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2. Auflage 2013
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Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech
Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-86882-453-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-486-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-877-3
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Welchen Satz hat Jesus gesagt?
»Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst, kann nicht mein Jünger sein«,
oder:
»Ehre Vater und Mutter!«
Nur der erste ist original, doch beide stehen im Neuen Testament
– sie widersprechen einander …
Vorwort
Am Anfang war das Wort, am Ende die Legende
Weg von den Bildern, auf zu den Quellen
Vom Stand der Forschung zum Gewinn der Erkenntnis
Gibt es eine spirituelle Alternative zur leiblichen Auferstehung Jesu?
Wie kommt das Jesuskind in die Jungfrau?
Auch Paulus kannte das Thomasevangelium
Wie kommt der Sex mit Salome in die Apokalypse?
Das Kreuz: Symbol des Lebens oder Symbol der Kreuzigung?
Eltern: Ehren oder hassen?
Das Kreuz auf der Münze
Das Kreuz Jesu
Die verborgene Bedeutung des Kreuz-Wortes
Eine Bäckerin, Sauerteig, etwas Zeit – fertig ist die Brotvermehrung
Der merkwürdige Sauerteig der Pharisäer
Sauerteigvariationen
Brotvariationen
Vom nicht-heilenden Arzt zum wunder-heilenden Jesus
Schwankende Schilfrohre und feine Kleidung
Verständnisprobleme und Geheimnisse
Einzelne vertiefende Betrachtungen – Lebensfindung
Einzelne vertiefende Betrachtungen – Götter
Einzelne vertiefende Betrachtungen – Die Todesfrage
Einzelne vertiefende Betrachtungen – Mörder, Zerstörer und Ausreißer
Jesu Weggang von den Jüngern
Jesus und seine Verwandtschaft
Der Prozess: Wieso musste Jesus sterben? Oder: Matthäus 26, 56 = Johannes 10, 35b!
Wie Maria den Weggang Jesu sah
Der Einfluss des Evangeliums nach Maria auf das Neue Testament
Wer erfand die Legenden in den Evangelien?
Die Schöpfung des Markusevangeliums
Die geheimen Evangelienerzählungen
Wozu Legenden?
Ausblick
Anhang
Das Evangelium nach Thomas
Das Evangelium nach Maria
Literatur
Quellenverzeichnis
Er vollbringt Wunder und steht nach seinem spektakulären Ableben einfach wieder auf. Er sagt weise Worte und spricht vom jenseitigen Himmel: Jesus. So berichtet es die Bibel. Doch wie wäre es, wenn sich herausstellte, dass es ganz anders war? Und dass er etwas anderes sagte? Die biblische Überlieferung ist nicht zuverlässig. Das verdeutlicht beispielsweise die Aufnahme von Legenden. Durch innere Zusammenhänge ergeben sich jedoch weitere Informationen. Zudem gibt es außerbiblische Quellen. Ist es jetzt, nach rund zweitausend Jahren, möglich aufzuklären, was sich damals ereignete? Können wir herausfinden, was Jesus wirklich sagte?
Die vier Evangelien des Neuen Testaments der Bibel sind die bekanntesten Quellen für Leben und Lehre Jesu. Ihre Hauptinhalte wie etwa die Kreuzigung sind allgemein bekannt. Zur Lebenszeit Jesu wurden sie entweder mündlich übermittelt oder durch wiederholtes Abschreiben weitergegeben. Beide Übermittlungsarten sind nicht sehr zuverlässig, es wurden Fehler gemacht, es kam aber auch zu Übertreibungen und sogar zu gezielten Verfälschungen.
In der Antike gab es neben diesen biblischen Schriften weit mehr Texte, die über Jesu Taten und Aussagen berichteten. Die meisten fanden keinen Eingang in die Bibel, sie wurden nicht »kanonisiert«. Einige von ihnen zeichnen auch ein ganz anderes Jesusbild als das, welches wir aus der Bibel kennen. So gibt es Schriften, in denen Jesus keine Wunder begeht, oder solche, die Jesus in lockerer Frage-und-Antwort-Runde zeigen. Einheitlich waren diese Texte keineswegs, ihre Spanne reichte von klaren, prägnanten Jesusworten bis hin zu schwer nachvollziehbaren Berichten über Engelsscharen. Die meisten dieser Texte gingen im Laufe der Zeit verloren. Viele wurden auch von der Kirche vernichtet, um den Gläubigen ein einheitliches Bild von Jesus zu vermitteln und um vermeintlich Falsches zu eliminieren. Einige dieser Texte waren tatsächlich Fälschungen. Andere hingegen enthielten wahre Jesusworte.
