbesorgt, die Feuerwehr kümmert sich wie schon gesagt um sämtliche Sicherheitsaspekte. Ihre Recherchen hier auf Schloss Falkenberg könnten also gleich mit einem echten Sensationsfund beginnen. Nun, was sagen Sie dazu? Klingt das in Ihren Ohren nicht verlockend?«
Gut sechs Stunden später balanciert Lorenz vorsichtig einen Teller Gemüsesuppe durch den mit Stimmengewirr erfüllten großen Saal im Erdgeschoss. Die etwa hundertfünfzig Jugendlichen aller Jahrgangsstufen, die gerade gleichzeitig das Büfett stürmen, machen ihm die Sache nicht leichter. Kaum ein Schüler trägt jetzt noch die dunkelblaue Uniform, der Lorenz am Nachmittag überall im Schloss begegnet ist.
»Das Tragen der Schulkleidung ist während der Unterrichtszeit für alle Mädchen und Jungen bis zur zehnten Jahrgangsstufe Pflicht«, hat Frau Weinhold ihm erklärt, als sie ihn nach der Besprechung mit Dr. Brenner zum Literatenturm begleitete. »Die Älteren dürfen frei wählen – wobei wir ihnen empfehlen, sich am ›Smart Business Look‹ zu orientieren.«
Vor dem Getränkespender steht eine Gruppe von Oberstufenschülern, ihre halblangen Haare sind sorgfältig gescheitelt, sie tragen Marken-Poloshirts mit farblich abgesetztem Kragen, dazu edle Chino-Shorts und Wildleder-Turnschuhe. Am Handgelenk der meisten glänzt eine Rolex. Lorenz betrachtet sie genauer. Ob das der »Smart Business Look« ist, von dem die Sekretärin gesprochen hat? Jedenfalls scheint dieses Outfit bei den Jungs der oberen Klassen eine Art inoffizielle Sommeruniform zu sein.
Endlich hat er den riesigen kreisrunden Tisch erreicht, an dem einige Lehrer, die Erzieher und der Internatsleiter sitzen und an dem ein Platz für ihn reserviert wurde.
»Guten Abend. Sandra Vogel, erstes Fach Englisch, zweites Fach Deutsch. Sie sind der Historiker, nicht wahr?«
»Ja, guten Abend. Ich heiße Lorenz Kastner.«
Sandra Vogel, auf deren Teller sich ein eindrucksvoller Salatberg türmt, legt die Gabel weg und reicht ihrem neuen Tischnachbarn die Hand. Sie trägt ihr glattes dunkelblondes Haar offen, Lorenz schätzt sie auf Mitte dreißig. Der Figur und dem sonnengebräunten Gesicht nach hätte er sie eher für eine Sportlehrerin gehalten.
»Sie wohnen auch hier im Schloss?«, fragt er, nachdem die beiden ein paar Minuten lang schweigend gegessen und dem Gespräch der anderen gelauscht haben.
»Ja, wie alle an diesem Tisch.« Sie spießt mit der Gabel ein Stück Tomate auf. »Die Kollegen, die im Umland wohnen, kommen frühmorgens her und fahren nach dem Unterricht wieder nach Hause. Wie in jeder normalen Schule. Manchmal beneide ich sie darum.«
Ein etwa vierzigjähriger Mann mit zerzausten blonden Haaren, der trotz des sommerlichen Wetters ein abgewetztes beiges Cordsakko trägt, stellt seinen Suppenteller rechts neben Lorenz – an den einzigen Platz, der am Tisch noch frei ist.
»Guten Abend«, grüßt er mit etwas heiserer Stimme, um sich dann vorzustellen, »Friedrich mein Name. Wolfgang Friedrich. Geografie und Chemie.«
Lorenz schüttelt auch ihm die Hand, wendet sich, als Herr Friedrich die ihm gegenübersitzende Erzieherin nach dem Salzstreuer fragt, aber wieder Sandra Vogel zu.
