ERLEBTES • ERFAHRENES • ERPROBTES
Leopold Stocker Verlag
Graz – Stuttgart
Umschlaggestaltung: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at
Bildnachweis: Foto Umschlag-Vorderseite: istockphoto.com/tibor13
Alle übrigen Fotos wurden vom Autor zur Verfügung gestellt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Hinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt.
Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.
Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu.
Leopold Stocker Verlag GmbH
Hofgasse 5/Postfach 438
A-8011 Graz
Tel.: +43 (0)316/82 16 36
Fax: +43 (0)316/83 56 12
E-Mail: stocker-verlag@stocker-verlag.com
www.stocker-verlag.com
ISBN 978-3-7020-1892-4
eISBN 978-3-7020-1992-1
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2020
Layout und Repro: Ecotext-Verlag Mag. G: Schneeweiß-Arnoldstein, Wien
Im Duft des Waldes (Vorwort)
Auf der Hinterwaach
Dreibein – der „Ein-Werker-Hochsitz“
Der Schäferfuchs
Drei aus der Kanone
Hahnen und Hahngewehre
Mankei mit Tarnkappe
Nachsuche am Abgrund
Seine Durchlaucht – der Rothirsch
Superplus fürs Heizöfchen
Trophäen in Malerhand
Weiße Rosen fürs Revier – Stecklinge mit Anwachsgarantie
Kleine Wildrosenkunde
Unverhofft …
Ein endenreiches Ende
„Stil“-Leben: Kleiner Fuchs, Rehkrönchen, Latschenzweige und Hut (mit goldenem Eibenzweig mit Grandln sowie Auerhahn-Medaillon)
Jedes Buch, das etwas auf sich hält, hat ein Vorwort. Gedanken, warum es geschrieben wurde und welch‘ tieferen Sinn es haben soll. Klar, dass gerade mein zweites Jagdbuch ein besonders gewichtiges, im wahrsten Sinn des Wortes inhaltsschweres Vorwort haben sollte. Aber trotz angestrengten Hoch- und Querdenkens, mir kam der zündende Gedanke nicht. Ich war am Verzweifeln, und der Abschluss des Werkes verschob sich nicht unwesentlich durch das fehlende Vorwort.
Und dann endlich doch: „Im Duft des Waldes“, das war’s, das passte! Zwar kein Vorwort im eigentlichen Sinn, mehr eine Zustandsbeschreibung, aber immerhin. Und letztlich bezogen auf Sinnenerlebnisse, welche jeder Mensch kennt, besonders aber die Jäger, da sie naturgemäß häufig im Wald sind.
Die in vielfältiger Form vorhandenen Düfte, die würzig und prägnant – man denke an den Herbst – den Jäger gerade im Wald umfangen, kennt wohl jeder, so sein Riechorgan einigermaßen funktioniert. Manchmal wird der Duft wie etwas Nebensächliches registriert, aber in vielen Fällen gehört er unbewusst schon mit zur Einstimmung auf die Jagd selbst. Und zu manchen Jagderlebnissen gehört er unlöschbar dazu.
Ich habe aus jungen Jägerjahren noch sehr lebendig einen Pirschmorgen im Mai in Erinnerung. Es galt damals die mitteleuropäische Zeit, und die Bockjagd begann erst am 16. Mai. Frühes Aufstehen so um halb drei, also mitten in der Nacht, war angesagt – manchmal eine fast übermenschliche Anstrengung – doch dafür hatte man den Wald ungestört für sich alleine.
An diesem Morgen schob ich mich nach einem Ansitz, den ich in einem Fichtenaltholz ohne Anblick erfolglos beendet hatte, etwas missmutig gegen sechs Uhr in der Früh langsam auf schmalem Pfad einen verwachsenen Wiesengrund hinab. Im Mai sind diese frühen Stunden häufig noch bissig frisch. Doch heute nicht. Die Vortage waren schon frühsommerlich warm gewesen, und die Nächte wiesen Temperaturen um die 15 Grad aus.
Es nieselte. Der Himmel war neblig verhangen, doch manchmal wurde es rötlich hell, so, als wenn die Morgensonne Oberhand gewinnen würde. Das leichte Nieseln hatte aufgehört. Dann jedoch wurde es wieder dunstiger und feuchter. Die frischgrünen Blätter tropften ohne Unterlass. Ich war froh, die regenfeste Lodenjacke angezogen zu haben.
Doch der Vorteil der Nässe war, dass man lautlos pirschen konnte. Sachte setzte ich Fuß vor Fuß, und mit dem Glas leuchtete ich des Öfteren die mal enge, mal breite Wiesenzunge und die Waldränder ab. Um es kurz zu machen, ich hatte weiterhin keinen Anblick, weder Bock noch Hase, als ich die Pirsch am Talausgang schließlich beendete.
Und trotzdem ist mir dieser Maimorgen unvergesslich geblieben. Die Luft war nämlich erfüllt von dem Duft der sich gerade entfaltenden Blätter der Birken und der Birkenblüte selbst. Sie verströmten einen veilchenartigen Geruch, der einfach wunderbar war. Die Nase schwamm förmlich in einer Duftwolke. Ein überwältigendes Erlebnis. Es mag daran gelegen haben, dass die Wärme und die feine Feuchtigkeit in der Luft die Duftmoleküle besonders gut trugen, ich weiß es nicht. Jedenfalls war das ganze Tälchen durch diesen intensiven, wundersamen Duft wie verzaubert und hat mich froh gemacht, auch ohne Anblick gehabt zu haben.
Einige weitere „Duftbeispiele“ fallen mir ein: Der Schnepfenstrich war ein zur damaligen Zeit ein erwartungsfroh herbeigesehntes Ereignis. Meistens gab es jedoch nichts, und man war schon froh, überhaupt eine Schnepfe gehört oder gar gesehen zu haben. Aber immer begleitet waren diese Anstände in die abendliche Dunkelheit hinein von dem kühl-erdigen Geruch der erwachenden Natur. Ein Duft, den der Winter nicht hat und der auch nur wahrzunehmen ist in der ersten Zeit des „Sichregens“ der Vegetation. Glücklicherweise konnte ich in meinem Jägerleben in der nur kurzen Frühjahrsjagdzeit zwischen Okuli und Quasimodogeniti* zwei Schnepfen erbeuten. Immer, wenn ich in Mußestunden die Präparate anschaue, erfreue ich mich an dem wunderbaren Federkleid der Schnepfen, und in meinem Duftgedächtnis entsteht dazu der Geruch von frühlingswarmer Erde und frisch sprießendem Gras.
