Inhalt
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Mit unzufriedener Miene …
Kapitel 2 – »Guten Morgen!« Die …
Kapitel 3 – Freitag, Viertel nach …
Kapitel 4 – Mit großen Schritten …
Kapitel 5 – Es waren vier …
Kapitel 6 – Ein elektronischer Singsang …
Kapitel 7 – »Lisa, kommst du …
Kapitel 8 – Auf Mos Anraten …
Kapitel 9 – Kelly brauchte Mo …
Kapitel 10 – Das Tieler Krankenhaus …
Kapitel 11 – Die Türklingel schrillte …
Kapitel 12 – Verärgert schaltete Joost …
Kapitel 13 – Am nächsten Morgen …
Kapitel 14 – Die herrlichen Tage …
Kapitel 15 – Lisa fuhr mit …
Kapitel 16 – Lisa kam erst …
Kapitel 17 – Samstagnachmittag. Die Türen …
Kapitel 18 – Melvin war ein …
Kapitel 19 – Der Junge, den …
Kapitel 20 – Es regnete, als …
Kapitel 21 – Lisa nahm die …
Kapitel 22 – »Was machen wir …
Kapitel 23 – Lien machte ihr …
Kapitel 24 – Lisa hörte Schritte …
Kapitel 25 – Bart freute sich …
Kapitel 26 – »Ich bin verletzt …
Kapitel 27 – Sie hatten Lille …
Die sieben Schritte eines Loverboys
Nachwort der Autorin
Alle Titel von Helen Vreeswijk im Loewe Verlag
Über die Autorin
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Impressum
Mit unzufriedener Miene musterte Lisa ihr Spiegelbild. Heute ging alles schief. Sie hatte einen neuen Pickel neben der Nase entdeckt und ihre Lieblingsbluse war anscheinend eingelaufen: Sie zwickte unter den Achseln. Ihre Jeans schlotterte ihr um die Beine und zu allem Überfluss sahen ihre Haare unmöglich aus. Sie fluchte leise und zog sich zum vierten Mal das Zopfgummi aus dem Haar. Wie ein schwerer Vorhang fielen ihr die langen pechschwarzen Haare über die schmalen Schultern.
»Schrecklich …«, murmelte sie. »Mit dem Pferdeschwanz sehe ich aus wie zehn. Vielleicht sollte ich sie besser hochstecken oder …«
»Lisa … Lisa!«, rief Frau Aldra von unten. »Beeil dich bitte! Sonst kommst du wieder zu spät zur Schule. Jeden Tag das gleiche Theater! Ich werde noch verrückt bei dem Getrödel!«
»Es ist auch nicht leicht, etwas Gescheites in meinem Kleiderschrank zu finden«, brüllte Lisa zurück. »Und mit dieser blöden Frisur kann man auch nichts anfangen.«
Sie warf die Bürste aufs Bett, verließ mit großen Schritten ihr Schlafzimmer und donnerte die Treppe hinunter.
»Deine Haare sind wunderschön, und was deine Kleidung betrifft –«
»… die ist aus dem letzten Jahrtausend!«, beendete Lisa den Satz. Sie lehnte sich an den Türrahmen und sah ihre Mutter herausfordernd an.
»Ich höre schon«, seufzte Frau Aldra. »Du hast eine miese Laune. Schlecht geschlafen?«
»Das hat damit nichts zu tun. Guck doch selber. Ich sehe doch nicht aus wie eine Fünfzehnjährige!«
»Du siehst ordentlich aus.«
»Ich will aber nicht ordentlich aussehen. Ordentlich sein ist out. Ich möchte auffallen und coole Klamotten tragen. Jeans mit Rissen, ein Nabelpiercing oder einen Ring durch die Braue wie Sonja.«
Frau Aldra lachte. »Kommt gar nicht infrage.« Sie schob eine Plastikbox über die Anrichte.
»Was ist das?«
»Deine Pausenbrote natürlich. Die Brottüten sind alle, deshalb habe ich dir die Brote in die Butterbrotdose gepackt.«
»Eine Butterbrotdose?« Lisas Stimme überschlug sich. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr! Gib mir lieber fünf Euro, dann hole ich mir was in der Kantine.«
»Hör mal, Lisa, das ist viel zu teuer!«
»Teuer, teuer … Dir ist immer alles zu teuer!«, meckerte Lisa, während sie sich die Plastikbox schnappte. Ungehalten zog sie den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und stopfte sie hinein.
»Wir haben nun mal nicht so viel Geld«, antwortete ihre Mutter ruhig. »Du weißt, dass ich alles allein verdienen muss. Aber so schlimm ist es auch nicht! Du übertreibst mal wieder. Es geht uns nicht schlecht.«
»Ach nein?«, rief Lisa verbittert. »Guck doch mal, wie du aussiehst. Dieses Kleid ist bestimmt schon hundert Jahre alt. Du kleidest dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr modisch. Vielleicht ist das auch der Grund, warum du keinen Mann abkriegst!«
Frau Aldra streckte den Rücken und sah ihre Tochter traurig an. Ihre Stimme wurde kühl. »Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt in die Schule gehst.«
»Das glaube ich auch«, schnaubte Lisa. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und eilte aus der Küche.
Mit einem lauten Knall schlug sie die Haustür hinter sich zu.
Lisa fühlte sich mies. Die letzte Bemerkung hätte sie besser nicht machen sollen, aber es war ihr einfach rausgerutscht. Sie hatte andauernd Streit mit ihrer Mutter, die sie von Tag zu Tag mehr nervte. Sie vermisste ihren Vater so schrecklich! Seit er in diesem Hochhaus in Amsterdam wohnte, sah sie ihn nur noch selten. Er hatte ständig Affären und schon vier Mal seine Familie wegen einer anderen Frau verlassen. Und jedes Mal war er einige Monate später wieder zurückgekommen. Nach Frau Nummer fünf war ihr Vater nicht länger willkommen gewesen. Lisa hatte ihre Mutter angefleht, sich wieder mit ihm zu versöhnen, aber ihre Mutter war unerbittlich: Sie ließ ihn nicht mehr ins Haus. Durch die sture Haltung ihrer Mutter änderte sich alles. Ihr Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen, und ihre Mutter musste eine Stelle bei der Bahn annehmen.
Lisa seufzte tief. Ihre Mutter arbeitete nachts, damit sie tagsüber zu Hause sein konnte. Sie schlief bis in den Nachmittag hinein und nach dem Abendessen ging sie zur Arbeit. Dann war Lisa mit ihrem elfjährigen Bruder Bart allein. Lisa war der Meinung, dass ihr Leben nur noch darin bestand, zur Schule zu gehen, Hausaufgaben zu machen und auf ihren Bruder aufzupassen. Für Vergnügen war kaum noch Zeit. Ihre Mutter hätte ihrem Vater einfach verzeihen sollen. Er wäre doch wieder zurückgekommen … Sie hätte ihren dämlichen Stolz überwinden sollen, wenigstens für ihre Kinder.
