Die Autorin

Nicole Drawer – Foto © Leszek Gburzynski

Nicole Drawer war von 1984 bis 2005 als Polizistin tätig, zuletzt als Kriminaloberkommissarin beim LKA Hamburg. Seit dem hat sie mehrere Bücher geschrieben und war immer wieder als Darstellerin fürs Fernsehen tätig. Sie lebt mit vier Katzen in Norddeutschland in einer ländlichen Gegen direkt im Wald.

Das Buch

Frank Bartels ist ein Polizist, wie ihn der Hamburger Kiez geformt hat: Draufgängerisch, um keinen Schuss verlegen und dabei erfolgreich und irgendwie auch immer noch im Rahmen der Regeln. Nur bei seinem letzten Fall geht er ein wenig zu weit und wird prompt strafversetzt. Als wäre das nicht schon schlimm genug, verschlägt es ihn auf die kleine Insel Neuendiek. Als er dort ankommt, ahnt er bald, dass er in seiner persönlichen Version der Hölle gelandet ist. Auf Neuendiek ticken die Uhren anders. Da stellt die Putzfrau der Dienststelle schon mal eine Verwarnung aus und der Dienstwagen kann nur 30 km/h fahren. Doch dann wird am Strand eine Leiche entdeckt. Niemand kannte den Toten und Frank steckt auf einmal in seiner ersten Mordermittlung. Ganz allein. Denn durch einen Sturm ist die Insel plötzlich vom Festland abgeschnitten. Und währen der Mörder noch frei herum läuft, halten die Inselbewohner alle Schotten dicht…

Nicole Drawer

Plötzlich Inselpolizist

Der erste Fall für Frank Bartels

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95819-254-6

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Für Sita, Stanley, Liam und Maggie. Ohne euch hätte ich die letzten 18 Monate nicht überstanden. Ihr habt mir immer wieder Kraft gespendet.

Für Nicole „Nici“ Bomke. Dafür dass du mir in den letzten Monaten immer wieder Mut zugesprochen und mir aus der Entfernung das Händchen gehalten hast.

Für Klaudia Birkner. Mit viel Gymnastik und noch mehr Beharrlichkeit hast du mich wieder fit gemacht.

Für Jürgen „Hubsi“ Huber. Er war ein tolles Vorbild.

Für meinen Agenten Dirk R. Meynecke und meine Lektorin. Ich mag nicht immer politisch korrekt sein und von Feminismus habe ich auch nicht wirklich Ahnung, aber ich lerne immer gern dazu. Danke.

Prolog

Er erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, aber das war es nicht. Es war schon fast 11 Jahre her. Sein Bischof hatte gemeint, er solle sich alles aufschreiben, eine Art Tagebuch führen, um alles verarbeiten zu können. Um seine Trauer bewältigen zu können. Um seinen Frieden mit Gott machen zu können, brauchte er sich nichts aufzuschreiben. Es hatte sich alles fest in sein Hirn gebrannt und er würde es nie wieder vergessen. Im November 2007 endete sein bisheriges Leben. Und immer begannen seine Gedanken um jenen November 2007 zu kreisen. Er dachte nie an die Zeit davor und auch nie an die Zeit danach.

Immer nur an den November 2007.

Es war ein extrem kalter November gewesen und er wusste nicht, was schlimmer war: die Feuchtigkeit oder dass es so früh dunkel wurde. Die nassen Straßen und Wege glänzten im Licht der Straßenlaternen. Autos fuhren durch tiefe Pfützen und verursachten Wasserfontänen, Menschen hasteten mit eingezogenen Köpfen und im Bestreben schnell ins Trockene zu kommen vorbei. Das Licht aus unzähligen Fenstern schien warm zu ihm herunter, der er in seinem Wagen saß und wartete. Mittlerweile vor Kälte zitternd, er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon saß und wartete, trampelte er mit den Füßen auf das Bodenblech und blies immer wieder in seine gewölbten Hände. Sein Umweltbewusstsein verbot es ihm, den Motor laufen zu lassen, um die Heizung in Betrieb zu halten. Außerdem brachte das nach einiger Zeit auch nichts mehr. Aber er hatte kalte Füße und immer wenn er kalte Füße hatte, war alles vorbei. Dann fror er, egal, was er dagegen tat. Dann half nur noch ein heißes Bad. Wie war das eigentlich als Kind gewesen? Er konnte sich gar nicht mehr richtig erinnern. Wahrscheinlich genauso.

Plötzlich hupte jemand und er schrak aus seinen Gedanken auf. Aber er war gar nicht gemeint. Irgendwo hörte er Leute schimpfen und dann die Hupe noch einmal. Unflätige Bemerkungen flogen hin und her, dann wurde es wieder ruhig in dieser kleinen Seitenstraße. Das Wetter machte alle Menschen irgendwie gereizter und unfreundlicher. Er schüttelte kurz den Kopf. Da war sie wieder, diese dumme Angewohnheit sich ablenken zu lassen, gerade dann, wenn man sich auf etwas wirklich Wichtiges konzentrieren musste. So wie er jetzt. Er saß hier und musste aufpassen. Vielleicht war sie schon da? Er sah zu den Fenstern hoch und war erleichtert zu sehen, dass diese Fenster als einzige in dem Haus noch unbeleuchtet waren. Dann hatte er sie also nicht verpasst.