Auch an die Gerüche, die untrennbar mit der Entenjagd verbunden sind, erinnere ich mich: An den modrig-sumpfigen Geruch des Ufers, die Faulgase des Schlammes, die schon gelb gewordenen, bitter würzig riechenden Blätter der Erlen und Weiden. Gleich zu Beginn der Jagdzeit musste die durch die monatelange Schonzeit entstandene Vertrautheit der Enten genutzt werden, wollte man wirklich Strecke machen. Schon im ersten abendlichen Frühdämmern strichen die Enten zu ihren nächtlichen Ruheplätzen auf den großen Weiher, wobei Futtergaben die Pünktlichkeit erhöht hatten. Das vorsichtige Heranschieben ans Wasser, die sorgsame Suche nach dem richtigen Stand im Erlengebüsch, die zitternde Ungeduld des Hundes – das war die Einstimmung auf das Kommende. Und dann kamen sie. Zu siebt, zu acht. Im Knallen der Schüsse das unvermittelte Hochsteilen, um der zu spät erkannten Gefahr zu entgehen. Dazu das Aufklatschen der getroffenen Enten auf das Wasser. Eine wahrlich aufregende Jagd. Zwischendurch musste dem Hund mal eine ernste Ermahnung gegeben werden, weil er scheinbar alles Gelernte vergessen hatte und auf der Stelle mitmischen wollte. Dann ebbte der Strich ab, und nun durften die Hunde zeigen, was sie konnten. So oder so ähnlich liefen viele Entenjagden ab. Später der Federgeruch der erlegten Enten und die dampfende Nässe des Hundefells nach getaner Arbeit. Untrennbar ist dieses Konglomerat an Gerüchen mit der Entenjagd verknüpft.
Jede Jahreszeit hat ihre eigenen Gerüche. Doch der Herbst nimmt eine Ausnahmestellung ein. Die golden fallenden Blätter, die dem Boden entsprießenden Pilze, dazu Eicheln, Bucheckern und die aus ihrer grün aufgeplatzten Kastanienschale herauslugenden, glänzend rotbraunen Früchte. Jede Pflanze, jede Frucht hat ihren eigenen, unverkennbaren Geruch. Auch die Erde verströmt zu dieser Zeit einen besonderen, herbwürzigen Geruch, zusammengesetzt aus altem, verrotteten Laub, angereichert mit dem Bitterduft der vergilbenden Gräser und der schon früh gefallenen, bereits leicht angemoderten Blätter. Doch erst die Vermischung all dieser Düfte führt zu dem grandiosen Ganzen.
Und dieses Potpourri der Herbstdüfte gehört ganz sicher und unverwechselbar zur Hirschbrunft, ebenso wie die Kiefernharzdüfte aus Oberschlesiens weiten Kieferwäldern. Sie sind für mich ein wesentlicher Bestandteil der dort erlebten Hirschbrunft. Es war ein Höhepunkt in meinem Jägerleben, nein, es war der Höhepunkt überhaupt, die Jagd auf den reifen Hirsch. Alles zusammen, das Anpirschen des schreienden Hirsches, dazu dieser besondere Flusswassergeruch aus den Niederungen der Neiße, der herbe Duft der wie gesät am Boden liegenden Eicheln, dazu die bereits braun werdenden Blätter der dicken, mehrhundertjährigen Stieleichen, die ihre Frucht so verschwenderisch ausgestreut hatten, all das machte diese Jagd zu einem überragenden Erlebnis. Und über allem schwebte ständig der feine Harzgeruch der Kiefernwälder Oberschlesiens.
Dass auch Schnee riecht, hat jeder schon mal wahrgenommen. Der Ausdruck „es liegt Schnee in der Luft“ ist hier im Sauerland ein gängiges Wort. Und in der Tat, man kann den kommenden Schnee riechen. Ein ganz klarer, sauber-frischer und irgendwie, ja, schneeig-kalter Geruch geht dem ersten Schneefall voraus. Sogar ungeübte Nasen können diese gravierende Duftveränderung in der Herbstluft feststellen. Es sind nordische Schneewolken, die den ersten Schnee des Jahres heranführen.
So schließt sich der Kreis der Düfte, wobei zu erwähnen ist, dass diese Auflistung nur ein Bruchteil dessen ist, was wirklich an Düften vorhanden ist und was auf unsere Duftwahrnehmung einwirkt. Hinzu kommen die individuellen Sensitivitäten, die ebenfalls eine Rolle spielen, da ja jeder Düfte anders wahrnimmt.
Und jetzt folgt doch noch der Versuch eines „klassischen“ Vorworts. Hierzu eine Episode aus dem Buch des Carl Theodor von Blaas, ein Tiroler Adeliger und wie sein Bruder begnadeter Maler. Dieser Theodor von Blaas beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Das jagrische Leben“ eine Begegnung mit dem Grafen Wilczek. Dieser ist mit seiner vierspännigen Kalesche auf dem Weg zu seinem Schloss Moosham, als er Theodor von Blaas in einer Gruppe Jäger erblickt. Er sieht den Bruch am Hut, lässt die Pferde anhalten, ruft ihn zu sich und fragt, was er geschossen habe.
„Exzellenz, einen Sechserhirsch.“ „Weidmannsheil!“, antwortet der Graf. „Erzähl er mir, wie’s hergegangen ist. Er wird’s ja wissen, ein jeder Weidmann ist verpflichtet, einem anderen genau zu berichten, wie es sich zugetragen hat, damit auch der eine jagdliche Freude durch die Erzählung hat.“
Und aus gleichem Grunde wurde dieses Buch geschrieben. Nun hat es doch noch ein Vorwort.
Heribert Saal, Sommer 2020
*Aus einem Vers über den Schnepfenstrich; Okuli = 3. Fastensonntag; Quasimodogeniti = 1. Sonntag nach Ostern.