Langsam fuhr Lisa auf den Schulhof. Sie stellte ihr Rad in den Fahrradständer, ging über den leeren Platz und betrat das Gebäude. Lisa klopfte an die Tür des Sekretariats und Frau de Vries sah von ihrer Schreibarbeit auf. Automatisch glitten ihre Augen zur Uhr über der Tür.
»Lisa Aldra … Sonst sehe ich dich nie und nun zum zweiten Mal in dieser Woche. Warum kommst du so spät?«
Mit gleichgültiger Miene zuckte Lisa mit den Schultern. »Einfach so …«
»Nun, dann hast du dich diesmal selbst übertroffen. Mehr als zwanzig Minuten zu spät … Gibst du mir mal deine Schülerkarte?«
Lisa holte die Karte aus ihrer Jackentasche und schob sie der Frau hin.
Die Frau machte einen Stempel auf ein leeres Feld. »Das ist dein zweiter roter Stempel. Du weißt: Bei drei Stempeln musst du an einem freien Nachmittag nachsitzen.«
Mit einem säuerlichen Lächeln griff Lisa nach der Karte. »Ich weiß«, sagte sie folgsam.
Die Pause hatte begonnen. Die Schüler des Sankt-Maarten-Gymnasiums standen in kleinen Gruppen auf dem Schulhof zusammen. Lisa und Kelly saßen mit dem Rücken zur Hofmauer und teilten sich eine Dose Cola.
»Und was sagte deine Mutter dann?«, wollte Kelly zwischen zwei Schlucken wissen.
»Nichts.«
»Nichts? Verrückt, meine Mutter würde total ausflippen. Aber sie flippt bei jeder Kleinigkeit aus. Zumindest wenn sie zu Hause ist.«
Lisa zog spöttisch ihre Augenbrauen hoch. »Kleinigkeit? Geld aus ihrem Portemonnaie klauen nenn ich keine …« Den Rest des Satzes schluckte sie runter, als sie Fatiha mit ihren zwei Freundinnen im Gefolge auf sie zukommen sah.
»Da kommt dieser Schreihals«, warnte sie Kelly.
Kelly folgte ihrem Blick, und als sie die Mädchen sah, lächelte sie. »Fatiha ist ganz nett.«
»Für mich ist sie eine Schleimerin«, zischte Lisa durch die Zähne.
»Wie geht’s, Mädels? Ich habe euch gesucht!«, sagte Fatiha, während sie ein paar tiefe Züge von ihrer Zigarette nahm.
»Es ist langweilig, aber wir sind nach wie vor am Leben«, antwortete Kelly. Lisa schwieg und sah an den Mädchen vorbei auf den Schulhof.
»Zigarette?« Ohne eine Antwort abzuwarten, warf sie den beiden eine Zigarette in den Schoß.
Lisa schüttelte den Kopf und hielt die Zigarette in die Luft. »Ich rauche nicht«, sagte sie schroff.
»Habt ihr Lust, heute Nachmittag mit in die Stadt zu gehen? Bisschen die Sau rauslassen, bisschen shoppen?«, fragte Fatiha, während sie die abgelehnte Zigarette zurück in die Packung steckte.
»Ja, toll!«, rief Kelly und knuffte Lisa begeistert in die Seite. »Haben wir was zum Lachen!«
Lisa schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Geld. Geh du allein.«
»He, sei nicht albern. Wenn du nicht gehst, gehe ich auch nicht«, erwiderte Kelly. »Komm, sei kein Spielverderber!«
»Hast du denn Geld? Ich dachte, dass du nach dieser Sache mit dem Geldbeutel schon seit Wochen kein Taschengeld mehr bekommst«, antwortete Lisa.
»Ja, äh … da musst du aber jetzt nicht drauf rumreiten«, gab Kelly zurück. Genervt zündete sie sich die Zigarette an und inhalierte tief.
»Du brauchst doch gar kein Geld«, kicherte Fatiha, während sie bedeutsam in die Runde guckte. »Ich bringe meistens etwas Hübsches mit nach Hause, ohne einen Euro dafür zu bezahlen.«
»Reden wir hier von Klauen?«, fragte Lisa argwöhnisch.
»Wow!« Kellys Augen glitzerten und voller Ehrfurcht sah sie zu Fatiha hoch. »Wir kommen mit«, entschied sie.
»Jesus, Kelly! Da mach ich echt nicht mit!«, rief Lisa. Sie sah Fatiha böse an.
»Mensch, was meckerst du denn so? Wir schauen doch nur, wie sie es tun. Wir gehen mit!« Provozierend blies Kelly ihrer Freundin den beißenden Rauch ins Gesicht.
Die fächelte genervt den Rauch weg und stimmte widerwillig zu. »Okay, aber nur gucken.«
Lisa wusste ganz genau, was Fatiha im Schilde führte. Sie wollte ihr die beste Freundin abspenstig machen. Und um Eindruck zu schinden, dachte sich diese Zicke jede Menge coole Geschichten über Stehlen, Rauchen und Jungs aus, damit sie, Lisa, wie ein Weichei dastand. Aber Kelly war ihre Freundin … Sie würde ihr schon zeigen, dass Fatihas Geschichten alle erfunden waren.
Es läutete zum Ende der Pause und die Schüler kamen langsam in Bewegung.
Nach der Schule radelten Lisa, Kelly, Fatiha und Jasmin in die Stadt. Sie stellten die Räder in einer Seitengasse ab.
»Wir gehen in das große Kaufhaus. Da sind immer viele Leute, aber wenig Personal. Dort wird man nie geschnappt«, behauptete Fatiha.
»Geschnappt?« Darüber hatte Lisa sich noch keine Gedanken gemacht, Kelly anscheinend auch nicht. Sie sah Kelly von der Seite an, aber die hatte nur noch Augen für Fatiha. Aufgeregt trippelte sie hinter Fatiha her. Vor dem Kaufhaus blieben die Mädchen stehen.
»Was wollt ihr haben?«, fragte Fatiha. »Nagellack, Lidschatten, Lippenstift?«
»Nichts«, blockte Lisa ab. Warnend sah sie Kelly an. »So war es ausgemacht.«
»Sei nicht so zimperlich«, explodierte Fatiha. Sie wandte sich an Kelly. »Also, was brauchst du?«
»Nagellack«, sagte Kelly. Sie ignorierte den Stoß, den Lisa ihr verpasste.
Das Quartett ging hinein. Hinter den Auslagen mit Herrenunterwäsche und Socken beobachteten Kelly und Lisa, wie die beiden Mädchen betont lässig durch den Laden schlenderten, bis sie den Nagellack gefunden hatten. Fatiha schaute sich einmal um, dann nickte sie Jasmin zu. Jasmin ließ schnell etwas in ihre Jackentasche gleiten, drehte sich um und verließ den Laden. Auf dem Platz, einige Meter vor dem Kaufhaus, warteten sie aufeinander.