Abbildung 1: Quellen über Jesus (Auswahl)
Zum Glück gingen diese außerkanonischen Werke nicht gänzlich verloren. In der Antike hatte man die Texte auf Papyrus geschrieben. Diese »Papyri« wurden manchmal in Höhlen versteckt oder Gräbern beigelegt. Erfreulicherweise überdauerten einige die Jahrhunderte. Sie wurden erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt und gelangten in die Hände von Wissenschaftlern. Dank dieser Funde sind heute mehr Quellen über Jesus zugänglich als zu irgendeiner anderen Zeit seit der Antike.
Ohne diese neuen Funde wäre es nicht möglich, die tatsächlichen Vorgänge um Jesus zu entschlüsseln. Aufgrund der Mängel und Verfälschungen der Texte genügt eine gute Datenbasis alleine aber noch nicht. Es ist zusätzlich eine konsequente Auswertung der Schriften nötig. Moderne Methoden aus der Sprachwissenschaft wie die Textanalyse oder solche aus der Informatik wie die computergestützte Mustererkennung helfen, die alten Schriften zu entziffern. So gelingt es, das Ursprüngliche herauszulesen und von manch überliefertem Falschen zu trennen. Es ist jedoch nicht so, dass man die Texte einfach lesen und die damaligen Vorgänge linear aufklären könnte. Vielmehr ähnelt diese oft mühsame Arbeit der Aktivität eines Kriminalpolizisten, der sich von Spur zu Spur hangelt, viele Fährten verfolgt und einige davon wieder aufgibt. Diejenigen, die die Überlieferung mehr oder minder bewusst verfälschten, wollten schließlich nicht, dass man ihnen auf die Schliche kommt.
Andererseits haben sie auch nicht einfach alles frei erfunden. Vielmehr haben sie, ihrer Meinung nach, Erzählungen und sogar Jesussprüche »verbessert«. Sie nahmen beispielsweise authentische Vorlagen, veränderten sie und schmückten sie aus. Dabei hinterließen sie Spuren. Bei solchen Spuren kann es sich um einzelne originale Wörter handeln, die ursprünglich als Inspiration für die Erfindung einer Legende dienten, dann aber in ihr verblieben und so Hinweise auf die Entstehung der Legende liefern. Mithilfe solcher Spuren können wir in einem vielschichtigen Analyseprozess der Entstehung des Neuen Testaments auf den Grund gehen. Am Ende lassen sich die Handlungen Jesu, die stattgefunden haben, zuverlässig von denen trennen, die erfunden wurden. Es lässt sich sogar zeigen, welches Jesuswort wahr und welches ihm in den Mund gelegt worden ist.
Eigentlich klingt das ganz einfach. Doch wieso gelingt es angesichts zahlreicher Versuche erst jetzt, die Entstehung des Neuen Testaments zu rekonstruieren? Dazu sind einige innovative Lösungsansätze nötig, insbesondere eine spezielle Umklammerungstechnik. Bei dieser wird zu jeder Legende der Ausgangspunkt gesucht. Durch diese Verknüpfung zielt die Rekonstruktion nicht bloß von der Legende irgendwie zurück in die Vergangenheit. Eine solche Vorgehensweise wäre mit großen Unsicherheiten verbunden, denn von einem Punkt ausgehend kann man in viele Richtungen gehen. Indem aber zwei Punkte miteinander verbunden werden, liegt eine Richtschnur vor. Dadurch gibt es anstelle vieler Möglichkeiten konkrete Anhaltspunkte, die Irrtümer vermeiden helfen und sukzessive zum Erfolg führen.
Abbildung 2: Umklammerungstechnik
Die wunderhafte Erzählung der »Brotvermehrung« wird die erste Legende sein, bei der die Verknüpfung mit ihrem Ausgangspunkt, der Legendenwurzel, stichhaltig gezeigt werden wird. Ihre Wurzel ist ein metaphorisches Jesuswort über das »Brotaufgehen«. Sowohl in diesem Ausgangszitat wie in der Legende selbst ist ein Stichwort enthalten, das zuverlässig Ausgangs- und Endpunkt, Legendwurzel und Legende, verbindet. Mithilfe der Umklammerungstechnik wird erstmals beweiskräftig die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte einer Jesus-Legende möglich, wie im Kapitel »Eine Bäckerin, Sauerteig, etwas Zeit – fertig ist die Brotvermehrung« ausführlich dargelegt wird.