Da steht sie nun endlich vor uns, die Sennhütte auf der Hinterwaach. Alt ist sie, und schon etwas windschief. Sie soll für mich und meinen Schweizer Jagdfreund Severin Domizil sein für eine ganze Woche Gamsjagd im Berner Oberland. Trotz des eisgrau verwitterten Daches mit den von Sonne, Schnee und Regen gebleichten Zirbelschindeln bietet sie immer noch Schutz vor Sturm und Hagelschlag. Doch die hier auf 1800 Metern Seehöhe harten Wetterlagen mit den strengen Frösten im Winter haben im Laufe der Jahrzehnte dem Bauwerk sichtbar zugesetzt. Die vielen ausgebesserten, teilweise mit Zinkblech verkleideten Stellen sprechen eine deutliche Sprache. Die anfänglich sicher vorhanden gewesene bauliche Schönheit der Almhütte hat im Laufe der Jahre zwar gelitten, aber insgesamt ist sie die traute und schützende Heimstatt für Mensch und Vieh geblieben, für die sie einst erbaut worden war. Und Ästhetik hin oder her, am Berg gilt zuallererst die Zweckmäßigkeit; Schönheit steht da hintenan.
Ich war einer Gegeneinladung Severins auf Gams gefolgt. Seine jagdlichen Bemühungen auf Schwarzwild in meinem Sauerländer Revier waren schon mehrfach von Erfolg gekrönt gewesen. Nun hatte er darauf gedrungen, dass ich endlich einmal zu ihm in sein Jagdrevier – das ist immerhin der ganze Schweizer Kanton Bern – kommen sollte, um auf Gams zu jagen. Im Kanton Bern gilt das Patentjagdsystem mit all den uns so fremdartig anmutenden Eigenheiten. So gilt, dass alle Berner Eidgenossen, wenn sie Jäger sind und ihr Patent gelöst haben, auf dem gesamten Gebiet des Kanton Bern jagen können. Seit dem Jahr 2003 ist eine Neuerung hinzugekommen. So kann ein im Kanton ansässiger Schweizer Jäger einen Teil seines Abschusses auch auf einen anderen – auch ausländischen – Jäger übertragen. Dieser darf dann als Gast und unter Führung des Berner Jägers – und natürlich erst nach Zahlung der Tagesjagdkartengebühr – den ihm überlassenen Abschuss tätigen. Von dieser Regelung hatte Severin Gebrauch gemacht und mir einen Teil seines Gamsabschusses zukommen lassen.
Die Hinterwaachhütte; Severin bringt einen Obstler.
Das Gebiet um die Hinterwaach ist Severin seit Kindesbeinen vertraut. Dort hat er schon als kleiner Bub mit seinem Vater jagdliche Streifzüge auf Gams unternommen. Nun, als erwachsener Mann und ebenso wie der Vater passionierter Jäger, kennt er die Gegend wie seine Westentasche.
Geographisch ist die Bergregion der Hinterwaach höchst unterschiedlich geformt. So gibt es felsige, hoch aufragende und steile Schrofflagen, aber genauso auch rundbucklige Bergkuppen, ähnlich wie die des Nockgebirges in Kärnten. Entsprechend verschieden sind die Anforderungen an den körperlichen Einsatz. Insgesamt jedoch ist das Gebiet nicht allzu schwer zu bejagen.
Mit dem Bauern, der die Alm um die Sennhütte herum bewirtschaftet, hat Severin nun schon seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis. Jetzt, gegen Ende September, wo das Vieh bereits zu Tal getrieben ist, hatten wir die Hütte für die Zeit der sogenannten Hochjagd zur alleinigen Verfügung. Übrigens, Hochjagd ist die Jagd auf Hirsch, Gams und Steinbock.
Wir waren mit Severins Allrad-Pkw die unbefestigte Forststraße, die mit vielen Windungen und scharfen Kehren in die Hochlagen führte, hinaufgefahren, bis zu einer großen, auch schon verlassenen Sennhütte. Aber dort war Schluss, weiter ging es nicht. Der von Schmelzwassern ausgespülte und mit tiefen Rinnen versehene zweispurige Pfad, der von hier weiter zur Hinterwaachhütte führte, war trotz der vier angetriebenen Räder nicht mehr befahrbar. Nur des Bauern geländegängiges Vielzweckfahrzeug, mit dem er Kuhmist und Dünger streute, kam hier weiter. Diese beweglichen, speziell für die steilen Berglagen gebauten Fahrzeuge sieht man ja im gesamten Alpenbereich häufig auf den schrägen und abschüssigen Almwiesen ihre Arbeit verrichten. Sie krabbeln dank ihrer drei Achsen wie überdimensionierte Käfer in manchmal abenteuerlichen Schräglagen über die steilen Almwiesen, sodass einem allein vom Hinschauen schon schwindelig wird. Doch weder der Bauer noch sein Miststreuerfahrzeug standen zur Verfügung. Also mussten wir per pedes den Weg unter die Bergsohlen nehmen.
Alles, was so für ein einwöchiges Hüttenleben gebraucht wird, hatten wir in den Rucksäcken verstaut und diese mussten nun zu der etwa zwei Kilometer entfernt liegenden Hütte getragen werden. Gott sei Dank führte der von hier aus relativ eben verlaufende Weg ohne allzu große Höhenschwankungen direkt zur Hütte. Die wichtigsten Utensilien, nämlich die Pirschbüchsen und Ferngläser, befanden sich fest verzurrt oben auf den Rucksäcken.
So, fertig. Mit Schwung die prallen Rucksäcke geschultert, den Bergstock gepackt, und los ging’s. Dass gleichzeitig beijedem Schritt ein leis zu vernehmendes Gluckern aus dem Innern der Rucksäcke ertönte, verriet, dass ein Teil der Ladung aus Flüssigkeiten bestand. Wasser ist zwar wichtig, doch noch wichtiger ist guter Rotwein und Birnbrand. Diese „geistvollen“ Erfrischungen gehören unbedingt zu einem zünftigen Hüttenleben dazu. Denn der innere Mensch braucht seine Stärkung und Labung, auch und gerade auf der Gebirgsjagd. Nie schmeckt ein guter Obstbrand besser als in der reinen und kalten Bergluft. Und Wasser zum Stillen des Durstes gibt’s ja draußen am Bergquell reichlich.