»Das war ja voll einfach!«, rief Kelly begeistert, während sie sich das Fläschchen Nagellack ansah. Ihre Wangen glühten und ihre Augen funkelten herausfordernd. »Wirklich kinderleicht.«
»Ich sagte doch: Es ist ein Klacks. Versuch es selber mal, dann stehe ich Schmiere«, schlug Fatiha vor.
»Nein, lass das. Wir wollten nur zuschauen, Kelly!«, erinnerte sie Lisa empört.
»Sag mal, bist du ihre Mutter, oder was?«, fuhr Fatiha sie an. »Wenn du zu feige bist, ist das deine Sache – aber lass sie ihr eigenes Leben leben!«
Lisas Augen verengten sich und sie biss sich auf die Lippen. »Blöde Kuh«, zischte sie leise. Sie sah zu Kelly rüber, die dämlich vor sich hin kicherte. Lisa war verletzt. Ihre Freundin steckte mit dem Feind unter einer Decke. Sie spürte den Drang, den anderen zu beweisen, dass auch sie Mumm hatte. Dass sie keine blöde Kuh war. Sie wollte Eindruck schinden, nachhaltig Eindruck schinden, damit klar war, dass sie viel interessanter war als Fatiha.
»Dann klaue ich eben selbst was!«, rief Lisa plötzlich. Sie erschrak vor ihren eigenen Worten. »Aber nicht aus dem Kaufhaus, das ist doch gar nichts. Das kann jeder Bauerntrampel!« Sie sah Fatiha herausfordernd an und ging dann mit verschlossener Miene durch die Fußgängerzone.
»Komm, Kelly …« Sie betrat ein Bekleidungsgeschäft, ohne sich umzuschauen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Nerven waren bis zum Äußersten gespannt, aber sie ließ sich nichts anmerken. Ihre Hände zitterten, als sie zwei Blusen von der Stange nahm. Nervös blickte sie über die Schulter in den Laden. Es waren keine Kunden da und die Kassiererin war damit beschäftigt, einige Kleidungsstücke auszuzeichnen. In dem Moment, als die Frau sich bückte, steckte Lisa die Blusen blitzschnell unter ihr Shirt. Angstschweiß lief ihr über den Rücken. Sie drehte sich um und ging mit großen Schritten in Richtung Ausgang. Ihre Füße bewegten sich immer schneller und am Ende rannte sie aus dem Laden. Kelly schaute ihr verblüfft hinterher. Lisa rannte, so schnell sie konnte, über den Platz, durch die Fußgängerzone, in die Gasse, wo ihre Räder standen. Dort lehnte sie sich, völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf, an die Wand. Ihr war übel, aber sie war stolz. Sie hatte es geschafft. Sie hatte diesen blöden Weibern gezeigt, dass sie nicht feige war. So etwas traute sich nicht mal Fatiha.
Kelly kam als Erste in die Gasse gerannt. Johlend umarmte sie Lisa. »Du bist komplett verrückt. Du warst so cool!« Und zu Fatiha und Jasmin, die nun auch keuchend neben ihnen standen: »War sie nicht großartig?«
Die zwei Mädchen nickten.
»Cool«, wiederholte Fatiha widerwillig. Ihre Augen flackerten böse.
Lisa holte ihre Beute hervor und drückte Kelly eine der Blusen in die Hand.
»Hier … die habe ich für dich mitgenommen«, sagte sie heiser. Ihre Stimme zitterte vor Erregung.
»Das ist lieb«, gackerte Kelly dankbar. Sie hielt sich die Bluse unter das Kinn und stolzierte durch die Gasse.
»Steck das Teil in deine Tasche«, herrschte Lisa sie an. Angst stieg in ihr hoch.
Verschreckt spähte sie von der Gasse hinüber in die Fußgängerzone, während sie mit einer nervösen Geste versuchte, Kelly die Bluse wegzunehmen. »Das muss nicht jeder mitkriegen. Lass uns gehen.«
Kelly kicherte und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie ließ die Blusen in die Rucksäcke verschwinden, während Lisa schon auf ihr Rad sprang.
»Wir kommen an der Kneipe von meinem Onkel vorbei. Dort können wir etwas trinken«, schlug Fatiha vor. »Da lang …« Sie bog in eine Seitenstraße ab und die Mädchen folgten ihr.
Die vier setzten sich an einen kleinen Tisch am Fenster und bestellten Cola. Die Beute wurde auf den Tisch gelegt und ging von Hand zu Hand. Lisa fühlte sich unbehaglich und beobachtete die Mädchen über den Rand ihres Glases. Was hatte sie da bloß getan? Wieso hatte sie sich so verrückt machen lassen? Was, wenn sich die Sache herumsprach? Was, wenn ihre Mutter davon erfuhr? Was …?
»Ihr dürft niemandem etwas erzählen«, flüsterte sie plötzlich. »Ich habe zu Hause schon genug Probleme.«
»Natürlich halten wir den Mund, es bleibt unser Geheimnis«, beruhigte Fatiha sie. »Oder?« Sie sah die anderen Mädchen streng an. Diese nickten ergeben.
Lisa holte tief Luft und nippte an ihrer Cola. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und sah zum ersten Mal den Jungen.
Er stand an der Bar, eine Zigarette in der Hand. Sie starrte ihn an. Sein eckiges Gesicht, den dunklen Glanz seiner Haare und seine muskulösen Arme. Der Typ grinste und zog an seiner Zigarette. Plötzlich zwinkerte er ihr zu. Mit hochrotem Kopf wandte Lisa sich ab und fummelte an ihren Nägeln herum. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie er auf sie zukam.
»Fatiha?«, sagte er, als er fast bei ihnen war. »Wer sind diese bildhübschen Damen?« Er hatte eine angenehme Stimme und einen leichten Akzent.
»Das sind Lisa und Kelly«, antwortete Fatiha. »Sie gehen mit mir zusammen zur Schule.«
Er zwinkerte mit den Augen, aber sein Mund blieb ernst. Der Junge streckte die Hand aus und fixierte Lisa mit seinen dunklen Augen. »Ich heiße Mo«, stellte er sich vor.
Lisa sah verwirrt auf seine Hand und hatte das Gefühl, über dem Boden zu schweben. Sie zögerte kurz, aber dann gab sie ihm ihre Hand. Er drückte sie kurz, dann ließ er los, um Kelly, die ihn ebenfalls anstarrte, die Hand zu schütteln.
»Ich bin ein Freund von Fatiha.« Seine Stimme klang sehr melodisch.
»O, tatsächlich«, stammelte Lisa.
