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© 2021 Dr. Christoph Schweiger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlagbild: Ehemaliges Sondersiechenhaus und Weinstadel in Nürnberg, Fotografie Dr. Christoph Schweiger
ISBN: 978-3-7543-5053-9
Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertation, die unter dem Titel „…des Volkes, des man niht enaht… - Soziale Außenseiter und Randgruppen im Spiegel spätmittelalterlicher Chroniken aus dem süddeutsch-österreichischen Raum“ im Jahre 2020 an der Universität Klagenfurt eingereicht wurde. Um die darin behandelten Themen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde der Inhalt für dieses Buch entsprechend gekürzt und adaptiert.
Die spätmittelalterliche Gesellschaft war in erheblichem Maße geprägt von ständischen Unterschieden. Es gab viele Gruppierungen, die aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzt, verachtet und im schlimmsten Falle sogar verfolgt wurden. Die mediävistische Randgruppenforschung macht es sich zur Aufgabe, diese marginalisierten Gruppen zu thematisieren und die gesellschaftlichen Abläufe der Marginalisierung zu analysieren. Der Begriff Randgruppe wurde in die Mittelalterforschung eingeführt, um einen neutralen Zugang zu diesem Thema zu gewährleisten. In der älteren Forschung vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war es noch gebräuchlich gewesen, diffamierende und tendenziös negative Definitionen zu verwenden. Beispiele hierfür wären unehrliche Leute, Pöbel, Gauner oder der durch Marx geprägte Terminus des Lumpenproletariats.1
Die in der modernen Forschung verwendeten Fachausdrücke sind zahlreich. Während man diese Gruppen in der deutschsprachigen Forschung als Randgruppen oder Außenseiter bezeichnet, werden sie im Französischen als marginaux bzw. exclus und im anglikanischen Raum als outcasts, disvalued people oder minority groups bezeichnet.2
Seitens der Forschung wurde seit den 1980er-Jahren mehrmals der Versuch unternommen, diese Gruppen in ein gültiges Schema zu gliedern, doch kam es nie zu einer letztendlichen Lösung. Alle bisher publizierten Modelle und Definitionen bestätigten letztlich nur, dass sich der Begriff Randgruppe wohl dauerhaft einer endgültigen, konsensfähigen Festlegung entziehen wird, wie es Bernd-Ulrich Hergemöller formulierte.3 Auch Gerd Schwerhoff kam zu dem Schluss, dass sich die Historikerzunft wohl von dem Anspruch verabschieden müsse, den Begriff Randgruppe allgemeingültig definieren und abgrenzen zu können.4
Wenngleich es für die wissenschaftliche Arbeit eine erhebliche Erleichterung wäre, das gesellschaftliche Zusammenleben und damit auch soziale Vorgänge wie die Marginalisierung nach naturwissenschaftlichem Vorbild zu kategorisieren, so zeigt sich doch immer wieder, dass menschliche Interaktionen kaum in festgeschriebenen Bahnen verlaufen. Auch werden die regionalen und epochenspezifischen Unterschiede, die insbesondere in der mediävistischen Randgruppenforschung zentrale Probleme darstellen, einer Etablierung festgeschriebener Modelle immer im Wege stehen. Soziale Begriffe lassen sich letztlich nur durch die Beschreibung ihrer Inhalte erklären.5
Eine allzu prägnante Beschäftigung mit Definitionsfragen birgt zudem die Gefahr in sich, den eigentlichen Gegenstand der Randgruppenforschung aus dem Blick zu verlieren: den marginalisierten Menschen als Individuum und dessen Schicksal in der mittelalterlichen Welt. Es gilt daher auch darauf zu achten, die Einzelschicksale nicht aus den Augen zu verlieren.
Die in diesem Buch behandelten Gruppen stellen jene Schichten innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft dar, die sich am inneren Rand der Gesellschaft wiederfanden. Das waren all jene Menschen, die zwar grundsätzlich als Mitglieder der Gesellschaft galten, doch aufgrund entsprechender Normabweichungen, wie z. B. ihrer sozialen Abstammung, ihrer Lebensweise, ihres Berufes oder ihres körperlichen Erscheinungsbildes ausgegrenzt und im Alltag benachteiligt wurden. Ich möchte sie als verachtete Gruppen bezeichnen, da der Begriff Randgruppe meines Erachtens nach nicht in allen Fällen richtig wäre. Auf diesen Umstand werde ich bei der Betrachtung der einzelnen Gruppen noch gesondert eingehen.
Da es dem Historiker nicht zusteht, zu gegenwärtigen sozialpolitischen Fragen Stellung zu nehmen, sollen diesbezügliche Äußerungen unterbleiben. Es wird auch ohne Kommentare an vielen Stellen deutlich, dass uns das Mittelalter selbst im 21. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht näher ist, als es in einer aufgeklärten Gesellschaft der Fall sein sollte. Außerdem ist die Auseinandersetzung mit sozialhistorischen Fragen ohnehin auch immer eine indirekte Auseinandersetzung mit der sozialpolitischen Verantwortung unserer Gegenwart. Oder wie es Gustav Heinemann formulierte:
„Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit dem Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“