Übrigens ist der in Österreich so häufig verwendete Bergstock in der Schweiz weit weniger in Gebrauch. Dies mag daran liegen, dass der Schweizer Gebirgsjäger nicht so sehr dem Wild im Fels nachsteigt, sondern sich mehr auf das Ansitzen und Abwarten an Wechseln oder Äsungsstellen verlegt. „Hier bei uns kommt das Wild zum Jäger“, so die Erklärung von Severin, warum er keinen Bergstock führte. Ich aber hatte meinen stabilen Bergstock dabei, der uns später, das wird die Geschichte noch zeigen, außerordentlich gute Dienste geleistet hat.
Nicht zu schnell, sondern gemächlichen Schrittes strebten wir unserem Ziel zu. Das Wetter meinte es gut mit uns und die auf Mittag zugehende Sonne heizte gehörig ein. Schon die ersten 500 Meter Wegstrecke erzeugten erhöhte Innentemperaturen und entsprechende Transpiration. Der sonst beim Wandern im Gebirge immer suchende Blick in die Berghänge hinein und auf die Grate hinauf nach Gams unterblieb daher zwangsläufig; denn der Schweiß floss in Strömen, brannte in den Augen und unterband so das Ausschauhalten nach Wild. Im Moment jedenfalls, während wir Schritt für Schritt die Wegstrecke zurücklegten, richteten sich die Gedanken mehr und mehr auf das Ziel: die Hütte, die Hütte – hoffentlich ist’s bald geschafft!
Der Weg zur Hinterwaachhütte
Dann endlich, nach einer weiteren Wegkurve erschien sie vor unseren Augen. Sonnenbeglänzt und friedlich eingeschmiegt in hügelige Almwiesen lag sie vor uns. Eine lang gezogene, flache Mulde musste noch durchschritten werden, dann die letzten 50 Meter und endlich war’s geschafft. Aufatmend ließen wir die Rucksäcke von den Schultern auf die vor der Gebirgshütte angebrachte Außenbank gleiten. Severin wusste, wo der Hüttenschlüssel versteckt war, und mit leichtem Knarren schwang die zweigeteilte Tür auf.
Im Innern ein alter Herd mit offener Feuerstelle. Der einfache Rauchfang darüber war mit einer dicken Schicht schwarz glitzerndem Russpech überzogen und zeugte von jahrzehntelangem Gebrauch. Der Geruch von kaltem Holzrauch und Viehdung umfing die Nase und ließ keinen Zweifel an dem Bestimmungszweck des Bauwerks aufkommen. Der Hauptraum war Aufenthaltsbereich sowohl für Mensch wie Vieh. Nur die Viehstände selbst mit ihren Holzstreben und Ketten teilten die Fläche. Hier wurde gekocht, gespült und, so man es für erforderlich hielt, auch rasiert und gewaschen. Im Sommer beim einsamen Senner schaut dabei nur das Vieh zu. Einzig der Essraum, der zugleich auch als Schlafgemach diente, war für sich separat. Ich liebe solche Ursprünglichkeit und mir passt es so am allerbesten. Einfach und zweckmäßig. Das reicht für ein gamsjägerisches Leben allemal.
Peter Spycher, ein Jagdfreund von Severin, mit dem Autor vor der Hütte
Nachdem wir alle Utensilien verstaut und uns für die nächsten Tage eingerichtet hatten, musste zunächst einmal Wasser von der 100 Meter entfernt liegenden Quelle geholt werden. Ein ordentlicher Kaffee sollte die Lebensgeister wieder auf Vordermann bringen. Severin machte sich auf den Weg. Derweil genoss ich mit ausgestreckten Füßen die herrliche Bergwelt um mich herum. Im Ohr das Summen der sonnenseligen Bienen und Hummeln, dazu die im weiten Himmel ziehenden, dickweißen Spätsommerwolken und die von ringsher grüßenden Grate und Zinnen. Und im vollendeten Einklang dazu kamen zwei Kolkraben angerudert, welche umeinander im Blau des Himmels ihre Flugspiele aufführten, wobei deren weichmelodisches und weitklingendes Quorren und Klongen die Luft erfüllte.
Links in den Fichten das „Bänkli“.
Jetzt fiel endgültig der Alltag von mir ab. Jetzt noch, als Tüpfelchen auf dem i und zur inneren Stärkung, ein Griff in den Rucksack zur Flasche mit dem Birnenbrand, den Severin mitgebracht hatte. Ein erster, kräftiger Schluck, und das Aroma vollreifer Birnen ergoss sich förmlich über alle Geschmacksnerven der Zunge. Er mundete wahrhaft köstlich, dieser weiche, hochprozentige Brand, und im Nachschmecken der edlen Williamsbirnen kam das herrliche Gefühl auf – jetzt bist du frei, so frei wie die Raben, jetzt nur noch Jagd und Jägersein und sonst nichts.
Nachdem wir den von Severin gebrauten Kaffee – schmeckt mit Bergquellwasser unvergleichlich gut – genossen hatten, machten wir uns auf den ersten Erkundungsgang. Ziel war das „Bänkli“, ein nicht weit von der Hütte in etwa 400 Metern Entfernung liegender, auf fast gleicher Höhe mit der Hütte befindlicher Ansitzplatz. Dem Namen nach klang das ja recht komfortabel. Der Pirschweg dorthin führte auf halber Höhe des sich bereits hinter der Hütte aufschwingenden Berghanges vorbei bis zu einem steil abfallenden felsigen Kar. Direkt an dessen Abrisskante befand sich der Ansitzplatz. Nach einem prüfenden Blick in das Kar hinein schob sich Severin linker Hand vom Pirschsteig in einen Horst dichter Jungfichten ein, in dessen Inneren ein Ansitzplatz freigeschnitten war.
Ich tat es ihm nach und beim Umdrehen zur Bergseite hin hatte ich dann in Augenhöhe den Pirschwegrand vor mir. Der Platz und die Deckung waren perfekt; wir waren unsichtbar für Mensch und Wild.