Ausgehend von solchen Einzelschritten können weitere Legenden mit ihren Wurzeln verknüpft werden. Wenn einmal der Schlüssel gefunden worden ist, ermöglicht er sukzessive weitere Rekonstruktionsschritte von hoher Zuverlässigkeit. So wird man schließlich Schritt für Schritt zu einer vollständigen Aufdeckung der Verfälschungsgeschichte geführt.
Meist stellt man sich die Legendenbildung als langwierigen Prozess vor: Erzählungen um Jesus herum seien über viele Jahre mündlich weitergegeben worden und allmählich hätten sich daraus Legenden gebildet. So auch der Tenor der bisherigen Forschung. Wir kommen aber zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Rekonstruktion mittels Umklammerungstechnik führt zu dem Resultat, dass bereits ein Jünger Jesu mit den Verfälschungen anfing. Ein Augenzeuge, der es eigentlich besser wusste, erfand Legenden.
Es erscheint zunächst nur schwer vorstellbar, dass ausgerechnet ein Anhänger Jesu dessen Leben und Lehre verfälscht haben soll. Wie konnte das passieren? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns etwas ganz Grundsätzliches vergegenwärtigen: Die Jünger waren Menschen, keine Ikonen. Sie hatten Gedanken und Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte, sie waren aufrichtig strebsam und schwindelten dennoch, sie waren männlich und weiblich, sie waren verliebt und wurden enttäuscht, und einer von ihnen war, wie wir sehen werden, homosexuell. Inmitten dieser lebendigen Vielfalt liegen die Motive für das Erfinden der Legenden.
Der wichtigste Hintergrund beim Entstehen der Legenden ist die Lehre Jesu. Sie ist weder eine Sammlung moralischer Vorschriften noch eine philosophische Theologie. Sie ist keine Lehre, die die Erlösung erst nach dem Tod kennt oder nur einen jenseitigen Gott und Himmel. Dies sind jüdische oder antike Vorstellungen, die Jesus nicht übernommen hat. Vielmehr wurden sie früh von der Kirche in ihr Jesusbild hineinprojiziert und fanden dann durch entsprechende Bearbeitung ihren Niederschlag in den biblischen Texten. Jesus aber war kein bloßer Reformator, Prediger oder Rebell, um gängige Jesusbilder herauszugreifen. Er erstand auch nicht leiblich auf und er kannte keine nur auf ihn bezogene Gottessohnschaft. Vielmehr war er echter Spiritualität teilhaftig, die weit über die jedermann bekannte Welt hinausgeht. So konnte er wichtige spirituelle Erkenntnisse gewinnen und sie auch vermitteln. Auf diese spirituellen Erkenntnisse beziehen sich seine Aussagen.
Diese Aussagen betreffen zuerst das innere Leben. Um den Zugang dazu zu erleichtern, gebrauchte er Gleichnisse. Er verwendete Begriffe aus der jedermann bekannten äußeren Welt, meinte sie aber innerlich. Er benutzte diese bildhafte Sprache, da die meisten Menschen mit äußeren Dingen besser vertraut sind. Den Erfolg des inneren spirituellen Weges kann man nämlich genauso wenig erzwingen wie das Glück. Aber man kann nachhelfen. Das tat Jesus in Form von Gleichnissen.
Bereits zu Lebzeiten Jesu haben aber die Menschen, die seine Sprüche hörten, nicht immer gänzlich verstanden, dass die Gleichnisse nach innen gerichtet sind, dass sie innere Prozesse bewirken sollen. Vom Ehrgeiz getrieben, möglichst viel Erfolg beim Publikum zu erzielen, fing nun ein Jünger an, die Inhalte aufzubauschen. Das mündete in der Erfindung von Legenden. Die der äußeren Welt entlehnten Begriffe der Metaphern kamen ihm dabei zupass, denn sie lagen auf der gleichen konkreten Ebene wie die von ihm erfundenen Legenden.