»Zumindest ist das hier ein besonderer Ort zum Leben. Und ein sehr schöner noch dazu.« Er lächelt. »Ich hatte schon ein bisschen Zeit, mich umzusehen. Der Blick von der Terrasse in die Berge ist wirklich atemberaubend. Noch dazu Räume wie dieser.« Lorenz sieht sich erneut im Saal um, der ihn schon am Vormittag bei seiner Ankunft so beeindruckt hat.
»Das mag sein, aber glauben Sie mir, Herr Kastner«, die Lehrerin dämpft ihre Stimme ein wenig, »hier ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Sicher, das Schloss ist wunderbar, der Blick aus den Fenstern auch, die Klassen sind klein, wir sind hervorragend ausgestattet, und die Erzieher bemühen sich, den Kindern ein wenig Familienersatz zu sein. Aber mal ehrlich: Hätten Sie in dem Alter gern in einem Internat gelebt?«
Unauffällig lenkt sie Lorenz’ Blick auf ein etwa zehnjähriges Mädchen, das verloren am Nebentisch sitzt und traurig in seinem Obstsalat herumstochert.
»Außerdem müssen wir Lehrer uns ständig mit Eltern herumschlagen, die … ach, egal. Ich möchte Sie nicht mit meinem Gejammer langweilen. Denn natürlich haben Sie recht: Das Schloss ist auf jeden Fall ein besonderer Ort. Und Sie sind hergekommen, um seine Geschichte zu erforschen?«
»Genau so ist es. Ich werde etwa eine Woche bleiben.«
Lorenz beginnt, der Lehrerin von dem geplanten länderübergreifenden Forschungsprojekt zu erzählen, das sich mit Überresten mittelalterlicher Festungsanlagen im Elsass sowie in Südtirol und Oberbayern befassen soll, und von der Schlüsselrolle, die Schloss Falkenberg als ehemalige Wehrburg dabei hoffentlich spielen wird. Auch Wolfgang Friedrich schaltet sich gelegentlich mit Bemerkungen zu den vorherrschenden Gesteinstypen in den verschiedenen Regionen in das jetzt angeregte Gespräch ein.
Nach dem Essen verabschiedet sich Lorenz von den beiden Lehrern und seinen übrigen Tischgenossen und begibt sich auf sein Zimmer. Es ist geräumig, verfügt über ein eigenes Bad, eine Sitzecke und einen kleinen Schreibtisch. Aus den zwei Fenstern hat man beinahe so eine spektakuläre Aussicht wie aus Dr. Brenners Büro. Auf dem breiten Bett liegt der Papierstapel, den ihm die Sekretärin nach seiner Besprechung mit dem Internatsleiter ausgehändigt hat. Pläne, die vor einigen Jahren zur Vorbereitung von Renovierungsarbeiten erstellt wurden.
»Daraus ist dann doch nichts geworden«, hat Daniela Weinhold Lorenz erklärt, »aber immerhin Sie können die Zeichnungen jetzt brauchen. So bekommt die Arbeit, die man sich damals gemacht hat, doch noch einen Sinn, nicht wahr?«
Lorenz lässt sich auf die Matratze fallen und faltet den obersten Plan auseinander. Ostflügel, Erdgeschoss. Die variierende Dicke der Mauern fällt ihm gleich ins Auge. Das könnte ein Hinweis auf unterschiedliche Bauphasen sein. Wie sieht das in den anderen Stockwerken aus?
Eigentlich wollte sich Lorenz nur kurz einen Überblick verschaffen, doch als er sich endlich von den Aufzeichnungen losreißt, ist draußen bereits die Dämmerung hereingebrochen. Sämtliche Pläne der Schlossanlage sind auf dem Bett und dem Fußboden ausgebreitet, seine Augen schmerzen, und erst jetzt spürt er, wie müde er ist. Es war ein anstrengender Tag, und bei dem Gedanken, morgen wegen der Brunnenerkundung früh aufstehen zu müssen, stöhnt er innerlich auf.