Von einem „Bänkli“ war jedoch nichts zu sehen. Das, was zur Not als Sitzgelegenheit herhalten konnte, waren die Trittstufen im Boden des steilen Ufers und ein waagerecht gewachsener, dicker Seitenarm einer etwas stärkeren Krüppelfichte. Stand man mit Blickrichtung zum Grat, so diente der in Augenhöhe befindliche Pirschwegrand als feste Auflage für die Büchse. Für den Schuss abwärts boten sich die etwas dickeren Äste der Fichten als Auflage an. Aber es war ein guter Platz. Steil abwärts, etwa 90 Meter tiefer, befand sich ein grasbewachsenes Plateau; und siehe da, als wir vorsichtig durch die Fichtenzweige nach unten schauten, befand sich dort bereits ein Scharl Gamswild und äste vertraut am saftigen Gras. Sie hatten nichts von unserem Anpirschen mitbekommen, zumal der Wind bergauf zog. Mehrere Geißen mit ihren Kitzen waren es, und auch ein Jährling war dabei.
Ständige Aufgabe: das Ableuchten der Felsgrate
In der Schweiz sind Gamsjährlinge frei, und so flüsterte Severin mir zu, dass dieser schussbar wäre. Doch abgesehen davon, dass ich gerade erst angekommen war, hätte mir ein solches Gamskind mit seinen Minikrucken keine Freude bereitet. Wir schauten noch eine Weile dem munteren Treiben zu, ehe wir uns sachte zurückzogen. Zuvor noch ein Blick nach oben auf die Schneid, es war aber kein Wild zu sehen; war auch nicht zu erwarten, da ja der stetig aufwärts streichende Wind unsere Witterung mit nach oben nahm und so die Gams gewarnt waren. Na, trotzdem, das ließ sich ja gut an. Gleich beim ersten Pirschgang schon Anblick gehabt. Gams jedenfalls waren da.
Wir pirschten, immer das Gelände im Auge behaltend und mit dem Glas die Steilhänge ableuchtend, zurück zur Hütte, dann an dieser vorbei und einen Teil des Weges zurück, den wir erst vor gut einer Stunde schwer bepackt bezwungen hatten. Nur ging es sich jetzt deutlich leichter; um den Hals das kleine 10 x 25 Zeiss, auf dem Rücken einen fast leeren Rucksack und über der Achsel die leichte Kipplaufbüchse im Kaliber 7 x 57R vom Meister Frühauf aus Thüringen.
Gamswild ist ja Tagwild und daher auch zu fast allen Tageszeiten und überall im Hochgebirge anzutreffen. Vor allem Böcke, und hier insbesondere die älteren, sind um diese Jahreszeit schon öfter alleine unterwegs, sondieren das Gebiet und achten vor allem auf die Geißrudel.
Die leichte Kipplaufbüchse im Kaliber 7 x 57R vom Meister Frühauf aus Thüringen
Wir hatten gerade den Hauptweg verlassen, um eine lange Wegkurve abzukürzen, da blieb Severin, der vor mir ging, auf einmal ruckartig stehen, ließ sich ganz langsam in die Hocke hinuntersinken und bedeutete mir mit nach hinten gereckter, heftig wedelnder Hand, ebenfalls runter und in Deckung zu gehen.
Obwohl ich kein Wild sah, war mir klar, um was es hier ging, und so machte ich es ihm nach, machte mich hinter ihm ganz klein, dann das Glas an die Augen und in die gleiche Richtung geschaut, in die auch Severin schaute. Ich sah jedoch nichts und wartete ab, was Severin sagen würden. Dieser rührte sich nicht, schaute aber unverwandt mit dem Fernglas auf den Gegenhang. Das Dumme an unserer Situation war, dass wir vollkommen frei, ohne irgendeine Deckung, auf der buckligen Almwiese hockten. Doch etwa 20 Meter vor uns ragte ein dicker, ziemlich hoch abgeschnittener Baumstumpf einer vor langer Zeit gefällten Lärche aus dem Almboden. Platt am Boden kroch Severin nun behutsam auf diesen Stubben zu. Und ich hatte jetzt auf einmal auch den Gams im Glas. Ein Bock war’s, und kein schlechter. In etwa 150 Metern Entfernung, unterhalb der blanken Felsregion, äste er vertraut in einem mit Grasbändern und Büschen bestockten Geröllfeld und hatte offenkundig nichts von uns bemerkt. Eingedenk der Übungen bei der Bundeswehr bewegte ich mich ich nun ebenfalls im Kriechgang auf allen Vieren und so flach wie möglich auf den Baumstubben zu – die wirklich einzige, notdürftige Deckung in unserer unmittelbaren Nähe. Flüsternd erklärte mir Severin, dass ich von hier aus schießen müsste. Näher kämen wir nicht heran.
Ich schob von unten her den Rucksack auf die Schnittfläche des Lärchenstubbens, dann vorsichtig das Gewehr darauf, und dann langsam aus der Hocke hoch. Doch die Höhe des Stubbens passte überhaupt nicht für ein entspanntes, ruhiges Zielen und Schießen. Zum Knien war der Stamm zu hoch, zum Stehen hingegen zu niedrig. Es passte hinten und vorne nicht für einen sauberen Schuss, schon gar nicht auf diese Entfernung. Vom Boden liegend aus ging es auch nicht, dazu stand der Gams zu hoch am Berg. Es blieb nichts anderes übrig, wir mussten warten, warten darauf, dass der Gamsbock mal hinter einem der Latschenbüsche verschwinden würde, die locker verteilt auf der Geröllfläche wuchsen. Das wäre dann die Gelegenheit, im Schnellgalopp eine etwa 40 Meter vor uns aus dem Boden ragende Steingruppe mit drauf und drum herum wachsenden Fichten zu erreichen, Von dort aus war’s nicht nur näher, sondern wir hätten vor allem auch die Deckung, die wir so dringlich brauchten. Also abwarten.