Er hatte keine Angst, dass sie ihn beim Nachhausekommen entdecken könnte. Erstens stand er schräg gegenüber vom Hauseingang und zweitens rechnete sie nicht mit ihm. Wie hieß es doch so schön? Bei Nacht sind alle Katzen grau. Und es war dunkel. In der Dunkelheit sah beim flüchtigen Hinsehen ein Auto aus wie das andere. Er wurde langsam ungeduldig. Wo blieb sie denn so lange? Er schaute auf die Uhr und dachte zunächst, sie sei stehengeblieben. Aber nein, es war tatsächlich erst halb sechs am frühen Abend. Müsste sie aber nicht trotzdem schon zuhause sein? Machte sie etwa Überstunden? Sie machte nie Überstunden. Behauptete sie zumindest immer. Dann auf einmal fuhr ein Wagen langsam vorbei. Er blieb in der Nähe der Haustür in zweiter Reihe stehen und dann plötzlich schien es sich der Fahrer anders zu überlegen. Er nahm eine Parklücke ein paar Meter weiter ins Visier und parkte elegant mit einem Schwung rückwärts ein. Die Beifahrertür ging auf und Sandy stieg aus. Wieso stieg sie aus einem fremden Auto? Wo war ihr eigenes? Der Fahrer war jetzt auch ausgestiegen und gemeinsam liefen sie schnell zur Haustür. Unter dem Regen durch, wie Sandy immer sagte. Sie schloss auf und beide gingen hinein. Der Mann hatte seine Hand auf Sandys Hüfte. Er sah, wie langsam die Haustür ins Schloss fiel und war wie gelähmt. Wer war der Mann und was machte er hier? Er zählte die Sekunden langsam vor sich hin und beugte sich näher zur Windschutzscheibe, um an der Hausfassade hochzuschauen. Er konnte durch die regennasse Scheibe keine scharfen Konturen sehen, aber er konnte sehen, wie im Wohnzimmer das Licht anging. Und im Schlafzimmer.

Im Schlafzimmer.

Fassungslosbeobachtete er, wie das Licht dort kurze Zeit später wieder erlosch. Sie hatte doch immer gesagt, dass er für sie der Einzige sei. Sie hatte ihn belogen. Er fühlte sich gedemütigt. Kraftlos ließ er seinen Kopf auf das Lenkrad sinken und fing hemmungslos an zu weinen.

Kapitel 1

Auf der Wache wurden Frank Bartels und sein junger Kollege Michael begrüßt wie Popstars. Die Kollegen klatschten und klopften ihnen abwechselnd auf die Schulter. Jede größere Festnahme eines Kriminellen wurde hier gefeiert.

Zwar war diese Festnahme nicht ohne Komplikationen vonstattengegangen, aber das war angesichts der Tatsache, dass sie einen Dealer erwischt hatten, der seine Drogen vor Schulen verkaufte, zweitrangig. Natürlich war diese Festnahme nur ein Tropfen auf einem heißen Stein, aber das war umso mehr ein Grund für ihn, jeden Kriminellen festzunageln, dem er habhaft wurde.

»Is gut jetzt. Habt ihr nix zu tun oder was?« Bartels schaute gespielt streng in die Runde.

Sie alle grinsten vor sich hin und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.

Er, Frank, war sehr stolz. Das waren seine Jungs und Mädels. Er war der Schichtleiter und unter seiner Führung war diese Schicht förmlich aufgeblüht.

Sie hatten die meisten Festnahmen in Hamburg und so manche Einbruchsserie war von ihnen ohne Zuhilfenahme der Kripo aufgeklärt worden.

»Frank, du sollst hoch zum Chef.« Sein Wachhabender stand neben ihm.

Frank nickte.

Das kannte er schon. Er würde nach oben gehen, einen kurzen mündlichen Bericht abliefern, sich vielleicht eine Belobigung abholen und vom Chef zum wiederholten Male sanft ermahnt werden, es doch künftig bitte ein wenig ruhiger angehen zu lassen.

Polizeioberrat Brändel war eigentlich ganz verträglich. Frei nach dem Motto Lasst ihr mich in Ruhe, lass ich euch in Ruhe fristete er schon seit mehreren Jahren sein Dasein als Dienststellenleiter eines Polizeikommissariats in Hamburg. Er kam morgens als Letzter und ging nachmittags als Erster. Mit anderen Worten: Solange man ihn nicht ärgerte, sah und hörte er auch nichts.

Oberkommissar Frank Bartels klopfte an die Tür und trat auf das Herein in das Büro seines Chefs. Brändel saß hinter seinem Schreibtisch, aber als er Frank sah, sprang er auf und ging strahlend und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

Großer Gott, will er mich jetzt an seine schmächtige Brust drücken?

Aber noch im letzten Moment überlegte Brändel es sich anders und schüttelte Frank lediglich die Hand. Dann wies er auf einen seiner Besucherstühle, während er sich selbst wieder hinter seinen Schreibtisch setzte.

»Herr Bartels, schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz.«

Frank tat wie ihm geheißen, auch wenn er sich immer ein wenig unwohl fühlte seinem Chef gegenüberzusitzen.

Brändel hatte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch abgestützt und klatschte in die Hände.

»Das war ja mal wieder ein dolles Ding. Diese Festnahme, meine ich.«

Frank lächelte bescheiden. »Danke.«

Brändel beugte sich ein wenig vor, so als hätten sie etwas Vertrauliches zu besprechen. »Und? Wie geht es der Familie? Was ist mit Ihrer Tochter? Die muss doch schon so um die … Ich meine, spricht sie schon? Dann kommt sie ja wohl bald in den Kindergarten?«

Plötzlich überkam Frank ein merkwürdiges Gefühl. Was sollte das hier werden? Aber er wartete erst einmal ab und antwortete pflichtgemäß.

»Sie wird nächsten Monat 15 und ist in der 9. Klasse.«

Brändel lachte auf. Etwas zu schrill und etwas zu laut.» Wirklich? Wie die Zeit vergeht! Es kommt mir vor wie gestern, als ich sie im Arm hielt … die Taufe …«

»Sie ist nicht getauft.«

Langsam kam Frank die ganze Sache hier spanisch vor. Verstohlen schaute er auf seine Uhr. Er hatte noch genug zu tun.