1 Frank Rexroth, Mediävistische Randgruppenforschung, S.428.
2 Bernd-Ulrich Hergemöller, Randgruppen, S.1.
3 Ebda., S.3f.
4 Gerd Schwerhoff, Kriminelle als Randgruppe, S.29.
5 Ernst Schubert, Duldung, Diskriminierung und Verfolgung, S.48.
Bettler bildeten innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft keine homogene Gruppe. Bedürftigkeit konnte aus vielfältigen Gründen entstehen. Sie ergab sich unter anderem durch plötzliche Witwenschaft, Verwaisung, hohe Kinderzahl, Arbeitsmangel, Unfälle, Krankheiten oder hohes Alter. Die Bedrohung an Armut zu leiden war aufgrund der steten Gefahr von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemiewellen für den Großteil der mittelalterlichen Gesellschaft ein omnipräsentes Damoklesschwert. Besonders in Notzeiten wurde deutlich, wie schmal die Grenze zwischen der Masse der ökonomisch abgesicherten Bevölkerung und den Hilfsbedürftigen tatsächlich war.6 Besonders Handwerker, Soldaten, Mägde, Knechte und Tagelöhner konnten aufgrund der genannten Umstände schnell dazu gezwungen sein, ihren Lebensunterhalt durch Betteln aufzubessern oder gar gänzlich zu bestreiten. Man kann „den Bettler“ daher keineswegs als eine fest umrissene soziale Figur bezeichnen.
Das Betteln stellte sich im Mittelalter als ein Hilfesuchen dar, das Angehörige aller Gesellschaftsschichten betreffen konnte. Speziell in den Wintermonaten waren viele Arbeiter, die von Taglohn oder von Hilfsarbeiten lebten, auf Almosen angewiesen. Diese waren ein Zusatzerwerb der armen Gesellschaftsschicht, der im 15. Jahrhundert in manchen Städten sogar besteuert wurde.
Der Begriff Betteln bedeutete im Mittelalter zumeist um Brot gehen, das heißt, man bat in schlechten Zeiten in der Nachbarschaft um Naturalien, um die eigene Familie ernähren zu können. Daher begegnet uns in den Quellen häufig die Bezeichnung Brotbettler für jene arme lute, die noch brote gont.7
Bevor ich weiter in die Thematik eingehen kann, erscheint es mir notwendig zu sein, zunächst der Frage nachzugehen, wie der Begriff Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft interpretiert wurde und worin in jener Zeit der Unterschied zwischen armen und reichen Schichten gesehen wurde.
Wie heute wurde auch im Mittelalter Armut als ein materielles Problem, als ein Fehlen von wichtigen Lebensressourcen interpretiert. Einfacher gesagt: Armut zeigte sich durch die stetige Anwesenheit von Hunger und Krankheit. Doch nicht nur materielle und physische Aspekte prägten das Armutsverständnis des Mittelalters. Auch all jene Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, an Ansehen und Einfluss verloren hatten, die nicht mit vollen (Bürger-)Rechten ausgestattet waren, sich nicht selbst verteidigen konnten oder denen es an Bildung fehlte, galten gemeinhin als arme lute.
Es galten also nicht nur jene Menschen als arm, die minderbemittelt waren, sondern darüber hinaus auch alle Abhängigen und Schwachen jeglicher Art. Das mittelhochdeutsche Wort arm bedeutet dementsprechend nicht nur besitzlos und bedürftig, sondern gleichzeitig auch elend, ärmlich und von geringem Stande.8 Michel Mollat hat in seinem Werk Die Armen im Mittelalter den sprachlichen Aspekt von Armut genauestens behandelt. Seiner Ansicht nach ist Armut primär ein Verweis auf die Qualität und nur sekundär auf den Zustand einer Person, die von einem Mangel betroffen war.9 Es gilt daher stets zu berücksichtigen, dass Armut im Mittelalter vielschichtig verstanden wurde. Es gab im Verständnis der Zeit verschiedene Ebenen von Armut, oder wie es Michel Mollat trefflich beschreibt: „Man ist immer ärmer oder weniger arm als ein anderer.“ 10
Im Frühmittelalter unterschied die Gesellschaft zwischen potens (Mächtiger) und pauper (Armer).11 Weshalb man gerade den Mächtigen als Gegenstück zum Armen verstand und noch nicht den dives, also den Reichen, kann dadurch erklärt werden, dass Armut nach frühmittelalterlichem Verständnis weniger von der ökonomischen Lage als von der sozialen Stellung einer Person abhängig war.
Zur Jahrtausendwende tritt diese Interpretation der Armut als Zeichen einer sozial minderen Stellung noch stärker in den Vordergrund. Hier entwickelte sich der potens zu einem miles, also einem Soldaten, einem Waffenträger, der sich im Gegensatz zum Armen verteidigen konnte.12 Man wies also noch stärker auf die Wehrlosigkeit und auf die große soziale Abhängigkeit hin, die der pauper zu ertragen hatte. Im griechischen und lateinischen Sprachraum blieben für die Armut zwei unterschiedliche Begriffe übrig, die sich dauerhaft etablieren konnten. Zum einen πτωχος bzw. ptōchós (altgriech. bedürftig) und zum anderen παυπερ bzw. pauper (lat. für arm).13
War im frühen Mittelalter die Masse der Armen hauptsächlich im ländlichen Bereich zu finden gewesen, änderte sich dies ab dem 11. Jahrhundert mit der zunehmenden Ausbildung des Städtewesens. Man möge sich die grundlegenden sozialen und demografischen Veränderungen vor Augen führen, die in der Phase zwischen 1100 und 1300 in Europa vonstatten gingen.