Jesu Weg zur inneren Erlösung ging darüber weitgehend verloren. Mithilfe dieser Legenden hat sich aber das Christentum besser in der Welt ausbreiten können. Nach der erfolgreichen Vermarktung ist es nun jedoch an der Zeit, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen und den Weg Jesu nach innen wieder sichtbar zu machen. Auch wenn die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte um der Beweiskraft willen profan sein muss, so treten doch durch sie hinter den Verfälschungen die ursprünglichen spirituellen Aussagen Jesu wieder zutage. Das Ergebnis dieser Rekonstruktion ist somit auch eine innere Wegweisung – nicht durch das Schaffen neuer Sätze, sondern durch das Heben, Klären und Erkennen bestehender Aussagen.
Worum ging es Jesus? Wohin weist seine verborgene Lehre, die zu lehren er durch seine Einheit mit Gott qualifiziert war? Sie weist letztlich jedem den Weg zu sich selbst. Nicht zum egoistischen Ich, sondern zum spirituellen Ich. Wir müssen den Westen nicht Richtung Ferner Osten verlassen, um eine innere spirituelle Wegweisung zu finden. Wir finden sie bei Jesus. Er weist den Weg zu einem verbesserten Leben, zu spiritueller Bereicherung bis hin zum Höchsten, was uns widerfahren kann: der Erleuchtung.
Die Grundlage unserer Analyse sind die antiken Quellen. In einer antiken Sprache wie dem Lateinischen verfasst, gelangten sie durch wiederholtes Abschreiben in unsere Zeit und wurden übersetzt. Trotz der bereits angesprochenen Verfälschungen erlauben sie den unmittelbarsten Zugang zu den damaligen Ereignissen. Eine Rekonstruktion der tatsächlichen Geschehnisse verlangt die Analyse in den Urtexten. Sie erfolgt möglichst unbeeinflusst von bereits existierenden Interpretationen, um alternativen Erklärungen nicht den Weg zu verbauen. Die Vielzahl und Vielschichtigkeit der Quellen erlaubt keine Umwege. Sie erfordert eine verdichtete und vernetzte Vorgehensweise, um das Rätsel zu lösen, das einem Puzzle gleicht. Man muss nur die Einzelteile richtig identifizieren und schrittweise zusammensetzen, um ein fertiges Bild zu erhalten. Einzig diese Rekonstruktion anhand einer solchen Analyse wird sich als zielführend erweisen.
Das Wichtigste ist: Wir fangen ganz von vorne an. Wir machen uns frei von allem – insbesondere von dem, was wir sicher zu wissen glauben. Genügte eine leichte Abwandlung gängiger Vorstellungen, wären die wichtigsten Fragen längst beantwortet. Das Bekannte verschwindet ja nicht, wir können es uns jederzeit wieder in Erinnerung rufen. Aber wir lassen uns von unserer Vorstellung nicht fesseln. Es ist wie bei einem unbekannten Krimi: Wir kennen den Mörder nicht. Jede Meinung kann sich als Vorurteil erweisen. Bloß wird hier kein Mordfall aufgeklärt, sondern ein historischer Sachverhalt.
Wie ist es nach rund zweitausend Jahren möglich, die Ereignisse um Jesu Leben zu rekonstruieren? Womit könnte man verschüttete Teile seiner Lehre bergen? Was kann nach ungezählten Versuchen die Antworten auf die vielen ungelösten Fragen geben? Einige Faktoren, von der durch neuere Funde verbesserten Quellenlage bis hin zur Computertechnik, spielen eine wichtige Rolle bei der Beantwortung dieser Fragen. Der Hauptschlüssel liegt jedoch in der Umklammerungstechnik, in der Methode, die Ausgangspunkt und Ergebnis konsequent miteinander verknüpft.
Legenden werden nicht völlig frei erfunden. Auch in biblischen Zeiten stellte man sich nicht einfach auf einen öffentlichen Platz und sagte: »Hört mal alle her! Ich habe da jemand kennengelernt, der Brot vermehrt.« Irgendetwas muss den Erzähler zuvor zur Legendenbildung angeregt haben. Selbst ein Märchenerzähler benötigt einen Anlass, einen Anstoß für seine Geschichte. Doch was könnte der Ausgangspunkt gewesen sein? Was hat ihn inspiriert? Wir begeben uns auf die Spurensuche.