Er wühlt in seiner Reisetasche und zieht das Smartphone heraus, das bestimmt eine Weckfunktion hat. Wenn er nur wüsste, wie man die einstellt. Mit seinem alten Handy ist er bestens zurechtgekommen – bis es vor einem Monat endgültig den Geist aufgab. Dann hat Lorenz sich dieses hochmoderne Ding aufschwatzen lassen – und ist jetzt schon froh, wenn es ihm gelingt, einen Anruf entgegenzunehmen. Nach ein paar Minuten des erfolglosen Wischens gibt er auf. Es wird sehr früh hell um diese Jahreszeit, er sollte also nicht unbedingt einen Wecker brauchen.
Die tief stehende Sonne hat in der vergangenen Stunde das auf seinem Hügel thronende Schloss, das etwas unterhalb liegende Dorf und die umgebenden Felder, auf denen bald Weizen und Gerste geerntet werden, zunächst in goldfarbenes und dann in rötliches Licht getaucht. Schließlich ging der gleißende Feuerball hinter den fernen, schroffen Alpengipfeln unter, und nun, da nur noch ein heller Schimmer am westlichen Horizont vom vergangenen Tag kündet, senkt sich endgültig die Nacht über das Land.
Schatten kriechen die Berghänge hinab, dringen sanft und lautlos vor, bis in die Ställe, in denen das dicht an dicht stehende Vieh sein Schicksal stumm und duldsam erträgt, und hinein in die Häuser, hinter deren Mauern die Menschen ein paar letzte Handgriffe erledigen, bevor sie sich dem Schlaf überlassen. Das Dunkel nimmt auch das Schloss in Besitz, die Eingangshalle mit dem nun erloschenen Kronleuchter, den Speisesaal, durch dessen hohe Fenster nur noch der blasse Abglanz des Mondes fällt. Die Schatten erobern die Privaträume des Internatsleiters, der Lehrer und der Erzieher, ebenso die Zimmer im Ostflügel, in denen je zwei oder drei Schüler in ihren Betten liegen, wobei die einen reglos, still und friedlich atmen, während andere sich unruhig hin und her wälzen und, von düsteren Traumbildern verfolgt, gelegentlich ein leises Wimmern ausstoßen.
Dann ist sie da, die Zeit der Finsternis, die dunkelste Stunde, in der diejenigen sich hinauswagen, die ungesehen bleiben wollen, und in der geschieht, was niemand je erfahren darf.
Friederike Ziegelmeier öffnet die Augen, und sofort bricht die Intensität der Farbe über sie herein wie eine Flutwelle. Das unwiderstehliche Blau des sommerlichen Morgenhimmels. An anderen Tagen ist es das satte Grün des noch vom Tau der Nacht benetzten Rasens oder das zarte, verletzliche Rosa einer Blüte, welches sie nach der Meditation in den Bann zieht.
Manchmal ist sie sich nicht sicher. Wenn sie sich zu sehr vom Alltag einfangen lässt und dem ständigen Störfeuer ihrer Umgebung zu viel Aufmerksamkeit schenkt – dem Geläster ihrer Nachbarn etwa oder den banalen Schulproblemen ihrer doch beinahe schon erwachsenen Kinder. Wenn sie nicht ganz und gar bei sich ist, dann verwirren sie die Eindrücke in ihrer Vielfalt. An solchen Tagen fühlt sie sich heillos überfordert, und ihr gelingt nichts. Doch heute ist alles gut, Friederike hat keinerlei Zweifel: Die Farbe dieses Morgens ist Blau.
Sie steht auf, zupft den angenehm kühlen Stoff ihres seidenen Morgenmantels zurecht, atmet noch einmal tief ein und danach sehr langsam wieder aus, bevor sie vom Balkon zurück ins Schlafzimmer tritt.