Die Bevölkerungszahl stieg in dieser Zeit rapide an, von 25 auf rund 50 Millionen Menschen. Die Geldwirtschaft begann die Oberhand gegenüber dem Tauschhandel mit Naturalien zu gewinnen. Und vor allem widerfuhr dem patriarchalischen Sozialgefüge, welches den Grundherren noch eine Schutzpflicht gegenüber ihren Untergebenen auferlegt und somit für eine ökonomische Grundsicherung gesorgt hatte, eine enorme Erschütterung. Durch die Ausbildung einer auf Kapital und Kalkulation basierenden Wirtschaft entstand in weiterer Folge eine neue Berufsgruppe, die häufig von Armut betroffen war oder zumindest dauerhaft an der Grenze zu ihr leben musste: die Gruppe der Lohnarbeiter.14
Durch diesen gesellschaftlichen Wandel kam es auch zu einer Änderung des Gegensatzpaares pauper und potens. Nun war es tatsächlich der Reiche, der dives, der den Gegenpart zum pauper darstellte. Gleichzeitig entwickelte sich ein bis dahin völlig undenkbares Muster der Armut, das man als Phänomen der fleißigen Armut bezeichnen kann.15 Bisher war es grundsätzlich der Fall gewesen, dass man erst dann in die Armut absank, sobald man sämtliche Möglichkeiten verlor, sich selbst um seinen Lebensunterhalt zu kümmern. Die multikausalen Ursprünge dieser Verarmung, wie beispielsweise Krankheiten, habe ich ja eingangs bereits erwähnt. Hier kam es aber nun zu dem Paradoxon, dass der Arbeiter, auf dem Lande ebenso wie in der Stadt, zwar arbeitete, aber dennoch gezwungen war, in ärmlichen Verhältnissen zu leben, da sein Einkommen zu gering war. Die ländliche Bevölkerung konnte sich jedoch in Notzeiten leichter über Wasser halten, während die städtischen Arbeiter eine benachteiligte Position hatten.
Zwar änderte sich ab dem 12. Jahrhundert auch die bäuerliche Struktur zunehmend und viele Kleinbauern verarmten aufgrund der neuen ökonomischen Entwicklungen, aber diesem neu entstandenen ländlichen Proletariat war es dennoch möglich, das Einkommen bzw. die Versorgung wenigstens auf dem Level des Existenzminimums zu halten. Sicherlich spielte hier auch der auf dem Land erheblich erleichterte Zugang zu lebensnotwendigen Nahrungsmitteln eine entscheidende Rolle. Mit den Lohnarbeitern in den Städten hatten die Bauern dennoch eines gemeinsam: die gesellschaftliche Benachteiligung. Sie verfügten über kein Kapital, hatten praktisch keine Ausbildung und litten aufgrund mangelnder Ernährung und harter Arbeit zumeist an entsprechenden Krankheiten, was auch zu einer weitaus geringeren Lebenserwartung führte.16
Dass sich all diese Benachteiligungen gegenseitig beeinflussten, d. h., dass das eine zum anderen führte, ist nachvollziehbar. In den Städten war die Situation der Lohnarbeiter sogar noch prekärer. Sie waren ständig gefährdet, von Hungersnöten heimgesucht zu werden, da diese Berufsgruppe in hohem Maße von den Unternehmern abhängig war. Ein durchschnittlicher Tageslohn reichte meist nicht aus, um eine angemessene Ernährung sicherstellen zu können. Dieses elende Dasein, das geprägt war vom alltäglichen Kampf ums Überleben, war um die Mitte es 14. Jahrhunderts meist der normale Lebensalltag des gemeinen Lohnarbeiters.17
In heutiger Zeit ist das Betteln der letzte Ausweg, wenn alle sozialen Sicherungssysteme versagen. Betteln ist heute ein Akt der Unterwerfung, der Demütigung. Für die mittelalterliche Gesellschaft gilt dieser Befund nur bedingt. Man kann sagen, dass hier nicht unbedingt ein soziales Sicherungssystem versagte, sondern es war vielmehr so, dass die Erlaubnis betteln zu dürfen das soziale Sicherungssystem war. Dies erklärt sich daraus, dass das Betteln und Spenden damals einen ganz anderen Stellenwert im Bewusstsein der Menschen hatte. Thomas von Aquin erklärte das Almosengeben neben dem Beten und dem Fasten zu einer der löblichsten Möglichkeiten, Buße für begangene Sünden zu tun und Seligkeit zu erlangen.18
Die Bettler erfüllten, wenn man so will, eine wichtige gesellschaftliche Funktion, nämlich jene der Rettung des Seelenheils. Almosengeben war damit Bestandteil eines mehr oder minder unausgesprochenen Gesellschaftsvertrags: Es gehörte einerseits zur Pflicht der Besitzenden, andererseits nahmen die Spender auch die Empfänger der Almosen in die Pflicht. Deren Aufgabe war es nämlich, sozusagen als eine Art vertraglicher Gegenleistung, für den großzügigen Spender zu beten. Bei den Almosenstiftungen stand daher weniger das Problem der Armut im Mittelpunkt, sondern vielmehr das Seelenheil und das Seelgedächtnis des Stifters.
Der Arme stand im frühen und hohen Mittelalter keineswegs am Rande der Gesellschaft, sondern muss vielmehr als ein integratives Glied derselben interpretiert werden. Der Arme und der Reiche waren beide Mitglieder der Societas Christiana.19
Das Geben von Almosen verstand sich allerdings nicht nur als Sicherung des Seelenheils oder als Geste der uneingeschränkten christlichen Nächstenliebe gegenüber bedürftigen Mitmenschen. Es war vielmehr auch ein Zeichen der Standeszugehörigkeit. Nur wer es sich leisten konnte, war in der Lage, Almosen im großen Stil zu vergeben. Vor allem im Adel betätigte man sich als Almosenstifter, um die memoria, das Andenken nach dem Tode, zu fördern. Im Spätmittelalter bemühten sich auch zahlreiche Angehörige des Stadtpatriziats durch karitative Stiftungen für sich und ihre Familienangehörigen ewiges Seelenheil zu erlangen. Ein Beispiel für eine solche Stiftung ist für das Jahr 1364 aus Augsburg überliefert. Ulrich Ilsung, Abkömmling einer wohlhabenden Augsburger Patrizierfamilie, bestimmte in diesem Jahr, dass fortan an jedem der vier Liebfrauenfeiertage Geld an die Armen der Stadt verteilt werden sollte. Er hatte zuvor ein Darlehen von 1280 Pfund Pfennigen, das die Stadt zur Errichtung der Stadtmauer beim Domkapitel aufgenommen hatte, abgelöst und dafür mit 40 Pfund Pfennigen weniger Zinsen genommen als das Domkapitel. Diese jährlichen Zinsen nahm er jedoch nicht in sein persönliches Vermögen auf, sondern funktionierte sie zu einer langfristigen Armenspende um.20 Ilsung tätigte damit sozusagen eine Zukunftsinvestition mit der Erwartung einer jenseitigen Rendite.