Vieles kann ein solcher Ausgangpunkt einer Legende sein. Grundsätzlich könnte eine frühere Wundergeschichte, die von einem Erzähler in einen neuen Kontext gebracht oder modifiziert wird, genauso der Ausgangspunkt sein wie ein reales Ereignis, das die Fantasie anregt, und des immer wieder neu und immer spektakulärer erzählt wird. Diese beiden Ausgangspunkte sind recht naheliegend. Sie dürften weltweit Tausenden legendenhaften Erzählungen zugrunde liegen.
Für die Legenden um Jesus kommt aber noch ein weiterer Ausgangspunkt infrage: ein Jesuswort! Ein missionierender Anhänger befasst sich schließlich den ganzen Tag mit Jesu Gleichnissen. Es liegt also nahe, dass er sich von ihnen anregen lässt. Ein Jesuswort, in dem von Brot die Rede ist, liefert beispielsweise das Stichwort »Brot«. Jesus spricht von Brot, das aus einem Teig gebacken ist, der mithilfe von Sauerteig aufgeht, also größer wird. Dieser Vorgang regt nun den Erzähler an, von Vermehrung zu sprechen – fertig ist die biblische Brotvermehrungslegende. Es ist natürlich nicht ganz so einfach, an dieser Stelle soll nur das Prinzip dargelegt werden und eine Einstimmung erfolgen. Die eigentliche Herleitung der Brotvermehrungslegende erfolgt später, sobald einige Hintergründe aufgeklärt sind.
Wie im Beispiel mit dem Brot erläutert, sollen hier die Legenden um Jesus auf ihren Ursprung hin untersucht werden. Dazu ist es wichtig, ihren Ausgangspunkt zu finden. Zwischen diesen beiden Punkten – der Ausgangspunkt und die Legende selbst als Endpunkt – sind dann die Vorgänge zu rekonstruieren. Dies kann weitaus zuverlässiger geschehen als bei einem bloßen Reverse-Engineering, einer Rekonstruktion vom Ergebnis her. Denn die Rekonstruktion der Vorgänge findet hier zwischen zwei bekannten Punkten statt, dem Ausgangspunkt und der fertigen Legende als Ergebnis. Ohne diese Festlegung durch die Einbeziehung des Ausgangspunktes wäre keine Richtung vorgegeben und der Spekulation Tür und Tor geöffnet.
Eine systematische Suche und eine sichere Identifikation der Ausgangspunkte sind wesentliche Elemente der Methode. Mit einer Akribie wie bei der Kriminalpolizei werden Spuren, Muster, Auffälligkeiten, Ähnlichkeiten, Parallelen und Stichworte gesucht und ausgewertet. Alle thematisch verwandten Texte der ersten Jahrhunderte kommen hierfür in Betracht. Evangelien, Briefe, Spruchsammlungen und dergleichen, nichts wird übergangen. Die Texte werden, teilweise mithilfe von Computern, teilweise auch mühsam manuell, nach thematisch verwandten Begriffen durchsucht, die als Ausgangspunkte der Legenden infrage kommen könnten. Um bei dem Beispiel der Brotvermehrung zu bleiben: Es wird zuerst mechanisch nach Stichworten wie »Brot«, »Wachstum«, »Vermehrung«, »Mehl«, »Bäcker« und »Sauerteig« und dergleichen gefahndet, alles Wörter, die irgendwie mit der Brotvermehrungslegende in Zusammenhang stehen könnten.
Wenn verschiedene Texte eine mögliche Verbindung aufweisen, kommen die betreffenden Passagen in die engere Auswahl und werden näher erforscht: Gibt es tatsächlich eine Verbindung? Kann man eine Abfolge eruieren? Ist die Folgerung schlüssig? Dergleichen Fragen müssen gestellt werden. In Einzelfällen wie bei der Brotvermehrungslegende ist die Identifikation des Ausgangspunktes aufgrund von Sondersituationen hieb- und stichfest. Bei anderen muss auf weitere Querverbindungen zurückgegriffen und ein regelrechtes Netzwerk berücksichtigt werden, um die nötige Sicherheit zu erlangen. Ist einmal ein Kern gelegt, eine Legende erschlossen, können auf dieser immer weiter wachsenden Grundlage immer mehr Textstellen analysiert und Legenden entschlüsselt werden. Dadurch lassen sich am Ende viel mehr Ausgangspunkte finden, als man zunächst glauben mag.