»Und wir sind Freundinnen von Fatiha«, gurrte Kelly. Lisa nickte zustimmend.
Mo zeigte lächelnd seine weißen Zähne und sagte: »Freunde von Fatiha sind auch meine Freunde.« Seine Augen wanderten zu Lisa zurück und sahen sie durchdringend an. Eine warme Glut durchströmte sie. Diese Augen … diese wunderschönen Augen.
»Wie ich sehe, waren die Damen shoppen?«, fragte er ironisch, fast ein bisschen verschwörerisch. Lisa erschrak und sah Hilfe suchend zu Fatiha hinüber.
»Die Sachen lagen plötzlich in unseren Taschen, aber wie sie dort hingekommen sind …« Unschuldig zuckte Fatiha mit den Schultern. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Aber da wir keinen undankbaren Eindruck machen wollen, behalten wir sie eben.«
Mo warf den Kopf in den Nacken und lachte los. »Ihr seid ja scharfe Weiber.«
Lisa fühlte sich unsicher; sie wusste nicht, ob sie ernst bleiben oder lachen sollte. Sie entschied sich für Letzteres und kurz darauf hingen die Mädchen wiehernd vor Lachen am Tisch.
»Scharf«, wiederholte Mo grinsend. Er drehte sich um und ging zurück an die Bar. Ein Mann setzte sich auf den leeren Hocker neben Mo und beugte sich neugierig zu ihm hinüber. Mo flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Mann die Mädchen prüfend betrachtete. Er grinste und winkte mit einer Hand. Er war klein und breitschultrig, was ihm die Ausstrahlung eines Gorillas verlieh.
Fatiha winkte zurück. »Das ist mein Cousin Ramon«, sagte sie.
Um zehn nach sechs ließ sich Lisa auf einen Stuhl am Esstisch fallen. Verärgert klopfte Frau Aldra auf ihre Armbanduhr. »Wo warst du denn? Du weißt doch, dass ich um halb sieben zur Arbeit muss. Und ich finde es schön, wenn wir zu dritt essen. Das ist der einzige Moment am Tag, an dem wir zusammen sind und Sachen besprechen können. Durch diese doofen Schichtdienste sehe ich euch ohnehin schon so wenig. Nun musst du alleine essen und das gefällt mir nicht. Wo warst du denn den ganzen Nachmittag?«
»Ich habe mit Kelly zusammen Hausaufgaben gemacht und dabei die Zeit vergessen«, log Lisa. »Sorry.«
»Ja, ja«, brummte Frau Aldra, während sie ihrer Tochter ein Glas Milch einschenkte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Wir haben noch eine Viertelstunde, um uns zu unterhalten.« Sie lächelte. »Und die wenigen Minuten sollten wir uns nicht mit einem Streit vermiesen. Wie war dein Tag?«
»O … wie immer. Nichts Besonderes«, antwortete Lisa.
»Guten Morgen!« Die Stimme klang fröhlich und munter.
Frau Aldra sah auf, als Lisa die Küche betrat. »Dir auch einen guten Morgen, mein Schatz. Wo hast du denn diese Bluse her?«, wollte sie wissen.
»Hab ich mir von Kelly geliehen.« Lisa versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen. Sie hatte diese Frage erwartet und die Antwort vor dem Spiegel eingeübt.
»Leiht ihr euch jetzt Kleider aus?«
»Warum nicht? Kelly hat massig Klamotten, im Gegensatz zu mir.«
Ihre Mutter überhörte die sarkastische Bemerkung und lächelte freundlich. »Sie steht dir sehr gut. Pass aber um Himmels willen gut darauf auf. Sie gehört dir schließlich nicht.«
»Klar.«
»Isst du kein Brot?« Sie schob Lisa den Teller zu.
»Ich hab keinen Appetit.«
»Du solltest aber was essen, Mädchen. Dann kannst du dich besser konzentrieren«, behauptete ihre Mutter und stand auf. »Bart, es ist halb acht!«, brüllte sie unten an der Treppe. »Beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule!« Sie kam zurück in die Küche und beobachtete ihre Tochter.
»Was denn?«, fuhr Lisa sie an. Es machte sie immer verrückt, wenn ihre Mutter sie so anstarrte.
»Du hast übertrieben viel Puder im Gesicht.«
»Das mache ich, damit man meine Pickel nicht sieht. Mein ganzes Gesicht ist voll davon.«
»So schlimm ist es meiner Meinung nach gar nicht.«
»Von wegen! Mein Gesicht sieht aus wie ein Streuselkuchen!«
Frau Aldra lachte auf und setzte sich kopfschüttelnd. »Durch den vielen Puder fällt es erst recht auf. Du siehst aus wie ein Clown.«
»Klar, mach dich nur lustig!«, rief Lisa mit sich überschlagender Stimme. Ihre Mundwinkel zitterten.
»Schätzchen, ich sage es nicht, um …«
»Lass mich einfach in Frieden«, schrie Lisa. Verärgert stürmte sie aus der Küche.
Frau Aldra seufzte tief. Es war ein verzweifelter Seufzer, der aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien.
Der Schulhof des Sankt-Maarten-Gymnasiums bestand aus einem breiten Schattenstreifen und einer sonnigen Fassadenseite. In der Mittagspause saßen die meisten Schüler in einer langen Reihe an der Mauer und genossen die Sonnenstrahlen. Lisa wollte gerade in ihr Pausenbrot beißen, als sie Fatiha auf sich zukommen sah.
»Hoffentlich nervt uns dieses Miststück jetzt nicht jede Pause«, murmelte sie. Sie warf ihr Brot zurück in die Brotdose. Ihr war der Appetit komplett vergangen.
Fatiha blieb stehen und lächelte geheimnisvoll. Sie holte eine Packung Zigaretten hervor und hielt sie Lisa unter die Nase. »Ach nein«, sagte sie zuckersüß. »Du rauchst ja nicht.«
Mit einer Zigarette zwischen den Zähnen ließ sie sich zwischen Kelly und Lisa auf den Boden fallen. Sie stieß Lisa in die Seite. »Mo will dich sprechen.«
Lisa starrte Fatiha mit offenem Mund an. »Warum? Wie…wieso?«, stammelte sie. Sie sah unsicher zu Kelly hinüber, die ihr einen unfreundlichen Blick zuwarf.
»Am besten fragst du ihn das selbst«, antwortete Fatiha und nickte in Richtung Tor. »Er wartet auf dich.«
Mo lehnte lässig an seinem Wagen. Er winkte ihr zu und schnippte einen Zigarettenstummel auf die Straße. Verwirrung und Unglaube machten sich in ihr breit. Was wollte er von ihr? Was war er für ein Typ? Er winkte erneut.
»Jetzt geh schon!« Fatiha gab ihr einen Stoß.