Etwas später trägt sie eine schlichte türkisfarbene Bluse und dazu einen bequemen, knöchellangen Rock in kräftigem Königsblau. Über die offene Wendeltreppe aus hellem Holz, die der ganze Stolz ihres Mannes ist, seit sie den alten Stall zu einem großzügigen, lichtdurchfluteten Wohnhaus ausgebaut haben, begibt sie sich ins Erdgeschoss.
Das vertraute Geräusch einer fernen Kreissäge dringt für einige Sekunden durch das gekippte Fenster in die Küche, dann herrscht wieder Stille. Jakob ist bereits drüben in der Schreinerei. Er hat gefrühstückt, der Kaffeegeruch hängt in der Luft, seine Tasse steht neben der Spüle. Luna und Elias hingegen schlafen offenbar noch. Wenn die beiden nicht bald aufstehen, riskieren sie, schon wieder den Schulbus zu verpassen.
Friederike Ziegelmeier schaltet den Wasserkocher ein und nimmt die Dose mit dem Pai-Mu-Tan-Tee und eine Kanne aus dem Hängeschrank. Sie spürt die leichte Anspannung, die immer dann von ihr Besitz ergreift, wenn sie ein Bild in sich trägt. So wie heute. Sie spürt Ungeduld, freudige Erwartung – aber auch ein wenig Angst vor dem, was sich in den Tiefen ihres Unterbewusstseins entwickelt hat und bald auf der Leinwand Gestalt annehmen wird.
Als das Wasser sprudelt, schaltet sich der Kocher mit einem dezenten Piepton ab, und sie gießt die Teeblätter in der Kanne auf. Ihr Blick fällt auf die Uhr über dem Esstisch. Der Tee muss mindestens zehn Minuten ziehen. Wenn sie in der Zwischenzeit Monikas Bild aus der Galerie holt, wird sie nachher sofort ins Atelier gehen können.
Die Sonne hat jetzt spürbar mehr Kraft als noch vor einer Viertelstunde. Sie wärmt ihr Gesicht. Friederike mag es, wie der feine Kies unter den dünnen Sohlen ihrer Ledersandalen knirscht. Seit ihre neue Galerie die nach dem Abriss des Geräteschuppens entstandene Lücke füllt, hat der ehemalige Dreikanthof beinahe wieder seine ursprüngliche Hufeisenform – und doch ein viel moderneres, freundlicheres Antlitz.
Im Vorbeigehen wirft sie einen flüchtigen Blick hinauf zu dem kleinen Fenster im ersten Stock der alten Bauernwohnung. Hat sich dort nicht gerade etwas bewegt? Von früh bis spät sitzt er da oben, beobachtet alles, suhlt sich in seinem Hass und seiner Selbstgerechtigkeit. Die Energie, die von diesem verbitterten Greis ausgeht, ist katastrophal. Sie passt perfekt zu der dunklen, bedrückenden Aura, die der ganze noch unrenovierte Hofteil verströmt. Wenn ihr Schwiegervater endlich tot ist, wird Jakob auch die Bauernwohnung von Grund auf umbauen. Für zwei Gästezimmer oder eine geräumige Ferienwohnung dürfte da drin auf jeden Fall Platz sein.
Jakob senior, der letzte Ziegelmeier-Bauer, ist alt und krank. Die Tage, an denen er sein Gift noch verspritzen wird, sind glücklicherweise gezählt. Doch leider ist er nicht der Einzige, der Friederike das Leben in Falkenberg schwer macht. Im Haus hinter ihrer neuen Galerie wohnt Udo, der Ehemann von Jakobs nach Spanien ausgewanderter – manche sagen auch: geflohener – Schwester. Einen drei Meter hohen, blickdichten Zaun hat er auf die Grundstücksgrenze gesetzt, der das ausgeklügelte Beleuchtungskonzept des Ausstellungsgebäudes zunichtemacht. Außerdem erstattet Udo bei jedem noch so geringen Anlass Anzeige gegen sie, sodass sie seit Jahren ständig irgendwelche Gerichtsverfahren am Hals haben. Und als wäre es damit nicht genug, hat er, der noch nicht mal offiziell geschieden ist, in seiner verzweifelten Suche nach einer neuen Frau zuletzt damit begonnen, Friederikes Schülerinnen zu belästigen.