„Item 1364 jaur das die thumherren, die dem rad und stat ze Augspurg gelichen hötten auf den saltzstadel 1280 Augspurger grossw lb. dau von gaben die von Augspurg den korherren hye allen jaur 64 grossw lb. das löst ab ein purger, der hieß Ilsung. daurumb gab man im ze kauffen ab dem hauß 40 lb. grossu lb. Augspurger, die man denn geyt ze den vier unser lieben frawen tag oder abent auf dem saltzstadel yedem armen menschen ein pfenning dau für.“ 21
Eine groß angelegte Spende war gleichzeitig auch ein Statussymbol des reichen Mannes. Schließlich wurden Almosen von oben nach unten vergeben. Die Wohltätigkeit fand nicht zwischen zwei gleichrangigen Personen statt. Auch musste keineswegs eine soziale Beziehung zwischen Almosenempfänger und Almosengeber bestehen. Das liegt daran, dass Almosenvergabe sich nach mittelalterlichem Verständnis nicht an die arme Person selbst richtete, sondern vielmehr auf die Beseitigung des sichtbaren konkreten Mangels abzielte. Häufig wurde der Arme selbst lediglich als das Objekt des Almosenaktes gesehen.22 An dieser Stelle sei dennoch darauf hingewiesen, dass auch in der mittelalterlichen Gesellschaft das Mitleid mit in Not geratenen Menschen als Motiv keineswegs ausscheidet. So stellt Ernst Schubert richtig fest:
„Ging es um das eigene Seelenheil oder ging es nicht auch um die Erschütterung angesichts der Not von Mitmenschen? Die Frage ist unlösbar; in die Herzen toter Menschen können wir nicht mehr blicken.“ 23
Eine persönliche Ebene der Wohltätigkeit scheint es jedenfalls nicht immer gegeben zu haben. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts lässt sich ein regelrechter „Boom“ der Almosengaben feststellen. Armut wurde jetzt als Verweis auf die Armut Christi interpretiert und der Arme erhoffte sich gewissermaßen eine Art Partizipation an der Würde der Armut Christi. Dieser Wandel schlug sich auch im Wortgebrauch nieder. So galten nun nicht mehr nur die Mönche und frommen Einsiedler als pauperes Christi, sondern alle in Armut lebenden Menschen.24
Der Kirche kam während des gesamten Mittelalters die größte Rolle in der aktiven Armenfürsorge zu. Schon Augustinus sah im Überfluss der Reichen die Ursache für den Mangel der Armen begründet, weshalb man sich um diese kümmern sollte. Armut galt nach der christlichen Lehre grundsätzlich als eine von Gott auferlegte Prüfung, der man mit Demut und mit festem Glauben an die uneingeschränkte Macht Gottes begegnen sollte. Parallel dazu entwickelte die Kirche eine Struktur von diversen Fürsorgeprogrammen, die dem guten Christenmenschen vor Augen führen sollte, dass es die heilige Pflicht des Gläubigen war, dem armen Mitbruder im Glauben zur Seite zu stehen. So waren die Bischöfe dazu verpflichtet, ein Viertel ihrer Einkünfte für wohltätige Aktionen zu Gunsten der armen Bevölkerung zu verwenden.25 Bereits im Christentum des fünften und sechsten Jahrhunderts finden sich entsprechende Einrichtungen, die als Versorgungsstationen, Hospize und Krankenhäuser gleichzeitig fungierten. Dementsprechend finden sich bereits für diese Epoche Listen von Personen, die durch die Kirche unterstützt wurden.