Langsam stand Lisa auf und ging auf ihn zu. Sprachlos starrte sie ihn mit großen, fragenden Augen an.
Er berührte ganz kurz ihre Hand, als er sagte: »Gehen wir nach der Schule irgendwo was trinken?« Sein Lachen war hinreißend.
»Wie?«, fragte sie verdattert. Sie sah ihn an und war sich nicht sicher, ob er sie für dumm verkaufen wollte oder nicht.
»Ich möchte dich näher kennenlernen. Ich finde dich wahnsinnig hübsch.«
Lisa schnappte nach Luft. Ihr Herz schlug wie verrückt.
»O …«, sagte sie verdutzt und hätte sich am liebsten selber eine gelangt. Warum stotterte sie so dumm herum? Warum fiel ihr kein vernünftiger Satz ein? Es war eine so einfache Frage.
Er beugte sich zu ihr vor. Sein Atem roch nach Zigaretten. »Bedeutet das ja?«
Lisa konnte nur stumm nicken.
»Prima, wann treffen wir uns?«
»Halb vier …«, flüsterte sie.
»Dann warte ich hier um halb vier auf dich.« Er zwinkerte ihr zu, stieg ins Auto und raste mit hoher Geschwindigkeit davon.
Benommen lief sie zu Kelly zurück, die sie eifersüchtig ansah.
»Was wollte er von dir?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht«, antwortete Lisa dümmlich. »Wir gehen zusammen was trinken.«
Die Zeiger der Uhr bewegten sich quälend langsam. Lisa schaute alle fünf Minuten nervös auf ihre Armbanduhr, während sie sich überlegte, worüber sie sich mit Mo unterhalten konnte. Es war klar, dass er älter war als sie, viel älter. Gab es etwas Interessantes, was sie ihm erzählen konnte? Was, um Himmels willen, sollte sie zu ihm sagen?
»Ich finde dich wahnsinnig hübsch.« Die Worte hallten in ihrem Kopf nach. Sie biss sich auf die Unterlippe.
Halb vier. Gegenüber vom Schulhof parkte Mos dunkelblauer Sportwagen. Die Fenster waren heruntergelassen und laute Musik schallte durch die Straße. Lässig ließ er einen Arm aus dem Fenster hängen und trommelte mit den Fingern auf die Fahrertür. Als er Lisa aus dem Gebäude kommen sah, pfiff er, bis sie in seine Richtung schaute. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und beschwingt überquerte sie den Schulhof.
»Schön, dass du mitkommst«, sagte er. Höflich öffnete er ihr die Tür. Lisa ließ sich auf den weißledernen Beifahrersitz gleiten und sah herausfordernd zu den Mädchen hinüber, die am Tuscheln waren.
Mo startete den Sportwagen.
»Hattest du einen schönen Tag?«, fragte er, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. Er legte den dritten Gang ein und gab kräftig Gas.
»Wie immer. Ich muss halt zur Schule gehen, das ist ziemlich langweilig.«
Mo grinste sie von der Seite an. »Ich weiß, was du meinst. Schule ist ätzend.«
Er zog am Lenkrad und die Reifen quietschten laut in der Kurve. Mit einem Schlag kam das Auto vor dem Café Proost zum Stehen. »Bleib noch kurz sitzen«, sagte er mit einem Augenzwinkern. Er sprang locker aus dem Auto, öffnete die Beifahrertür und reichte ihr seine Hand. Wie ein Gentleman half er ihr aus dem Sitz hoch und begleitete sie zur Tür. Sie spürte den Druck seiner Hand auf ihrem Rücken, als sie die Kneipe betraten.
»Setzen wir uns dorthin«, sagte er und zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke. »Was magst du trinken? Eine Cola?«
Sie nickte und schlängelte sich an den anderen Tischen vorbei.
An der Bar verstummten die Gespräche. Alle sahen in ihre Richtung. Unsicher fummelte sie an der Tischdecke herum, bemüht, die neugierigen Blicke zu ignorieren.
Plötzlich erklang eine Stimme: eine dunkle, donnernde Männerstimme. »Was soll das? Habt ihr noch nie ein Mädchen gesehen?«
Es war die Stimme von Ramon, der mit seiner frechen Art die Leute zur Ordnung rief. Er nickte ihr freundlich zu. Dankbar nickte sie zurück.
Mo stellte ein Glas Cola und eine Flasche Bier auf den Tisch und schob seinen Stuhl nah an sie heran. Aus seiner Jackentasche holte er eine Packung Shagtabak und hielt sie ihr hin.
»Willst du eine rauchen?«
»Ich rauche nicht.«
»Findest du es schlimm, wenn ich …«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie schnell. Sie beobachtete seine Hände, die geschickt den Tabak in das Zigarettenpapier drehten.
»Ich fand es schrecklich«, durchbrach er plötzlich die Stille.
Sie erschrak. »Wie meinst du das?«
»Das Warten …«, sagte er. »Ich fand das Warten schrecklich.« Die Zigarette klebte an seinen Lippen und bewegte sich bei jedem Wort auf und ab.
»Es kam mir vor, als würde es eine Ewigkeit dauern, bis es halb vier war. Ich wollte dich so gerne wiedersehen.« Er sah sie durchdringend an.
Sie fühlte, dass sie bis über beide Ohren rot wurde. Du lieber Himmel, sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte.
»Ja? Doof …«
Doof … Wie konnte sie nur eine so dämliche Antwort geben! Was würde er sich jetzt denken? Sie benahm sich wie eine blöde Kuh. Krampfhaft versuchte sie, ihre Aufregung in den Griff zu bekommen. »Ich finde dich auch sehr nett … äh, nein … ich meine«, stammelte sie und fragte dann schnell: »Wie alt bist du?«
»Zweiundzwanzig. Aber das Alter ist nicht wichtig, es geht um die Gefühle. Was zählt ist, was du hier fühlst.« Um den Satz zu unterstreichen, klopfte er sich auf die Brust. Dorthin, wo sich das Herz befand.
»Das stimmt«, bestätigte sie.
Eine unangenehme Stille machte sich breit. Weil sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, nahm sie einen Schluck von ihrer Cola, aber das Glas zitterte in ihrer Hand.
»Du trägst ja deine neue Bluse. Die Farbe steht dir richtig gut!«
Sie lächelte verlegen.
»Hast du einen Freund?« Er zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus.
»Nein!« Ihre Stimme überschlug sich. Um ihre Antwort zu unterstreichen, schüttelte sie energisch den Kopf.
»Ein Glück«, sagte er leise. »Ich mag nämlich keine Konkurrenz.« Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln und sie schmolz dahin.
Alle Unsicherheit und Schüchternheit fielen von ihr ab und sie lachte laut. »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein«, beruhigte sie ihn. »Ich bin nicht so schnell verliebt.«
Er legte seine Hand auf ihre und diese Berührung verursachte ihr eine Gänsehaut.