»Na ja, wie dem auch sei. Haha.« Wieder dieses betont joviale Gelächter. Aber urplötzlich brach das Lachen ab und sein Vorgesetzter wurde ernster. Mit einem leichten Lächeln fuhr er fort: »Sehen Sie, Herr Bartels, wir, also die Polizeiführung und ich, also wir haben uns überlegt, dass Sie sich eine Belohnung verdient haben.«

»Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Die Arbeit, für die ich von den Hamburger Bürgern bezahlt werde.«

»Ja, aber sehen Sie, ein verdienter Beamter wie Sie hat Besseres verdient. Sie sind nun in dem Alter, indem man vielleicht auch mal der Jugend den Vortritt lassen sollte.«

Frank war irritiert. Hatte er irgendetwas verpasst? Lief hier gerade irgendetwas an ihm vorbei? Bevor er Luft holen konnte, kam Brändel ihm zuvor.

»Sie werden versetzt.«

»Ich werde was?« Vergessen war die Festnahme und auch der Bericht, der unten im Schreibraum auf ihn wartete. Hatte er sich verhört?

»Sie werden versetzt.«

»Was? Wohin? Warum?« Frank riss entsetzt die Augen auf.

»Nach Neuendiek. Und wie gesagt, es ist eine Belohnung. Und beruhigen Sie sich.«

»Aber … ich verstehe nicht … Ich habe die höchste Festnahmequote. Ich habe …«

Brändel hob, in dem Bestreben Franks Redefluss zu stoppen, eine Hand.

»Ihre Qualifikation wird auch an anderer Stelle dringend benötigt. Und außerdem, Neuendiek ist eine zauberhafte Insel. Sie werden da arbeiten, wo andere Urlaub machen. Was wollen Sie mehr?« Er hob die Arme und drehte die Handflächen nach oben. Er wirkte, als habe er seinem Untergebenen gerade ein großes Geschenk gemacht.

»Diese Polizeiaußenstelle in Neuendiek hat doch schon einen Beamten, oder?« Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt.

»Der geht nächsten Monat in den wohlverdienten Ruhestand.«

»Aber Sie können doch nicht … ich meine … mein Platz ist hier …«

Brändels Lächeln war wie weggewischt. Er wirkte jetzt ernsthaft böse und kniff seine Augen zusammen.

»Ich rede jetzt mal Klartext. Sie mögen ja die höchste Festnahmequote haben, aber haben Sie mal daran gedacht, was das die Stadt Hamburg in den letzten Jahren gekostet hat? Tausende von Euro. TAUSENDE! Ach, was sage ich? HUNDERTTAUSENDE! Wenn der Schaden nicht gar in die Millionen geht.«

»Ich verstehe nicht …«

»Erinnern Sie sich noch an Ihre Festnahme letztens? Der Handtaschenräuber. Es gab diverse Beschwerden gegen Sie, von Bürgern, die gesehen haben, dass Sie den Mann geschlagen haben.«

»Der Mann hatte wochenlang alten Damen vor Banken aufgelauert und ihnen dann die Tasche entrissen. Als ich ihn festnehmen wollte, hat er sich gewehrt.« Frank beugte sich vor und breitete die Arme aus. Dabei drehte er die Handflächen nach oben. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis er jemanden umbringt.«

»Sie haben den Mann bis zu ihrem Dienstfahrzeug vor sich her geprügelt!

Was ist mit dem Tankstellenräuber letzten Monat, den Sie verfolgt haben?«

»Den habe ich festgenommen, und zwar im Alleingang.« Auch wenn seine Stimme nun ein wenig unsicher klang, ein gewisser Triumph war herauszuhören.

»Ja, und so ganz nebenbei haben Sie neben dem Streifenwagen auch noch fünf andere Fahrzeuge demoliert. Im Alleingang!« Brändel lehnte sich zurück. Er war sichtlich aufgewühlt und schien um seine Fassung zu ringen.

»Aber ich …«Frank beschloss, das erste Mal seit Jahren, sich zu rechtfertigen, aber sein Chef kam jetzt erst richtig in Fahrt.

»Und heute? Diese unselige Geschichte mit der Boutique?«

»Das war ein Unfall. Der Mann war ein Dealer. Der musste aus dem Verkehr gezogen werden.«

Polizeioberrat Brändel verlor nun endgültig die Nerven. Er sprang auf und brüllte: »Indem Sie wild mit Ihrer Waffe um sich ballern und den Mann durch eine Schaufensterscheibe befördern? Und das für drei Gramm Marihuana? Sind Sie irre, Mann?«

Für einen Moment herrschte Grabesstille. Dann ließ sich Brändel langsam wieder auf seinen Stuhl sinken und holte tief Luft. Als er weitersprach, hatte er sich und seine Stimme wieder in der Gewalt.

»Also, Sie werden versetzt. Nach Neuendiek.«

»Ja, aber …«

»Sie melden sich heute in einer Woche, also am kommenden Montag, bei Ihrer neuen Dienststelle. Sie werden von dem Kollegen vor Ort eingewiesen. Bis dahin sind Sie vom Dienst freigestellt. Entweder das oder Sie gehen in den vorzeitigen Ruhestand. Ihre Entscheidung.«

»Und meine Wohnung?« Frank gestattete sich noch ein letztes Aufbäumen.

Brändel lächelte wieder.

»Der liebe Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, dann werden Sie doch wohl in derselben Zeit einen Umzug organisieren können.«


Neuendiek. Was für ein verfluchtes Drecksnest!

Der Mann mit den militärisch kurz geschnittenen, dunklen Haaren und der kanariengelben Windjacke stemmte sich gegen den Wind.

Das sah ihr ähnlich, dass sie sich hier vor ihm versteckte.

Wobei von Verstecken wohl kaum die Rede sein konnte, denn schließlich hatte er sie ja gefunden, nicht wahr? Obwohl, gefunden war auch nicht das richtige Wort, immerhin hatte er noch gar nicht angefangen zu suchen. Er hatte halt ein wenig Hilfe bekommen. Er fragte sich, was man dafür von ihm verlangte, denn nichts war umsonst im Leben.

Er schob den Riemen des Rucksacks, den er nur auf einer Schulter trug, ein wenig höher. Bisher war der Weg asphaltiert gewesen, aber langsam verschwand das dunkle Band der Straße und machte mehr und mehr dem Sand Platz. Fast so, als wolle sich die Natur ihren Platz zurückholen.