Mit der Ausbreitung der Mönchsorden sollte sich das Zentrum der Armenfürsorge verstärkt in die Klöster verschieben. In der Ordensregel des Benedikt von Nursia wird auch der besondere Status des Armutsideals zum Ausdruck gebracht, welches von jedem Mönch angestrebt werden sollte. So musste ein neues Mitglied beim Eintritt in die klösterliche Gemeinschaft nach der Regel des Benedikt Folgendes beachten:
„Res, si quas habet, aut eroget prius pauperibus aut facta sollemniter donatione conferat monasterio, nihil sibi reservans ex omnibus - Wenn er Eigentum hat, verteile er es vorher an die Armen oder vermache es in aller Form durch eine Schenkung dem Kloster. Er darf sich gar nichts vorbehalten.“ 26
Natürlich muss man diese Armut als relativ bezeichnen. Die Mönche in den Klöstern verfügten zwar über keinen persönlichen Besitz, aber das Kloster selbst verfügte über Besitzungen und abgabepflichtige Bauern, die als Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens fungierten. Arm war man in den Klöstern also keineswegs. Weder wirtschaftlich noch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Status. Benedikt war aber auch darum bemüht, die Armen außerhalb der Klostermauern zu unterstützen. So schrieb er dem Cellerar der Gemeinschaft vor:
„Infirmorum, infantum, hospitum pauperumque cum omni sollicitudine curam gerat, sciens sine dubio quia pro his omnibus in die iudicii rationem redditurus est. -Um Kranke, Kinder, Gäste und Arme soll er sich mit großer Sorgfalt kümmern; er sei fest davon überzeugt: Für sie alle muss er am Tag des Gerichtes Rechenschaft ablegen.“ 27
Im einleitenden Kapitel seiner Ordensregel über die Werkzeuge der geistlichen Kunst, die dem Mönch zur Verfügung stehen sollten, finden sich außerdem weitere Punkte, die von den Brüdern beim Umgang mit den Bedürftigen berücksichtigt werden sollten. Der Mönch sollte demnach:
„Pauperes recreare, nudum vestire, infirmum visitare. - Arme bewirten, Nackte bekleiden, Kranke besuchen.“ 28
Doch nicht nur diese karitativen Taten zum Wohle der Armen wurden von der Kirche durchgeführt. Auch die Durchsetzung der Pax Dei, des Gottesfriedens, an der man sich im 10. Jahrhundert von geistlicher Seite führend beteiligte, kann als ein Versuch gewertet werden, die sozial benachteiligten Schichten vor der willkürlichen Macht der milites zu schützen.29 Als Sicherung vor Verarmung galten auch jene Programme der genossenschaftlichen Selbsthilfe, die von den Gilden betrieben wurden. Hierbei handelte es sich um eine Art sozialer Schutzbünde, die durch einen gegenseitigen Eid begründet waren und ihren Mitgliedern stetige Hilfe zusagten. Sie wurden schon in der Merowingerzeit entwickelt und fanden unter Karl dem Großen weitere Verbreitung.30 Mit der Zunahme an Gilden und Zünften ab dem 11. Jahrhundert lässt sich parallel dazu auch eine Zunahme derartiger Hilfsprogramme feststellen.
Vonseiten gläubiger Bürger wurden auch jene Initiativen, die als Barmherzige Bruderschaften bekannt wurden, begründet. Allerdings richteten sich diese Bruderschaften nur an verarmte Angehörige der mittleren und hohen Gesellschaftsschicht. Die Menschen am untersten Ende der Ständestruktur wurden von diesen Einrichtungen praktisch nicht erreicht, wenn man von den zünftischen Vorkehrungsmaßnahmen für Begräbnisse absieht.
Wie engagiert die Bemühungen von manchen Seiten auch gewesen sein mögen, um für langfristige soziale Sicherheit zu sorgen, reichten die Möglichkeiten des mittelalterlichen Gemeinwesens nicht aus. Missernten, Seuchen und Kriege machten die Etablierung einer sozialen Absicherung unmöglich.
Im späten Mittelalter wird beispielsweise für den oberdeutschen Raum angenommen, dass sich rund 50 % der Bevölkerung dauerhaft an der Armutsgrenze befanden.31 Diese Zahlen können jedoch durchaus kritisch hinterfragt werden. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass die Bezeichnungen nichts haben bzw. habnit, die in den Steuerlisten aufscheinen, lediglich besagen, dass der Betreffende keiner steuerlichen Abgabepflicht unterlag, was nicht bedeutet, dass er tatsächlich keine Besitztümer hatte.
Nichtsdestotrotz war die Zahl der an der Armutsgrenze lebenden Menschen in den spätmittelalterlichen Städten groß.32 Markus J. Wenninger konnte dies beispielsweise für die Stadt Friesach durch Analyse eines sogenannten Anschlags für den 10. Mann, einer Volkszählung zur Bestimmung der im Bedarfsfall zu stellenden Wehrmannschaften, feststellen. Die Zahl der Personen, die der Schicht der nichtbürgerlichen Inwohner, also den tendenziell Armen, zuzurechnen sind, macht hier rund 57 % der aufgelisteten Haushalte aus. Zur Unterschicht Friesachs gehörten demnach u. a. 15 Taglöhner, fünf Heber, drei Boten, zwei Holzhacker, zwei Bettler, ein Totengräber und ein Berufsmusikant.33
Weder die klerikal-monastischen noch die gesellschaftlichprivaten Fürsorgemechanismen konnten die Not der vielen Bedürftigen lindern, zumal diesen Programmen auch kein geregeltes System zugrunde lag. Auch jegliche Versuche einer theologisch-ethischen Aufwertung der Armut vermochten die Probleme des gemeinen Bettlers nicht zu lindern. Die Zahl der Mittellosen wuchs besonders im 15. und 16. Jahrhundert weiter an, begünstigt durch einen Verfall der Reallöhne und eine stetig ansteigende Landflucht. Vielerorts entstanden herumziehende Bettelscharen, die in der Epoche des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ein enormes Gefahrenpotenzial für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellten.
Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts sollte die Sozialfürsorge eine entscheidende Weiterentwicklung durchleben, die mehrere strukturierte Punkte beinhaltete: Man erfasste die Armen in Listen und führte genaue Statistik. Man erließ ein allgemeines Bettelverbot in der Öffentlichkeit, zwang die arbeitsfähigen Armen zur Arbeit, organisierte ein funktionierendes Netz der Fürsorge zumindest für all jene, die man als wirklich Arme einstufte und strafte Landstreicher und Müßiggänger mit gezielten Repressionen.
Einer der entscheidendsten Schritte für die Entwicklung eines öffentlichen Fürsorgesystems war aber, dass man ab dem Spätmittelalter die kirchlichen Institutionen als Träger der Organisation zunehmend durch weltliche Einrichtungen ersetzte. Die Stadträte wurden nun zu den entscheidenden Instanzen in Fragen der Armenfürsorge.