Und Josef Brandstätter, der andere Nachbar, dessen Hof hinter der alten Bauernwohnung beginnt, stellt zufälligerweise immer genau dann seinen undichten Odelwagen vor die Einfahrt der Ziegelmeiers, wenn das alljährliche Sommerfest mit Friederikes Mal- und Yogaschülerinnen stattfindet. Einmal ist ein Rinnsal der stinkenden braunen Brühe bis unter die bereits aufgestellten und dekorierten Stehtische gelaufen und dort im Boden versickert. Der Geruch war so unerträglich, dass sie die Feier trotz drückender Hitze ins Haus verlegen mussten.
Das Leben in Falkenberg ist für Friederike oft ein erbitterter Stellungskrieg. Aber wenn diese Hinterwäldler glauben, dass sie kapitulieren wird, haben sie sich getäuscht.
Mitten auf dem Hof bleibt sie stehen und hält einen Moment lang inne. Der Tag hat so gut begonnen. Sie muss besser auf ihre Gedanken achten, sonst werden ihre negativen Emotionen sie noch aus der Bahn werfen. Wut und Ärger können zwar hervorragende Antriebskräfte sein – aber im Augenblick will Friederike sich nur auf sich selbst konzentrieren.
Sie legt den Kopf in den Nacken. Das unwiderstehliche Blau des Himmels, die Farbe dieses Morgens. Eine halbe Minute verstreicht, sie atmet bewusst, den Blick immer noch nach oben gerichtet, und spürt, wie sich die Dunkelheit zurückzieht und sie langsam ihren inneren Frieden zurückgewinnt.
Im Bereich vor der Galerie hat Friederike ein Blumenbeet angelegt und ein paar Büsche gepflanzt. Nur ein schmaler Pfad führt durch diese natürliche Barriere, die symbolisieren soll, dass dahinter ein geschützter Bereich beginnt. Gerade stehen die Hortensien in voller Blüte, ihr Duft wirkt auf die Seele wie ein reinigendes Bad. Während Friederike vor die Nische tritt, in der sich die Eingangstür zur Galerie befindet, sucht sie an ihrem Bund nach dem richtigen Schlüssel. Erst als sie den Kopf wieder hebt, sieht sie das Paar weit aufgerissener, toter Augen.
Sie will schreien, doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Ein kühler Windhauch streicht um ihren Nacken, eine kleine Wolke schiebt sich vor die Sonne und raubt allen Farben ihre Kraft. Vor ihr liegt, was vom Menschen übrig bleibt, wenn ihn das Göttliche verlassen hat. Der Schlüsselbund fällt klirrend auf den Boden, der Schulbus fährt am Hof vorbei und lässt den Boden erzittern. Das Bild, das Friederike in sich getragen hat – es ist unwiederbringlich verloren.
»Ois klar? … Auf geht’s!«
Die raue Stimme des Feuerwehrkommandanten ist das Letzte, was Lorenz hört, bevor er in die Dunkelheit sinkt. Mit jedem Meter wird es düsterer um ihn herum. Er atmet ein, die Luft ist jetzt schon deutlich kühler und riecht nach abgestandener Feuchtigkeit. Der nur etwas mehr als eine Armlänge von seinem Gesicht entfernte Fels verliert nach und nach die Feinheiten seiner Struktur, erscheint erst dunkelgrau, dann fast schwarz. Noch ein wenig weiter und er wird endgültig nichts mehr sehen. Moment – so kann das nicht funktionieren!