Auf diese Weise ergibt sich ein regelrechtes Netzwerk an Verknüpfungen und neuen Erkenntnissen über die Entstehungsschritte von den Ausgangspunkten bis zu den fertigen Legenden. Aufgrund der hohen Zuverlässigkeit der Schlussfolgerungen, die auf der Verknüpfung von Ausgangs- und Endpunkt beruht, kann, wie bereits angesprochen, auf zuvor gewonnenen Erkenntnissen aufgebaut werden, da sich immer mehr Zusammenhänge offenbaren, die auf den ersten Blick nicht einsichtig sind. Wir starten mit einfachen Rekonstruktionen wie die der Brotvermehrungslegende und nutzen die Ergebnisse für weitere Rekonstruktionen. Wir verfolgen jede Spur, erarbeiten uns auch kleine Bausteine, und erarbeiten schließlich so einen Fundus, aus dem wir schöpfen können. Gelegentlich lassen wir uns treiben, von Spur zu Spur, von Erkenntnis zu Erkenntnis, um möglichst viel Material zu sammeln. So ergibt sich ein Erkenntnisschub nach dem anderen, eines fügt sich zum anderen. Insgesamt ist die Methode natürlich sehr vielschichtig, wie es im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments war. Im Prinzip funktioniert es aber genau so wie eben beschrieben. Sobald man einige Ausgangspunkte gefunden hat, kommt man zunehmend leichter und vor allem zuverlässiger voran.
Während dieser Arbeit muss man sich auf den Erzählprozess konzentrieren und dabei auch den Überlieferungsvorgang berücksichtigen. Denn die Legenden entstanden nicht einfach von einer Ursprungsbegebenheit aus. Anders als oft üblich fragen wir also nicht: »Hatte Jesus besondere Heilkräfte?«, oder: »Hat er einen Zaubertrick vorgeführt?« Vielmehr begeben wir uns auf die literarische Ebene. Beim Erzählen, beim Schreiben entstanden die Texte. Ihre Weiterentwicklung war dann ein schrittweiser Prozess. Folglich müssen die Texte als schöpferischer Änderungsvorgang, ausgehend vom jeweils gefundenen Ausgangspunkt, betrachtet und untersucht werden, will man der Wahrheit auf die Spur kommen.
Wir versuchen uns dabei in den Erzähler hineinzuversetzen. Seine Sichtweise hat die Legenden geprägt, seine Motive führten zur Entwicklung eines jeden einzelnen Legendenteils. Wie kam der Erzähler darauf, dieses zu sagen? Wieso wählte er jene Formulierung? Nur wenn wir uns in ihn hineinversetzen, kann die Entschlüsselung gänzlich gelingen. Die Berücksichtigung der Rolle des Erzählers ist maßgeblich für die Entschlüsselung.
Seine literarischen Entscheidungen hinterlassen Spuren. Zudem macht jemand, der etwas erfindet, beinahe zwangsläufig Fehler. Diese Fehler äußern sich als Ungereimtheiten und Widersprüche. Wir diskutieren sie nicht weg und wir ignorieren sie nicht, wie oft üblich. Vielmehr sind gerade sie Anlässe, genauer hinzusehen. Wieso wird Jesus ausgerechnet zum Kreuzigungstod verurteilt? Weshalb bekommt er als zum Tode Verurteilter ein aufwendiges Grab? Wieso hat Paulus weder Grab noch Trauergemeinde aufgesucht? Wir müssen solche und viele weitere Fragen stellen. Es muss definitive Antworten auf diese Fragen geben. Wir finden sie auf der literarischen Ebene, bei der Motivation des Erzählers, den Vorgang so zu schildern und nicht anders. Er, der Erzähler, ist unsere Hauptperson, wenn es um die Rekonstruktion geht, es sind nicht die Personen, die er beschreibt. Deswegen ist es so wichtig zu wissen, wer der Erzähler war.
Wie konnten überhaupt vor rund zweitausend Jahren Legenden Eingang in ein Buch finden? Wie kam es zu verschiedenen Versionen eines Sachverhalts oder eines Jesuswortes? Wieso können wir uns nicht sicher sein, dass ein Paulusbrief von Paulus und ein Jesuswort von Jesus ist? Dies hat technische und menschliche Gründe. In der Antike wurde alles Wissen – Weisheiten, Erzählungen, Gesetze und dergleichen – handschriftlich oder mündlich vermittelt. Beides konnte äußerst zuverlässig erfolgen, wenn die Texte genau abgeschrieben oder präzise auswendig gelernt wurden. Aber oft entstanden, absichtlich oder nicht, Fehler, die von kleineren Abweichungen bis hin zu gravierenden inhaltlichen Änderungen reichen.