Er würde nicht lange bleiben. Warum auch? Er wollte nur sie, beziehungsweise sein Geld, und dann wäre er wieder weg. Und niemand würde bemerken, dass er jemals hier gewesen war.

Vor einem kleinen reetgedeckten Haus blieb er stehen. Er zog einen Zettel aus der Tasche und verglich ihn mit der Anschrift. Ja, hier musste es sein.

Erneut kam eine Windbö, riss ihm fast den Zettel aus der Hand und raubte ihm den Atem. Wie konnte nur jemand hier leben? Mit all dem Wind, diesem hässlichen Gestrüpp und der ständigen Angst, beim nächsten Orkan abzusaufen?

Energisch schritt er durch das kleine Tor und ging auf die Haustür zu. Vergeblich suchte er nach einer Klingel und schließlich benutzte er den Türklopfer.

Fast genau in derselben Sekunde wurde die Tür aufgerissen und eine kleine, ältere Dame mit draller Figur und rundem Gesicht strahlte ihn an.

»Sie müssen der Herr Stefan Albrecht sein? Kommen Sie nur herein.«

Er nickte freundlich, denn wenn er einen Vorzug hatte, dann seinen Charme, den er wie eine Lampe ein- und ausschalten konnte.

»Der bin ich.« Und er trat ein.


»Sach ma‘, Hubsi, der Neue, wat is‘n dat für einer?«

Hubert Teichert, genannt Hubsi, seit 30 Jahren der einzige Polizist der Insel, und somit der einzige Uniformierte hier am Tisch, drehte sein noch volles Bierglas hin und her.

»Jo, viel weiß ich ja auch nich´. So ´n Jungspund. Anfang oder Mitte Vierzig. Soll`n ganz harter Hund sein.«

»Oh ha.« Karl-Heinz Bingen, der Bürgermeister.

»Soll heißen?« Henrik Meister, der Schrauber.

»Möge der Herr mit uns sein.« Martin Schilling, der Pastor. Fromm wie selten. Wenn auch schon mit einem leichten Schwips. Normalerweise hielt er sich bei ihren wöchentlichen Treffen an seiner Cola oder an einem Tee fest, heute hatte er sich ausnahmsweise für Whisky entschieden.

Karl-Heinz Bingen schaute nachdenklich in sein Glas. »Und? Können wir den schnell wieder loswerden?«

Hubsi schüttelte den Kopf. »Eher weniger. Hat wohl ´nem Typen die Birne weggeballert oder so. Soll wech.«

»Oh ha.« Karl-Heinz wirkte ein wenig besorgt.

»So einer ist das also.« Henrik nickte bedächtig.

Jutta Wertheim, die wasserstoffblonde Wirtin, kam mit einer neuen Runde. Bier für den Polizisten, Whisky für den Pastor und den Schrauber, Gin für den Bürgermeister.

»Den müsst Ihr euch irgendwie hinbiegen.« Hubsi grinste breit.

»Ihr?« Karl-Heinz hob die Augenbrauen.

Hubsi lächelte. »Ich habe euch schon die ganze Zeit gesacht, ich bin dann mit meiner Frau wech. Türkei. Belek. Golf spielen. Die nächsten hundert Jahre.«

Martin Schilling nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.

»Nu ist aber gut, Jungs.« Jutta stand plötzlich mit einem kleinen Tablett neben dem Stammtisch.

»Warten wir es erst einmal ab. Vielleicht ist der ja ganz in Ordnung. Ich schmeiß `ne Runde Kurze.«

Jeder der Anwesenden nahm sich ein kleines Glas mit Juttas selbst gebranntem Schnaps vom Tablett, auch Jutta. »Und? Hör ich was?«

Karl-Heinz brachte den üblichen Trinkspruch aus: »Auf die Leiber der hübschesten Weiber.«

»Jo.« Von allen. Sie setzten die Gläser an die Lippen und kippten das Zeugs, das eigentlich keinem so wirklich schmeckte, mit einem Zug hinunter.

»Na bitte, geht doch.« Jutta nickte befriedigt. »Schwere Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Oder so ähnlich.«

»Dann müssen wir den also erziehen.« Der Bürgermeister wirkte nachdenklich.

»Was weißt du sonst noch? Ist er verheiratet?« Henrik wollte es nun aber ganz genau wissen.

Hubsi überlegte einen Moment. Viel wusste er nicht, schließlich hatte er kaum noch Kontakte zum Festland. Die einzige Nordsee-Insel der Stadt Hamburg war so klein und unbedeutend, dass kaum noch jemand wusste, dass es sie gab. Geschweige denn ihn. Wahrscheinlich dachten die meisten Kollegen, dass er schon lange über den Jordan gehoppelt war.

»Geschieden, glaube ich.« Die meisten Polizisten Anfang 40 waren mindestens einmal geschieden. Insofern war die Wahrscheinlichkeit, dass seine Antworten der Wahrheit entsprachen, ziemlich hoch. »Und Kinder hat er wohl auch.« Die meisten geschiedenen Kollegen zahlten sich an Alimenten dumm und dusselig.

»Möhe der Herrr miiie unss sssein.« Martin bewegte sich bereits auf dem Grat zwischen Gut und Böse. Eher Richtung Böse. Er vertrug aber auch wirklich nichts und nahm trotzdem noch den letzten Schluck seines zweiten Whiskys, wobei er schon einige Schwierigkeiten hatte, das Glas auf direktem Wege zum Mund zu führen.

»Aber, was noch viel interessanter ist-« Hubsi sah sich erst um, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch wirklich niemand belauschte, beugte sich dann über den Tisch und forderte seine Kumpanen mit einer Handbewegung auf, es ihm gleichzutun. So beugten sich alle anderen ebenfalls weit über den Tisch und warteten mit gespannten Mienen auf weitere Enthüllungen. Hubsi setzte eine fast verschwörerische Miene auf. »Ich hab da was läuten hören.« Noch ein kurzer Blick über die Schulter unterstrich die Wichtigkeit der Information. »Der Typ is nich ganz echt.« Dabei hob er eine Hand und rieb Zeigefinger und Daumen aneinander.