»Halt!«
Das Funkgerät braucht er hier noch nicht. Sein Ruf ist in dem engen Schacht kaum verklungen, da spürt er schon einen Ruck, und seine Abwärtsbewegung stoppt. An dem fingerdicken, mit einem Karabiner an seinem Hüftgurt befestigten Seil wippt er ein wenig auf und ab.
Die Lampe! Da oben, auf der riesigen Terrasse, die den gesamten Platz vor der rückseitigen Fassade des Schlosses einnimmt und über den etwa zwanzig Meter entfernten Brunnen hinausreicht, wimmelt es von Feuerwehrleuten, die sich mit all diesen Dingen viel besser auskennen als er. Und trotzdem ist niemand von ihnen auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, dass er die Lampe an seinem Helm einschalten soll, bevor es losgeht. Er hebt einen Arm. Mit den Schutzhandschuhen tut er sich schwer, den Schalter zu ertasten. Ah, jetzt! Plötzlich wird es heller, ein Lichtkegel tastet die Wand ab, sobald er den Kopf bewegt.
»Okay, weiter!«
Wieder ein sanfter Ruck, als oben der Mechanismus in Gang gesetzt wird. Das Seil läuft über eine Spule, die über eine Art Kran mit einem der schweren Löschzüge der Falkenberger Feuerwehr verbunden ist. Beim ersten Anblick dachte Lorenz, es sei ein Abschleppwagen. Jetzt hat jemand wieder den Schalter umgelegt, die Winde dreht sich, und er schwebt weiter hinab in die Tiefe.
Querrillen im Fels, Spuren der Werkzeuge, mit denen Bergleute vor knapp achthundert Jahren Stück für Stück in den Rotsandstein vorgedrungen sind. Mindestens zwei Jahre Schwerstarbeit für die etwa fünfzig Meter bis zur wasserführenden Schicht. Immer mehr kleine, quadratische Löcher, in die Gerüstbalken gelegt wurden, ziehen an ihm vorüber. Vor Jahrhunderten arbeitete man noch ohne Stirnlampe, Schutzweste und Helm in der Tiefe, dafür aber mit offener Flamme. Sie spendete nicht nur das nötige Licht, sondern zeigte auch an, ob die Luft noch genügend Sauerstoff enthielt.
Lorenz trägt ein Funkgerät und eine Digitalkamera bei sich, außerdem hängt ein Multigas-Detektor an seinem Gürtel, der beim kleinsten Ausschlag einen Alarm auslösen würde. Abgesehen davon wurde schon in den vergangenen Tagen von der Feuerwehr immer wieder Frischluft in den Schacht gepumpt. Er ist also bestens versorgt, befindet sich auf einer Art Luxustrip in die Unterwelt des Mittelalters. Trotzdem fühlt sich der Historiker alles andere als wohl.
Dr. Brenner hofft auf den ganz großen Fund. Irgendetwas Sensationelles, Spektakuläres, vielleicht auch etwas Wertvolles. Jedenfalls etwas, das die historische Bedeutung von Schloss Falkenberg unterstreicht. Eine Schwertklinge aus dem Spätmittelalter, Münzen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, solche Dinge.
Lorenz weiß, dass die Erwartung des Internatsleiters vollkommen unrealistisch ist. Auf dem Grund dieses Brunnenschachtes liegen wahrscheinlich ein Haufen Geröll, ein paar Hühnerknochen und mit etwas Glück ein verrosteter Löffel oder ein paar Scherben eines vor Jahrzehnten entsorgten, billigen Porzellanservices. Lange verschlossene Räume oder in Vergessenheit geratene Höhlen und Brunnenschächte regen bei Laien zwar zuverlässig die Phantasie an, aber auch in vergangenen Zeiten waren die Schätze, die man an solchen Orten aufbewahrte, eher spärlich gesät. Müll und wertlosen Plunder, den man loswerden wollte, gab es dagegen damals wie heute zuhauf.