Derweil äste sich der Bock so nach und nach an die rechtsseitige Geröllkante heran, die dort in einer Geländewelle steil nach rechts unten wegbrach und erst etwa 80 Meter weiter wieder einsehbar wurde. Der Grat dieser Geröllkante zog sich senkrecht aufwärts bis an die Grundfesten der felsigen Steilwände. Von dort ging es nur noch pfeilgerade hinauf bis auf die Spitzen des Felskopfs.
Langsam ziehend und immer wieder nach irgendwelchen Kräutlein suchend hatte der Bock den Scheitelpunkt der Geröllkante erreicht. Jetzt stand er auf ihm, schon sah man nur noch den Spiegel und dann verschwand er hinter dem Grat. Im sofortigen Sprint legten wir die Distanz zu der Stein-Fichtengruppe zurück. Keine Sekunde zu früh, denn schon tauchte der Gams wieder an der Geröllkante auf, zog wie gehabt, mal hier, mal dort ein Gräslein zupfend wieder nach links in das Geröllfeld hinein. So, jetzt könnte es passen. Vorsichtig knickte ich einige Zweige, die im Weg waren weg, legte die Büchse auf einen in passender Höhe wachsenden, stabilen Fichtenast, schmiegte mich förmlich in den Stamm hinein, hatte gerade den Gams im Zielglas – und hörte ihn auf einmal pfeifen. Ja Teufel, der konnte doch von uns nichts bemerkt haben! Der Wind stand passend, wir hatten gute Deckung – und in mein sekundenkurzes Stocken und Rätselraten hinein wippte der Bock bereits lässig bergauf, verhoffte nochmals, wiederum ein Pfeifen, dann verschwand er in den Felsen. Noch einmal sahen wir ihn, aber schon hoch oben in den Felsschroffen fast am Grat, Entfernung schon gut 400 Meter – es war vorbei.
Ohne Spektiv geht nichts.
Wir schauten uns an und konnten uns keinen Reim auf diese nicht einmal sehr beunruhigt wirkende Abflucht machen. Doch die Erklärung fand sich, als wir unser Versteck verließen und über das Geröllfeld hin zu dem Geländegrat pirschten. Denn dort, auf der darunter liegenden Almwiese, werkelte ein Bauer an den vom sommerlichen Weidegang her stehen gebliebenen Zaunpfosten, packte die aus dem Boden gezogenen Stecken auf einen Haufen, klopfte zwischendurch mit dem Hammer einige Nägel ins Holz und hatte weder von uns noch von dem Gams was bemerkt. Überrascht blickte er auf, als wir in ca. 70 Metern Entfernung oberhalb des Hanges in sein Sichtfeld kamen. Trotz unseres Grolls grüßten wir freundlich, er unterbrach seine Arbeit, winkte zurück und klopfte anschließend weiter mit dem Hammer an seinen Weidezaunstecken. Für uns war klar, an dieser Stelle war vorerst nichts mehr zu machen. Aber wir wussten jetzt wenigstens, wo ein guter Bock stand, und planten die Zeit für den Abendansitz. Wenn wir Glück hatten, würde der Bock die Störung nicht krummnehmen, zumal er ja das Arbeiten der hiesigen Almbauern das ganze Jahr über gewohnt war.
Das bisherige vorsichtige Pirschen konnten wir uns jetzt erst einmal sparen, und so ging es normalen Wanderschrittes weiter, bis wir nach etwa 500 Metern den gesamten Bergkopf umrundet hatten. Vor uns teilte sich das Gelände, Wir hielten uns links und pirschten über ein weitläufiges, mit Buckeln und tiefen Geländefalten versehenes Almweidengebiet weiter, uns immer am Fuß der Bergkette haltend. Die weitläufigen Almweiden erstreckten sich noch etwa zwei Kilometer weiter in südliche Richtung, stiegen dabei allmählich immer mehr an und endeten zwischen zwei Felsmassiven. Wie Severin mir erläuterte, ging es am Ende dieser Almweiden über einen Pass, der dann wieder in das nächste Tal hineinführte. Aber bis zum Pass selbst wollte er mit mir, in Anbetracht der nun schon herannahenden Abendstunden, nicht mehr pirschen. Wir fanden vor uns im Almgelände eine Einbuchtung, die tief genug war, uns Deckung zu bieten, und spekulierten von dort aus mit den Gläsern in die vor uns liegenden Steilhänge hinein und auf die Grate hinauf. Aber kein Gams ließ sich blicken. Doch bei einem der gelegentlichen 360 Grad-Rundumblicke entdeckten wir, quasi in unserem Rücken, in einem nur mit Gras bewachsenen Steilgebiet, Gamswild. Doch bis dahin waren es sicher gut 1000 Meter. Der dortige Gebirgszug zog sich in halbrunder Ausformung von Ost nach Südwest um unseren Standort herum und endete, so Severin, an dem Passdurchstieg, von dem er bereits erzählt hatte. Weit unter uns und winzig klein konnten wir auch die Almhütte sehen, an der unser Auto stand. Und sinnigerweise genau dort, etwas oberhalb und hinter dieser Hütte, so auf halber Berghöhe, bewegte sich das kopfstarke Gamsrudel. Soweit wir zählen konnten, um die 30 Stück. Das Spektiv verriet, dass alle Altersklassen vertreten waren, und auch einige wohl jüngere Böcke waren dabei. Ein Herankommen an das Rudel wäre zwar möglich gewesen, aber nur, wenn wir weit nach rechts ausgeholt hätten, um dann, überriegelt von der anderen Hangseite her, über den Grat auf Schussdistanz zu kommen – zu Fuß gut zwei Kilometer, vom Kraxeln mal gar nicht zu reden. Für eine solche Aktion reichte die Zeit nicht mehr.