»Ach nein?« Er zog einen Flunsch. »Habe ich keine Chance? Und wenn ich mich anstrenge?«
»Vielleicht, wenn du dich richtig anstrengst …«, neckte sie ihn.
Er beugte sich ganz nah zu ihr vor und sagte leise: »Ich weiß schon, was du willst.«
Sie sah ihm in die Augen. Seine dunklen, geheimnisvollen Augen faszinierten sie.
Dann küsste er ihre Lippen. Er küsste ihre Augen, ihr Haar und dann wieder ihren Mund. Kurz verkrampfte sie sich, dann aber erwiderte sie seine Küsse voller Hingabe.
Lisa saß in der Essecke und leierte deutsche Präpositionen herunter, die sie morgen für einen Test beherrschen sollte. »Mit, nach, seit, von, zu …« Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aber andauernd geisterte ihr Mos Gesicht durch den Kopf. Sie war noch nie so verliebt gewesen. Bei ihm fühlte sie sich so anders, so … vollkommen. Sie fand, dass sie von Glück sprechen konnte, dass ein so schöner Junge sich in sie verliebt hatte. Schließlich konnte er jedes Mädchen haben.
Lisa starrte auf den Text. Die deutschen Wörter begannen vor ihren Augen zu tanzen und verwandelten sich in längliche Flecken und Punkte. Sie schlug das Heft zu. So hatte es keinen Zweck. Sie würde erst duschen und danach, sobald sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, weiter für den Test lernen.
Gerade als sie aus dem Zimmer gehen wollte, hörte sie ein Auto hupen. Laut und penetrant. Das konnte doch nicht …? Er hatte gefragt, wo sie wohnte, aber nein, die Idee erschien ihr absurd.
Lisa ging zum Fenster und suchte die Straße ab. Die Gärten der Einfamilienhäuser wurden spärlich von einigen Straßenlaternen beleuchtet. Die Hupe erklang erneut, ein-, zwei-, dreimal. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blendeten zwei Scheinwerfer auf, ab und wieder auf. Ein Mann sprang aus dem Wagen und winkte mit beiden Armen: Es war Mo.
Lisa stürzte aus dem Wohnzimmer in den Flur. Damit er nicht glaubte, sie hätte die ganze Zeit nur auf ihn gewartet, blieb sie noch einen Moment im Flur stehen, bevor sie die Haustür öffnete.
»Mo?«, rief sie überrascht.
»Hallo, meine Schöne.« Er küsste sie auf die Wange. »Ich wollte dir ein bisschen Gesellschaft leisten. Deine Mutter arbeitet doch, oder? Schau …« Er hielt eine Plastiktüte hoch. »Ich habe ein Video ausgeliehen und etwas zum Naschen mitgebracht.«
»Nein, Mo, lieber nicht. Meine Mutter ist bestimmt nicht einverstanden«, sagte Lisa gehetzt. Sie machte eine entschuldigende Geste. »Mein Bruder ist auch da, und ich –«
»Es passiert nichts. Wir setzen uns einfach auf die Couch und schauen uns in Ruhe den Film an.« Er nahm sie in die Arme und sah sie flehend an. »Bitte, mein Schatz, ich möchte so gerne bei dir sein. Ich vermisse dich so.«
»Mo …«, wehrte Lisa vorsichtig ab. »Meine Mutter flippt aus, wenn sie erfährt, dass ich Jungs ins Haus lasse. Ich habe ihr noch nichts von uns erzählt.«
»Du schämst dich doch nicht für mich?«, rief Mo erschrocken.
»Nein, natürlich nicht. So eine blöde Frage!«, antwortete sie empört. »Aber meine Mutter ist schrecklich altmodisch. Ich muss sie erst fragen, verstehst du? Und Bart petzt bestimmt, wenn ich dich heimlich treffe.«
Mo nickte verständnisvoll. »Ich verstehe schon. Manchmal können Eltern sehr besitzergreifend sein. Vielleicht klappt’s ja ein anderes Mal. Aber du musst mir etwas versprechen, sonst gehe ich nicht.«
»Was denn?«
»Dass du morgen Abend mit mir ausgehst. Und frage Kelly auch, für Ramon. Dann hat er auch jemanden zum Quatschen. Versprochen?«
Lisa zögerte kurz, aber als sie seinen flehenden Blick sah, gab sie nach. »Okay, einverstanden.«
Er murmelte etwas Unverständliches und küsste sie auf die Lippen. Nach einigen Minuten ließ er sie los und streichelte ihr über die Wange.
»Vergisst du nicht, Kelly zu fragen? Ich hole dich so gegen acht ab.« Er drücke ihr noch schnell einen Kuss auf den Mund und lief dann über die Straße zu seinem Auto. Bevor er davonraste, warf er ihr einen Handkuss zu.
Ja, nun wusste sie es ganz bestimmt. Sie hatte Glück, einen so lieben Jungen gefunden zu haben.
Sie ging ins Haus zurück und schloss langsam die Tür. Es wurde ihr bewusst, dass sie ein Problem hatte. Ein großes Problem. Denn was sollte sie anziehen?
In Panik rannte sie die Treppe hoch und riss ihren Kleiderschrank auf. Sie biss sich auf die Lippe und stieß einen kläglichen Laut aus. Nichts, was im Schrank hing, war geeignet für eine Verabredung mit Mo. Sie konnte unmöglich diese kindlichen Klamotten anziehen. Er würde sie keines Blickes mehr würdigen, wenn er sie so sehen würde! Doch wo, um Himmels willen, sollte sie etwas Passendes für morgen Abend herbekommen? Fieberhaft dachte sie nach. Vielleicht konnte ihr Sparschwein sie retten. Sie krallte sich das Teil vom Regal. Die Münzen rollten über das Bett und sie begann zu zählen. Dreiundzwanzig Euro. Dafür bekam sie noch nicht mal eine Hose. Aber sie konnte ihre Mutter um einen Kleidergeld-Vorschuss bitten oder ihren Vater anrufen und ihn um Geld anhauen.
Freitag, Viertel nach sieben. Summend kam Lisa in die Küche. Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn und schenkte sich einen Becher Kaffee ein.
»Mam, heute Abend gehe ich mit Kelly zu diesem Schulfest, du erinnerst dich? Es wird wahrscheinlich spät werden.«
Ihre Mutter zog die Brauen hoch und blickte sie erstaunt über den Rand ihrer Tasse an. »Welches Fest?«
Lisa sah, dass ihre Mutter sich krampfhaft zu erinnern versuchte. In den letzten Monaten hatte sie alles Mögliche vergessen: Einkäufe, Verabredungen, Versammlungen bei der Arbeit und kürzlich sogar den Geburtstag ihres Bruders Joost. Da war es doch nur logisch, dass sie auch »das Schulfest« vergessen und keinen Babysitter für den Abend engagiert hatte. Müde rieb sich ihre Mutter mit der Hand über die Stirn.