Lorenz legt den Kopf in den Nacken, erkennt einen Lichtpunkt, wo er vor ein paar Minuten abgetaucht ist. Wie weit ist er schon ins Erdreich vorgedrungen? Dreißig Meter? Hier unten erscheint ihm der Schacht viel enger als noch beim Einstieg. Was, wenn das Messgerät nicht richtig funktioniert? Würde er jetzt bewusstlos, wäre er verloren. Würde erstickt sein, bevor jemandem etwas aufgefallen wäre. Lorenz atmet schnell, plötzlich kann er seinen eigenen Herzschlag fühlen. Nur immer ruhig bleiben, haben sie oben noch zu ihm gesagt. Die haben leicht reden.
Unvermittelt wird seine Fahrt in die Tiefe gestoppt, dann ertönt ein seltsames Rauschen und Knacken.
»Ois in Ordnung bis jetzt?«
Die Stimme des Feuerwehrkommandanten klingt blechern aus dem Funkgerät in der Brusttasche von Lorenz’ Jacke. Er nimmt es vorsichtig heraus, hält es ins Licht der Grubenlampe und drückt auf den Knopf, den man ihm vorhin gezeigt hat.
»Ja, alles in Ordnung.« Seine eigene Stimme dröhnt dumpf in seinen Ohren und erinnert ihn aufs Neue daran, dass er auf engstem Raum zwischen gigantischen Felsmassen gefangen ist. Er spürt, wie Schweißperlen auf seine Stirn treten.
»Mia san jetz bei genau … neinadreißg Meter. Sie ham’s boid gschafft.«
»Aha.« Ruhig, nicht zu schnell atmen. Neununddreißig Meter, tiefer, als ein Hochhaus hoch ist. Und als der Maibaum, der im Frühling auf dem Viktualienmarkt aufgestellt wurde. Lorenz schließt die Augen. An etwas Schönes denken.
Ein lauer Sommerabend vor vierzehn Tagen, die tief stehende Sonne, ein gemeinsamer Spaziergang nach dem Essen. Schwabing, der Englische Garten. Noch bis zur nächsten Biegung und dann wieder bis zur nächsten, um sich nicht voneinander trennen zu müssen. Das Gespräch läuft wie von selbst. Lorenz ist witzig, aber nicht albern, er hat ihr vorhin ganz nebenbei ein Kompliment gemacht, und sie hat zu Boden gesehen und ein wenig verlegen gelächelt, ihren Panzer abgelegt.
Dann bleiben sie beide plötzlich stehen, wie auf ein geheimes Signal hin, ihre Blicke treffen sich, das unvergleichliche Blau ihrer Augen. Etwas hat sich verändert, Lorenz weiß, es ist der richtige Moment. Jetzt oder nie! Er beugt sich leicht nach vorn, neigt den Kopf, ihr Mund öffnet sich kaum merklich. Seine Hände zittern vor Aufregung, sein Herz droht zu zerspringen. Als seine Lippen ihre berühren, hat er für einen Augenblick Angst, ohnmächtig zu werden. Dieses seltsame Gefühl in seinem Bauch, zuerst nur ein starkes Kribbeln, doch dann krampft sich etwas zusammen.
»Ich …« Lorenz spürt, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt. »Es tut mir leid, ich …«
»Herr Kastner?« Der Kommandant klingt jetzt besorgt. »Basst bei Eana da untn wirklich ois? Gibt’s a Problem?«
»Nein, alles gut.« Zwei tiefe Atemzüge, leichter Fäulnisgeschmack auf der Zunge. Im Boden versinken und für immer verschwunden bleiben, das kann auch eine verlockende Vorstellung sein. Hängt alles von der Perspektive ab. Er räuspert sich. »Wir können weitermachen!«
Der dürre Sozialpädagoge, der sich bei seiner Vorstellung als »Coach« betitelt hat, rückt die Nickelbrille auf seiner Hakennase zurecht und kratzt sich dann nachdenklich am fast kahlen Kopf, während er den Fragebogen überfliegt. Schließlich verzieht er das Gesicht zu so etwas wie einem Lächeln, wobei er ungeniert seine schiefen, bräunlich gelben Zähne zur Schau stellt.