Grundlegend lassen sich zwei unterschiedliche Arten der Armut im Mittelalter feststellen. Zum einen gab es die frei gewählte Armut, die man als paupertas spontanea bezeichnete. Sie fand besonders im Bettelmönchtum ihren Ausdruck, da hier Armut zu einem moralisch-theologischen Ideal der Lebensweise aufgewertet und persönlicher Besitz jeglicher Art als negativ interpretiert wurden. Armut galt in diesem Fall für den gläubigen Christenmenschen als etwas Anzustrebendes, als frommes Ziel. Durch diese Idealisierung, die möglicherweise auch als Reaktion auf die verachtende Umgangsweise mit der armen Bevölkerung gewertet werden könnte, kam es zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert zu einem neuen Modell der Armut. Die urchristliche Tradition, sich von der Welt abzukehren und in Armut zu leben, verband sich nun mit dem eschatologischen Gedanken, das Leben nach der Wiederkehr Christi schon auf Erden zu beginnen. Man bemühte sich daher besonders darum, all jenen Fürsorge zuteilwerden zu lassen, die unverschuldet in Armut geraten waren.
Zum anderen gab es natürlich auch die unfreiwillige, die erzwungene Armut, die sogenannte paupertas coacta, die hauptsächlich von allgemeinem Mangel und Not gekennzeichnet war.34
Die Formen des Bettelns waren vielseitig. Die umherziehenden, vagierenden Bettler waren überwiegend Männer. In den Städten bettelten auch häufig Frauen, zum Teil zusammen mit ihren Kindern, die von ihnen als vermeintlicher Beweis für die Bedürftigkeit vorgewiesen wurden. Häufig wurden auch im Falle persönlich erlittener Katastrophen spezielle Hilfeansuchen vorgebracht, bei denen Wert darauf gelegt wurde zu zeigen, dass man nicht durch eigenes Verschulden in die missliche Lage geraten war.
Insgesamt bedienten sich die Bettler einer breiten Palette verschiedener Möglichkeiten des Auftretens, die von höflichen Gesten bis hin zu aggressiven Drohungen und Beschimpfungen der Passanten reichte. Der jahreszeitlich bedingte Notstand führte zum saisonalen Bettel, der meist Taglöhner und andere Arbeiter betraf. Im Falle von Krankheit, welche die Teilnahme am regulären Erwerbsleben vorübergehend verhinderte, sprach man vom Krankenbettel. Beim Stadtbettel unterschied man zwischen Gassen-, Markt- oder Kirchenbettel mit öffentlichem Stehen, Gehen oder Sitzen, teilweise verbunden mit dem Ansprechen von Leuten. Daneben gab es den Haustür- oder Wohnungsbettel, der eine Vertrautheit zum Besitzer bzw. Bewohner voraussetzte.
Für diese einheimischen Bettler setzte sich bald die Bezeichnung Hausarme durch. Diese pauperes domestici begegnen uns in den Quellen erstmals im Köln des frühen 14. Jahrhunderts. Sie waren Ortsansässige, die durch Unglücksfälle von Armut heimgesucht wurden.35 Die Hausarmen zeichneten sich vor allem durch ihr Schamgefühl aus, d. h., sie betrieben keinen offenen Bettel und lebten oft in geheimer Armut, in Abhängigkeit von einem wohltätigen Stifter, dem sie sich anvertrauten. Im besten Falle erhielten sie durch einen solchen Wohltäter nicht nur eine tägliche Mahlzeit, sondern auch eine trockene Bleibe in einer kleinen Kammer oder unterhalb einer Treppe im Haus einer Bürgerfamilie. Manchen wurde es auch ermöglicht, in einer der traufseitig zur Straße stehenden Hütten zu wohnen, die vor allem durch die arme Bevölkerungsschicht bewohnt wurden. Da es aber vielen Hausarmen nicht möglich war, Kontakt zu derart wohlhabenden Stiftern aufzubauen, zählte der Großteil von ihnen zu den Ärmsten der Armen.36
Der Wiener Chronist Jans Enikel schildert in seiner Weltchronik eine solche Wohnsituation im Rahmen einer fiktiven Liebesgeschichte zwischen einem armen Krüppel und einer Königin. Der kranke Mann sei an beiden füezen krump gewesen und was ouch ein man tump. Als Unterschlupf dient ihm ein kleinez kemerlîn, dâ er muost inne sîn, daz stuont under einer stieg. Trotz seiner körperlichen Behinderung gelingt es ihm, erfolgreich um die Gunst der Königin zu werben. Diese trifft sich mit ihm heimlich in einem Kellerraum: si wîst in in ein keller guot. des was der schemler wolgemuot. dâ pflâgen si des bettes spil. Als das Verhältnis öffentlich bekannt wird, bekommen beide die Rache des betrogenen Ehemanns zu spüren. Während er seine Ehefrau mit einem Schwert ersticht, wird der arme Krüppel von ihm mit seinem Pferd ze tod ertreten.37 Bei dieser Episode handelt es sich zwar um eine unrealistische, rein fiktive Legende, in der die realen Verhältnisse missachtet werden und Standesunterschiede verschwinden, doch die Wohnsituation des armen Krüppels, der als Hausarmer in einer kleinen Kammer unter einer Stiege haust, ist ein realistisches Detail dieses Berichts.