»He, Mam«, rief Lisa und rollte übertrieben mit den Augen. »Du bist wirklich total zerstreut. Ich habe es dir schon vor zwei Wochen erzählt. Ich kann jetzt wirklich nicht mehr absagen. Was machst du denn mit Bart?«
»Tut mir leid, ich habe mal wieder nicht richtig zugehört. Aber keine Bange, ich frage die Nachbarin, ob sie auf ihn aufpassen kann. Geh du nur aus.«
Lisa wurde heiß und kalt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Es war nicht in Ordnung, die Vergesslichkeit ihrer Mutter auszunutzen. Und sie würde ihr auch lieber die Wahrheit sagen, aber dann würde ihre Mutter es ihr bestimmt verbieten. Und von einer kleinen Lüge ging die Welt schließlich nicht unter. Hatte sie etwa kein Recht auf Spaß? Sie durfte gar nicht daran denken, dass ihre Mutter keinen Babysitter finden würde. Dann konnte sie ihre Verabredung mit Mo gleich vergessen. Dann konnte sie zu Hause bleiben, um auf ihren Bruder aufzupassen. Nein, diese Notlüge hatte schon ihre Berechtigung. Sie ignorierte ihr schlechtes Gewissen und sah ihre Mutter mit ausdrucksloser Miene an. »Ich möchte mir heute etwas Neues kaufen. Speziell für die Fete. Kann ich einen Kleidergeld-Vorschuss bekommen?«
Frau Aldra ließ die Schultern hängen und sah sie bedauernd an. »Nein, mein Schatz. Mein Gehalt wird erst nächste Woche überwiesen und ich bin knapp bei Kasse. Tut mir leid …« Als sie Lisas enttäuschtes Gesicht sah, sagte sie: »Warum leihst du dir nicht was zum Anziehen von Kelly?«
Lisa lief rot an. Dank ihrer eigenen Lügen saß sie nun in der Klemme. »Nein, das geht nicht«, fauchte sie verärgert. »Lass nur! Dann rufe ich eben Pa an und bitte ihn um Geld.«
Frau Aldra schnellte von ihrem Stuhl hoch und hielt die Tischplatte dabei so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Kommt gar nicht infrage!«, rief sie mit schriller Stimme. »Ich will nicht, dass du bei ihm um Geld bettelst. Er kümmert sich schon seit Monaten nicht mehr um dich. Der Egoist ist viel zu beschäftigt mit seinem eigenen Leben und seiner neuen Liebe. Da ist kein Platz mehr für seine Kinder. Wenn die Initiative nicht von ihm ausgeht, dann laufen wir ihm bestimmt nicht hinterher. Wir werden ihn nicht um Geld anhauen, hörst du? Wir brauchen seine Almosen nicht. In diesem Haus wird nicht gebettelt«, schrie Frau Aldra und schlug vor lauter Wut mit der Faust auf den Tisch.
»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, schrie Lisa zurück. »So kann ich nicht leben. Nie können wir uns etwas leisten. Nie ist Geld da. Du hast Papa rausgeworfen und wir sind die Leidtragenden. Du immer mit deinem bescheuerten Stolz!«
Die Hand ihrer Mutter traf Lisa an der rechten Wange.
Betäubt starrte sie ihre Mutter an, während sie mit den Fingerkuppen über ihre brennende Wange strich. Es war nicht der Schmerz, der ihre Lippen zum Zittern brachte, eher die Empörung, das Erstaunen. Noch nie hatte ihre Mutter ihr eine Ohrfeige verpasst. Konflikte wurden mit Worten ausgefochten, mit bösen Blicken oder mit Schweigen.
»Er hat uns reingelegt«, zischte ihre Mutter durch die Zähne. »Er hat bei jeder Frau die Hosen runtergelassen, also wage es nicht, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.« Sie versuchte, Wut und Hass unter Kontrolle zu kriegen.
Der staunende Ausdruck auf Lisas Gesicht währte vielleicht fünfzehn Sekunden, dann verwandelte er sich in ein gönnerhaftes Lächeln. Wie zwei Kampfhähne standen sie sich gegenüber, störrisch und böse. Am Ende drehte Lisa sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
»Trau dich bloß nicht, mir die Schuld zu geben«, rief ihre Mutter ihr hinterher.
Langsam trat Lisa in die Pedale ihres Fahrrads. Sie hatte überreagiert. Es war blöd gewesen, ihrer Mutter die Schuld für alles zu geben. Sie tat ihr Bestes, um die Familie glücklich zu machen. Wenn sie das Geld gehabt hätte, hätte sie es Lisa bestimmt gegeben. Aber diesen dämlichen Stolz ihrer Mutter verstand Lisa nicht. Es war doch egal, von wem sie das Geld bekam. Ihr Vater hatte genügend davon und ein Anruf … Was für ein Aufstand wegen einem Anruf! Doch Lisa traute sich nicht mehr, ihn anzurufen; ihre Mutter würde ausflippen. Verschiedene Möglichkeiten gingen ihr durch den Kopf. Letztlich sah sie nur eine Lösung. Sie fuhr mit ihrem Fahrrad die Bordsteinkante hoch und sprang vom Sattel. Auf dem Schulhof sah sie Kelly mit einigen Mädchen zusammenstehen.
»Kelly!« Sie winkte ungeduldig.
Kelly sah sie unfreundlich an. Wahrscheinlich lästerte Fatiha gerade wieder über ihre Mitschüler und Kelly wollte kein Wort davon verpassen. Erst als Lisa sie ein zweites Mal rief, kam sie zum Fahrradständer geschlendert. »Brennt’s, oder was?«, fragte sie verärgert.
»Wir gehen heute Abend aus.«
Nun war Kelly ganz Ohr. »Wir gehen aus? Mit wem und wohin?«
Lisa führte das Kettenschloss durch die Speichen ihres Rads und lächelte geheimnisvoll.
»Jetzt sag schon«, drängte Kelly.
Lisa zog ihre Freundin am Arm unter das Vordach und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Es wird bestimmt ein toller Abend. Ich, Mo, du und Ramon.«
Für einen Augenblick verlor Kelly die Fassung und starrte ihre Freundin ungläubig an. »Ich und Ramon?«, rief sie empört. »Der Typ ist total alt. Was soll ich mit so einem aufgedunsenen alten Sack?«
»Er ist höchstens dreißig. Und was spielt es für eine Rolle, mit wem du hingehst? Du triffst dort genügend andere coole Jungs. Wir machen einfach einen drauf, haben Spaß.« Als sie die Zweifel in Kellys Augen sah, sagte sie schnell: »Fatiha geht wahrscheinlich auch mit. Meinst du, dass du heute Abend wegdarfst?«
Das gab den Ausschlag. »Klar«, sagte Kelly. »Meine Schwester bleibt über Nacht bei ihrem Freund, meine Mutter kommt erst spät nach Hause und mein Vater ist auf Geschäftsreise. Kein Problem also.«
»Super! Aber wir müssen heute Nachmittag noch mal in die Stadt. Ich brauche für heute Abend etwas Neues. Etwas Besonderes.« Lisas Entschluss stand fest. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich ein neues Outfit zu stehlen. Sollte sie geschnappt werden, war es eben die Schuld ihrer Mutter. In Gedanken sah sie sich schon auf dem Polizeirevier sitzen, ihre heulende Mutter neben sich. Alles ihre Schuld. Nur weil ihre Mutter zu stolz war, hatte Lisa ihren Vater nicht anrufen dürfen.