»Sie sind eindeutig rot, Frau Stahl. Sehr schön, damit hätten wir alle vier Farben vergeben.«
Er drückt der Hauptkommissarin ein quadratisches, mit knallroter Folie beklebtes Stück Karton in die Hand.
»Rot?«, raunt Heinrich Schmitterer, der im Stuhlkreis direkt neben ihr sitzt. Er schwitzt auffällig und fächert sich mit seinem grünen Quadrat Luft zu. »Ich wusste gar nicht, dass du so dominant bist.«
Tamara findet, dass dieser Seminarraum für acht Leute plus einen Sozialpädagogen entschieden zu klein ist. Nicht nur, weil sich das einzige Fenster nur minimal kippen lässt und draußen die Sonne vom Himmel brennt, weshalb es hier drinnen in den nächsten Stunden bestimmt noch heißer und stickiger werden wird. Sondern auch, weil es nur wenige Menschen gibt, die sie gut kennt und mit denen sie es auf engstem Raum aushalten kann.
Ihr Kollege Heinrich Schmitterer gehört jedenfalls nicht dazu, ebenso wenig Josef Burger, der ihr direkt gegenübersitzt und dessen Augen wegen der paar Gräserpollen, die es durch die winzige Fensteröffnung ins Zimmer geschafft haben, schon wieder ziemlich gerötet sind. Von Dominik Zeller, ihrem Vorgesetzten, ganz zu schweigen. Wenigstens muss der im Stuhlkreis auf seinen albernen Sitzball verzichten und sich wie alle anderen mit einem unbequemen, rückenschädlichen Standardmöbel zufriedengeben.
Zeller redet mit gedämpfter Stimme auf Sonja Fuhrmann von der Kriminaltechnik ein, die zu seiner Linken sitzt. Wahrscheinlich erklärt er ihr, warum sie ein gelbes Quadrat in der Hand hält, genau wie er. Das würde Tamara allerdings auch gern wissen. Sonja Fuhrmann ist zielstrebig, kompetent und bescheiden, außerdem sehr kollegial, aber nicht aufdringlich. Sie und ihr Chef haben nun wirklich nicht viel gemeinsam.
»So!« Der Sozialpädagoge, der eben noch zwei von Tamaras Kollegen gebeten hat, ihre Plätze zu tauschen, klatscht aufmunternd in die Hände. »Dann wären wir so weit. Jeder und jede von Ihnen hält seine – beziehungsweise ihre – Farbe in der Hand, die einen der vier Grundtypen symbolisiert, über die wir bereits gesprochen haben.« Er deutet auf das Flipchart, auf dem den Farben Gelb, Grün, Blau und Rot jeweils eine Reihe von Eigenschaften zugeordnet ist.
»Dadurch haben Sie vielleicht schon etwas mehr voneinander erfahren«, fährt er fort. »Ein guter Beginn, denn für erfolgreiche Teamarbeit ist es unerlässlich, sich in seine Mitstreiter hineinversetzen zu können. Wir werden nun eine kleine Übung machen, die –«
Ein leises, aber irritierendes Summen ertönt in kurzen Abständen.
»Entschuldigung!« Dominik Zeller springt auf, sein Handy in der Hand. Eine Sekunde später ist er schon am Telefon. »Zeller. – Ich hoffe, es ist wirklich wichtig, Frau Beifuß. Sie wissen doch, dass ich heute …« Seine Stimme verklingt, als er die Tür des Seminarraums hinter sich zuzieht.