»Du meinst, der is` korrupt?« Karl-Heinz wirkte eher erstaunt als entsetzt.

Hubsi hob seine Arme und drehte die Handflächen nach außen. »Ich gebe nur weiter, was ich gehört hab.« Oder eher, was ich in einer kleinen Zeitungsnotiz gefunden habe. Allerdings weiß ich nicht mehr so genau, ob es in dieser Notiz um den Neuen ging.

»Jo«, wie üblich dachte Henrik eher praktisch, »dann müssen wir ihn nicht hinbiegen, sondern einfach nur bezahlen, oder?«

»Mmh. Das sehe ich auch so.« Karl-Heinz überlegte angestrengt. Dann grinste er leicht. »Ich würde vorschlagen, wir bieten ihm an, umsonst in meinem Ferienhaus zu wohnen. Zumindest fürs Erste. Dann haben wir ihn im Sack. Hubsi? Kümmerst du dich darum? Wenn er kommt, bringst du ihn zu meinem Haus.«

Er sah in die Runde. Alle nickten. Bis auf Martin Schilling. Er war mit dem Kinn auf der Brust eingeschlafen und quittierte das Ganze mit einem lauten Schnarchen.

Der Bürgermeister klopfte mit der Faust auf den Tisch. »Ihr habt den Pastor gehört, Jungs. Zeit nach Hause zu gehen.«

»Jo.« Henrik redete nie viel.

Kapitel 2

Endlich!

Er war da.

War es nicht immer ein Grund zur Freude, wenn ein lang ersehnter Gast zu Besuch kam? Wie ein verlorener Sohn oder Bruder? Ein lang verschollener Vater? Man gab eine Party und trank Champagner.

Am liebsten würde er das auch tun und auch wieder nicht. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn zwei Herzen in einer Brust schlugen. Es war ja nicht so, dass er den Besuch mochte, um Himmels willen nein, aber er hatte ihn herbeigesehnt.

Er hatte ihn nicht einmal begrüßt und selbst wenn, er wäre gar nicht erkannt worden, und der andere hätte es nicht einmal zu schätzen gewusst. Was nicht weiter verwunderlich wäre, denn schließlich war das Gastgeschenk, das zu geben er im Begriff war, nicht wirklich angenehm, auch wenn es von Herzen kam. Er musste laut lachen. Ja, es kam wirklich von Herzen.

Nun war er da und es lief alles seinen Gang. Es würde Ruhe einkehren und Frieden. Und Gerechtigkeit.

Er fasste sich mit einer Hand an die linke Brust.

Für dich, mein Herz.


Frank hatte Gottes Zeitplan tatsächlich unterboten. Zumindest was die Umsetzung ehrgeiziger Projekte anging. Er hatte nur 4 Tage gebraucht, um seine Wohnung aufzulösen. Viel hatte er nach seiner Scheidung ja nicht mehr. Eine kleine Zweizimmerwohnung, die eher spärlich eingerichtet war. Seine Frau hatte das meiste behalten. Die paar Möbel, die er sich nach der Trennung zugelegt hatte, hatte er in Hamburg eingelagert. Strom und Wasser waren gekündigt, sein Kabelfernsehen ebenfalls, der Spind an der Wache geräumt und seine wenigen Habseligkeiten in Kartons verpackt.

Und nun stand er hier auf der Fähre, zusammen mit einigen Tagesausflüglern und schaute seinem neuen Leben entgegen. Wobei er sich die Frage stellte, ob das Kommende wirklich noch als Leben zu bezeichnen war.

Im Sommer würde er wahrscheinlich Fußstreife am Strand gehen und sich dabei von schreienden Touristenkindern mit Eiskrem vollkleckern lassen müssen. Von den endlosen Tickets wegen Falschparkens an der Strandpromenade gar nicht zu reden. Ob man hier schon wegen Hustens in der Einbahnstraße angezeigt wurde?

Und die Winter würden endlos sein. Dunkel, ständig Stürme, dass einem die Klamotten um die Ohren flogen, und nicht einmal ein Tourist, an dem man zur Not seinen Frust ablassen konnte. Wenn er also künftig Sehnsucht nach Verfolgungsjagden oder spektakulären Festnahmen verspürte, würde er wohl auf seine Bruce-Willis-DVD-Sammlung zurückgreifen müssen.

Mach dir nichts vor, mein Alter, dachte er. Das war´s. Das hier ist eine Strafversetzung und du bist am Arsch.

Alle anderen an Bord schienen sich zu freuen. Ein paar ältere Leute, die jetzt im Frühsommer ein paar ruhige Tage auf der Insel verbringen wollten, und einige, die aussahen, als wohnten sie auf der Insel.

»Und? Verlängertes Wochenende?«

Frank drehte sich um. Ein Besatzungsmitglied der Fähre stand vor ihm und grinste ihn breit an. Der Typ hatte an Bord die Fahrkarten verkauft. Seinen Bauchladenmit dem Kleingeld hatte er abgelegt.

Frank lächelte leicht gequält. »Schön wär´s, aber ich werde hier arbeiten.«

»Echt?« Der Mann sah ihn erstaunt an. »Und als was?«

»Ich trete auf Neuendiek meine neue Stelle an. Ich bin Polizist. Ich übernehme die Polizeiaußenstelle dort.«

Der Fahrkartenverkäufer riss erstaunt die Augen auf und brach dann ganz unvermittelt in brüllendes Gelächter aus. Dabei hieb er Frank eine große Pranke, Hand konnte man das nun wirklich nicht mehr nennen, auf die Schulter. »Jung, wat has` du denn angestellt?«

»Bitte? Ich verstehe nicht.«

»Du komms` nich` von hier, oder?« Dabei wies der Mann mit seinem Kopf in eine unbestimmte Richtung.