Im späten Mittelalter wurden die einheimischen Bettler zunehmend ins Zentrum der Almosenspenden gestellt. So finden sich beispielsweise in vielen bürgerlichen Testamenten aus dem Wien des 14. und 15. Jahrhunderts Bestimmungen über Spenden an Bedürftige, in welchen die Bedeutung der Hausarmen hervorgehoben wird. 1375 bestimmt eine Bürgerin namens Agnes, Witwe des Jans Pfundmaschen, dass nach ihrem Tode zehn Pfund an hausarm lewt und ander arm lewten verteilt werden sollten.38 Ein Jahr später bestimmt Lienhart der Poll im letzten Abschnitt seines Testaments, dass alles, was übrigbleibt, zur Verteilung an die hausarmen laewten und andern armen und dürftigen verwendet werden sollte mainer sel und aller der selen von dann es herkomen ist ze hail und ze trost.39 1398 hinterlässt Hans der Wachsgießer den Hausarmen einen Teil seines Vermögens das si got für mich pitten.40 1411 vermacht Leonhart Schaur den hawsarmen lewten hie ze Wienn zweihundert Pfund, die sie durch gots willen under si tailn sullen.41 1422 bestimmt eine Wiener Bürgerin, Loden unter den Hausarmen zu verteilen.42
Der Druck durch die vermehrt auftretenden Hungersnöte, Versorgungsengpässe und Teuerungen, dem die Stadtoberen im Spätmittelalter in regelmäßigen Abständen ausgesetzt waren, war wohl einer der Hauptgründe für das einsetzende Umdenken in der Armenpolitik im späten 14. Jahrhundert.
Als erste Stadt des Reiches erließ Nürnberg im Jahr 1370 eine eigene Bettelordnung, die in der Folgezeit vielen anderen Städten als Vorlage diente. Weitere Bettelordnungen wurden im süddeutschösterreichischen Raum u. a. 1443 in Wien, 1459 in Augsburg und 1490 in Würzburg eingeführt. Ziel dieser Ordnungen war es, das Bettelwesen der städtischen Obrigkeit zu unterstellen und es damit zu einer öffentlichen und reglementierten Angelegenheit zu machen.43
Ein entscheidender Schritt war, dass nunmehr Almosenwürdige von Almosenunwürdigen unterschieden wurden. Als erstere galten all jene, die ohne eigenes Verschulden in soziale Not geraten waren, wie Kranke, Behinderte, Alte oder Witwen mit Kindern. Letztere waren besonders schnell von Armut betroffen. Insbesondere im späten Mittelalter verschlimmerte sich die Lage der Frauen zusehends. Im
15. Jahrhundert wurden sie aufgrund der sozialen Organisation von Arbeit und Erwerb zunehmend aus dem handwerklichen Bereich verdrängt. Durch diese geschlechtsspezifische Teilung der Arbeit wurden Frauen noch abhängiger von den Männern und waren in wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Sicht benachteiligter als zuvor.44
Als Almosenunwürdige galten hingegen jene Menschen, die man grundsätzlich als arbeitsfähig einschätzte, die sich aber jeglicher Arbeit verweigern würden. Sie wurden als arbeitsscheue Müßiggänger und Vagabunden diffamiert, die mit Recht zur Arbeit gezwungen werden konnten. Man sprach in diesem Zusammenhang von sogenannten starken Bettlern. Dieser Begriff entstand vermutlich in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, als man an einer Welle von Missernten zu leiden hatte und die Zahl der Armen rapide anwuchs.45 Es kam zu einer gezielten Kriminalisierung dieser vermeintlich starken Bettler, die den tatsächlich Bedürftigen die Almosen stehlen würden.46
Um die einheimischen und tatsächlich Bedürftigen vor den fremden und „falschen“ Bettlern zu beschützen, bemühten sich die städtischen Räte darum, neben den Bettelordnungen auch diverse Kontroll- und Organisationsinstanzen zu etablieren, die den Zugang zu den Almosen dementsprechend begrenzen sollten. Die Erlaubnis zu Betteln sollte ab dem 15. Jahrhundert durch die städtische Verwaltung begrenzt werden, wobei diese in der Regel von der Ursache der Armut, aber gleichzeitig auch von der Religion und der Herkunft der bedürftigen Person abhängig war.
Diese Bettelkonzession erfolgte nunmehr durch die Ausgabe von speziellen Bettelzeichen, durch welche die einheimischen Bettler von den fremden optisch unterscheidbar gemacht werden sollten. Hierbei handelte es sich meist um kleine Abzeichen in Form einer kleinen Münze, die der Bettler wie eine Art Ausweis ständig und gut sichtbar bei sich führen musste. Um ein solches Bettelzeichen zu bekommen, mussten mehrere Zeugen angeführt werden, die für die Bedürftigkeit der betroffenen Person bürgten.47 Zudem mussten in den meisten Städten Grundkenntnisse christlicher Glaubensinhalte nachgewiesen werden. So musste ein Bettler nach der Wiener Bettelordnung von 1443 für den Erhalt des Bettelabzeichens das Pater noster, das Ave Maria sowie das Glaubensbekenntnis beten können. Zusätzlich dazu wurden regelmäßige Beichten und Messbesuche vorgeschrieben.48
Ähnliche Vorgaben finden sich auch in der Würzburger Bettelordnung von 1490, wo Bedürftige zusätzlich zu den genannten Glaubensinhalten auch die Kenntnis der zehen gebott nachweisen sollten.49
Solche Bestimmungen mögen auf den ersten Blick durchaus Sinn ergeben, schließlich spielte das Fürbittengebet seit dem frühen Mittelalter eine große Bedeutung für den Stifter. Allerdings war diese Anforderung für die untere Bevölkerungsschicht schwerer zu erfüllen, als es zunächst erscheint. Schließlich war der Zugang zu den Kenntnissen dieser Glaubensinhalte selbst in der christlich geprägten Gesellschaft des Mittelalters begrenzt.50 Somit handelte sich bei diesen Bestimmungen um eine nicht zu unterschätzende Hürde auf dem Weg zur Bettelkonzession.