Mittlerweile hatte sich die Sonne, die uns den ganzen Tag über begleitet hatte, hinter immer dichter werdenden Wolken versteckt. Auch war ein zunehmend böiger Wind aufgekommen. Einer der im Gebirge nicht unüblichen raschen Wetterwechsel kündigte sich an. Wir machten kehrt, um noch vor Einbruch der Dämmerung zu dem felsigen Fichtenhorst zurückzukommen, wo wir erstmals den dann vom Bauern vertretenen Gamsbock gesehen hatten. Diesmal wählten wir einen anderen Weg. So umschlugen wir, nach unten ausweichend, den Standort des Bauern. Dabei blieben wir zwar ohne Sichtkontakt auf die Felsen und auf das Geröllfeld, schafften es aber auch, ungesehen in unseren Felsfichtenauslug hineinzukommen. Dort angekommen, wurden zunächst die Rucksäcke abgestreift, dann folgte ein gründliches Ableuchten des Geröllfeldes und des sich darüber auftürmenden Felsgeländes. Doch nirgends ein Gams. Nun gut, noch war passables Büchsenlicht, wir hatten Zeit. So konnten wir uns erst einmal in Ruhe den essbaren Inhalten unserer Rucksäcke widmen. Den ganzen Tag gelaufen, da meldete sich mittlerweile doch deutlich der Magen. Die feste, weißbereifte Salami ausgepackt, mit dem Jagdmesser über den Daumen deftige Scheiben abgeschnitten, dazu würziges Roggenkräuterbrot und den aus der Thermoskanne dampfheißen Kaffee – Welt, was willst du mehr. Zum Schluss unseres Mahls zückte Severin noch den Flachmann, gefüllt mit dem bereits bekannten Birnenbrand. Jetzt fehlte zum vollen Glücklichsein nur noch der Gams. Aber was nicht war, konnte ja noch werden.
Während des Schmausens erfolgte immer wieder mal ein Blick auf den vor uns liegenden Berg. Und wieder war es Severin, der den Gams entdeckte. Hoch oben in den Felszinnen, unerreichbar für meine Büchse, wechselte er mit wenigen, fast senkrecht in die Tiefe führenden Sprüngen in eine abwärts führende Felsrinne. Das ließ sich ja gut an. Wenn er diese Richtung beibehalten sollte, konnte er durchaus noch vor Schwinden des Büchsenlichtes am Fuß der Felswände erscheinen. Doch die Zeit verging, fünf Minuten, zehn Minuten – kein Gams. Und dann doch. Wesentlich weiter links als erwartet, auf einem schräg am Fels verlaufenden, mit Gras bewachsenen Felsband, aber immer noch in unerreichbarer Höhe, tauchte der Bock wieder auf. Und so langsam kehrte bei uns die Einsicht ein, dass wir ihn an diesem Abend nicht mehr in schussbarer Nähe sehen würden. Für heute war endgültig Schluss. In die immer stärker hereinbrechende Dämmerung hinein verzogen wir uns vorsichtig, immer um Deckung bemüht, in Richtung Hütte. Auf keinen Fall sollte uns der Bock bemerken, wir hätten ansonsten die Chancen für den nächsten Tag unnötig vertan.
Wieder an der Hütte angekommen war die erste Tat, den Ofen mit Holzscheiten zu bestücken. Nur wenig später züngelte das Feuer zwischen den Holzklötzen hervor und verbreitete augenblicklich Wärme. Zwischenzeitlich hatten wir die müden Füße aus den schweren Bergstiefeln gezogen, und – oooh, ein fast gleichzeitiger Seufzer aus zwei Kehlen, es war wie ein Wunder, man fühlte sich augenblicklich federleicht. Dann die Jacken runter, mollige Pullover übergestreift, an den Hüttentisch gesetzt und die Füße weit ausgestreckt. So. jetzt war Ende mit Jagd und Laufen. Jetzt war die Zeit gekommen, die heimelige Atmosphäre der Hütte richtig zu genießen. Severin hatte, nachdem das Feuer hoch aufflackerte, den großen Wasserkessel auf die Herdöffnung gestellt, denn uns beide verlangte nach einer guten Tasse Kaffee. Aber bis der durch war, verging ja einige Zeit. Also verlor die erste Flasche Rotwein ihren Korken. Funkelnd ergoss sich der rote Strahl ins Glas und herrlich mundete der erste Schluck. Wir ließen im Gespräch den ganzen Tag Revue passieren und während im Ofen das Holz in der Glut knackte und puffte, schmiedeten wir bereits an einem Plan für den nächsten Morgen. Dann war der Kaffee fertig – ebenfalls wundervoll – und alle Lebensgeister waren in Kürze wieder aktiviert.
Die Zubereitung des Abendbrotes auf dem zweiflammigen Gasherd hatte sich Severin vorbehalten. Er ist ein guter Hobbykoch und zauberte in Kürze mit Schnitzelfleisch und Pilzen ein schmackhaftes Abendbrot aus der Pfanne. Dazu auch noch eine zweite Flasche Rotwein, und mit dem Ausleeren dieser hatten wir dann nach dem anstrengenden Tag auch die Bettschwere erreicht, um schnell in Morpheus’ Armen zu versinken. Von dem nervenzerfetzenden Schnarchen, das Severin zu eigen ist und das ansonsten jeden Schlaf verhindert, habe ich an diesem Abend nichts mitbekommen.
Dafür weckte mich am frühen Morgen ein gleichmäßiges, klopfendes Strömen auf dem Hüttendach. Ein richtiger Schnürlregen hatte sich über Nacht eingestellt. Unsere beim Heimweg noch gehegte Hoffnung, dass das Wetter halten würde, weil der böige Wind zur Nacht eingeschlafen war, hatte sich nun leider nicht erfüllt. Bei so einem Wetter gehe ich daheim im Sauerland höchsten auf den überdachten Ansitz, weil es Sauwetter ist und in der Tat die Schwarzkittel häufig noch bis in den hellen Morgen unterwegs sind. Aber hier und heute, quasi aus den mollig warmen Federn heraus in den Regen zu gehen, total nass zu werden, nein, nicht mit mir. Severin mochte meine standhafte Verweigerung eines Pirschgangs anfänglich gar nicht glauben. Das beste Gamswetter sei das, so versicherte er mir ein übers andere Mal. Doch vergebens. Und so gab er schließlich resigniert seine Überzeugungsarbeit auf. Wir ließen es langsam angehen mit einem ordentlichen Frühstück, bestehend aus gebratenem Speck und Eiern, das, was jeder Mann schnell auf dem Herd herzaubern kann.