»Nein.«

Der Fahrkartenverkäufer kniff die Lippen zusammen, wahrscheinlich um sich das Lachen zu verkneifen. »Keine Ahnung, welche Chefs du verärgert hast, aber das hier ist schlimmer als Knast. `ne verschworene Gemeinschaft. Zwischen die pass` kein Blatt. Und schon gar kein neuer Polizist. Viel Glück, mien Jung. Du wirst es brauchen.«

»Moment mal. Ich …«

»Nee Jung, halt einfach die Füße still. Dann hast du wenigstens `ne Chance hier einigermaßen heil aus der Sache rauszukomm`.«

Er drückte noch einmal Franks Schulter und ging kichernd weg.

Frank wandte seinen Blick vom Horizont ab. Langsam begannen seine Augen zu tränen. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Natürlich war der Wind an den Tränen schuld.


Er hatte sie jetzt seit einigen Tagen beobachtet und er war erstaunt, wie berechenbar sie war.

Seiner Vermieterin hatte er erzählt, dass er ungestört sein wolle, Vögel beobachten und so weiter. So konnte er den ganzen Tag mit einem Fernglas um den Hals in den Dünen zubringen. Allerdings war der zunehmende Wind unangenehm und würde er wirklich Vögel beobachten wollen, hätte er sich wahrscheinlich auf Möwen beschränken müssen. Außerdem verabscheute er die Inselvegetation. Irgendein widerliches Gras, das zwischen dem Sand wuchs und ihn ständig stach.

Er musste sie nicht verfolgen, um zu wissen, was sie tat oder wie sie ihr Geld verdiente. Er wusste ja, wovon sie lebte. Immerhin hatte sie ihm das Geld gestohlen, das Geld, mit dem sie sich hier ein tolles Leben aufgebaut hatte, während er im Knast verschimmelt war.

Er wollte nur wissen, wann sie spätestens abends nach Hause kam und was sie dann machte. Wann sie die Lichter löschte und ins Bett ging. Ob sie Besuch bekam oder ob sie einen Freund hatte. Und was er sah, machte ihn wütend. Ein schönes Haus, ein schönes Leben. Der Hass brandete in ihm hoch.

Nun, Schätzchen, das wird bald ein Ende haben. Du kannst dich nicht verstecken.

Er bewegte sich nur außerhalb des Dorfes. Zu groß war die Gefahr, erkannt zu werden. Zwar war er fast sicher, dass ihn niemand auf den ersten flüchtigen Blick erkennen würde, aber das Risiko wollte er trotzdem nicht eingehen.

Er wickelte sich fester in seine Jacke und zog die Mütze noch tiefer ins Gesicht. Verdammte See!

Auch wenn es schon Frühling war, konnte es hier auf der Insel verdammt kalt werden. Außerdem war wohl Sturm angesagt. Das hatte ihm seine Vermieterin erzählt. Eine blöde, dicke Inseltussi. Inzucht wahrscheinlich.

Wie sie um ihn herumgeflattert war! Aber schließlich hatte sie ihren Job erfüllt. Sie hatte ihm, einem angeblich ausgebrannten Geschäftsmann, ein kleines abgelegenes Ferienhaus vermietet und ihm sogar den Kühlschrank gefüllt. Das Extra-Trinkgeld hatte sie zwar mit errötenden Wangen und unter leisem Protest angenommen, aber sich nicht dazu geäußert. Er hatte noch überlegt, ihr vor seiner Abreise einen kleinen Denkzettel in Form einer durchgeschnittenen Kehle zu hinterlassen, sich aber dann von diesem Gedanken verabschiedet. Sie war es nicht wert. Er hasste launische Menschen und diese Tat wäre nichts anderes als ein Ausdruck seiner Gefühle gewesen. Launisch eben.

Heute Abend würde es soweit sein und noch bevor alle wussten, was passiert war, wäre er mit der ersten Fähre am nächsten Morgen schon wieder weg.

Er wandte sich um und ging die Düne wieder hinunter. Landeinwärts, wo es nicht mehr so pfiff. Der Wind blies ihm nun in den Rücken, aber bis zu seinem Appartement war es nicht weit.

Sein Grinsen ähnelte mehr dem Fletschen eines bösartigen Tieres.

Heute Nacht, Baby, heute Nacht gehörst du mir.


Als Frank langsam von der Fähre herunterrollte, sah er schon sein Begrüßungskomitee. Ein einzelner Streifenwagen, neben dem ein älterer Mann stand. Da Frank seine voraussichtliche Ankunftszeit genannt hatte, ging er davon aus, dass dieser kleine Mann auf ihn wartete, also hielt er brav hinter dem Streifenwagen und stieg aus.

Der Kollege hatte ihn schon gesehen und ging freudestrahlend und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Wobei von Gehen keine Rede sein konnte. Der Polizist ging eher wie ein Seemann auf einem schwankenden Schiff. Leicht breitbeinig, zunächst mit einer Hand in der Tasche der Uniformhose.

»Kollege!«

»Herr Teichert, wie ich annehme?«

»Sach` Hubsi.« Teichert schüttelte ihm die Hand. Er war nicht groß. 1,70, vielleicht 1,75. Auf keinen Fall größer. Er hatte eine Glatze, umrahmt von einem blonden Haarkranz. Der Schnauzbart war akkurat gestutzt. Die Augen hinter der Brille glitzerten fröhlich.

»Willkommen auf Neuendiek.«

Dass er zu seinem Kollegen und Nachfolger hochschauen musste, schien den kleinen Hubsi nicht zu stören.

Nachdem die beiden ausgiebig nach Männerart Hände geschüttelt hatten, legte ihm Hubsi einen Arm um die Schultern, was eher wirkte, als würde ein kleiner Affe an seinem Arm hängen.

Frank machte sich verlegen los.