Dafür gibt es eine Vielzahl an möglichen Gründen. Fehler konnten durch Unaufmerksamkeit beim Abschreiben oder durch Beschädigung des Schreibmaterials entstehen (Papyrus ist leicht zerbrechlich). Beim Übersetzen, etwa vom Griechischen ins Lateinische, konnte ein beinahe neuer Text entstehen, wenn man die fremde Sprache kaum kannte. Ferner entstanden bereits beim Lesen heute unbekannte Verständnisprobleme: In der Antike wurde nämlich alles groß- und zusammengeschrieben. Außerdem kürzte man viele Wörter ab, was beim Lesen zu Fehldeutungen führen konnte. Ferner konnten begleitende Information, die man nicht für notierungswürdig hielt (wie den Namen des Verfassers eines Briefes), verloren gehen, beispielsweise wenn die Person, die es noch wusste, verstorben war. Noch leichter als bei der schriftlichen entstanden bei der mündlichen Überlieferung Fehler, schließlich kann sich ein Mensch bereits nach kurzer Zeit oft nicht mehr genau und wortgetreu an das erinnern, was ein anderer sagte.
Neben solchen unabsichtlichen Gründen gibt es die absichtlichen Textänderungen. Gerade bei religiösen Texten wurde die Interpretation gerne in den Text mit eingearbeitet, ohne als solche kenntlich gemacht zu werden. Auch vermeintliche Textverbesserungen – etwa weil man den Text für fehlerhaft oder verbesserungswürdig hielt – sind Beispiele für Änderungen. Oder man erfand eine Legende – letztlich sozusagen aus Marketinggründen. So wurden bedeutenden Personen oft besondere Eigenschaften angedichtet – und nicht nur Religionsstifter waren göttlicher Abstammung, vollbrachten Wunder oder fuhren in den Himmel auf, sondern beispielsweise auch Kaiser. Ein solcher Unterschied zum gewöhnlichen Menschen wurde von Berühmtheiten einfach erwartet.
Aber auch einzelne Aussagen und ganze Texte wurden erfunden. Wer etwa ein weiteres Evangelium über Jesus »auffand«, konnte im Kreis seiner Anhänger mit Anerkennung rechnen. Dass er dieses Evangelium nicht etwa frei komponierte, sondern bei seiner Erschaffung auf andere Quellen zurückgriff, lag nahe, denn wenn er nicht auffallen wollte, musste sein Text Ähnlichkeiten mit den bereits bekannten Texten über Jesus aufweisen.
So kam es, wie es kommen musste: Nach einiger Zeit gab es Dutzende Texte, die sich auf Jesus beriefen. Sie beschrieben seine Taten oder enthielten angebliche Aussagen von ihm. Einige dieser Texte hießen Evangelien, andere nicht, wobei man damals eine Vielzahl an Literaturgattungen »Evangelium« nannte, sofern Jesus eine Rolle spielte.1
Inhaltlich liegen diese Texte manchmal weit auseinander. Sie spiegeln oft in stärkerem Maße ihre Urheber wider als Jesus, und ihre Schriften unterscheiden sich erheblich. Menschen, die sich als Anhänger Jesu verstanden, vertraten oft völlig unterschiedliche Lehrinhalte. Manche glaubten an die leibliche Auferstehung Jesu, andere an Seelenreisen durch Himmelsschichten; manche hatten ein Evangelium, andere mehrere; manche stützten sich zusätzlich auf das Alte Testament, andere nicht – und so weiter. Das Umfeld, in dem die neutestamentlichen Bibeltexte entstanden, war also gekennzeichnet von Vielfalt – und von Fehlern und Fantasie.