Der hinter der Hütte aufragende Berg war nach dem ausgiebigen Frühstück unser Spekulierobjekt. Dank der Dachüberstände konnte uns der Regen nicht viel anhaben und so schauten wir mit Muße in die Latschenfelder und Felsschrunden hinein, ob sich dort nicht Wild zeigen würde. Die Zeit verging und der Uhrzeiger rückte bereits auf die elfte Morgenstunde.
Und dann tatsächlich, da, wo wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten und nicht mehr an Anblick geglaubt hatten, zeigten sich auf einmal um einen Felskopf herum zwei Gams, dann noch ein drittes Stück, und nur wenig später zog aus einer nicht einsehbaren Senke noch ein viertes hinzu. Fast gleichzeitig erschienen oben auf dem Felskopf noch zwei weitere Gams. Ein Scharl an Geißen und Kitzen war es, die wohl geruht hatten, dann nach und nach, eins ums andere hoch geworden waren und sich nun fleißig der Äsung widmeten. Damit bewahrheitete sich wieder mal die alte Jägerweisheit – Wild kennt kein Wetter. Und als ob dieser für uns so erfreuliche Anblick das Signal an den Wettergott gewesen wäre – die Wolkendecke riss auf, es zeigte sich das Blau des Himmels. Aus dem bisher stetigen Tropfenfall wurde nach und nach ein Tröpfeln, offenkundig war die Schlechtwetterfront durchgezogen. Sogar die Sonne lugte gelegentlich unter den Wolken durch.
Die Gams standen für uns unerreichbar hoch, waren aber auch uninteressant, da das Scharl nur aus führenden Geißen mit ihren Kitzen bestand. Und so rüsteten wir uns wieder zu einem Pirschgang zum nicht weit entfernten Bänkli. Es war damit zu rechnen, dass die Wetterveränderung auch andere Gams rege gemacht hatte. Unsere nun einsetzenden Aktivitäten, wie Rucksack packen, Bergschuhe zur Hand holen und Hütte verschließen, hatten oben die Gams natürlich sofort mitbekommen. Starr sicherte das ganze Scharl zu uns herunter. Doch bald ästen sie weiter. Zum einen waren sie ja die Bauersleute und die Bewegungen um die Hütte herum das ganze Jahr über gewöhnt, zum andern mochten sie denken, ihr könnt uns hier oben sowieso nichts. Wir schnürten die Stiefel, und gerade, als wir Rucksack und Gewehr über die Achseln schwingen wollten, um in Richtung Bänkli loszugehen, tauchten um die Hüttenecke herum zwei Jäger auf. Beide in zünftiger Bergler Kluft – der eine mit einem bildschönen Weimaraner am locker hängenden Riemen – und beide deutlich um die siebzig.
Zunächst erst einmal Weidmannsheil und herzliche Begrüßung, wobei mir eine Eigenheit der Schweizer Jäger augenfällig demonstriert wurde: Man duzt sich untereinander; sofort und ohne Ansehen der Person. Eine in meinen Augen sympathische Art, miteinander umzugehen. Man ist Jäger, man ist Gleichgesinnter, und der soziale Stand oder Status spielt keine Rolle. Zugegebenermaßen hatte ich anfänglich meine Schwierigkeiten, zwei mir völlig Fremde und zudem in schon ehrwürdigem Alter befindliche Personen mit dem vertraulichen „Du“ anzusprechen. Aber die Unbefangenheit und auch Selbstverständlichkeit der beiden honorigen Altjäger – der eine Arzt im Ruhestand, der andere noch tätiger Unternehmer – machten es mir leicht.
Beide waren noch sehr rüstig und hatten den steilen Anmarschweg zu Fuß von der weit unten am Berg liegenden, noch bewirtschafteten Sennhütte nach hier zur Hinterwaach bewältigt. Solche Fußmärsche sind in der Schweiz, oder besser gesagt im Kanton Bern, keine Besonderheit. Zu den Eigenheiten des Berner Jagdgesetzes gehört es nämlich, dass ein einmal abgestelltes Auto am selbigen Tag nicht mehr bewegt werden darf. Zu Beginn der Jagd kann man mit dem Auto zu einem selbst gewählten Ausgangspunkt ins Gebirge fahren (im Fall der beiden Altjäger war es die auf halber Höhe liegende, bewirtschaftete Hütte). Hat man dann aber das Fahrzeug verlassen und beginnt mit dem Pirschgang, darf das Auto an diesem Tag bis zum Ende der Dämmerung nicht mehr bewegt werden. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber das Abfahren und Absuchen ganzer Landstriche wirkungsvoll unterbunden. Diese Vorschrift wird von der allgegenwärtigen Wildhut streng kontrolliert. Und ich muss sagen, ich finde sie sehr sinnvoll.
Zunächst aber hatten wir uns alle gemeinsam auf der Hüttenbank niedergelassen. Der Hund lag brav neben seinem Herrchen. Ein paar „Tropfen“ von Severins Birnenbrand wurde den Neuankömmlingen kredenzt. Ein lebhaftes Gespräch setzte ein, wovon ich jedoch nur bruchstückhafte Inhalte mitbekam. Treffen sich nämlich Deutsch-Schweizer, so ist Schwyzerdütsch die fast zwanghafte Folge der Unterhaltung. Das ist ebenso, wie wenn sich in Deutschland zwei Ostfriesen begegnen.
Sporadisch wurde ich über die Gesprächsinhalte informiert, wobei sich herausstellte, dass beide ebenfalls das Bänkli als Ziel auserkoren hatten. Severin und ich hatten zwar, weil wir schon so gut wie auf dem Weg dorthin waren, die älteren Rechte, aber da waren wir uns sofort einig, diesen beiden netten, älteren Herrschaften gehörte der Vortritt. Doch nun zeigte sich die Gastfreundschaft der Schweizer. Nein, nein, wurde unser Angebot abgewehrt. Ich sei der Gast, zudem aus Deutschland und von weither angereist, wir sollten uns auf den Weg zum Bänkli machen, sie würden sich anderweitig umschauen. Eine sehr noble und hochherzige Geste, die wir nun aber auch nutzten. Mit gegenseitigem Weidmannsheil trennten sich unsere Wege.