Der letzte Mann, den er umarmt hatte, war sein Onkel auf der Beerdigung seiner Tante gewesen. In seinen Augen war eine Umarmung eine sehr intime Angelegenheit, die unter erwachsenen Männern in Uniform nichts zu suchen hatte. Außerdem war ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase gestiegen. Der Mann war Raucher! Er kannte nur noch wenige Polizisten, die rauchten, da der Konsum von Tabak jedweder Art an den Polizeidienststellen verboten war.

Er selbst behandelte seinen Körper wie einen heiligen Tempel. Mens sana in corpore sano. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Er rauchte nicht und trank nur selten mal ein Bier.

Aber egal, Kollege war schließlich Kollege.

»Also dann, Hubsi. Ich bin Frank.« Frank lächelte und ging scheinbar mühelos auf diese Art der Fraternisierung ein. Nach allem, was er auf der Fähre gehört hatte, konnte er dringend einen Freund brauchen und wer war dafür besser geeignet als der langjährige Polizeichef der Insel, dessen Nachfolge er antreten würde? Er hatte eh schon genug Ärger am Hals, da wollte er es sich nicht gleich mit allen verderben. »Ich schlage vor, du bringst mich in mein Hotel. Da ich mich hier noch nicht auskenne, brauche ich einen Führer.«

Kollege Teichert, nunmehr Hubsi, strahlte ihn noch immer an.

»Ja klar. Komm erst einmal an und dann sehen wir weiter. Fahr einfach hinter mir her.«

Und das tat Frank. Vorbei an dem Hotel, in dem er eigentlich ein Zimmer gebucht hatte. Es ging weiter hinaus, bis sie nur noch von Dünen und der hier üblichen Vegetation umgeben waren. Das eine war Strandhafer, das andere sehr stachelige Gras war Strandroggen. Beides breitete sich sehr stark aus, war aber nicht wegzudenken aus der Dünenlandschaft. Beide Gräser dienten dem Erosionsschutz und dem Erhalt der Dünen. Irgendwie hübsch anzusehen, weil sie den Winter über grün blieben. Vor einem kleinen reetgedeckten Haus mit Butzenscheiben hielt der alte Inselpolizist.

Zögernd stieg Frank aus seinem Wagen. Teichert stand bereits neben dem Streifenwagen und breitete die Arme aus.

»Ist das nicht herrlich hier? Hier haste vollkommene Ruhe. Schön, oder?«

Frank trat an seinen Kollegen heran.

»Ich hatte im Hotel Zum Hexenfelsen bereits ein Zimmer …«

»Ach papperlapapp. Dat is´ doch wat für Touristen. Du bist doch jetzt einer von uns.« Er knuffte Frank in die Seite und zwinkerte verschwörerisch. »Geht aufs Haus. Muss ja keiner wissen.«

Frank ging ein paar Schritte auf seinen scheidenden Kollegen zu und betrachtete das Haus. Muss ja keiner wissen. So elend ihm auch bei dem Gedanken war, strafversetzt worden zu sein, so hatte er doch gedacht, dass er auf der Insel zumindest aus der Schusslinie war und irgendwann zurückkehren konnte, wenn sich die Wogen geglättet hatten. Wenn aber herauskam, dass er umsonst irgendwo wohnte, sich also quasi bestechen ließ, dann war der Ofen endgültig aus.

War das hier etwa eine Verschwörung, um ihn endgültig abzusägen? Er würde jetzt klug taktieren müssen, um sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen.

Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte dann:

»Sieh mal, Hubsi, ich bin hierher …« Vorsicht! Vielleicht sollte er nicht unbedingt das Wort Strafversetzung in den Mund nehmen. Das hörte sich so an, als hätte er im Dienst etwas verbockt. Und seiner Meinung nach hatte er nichts Schlimmes getan. Lieber an das Mitgefühl des älteren Kollegen appellieren. »Sieh mal, ich bin drüben auf dem Festland ein wenig, na sagen wir mal, in Ungnade gefallen. Ich muss schon korrekt abrechnen, sonst …« Er hob die Schultern mit den Handflächen nach oben. Damit bekundete er eine Art Hilflosigkeit. »Sonst könnte man mir diese Gefälligkeit …«, er suchte krampfhaft nach einer Umschreibung für das böse Wort Bestechung, » … als unangemessenes Entgegenkommen auslegen.« Das hörte sich doch gut an.

Hubsi wurde ernst. »Verstehe, aber …«

Doch so schnell gab Frank nicht auf. »Ich würde hier wirklich gerne wohnen und es wird sich bestimmt noch eine Möglichkeit ergeben, das Haus zu mieten. Meine Möbel sind noch auf dem Festland, aber erst mal, denke ich, werde ich ins Hotel fahren.« Jetzt strahlte Frank, obwohl ihm vor Ärger fast das Messer in der Tasche aufging. »Aber danke, dass du es mir gezeigt hast.«


»Trottel. Dat is` ein kompletter Trottel.« Hubsi war schlecht gelaunt. Ob es daran lag, dass Hubsi Schwierigkeiten hatte, einen Trottel als Nachfolger zu akzeptieren oder damit, mit dem Bestechungsversuch gescheitert zu sein, konnte niemand sagen. Klar war, dass sein Missmut schnell in Ärger umschlagen konnte. Und wenn das geschah, dann wurde er vom Hubsi zum Hubert.

Nun lehnte er sich zurück und brummelte ärgerlich vor sich hin.

Martin öffnete gerade den Mund, aber da beugte sich Hubsi, jetzt Hubert, wieder weit über den Tisch und motzte fröhlich weiter: »Nich` nur, dass er nich` in ein schickes Ferienhaus für UMSONST ziehen wollte.« Hubsi, oder auch Hubert, die Runde am Tisch hatte mittlerweile den Überblick verloren, war wirklich der Einzige, der in Großbuchstaben reden konnte. »Nein, er hat sogar angedeutet, dass man ihn BESTECHEN wolle.«

Jetzt kam Martin endlich zu Wort. Er wirkte leicht verwirrt. »Aber das wollten wir doch auch.«

»Darum geht es doch überhaupt nicht.« Hubsi sah Martin verständnislos an. Wenn er ärgerlich wurde, hatte er auch mit Logik nicht mehr viel am Hut.