»Ich klaue mir einfach das eine oder andere«, erklärte sie Kelly mit entschlossener Miene.
»Du willst klauen gehen? Erst warst du doch so dagegen!«, sagte Kelly verdutzt.
»Das bin ich noch immer. Aber meine Mutter hat kein Geld.« Sie klang trotzig. »Was soll ich denn machen?«
»Super«, fand Kelly.
Am selben Nachmittag standen die Mädchen vor dem Schaufenster einer Boutique, die für ihre teuren und ausgefallenen Sachen bekannt war. Die Verkäuferinnen stolzierten wie Mannequins durch das Geschäft, gekleidet in Kostümen, die es im Laden zu kaufen gab. Ihre Gesichter waren grell geschminkt, ihre Haare fachmännisch hochgesteckt wie Zuckerwatte.
»Hier willst du etwas stehlen? Bist du noch zu retten? Hier kaufen nur Leute mit viel Geld. Wir fallen voll auf in unseren Jeans. Das klappt nie!« In Kellys Stimme vermischten sich Aufregung und Angst.
»Jetzt pass mal auf«, antwortete Lisa gespielt gleichgültig. »Siehst du dieses rote Kleid? Das hole ich mir.«
Sie hatte einen angespannten Zug um den Mund, als sie die Ladentür öffnete.
Eine Frau in einem eng geschnittenen, schwarz glänzenden Kostüm musterte die Mädchen prüfend. »Kann ich den Damen helfen?«
»Wir wollen uns erst einmal umsehen«, sagte Lisa mit fester Stimme. »Wenn ich etwas gefunden habe, sage ich Bescheid.«
Die dick geschminkten Augen betrachteten die Mädchen belustigt. »Selbstverständlich«, sagte die Frau. »Aber vielleicht solltet ihr lieber –«
Sie wurde unterbrochen vom Summer der Ladentür, als eine neue Kundin den Laden betrat. Die Verkäuferin schien die Frau als eine ihrer besten Kundinnen zu erkennen, denn sie eilte gleich auf sie zu. »Frau Gearisten, wie schön, Sie wiederzusehen!«
Lisa zog Kelly hinter sich her zu den Ständern im hinteren Teil des Geschäfts. Sie fühlte das Blut in ihrem Kopf pulsieren. Gehetzt suchte sie mit zitternden Fingern nach der richtigen Größe. Erneut erklang der Summer an der Ladentür.
»Guten Tag, der Herr …«, flötete eine andere Verkäuferin.
Lisas Augen flitzten von links nach rechts. »Schaut jemand?«, zischte sie.
»Nein, niemand.«
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und stopfte das rote Kleid blitzschnell in ihre Tasche.
»Jetzt ich …«, flüsterte Kelly aufgeregt und schleppte Lisa in die andere Ecke des Ladens. »Ich will den hier.« Kelly zeigte ihr einen dunkelblauen Rock. »Was meinst du?«
»Jetzt mach schon«, drängte Lisa sie, während sie nervös über die Schulter in den Laden spähte. Sie hielt die Tasche geöffnet, während Kelly den Rock vom Bügel herunterrutschen ließ. Sie leckte sich die trockenen Lippen. Langsam und so unauffällig wie nur möglich schlichen die Mädchen zur Ladentür.
»Meine Damen …«
Lisa erstarrte, als sie die Stimme der Verkäuferin hinter sich hörte. Aus den Augenwinkeln sah sie die Frau im schwarzen Kostüm näher kommen. Ihr Herz schlug schneller, Schweiß perlte ihr von der Stirn. Sie waren auf frischer Tat ertappt worden.
»Laufen!« Sie erkannte Kellys Stimme, aber die schien weit weg zu sein.
»Jetzt lauf schon!«, brüllte Kelly ihr ins Ohr. Sie nahm Lisa am Arm und schleifte sie hinter sich her zur Tür. Lisas Füße fühlten sich an, als würden sie nicht zu ihr gehören, benommen und schwer. Die Ladentür schwang auf und die Mädchen rannten hinaus.
Als Lisa das Wohnzimmer betrat, versteckte sie das neue Kleid unter ihrer Jacke.
»Verflixt, Lisa. Du bist schon wieder viel zu spät«, brummte ihre Mutter. Sie sah auf die Uhr, während sie hastig ihren Mantel anzog. »Ich habe den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Ich wollte mit dir über heute früh sprechen.«
»Lieber nicht«, antwortete Lisa, die jeden Augenkontakt vermied. »Wir streiten uns nur.«
»Dann müssen wir zusehen, dass wir das ändern, Schatz.« Die Stimme ihrer Mutter wurde sanft. »Wir sprechen uns morgen. Ich muss jetzt wirklich zur Arbeit. Ich bin schon schrecklich spät dran.«
Lisa wich zurück, als ihre Mutter ihr einen Kuss geben wollte. Sie nickte nur und ging in die Küche.
»Das Essen steht im Kühlschrank, Schatz«, hörte sie ihre Mutter an der Haustür rufen. »Viel Spaß heute Abend.«
Lisa hasste das. Lauter liebe Worte, wodurch sie sich noch schuldiger fühlte. Sie griff unter ihre Jacke und nestelte an dem Kleid herum. Es tat ihr leid, dass sie das Teil gestohlen hatte. So leid … In einem Anfall von Jähzorn zog sie das Kleid hervor und warf es durch die Küche. Minutenlang guckte sie auf den roten Stoffhaufen in der Ecke.
»Du kannst es nicht mehr rückgängig machen«, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. »Was passiert ist, ist passiert. Du kannst das Kleid genauso gut anziehen.«
Sie biss sich auf die Lippe und hob es vom Boden auf.
Das rote Kleid umspannte Lisas Körper wie eine zweite Haut. Ihre Brüste zeichneten sich deutlich unter dem Stoff ab. So aufreizend deutlich, dass sie einige Jahre älter wirkte. Sie kicherte, als sie sich vor dem Spiegel drehte. Ihre Mutter würde einen Anfall kriegen, wenn sie sie in diesem Kleid sähe.