Diese enge Bindung der Bettelerlaubnis an kirchliche Inhalte erklärt sich anhand der Tatsache, dass die städtische Armenfürsorge im späten Mittelalter noch stark durch ihre kirchlichen und privaten Vorgängerinstitutionen geprägt war, deren Rolle sie erst im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmend übernahm.51
Der Erhalt des Bettelzeichens hatte für den Bettler zweierlei Folgen: Einerseits erhielt er dadurch die offizielle Erlaubnis in der jeweiligen Stadt um Almosen zu bitten, andererseits war er durch die Tragepflicht als Bedürftiger gekennzeichnet. Er stand nun auch optisch sichtbar auf einer Ebene mit anderen Außenseitern, die auf ähnliche Weise gekennzeichnet waren. Um diesem negativen Aspekt auszuweichen, bemühten sich daher viele Bedürftige vom Tragen des Bettelzeichens befreit zu werden oder eine andere Sondererlaubnis zu erhalten. So gestattete der Nürnberger Rat bestimmten Bedürftigen beispielsweise nachts zu betteln.52
Neben der Klärung der tatsächlichen Bedürftigkeit spielen in den Bettelordnungen auch diverse Beschränkungen des Bettelns eine wichtige Rolle. So wurden den Bettlern nicht nur bestimmte Uhrzeiten vorgeschrieben, sondern auch bestimmte Örtlichkeiten zugewiesen. In Nürnberg durften sie nur an den Kirchentoren betteln und sich nicht an die Gläubigen im Inneren der Kirchen wenden.53 In Würzburg wiederum sollten kranke Bettler ihre Krankheitsmale verdecken und möglichst nicht öffentlich präsentieren, damit die swangern frawen durch ihren Anblick nicht Schaden nähmen.54 Häufig wird auch die Praxis des Singens auf den Straßen, Plätzen und Friedhöfen durch die Ordnungen unterbunden, es sei denn, der Bettler würde singend von Gasse zu Gasse gehen.
Primär lässt sich in den Bettelordnungen eine zunehmende Verschärfung im Umgang mit Fremden feststellen. So wurde fremden Bettlern der Zutritt zu den Städten nur noch an wenigen Tagen im Jahr gestattet. In Nürnberg durften auswärtige Bettler nur noch drei Tage in Folge um Almosen bitten und wurden für ein Jahr aus der Stadt verwiesen, sofern sie sich nicht an diese Beschränkung hielten. Ähnliche Regelungen bestanden auch in Augsburg, Regensburg, Würzburg und Wien. Gesonderten Zugang erhielten die Fremden zudem an besonderen Feiertagen, wie beispielsweise zu Allerheiligen und Allerseelen oder zu lokalen Weihfesten.
In den Bettelordnungen stellte man auch erstmalig einen direkten Zusammenhang zwischen (fehlender) Arbeit und Armut her. 1478 wurde in der erneuerten Nürnberger Bettelordnung eine generelle Arbeitspflicht für Bedürftige an Werktagen vorgeschrieben. So sollten Bettler nicht dem Müßiggang verfallen sunder spynen oder ander arbait, die in irem vermuegen wer, thun. Außerdem wurde in dieser neuen Ordnung veranlasst, dass fremde Bettler nur noch alle Vierteljahre für zwei Tage in der Stadt betteln durften.55
Vielerorts wurde die Anwesenheitsberechtigung von Fremden und Bettlern von einem bestehenden Arbeitsverhältnis abhängig gemacht. In Köln wurde beispielsweise festgeschrieben, dass bedürftige Personen aus der Stadt vertrieben werden sollten, falls sie nach Ablauf einer Frist von acht Tagen keine Arbeit gefunden hätten. Später wurde diese Frist sogar auf drei Tage verkürzt. Besonders hart sollte man bei Wiederholungstätern zu Werke gehen, die mehrmals in der Stadt auftauchten, ohne eine feste Anstellung zu haben. Im Kölner Edikt heißt es diesbezüglich, man solle diese in die haltzblende sliessen ind dan vort uysstrecken ind mit roiden nackt uyss der stat slain ind jagen.56
Als ausführende und überwachende Organe fungierten städtische Angestellte. Der Bettelmeister oder Bettelherr, in Wien nannte man ihn sterczermeister, in Köln Bubenkönig, hatte den gesamten organisatorischen Ablauf des Bettel- und Almosenwesens zu überwachen. Ihm oblagen die Überprüfung der Bedürftigkeit sowie die damit verbundene Vergabe der Bettelzeichen. Der Bettelmeister war aber auch dazu berechtigt, bei etwaiger Zuwiderhandlung die Bettelkonzession wieder zu entziehen.
In Nürnberg wurde in der Regel ein Ratsmitglied zum Bettelmeister ernannt und bekam für die Durchführung seiner Aufgaben städtische Ordnungskräfte zur Seite gestellt. 1486 wurde der Nürnberger Chronist Heinrich Deichsler mit diesem Amt vertraut. Sein Bericht über die Einsetzung als Armenherr der Stadt Nürnberg ist nicht nur deshalb von besonderem Wert, weil er eine Vielzahl seiner Vorgänger nennt. Hier wird auch die enge Verflechtung der Almosengewährung mit der aktiven Praktizierung des christlichen Glaubens deutlich. So vermerkt Deichsler, dass er alle gesunden Almosenempfänger dazu verpflichtet habe, an jedem Sonn- und Feiertag an einer Messe teilzunehmen sowie regelmäßig zu beichten und zu beten. Zudem sollte jeder von ihnen die zehn Gebote kennen:
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