»Und was hast du gemacht?« Martin hatte nicht vor, sich Hubsis Ärger noch weiter zuzuziehen und wechselte das Thema.

»Was sollte ich schon machen?« Hubsi breitete die Arme aus, wobei sein eigenes Glas gefährlich ins Schwanken geriet. Martin konnte es gerade noch auffangen.

»Ich habe ihn zu Jutta gebracht, die ich natürlich damit echt in Verlegenheit gebracht hab`. Das heißt er, nich ich.«

Martin Schilling nickte bedächtig und nahm einen Schluck seines Tees. Seine letzte Whisky- Erfahrung war ihm noch zu gegenwärtig. Ganz zu schweigen von dem Gezeter seiner Frau. Tee war nicht nur schmackhafter, sondern auch irgendwie gottgefälliger. Glaubte er zumindest. Er nahm gleich noch einen Schluck und setzte dann die Tasse ab. Hubsi fing an, unzusammenhängend zu reden. Er war einfach nicht mehr er selbst.

Aber dieses Mal kam Henrik ihm, an seiner Pfeife nuckelnd, zuvor. Für einen Mann seines Alters, er war 34 Jahre alt, wirkte das zwar ein wenig albern, aber irgendwie passte es zu ihm.

»Und dann?«

»Und dann? Was wohl? Er hat sich artig bedankt und ist auf sein Zimmer gegangen. Und dann dieses scheinheilige Lächeln. Ich sach euch: Der führt wat im Schilde.«

Nun schaltete sich Karl-Heinz in die Diskussion ein. Er wirkte wie immer ruhig und gelassen. Es reichte, wenn einer am Tisch nörgelte. »Aber wenn er ein Trottel ist, kann doch nichts passieren? Ich meine, so einen kann man sich doch zurechtbiegen, oder nicht?« Er sah in die Runde. Fast alle nickten zustimmend, nur Hubsi wiegte skeptisch seinen Kopf hin und her.

»Ich weiß nich`. Ich trau dem Kerl nicht.« Er brummelte in sich hinein und nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. »Aber was soll´s. Nützt ja nix. Da müssen wir jetz` durch.«

Er drehte den Kopf und nickte Jutta, die hinter dem Tresen stand, zu. Sie war nicht nur die Kneipenwirtin, sie besaß auch das einzige Hotel am Platze. Und wenn keine Saison war, dann war das eben nur eine Kneipe.

Jutta nickte zurück. Sie war aufmerksam und kannte ihren Job.


»Hach. Und er ist so ein schöner Mann.« Die Damenrunde hatte zwar das Thema neuer Polizist schon vor einer halben Stunde von der Tagesordnung gestrichen, aber Karoline Bolte, eine elegante und hübsche 40-jährige, konnte einfach nicht ihre mentalen Finger von ihm lassen.

Rita Mertens, die vielbeschäftigte Putzfrau der Insel, grinste. »Karo, planst du etwa, ihn zu deinem vierten Ehemann zu machen?«

Alle anderen Frauen am Tisch lachten.

Karoline lächelte nur geheimnisvoll. »Wer weiß? Schließlich ist er hier allein angekommen. Und er ist auch nur ein Mann. Und ich bin eine Frau.« Sie seufzte. Wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag.

»Es ziehen dunkle Wolken auf. Sehr dunkle Wolken. Das Universum hat mich gewarnt. Er bringt nichts Gutes.« Die für eine Frau sehr tiefe Stimme von Mechthild Nielsen, Kartenlegerin, Esoterikerin und Katzenfrau, es hieß, sie habe mehr als zehn Katzen, trug schwer in dieser Runde. Sie schüttelte betrübt den Kopf und nippte an ihrem Kräutertee.

Wieder brachen alle in Gelächter aus, wenn auch ein wenig nervös. Alle kannten die nebulösen Vorhersagen von Mechthild. Und keiner nahm sie wirklich ernst. Zumindest nicht öffentlich.

»Und wenn er schwul ist?«

Karoline sah empört Ute, die Frau des Pastors, an. »Warum sollte er schwul sein? Er sieht nicht schwul aus. Und dir dürfte das ja egal sein, schließlich bist du mit dem Pastor verheiratet.«

»Ich habe aber noch etwas gehört.« Anne, die Frau von Hubsi, dem Polizisten, beugte sich über den Tisch. Da sie für bestimmte, polizeirelevante Informationen als anerkannte Autorität galt, warteten alle gespannt auf ihre Information. Sie senkte ihre Stimme fast bis zu einem Flüstern herab und wirkte dabei sehr konspirativ. »Er soll ein ganz böser Bube sein. Einer von denen, die erst schießen und dann fragen.«

Karolines Augen verschleierten sich verträumt. Sie stützte ihr Kinn auf eine Faust. »Heißt es nicht, dass böse Buben besonders gut im …«

»Karo! Jetzt ist es aber gut.« Anne unterbrach ihre Freundin. Und trotz der strengen Stimme konnte man an ihren Augen sehen, dass sie sich selber gerade königlich amüsierte.

»… besonders gut in ihrem Job sind?« Karo grinste breit.

»Mein Gott, Mädels, lasst ihn doch erst einmal ankommen.«

Wiltrud Gottschalk, nicht verwandt, nicht verschwägert, wie sie immer betonte, fing an zu kichern.

Das Gelächter, das jetzt einsetzte, wurde ein wenig schrill. Und schon stand auch Hedwig, eine der Besitzerinnen des Cafés, neben dem Tisch. Sie lächelte.

»Na, Mädels, darf es noch etwas sein?«

Rita hob die Hand. »Noch einmal Tee spezial für alle.«

»Ne, ne, nicht für mich.« Wiltrud sah auf ihre Uhr. »Ich muss in einer Stunde die Praxis wieder aufmachen. Da kann ich ja wohl kaum völlig angedüst ankommen.«

»Was für ein schöner Mann.« Karoline musste einfach immer das letzte Wort haben.