Die Verschiedenheit der Anhängergruppen war oft regional bestimmt, in großen Städten wie Rom gab es aber unterschiedliche Gruppierungen an einem Ort. In Rom wiederum wurden bereits im 2. Jahrhundert im Wesentlichen die Texte gelesen, die heute in der Bibel stehen, und zwar von der Gemeinschaft, die zur heutigen katholischen Kirche wurde. Die Vielfalt unter den Jesus-Anhängern bestand dann noch einige Zeit nebeneinander, bis das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion wurde. Sukzessive wurde nun gegen abweichende Glaubensgemeinschaften vorgegangen. Ihre Schriften wurden vernichtet. Die meisten dieser Schriften gingen auch unter. Einige liegen uns dennoch vor, beziehungsweise sie liegen wieder vor, da sie sich etwa als Grabbeilagen erhalten haben und im Zuge von Ausgrabungen gefunden wurden.
Was wir heute als Neues Testament kennen, ist das Ergebnis dieses Prozesses der Herausbildung einer als gültig erklärten Religion in Abgrenzung zu anderen religiösen Lehren. Bereits in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung begann man, klare Grenzen zu ziehen. Manche Schriften wurden in den sogenannten Kanon aufgenommen, also als gültig normiert, die übrigen als unecht verworfen. Die Kirche hat ihre Arbeit dabei keineswegs schlecht gemacht. Sie ist zwar von der Botschaft Jesu abgekommen, ausgehend von den ihr vorliegenden Schriften hat sie aber keine schlechte Auswahl getroffen. Allerdings hatten die ihr vorliegenden Schriften bereits Veränderungen durchgemacht.
Denn gerade am Beginn einer Überlieferungskette können leicht Fehler und Änderungen entstehen, zu einem Zeitpunkt, wenn ein Text noch nicht weit verbreitet ist, sondern von seinem Besitzer beinahe als persönliches Eigentum betrachtet wird. Ein missionierender Anhänger versucht etwa, ein Gleichnis Jesu durch eine eigene Erläuterung verständlicher zu machen, und gibt diese Erläuterung aus Bequemlichkeit oder Glaubwürdigkeit als Wort Jesu aus – und schon ist der Text verfälscht. Da der Text in dieser frühen Phase noch nicht oft vervielfältigt wurde, wird so die geänderte Fassung zur maßgeblichen Ausgangsbasis für die Zukunft. Das Beispiel verdeutlicht, dass es nicht so sehr darum geht, ob ein Text komplett gefälscht ist oder nicht, sondern darum, ob einzelne Textpassagen – Sätze, Wörter und so weiter – authentisch sind oder das Resultat einer Veränderung.
Damit wir die Vorgänge in dieser frühen Zeit rekonstruieren können, betrachten wir alle Quellen, deren Ursprünge eventuell ganz oder teilweise in dieser frühen Zeit liegen. Sie müssen nicht von der Kirche akzeptiert worden sein; umgekehrt behandeln wir die Texte der Bibel aber auch nicht nachrangig. Vielmehr behandeln wir alle Quellen zunächst gleichberechtigt, unabhängig von ihrer Aufnahme in die Bibel, vom Bekanntheitsgrad, vom Urheber oder vom vermeintlichen Datum, auf das der Text datiert wird. Denn auch ein späterer Text kann ganz oder teilweise ursprüngliches Material enthalten. Wir hinterfragen alle Quellen gleichermaßen kritisch, oder genauer: Wir behandeln alle Bestandteile dieser Quellen kritisch, denn oft sind einige Teile authentisch, andere nicht.
Wir tun dies auch unabhängig vom gewohnten Jesusbild, und wir tun es insbesondere unabhängig von unserem Jesusbild. Denn meist verbirgt sich hinter dem Bild von Jesus die Vorstellung vom Glauben, vom weltlichen oder göttlichen Gesetz, von Moral und Ethik, von einer besseren Welt oder vom besseren Menschen. Gerade das Sich-Lösen von Bildern ist außerordentlich schwer. So wird das Arbeiten an Jesustexten auch zum Arbeiten an der eigenen Vorstellungswelt. War Jesus eins mit Gott – gut. War er ein Scharlatan – bitte. War er der Sohn des Teufels – oh Schreck. Resultate zu akzeptieren und offen zu bleiben, fällt in der Praxis nicht leicht, selbst bei sehr sorgsamem Vorgehen wird man allzu leicht von der eigenen Projektion und Vorstellung beeinflusst, mitunter ohne, dass man sich dessen bewusst ist. Wie können wir das weitgehend ausschließen? Die Antwort lautet: Durch eine in Zweifelsfällen so mechanisch wie irgend mögliche Vorgehensweise, insbesondere wieder durch die Verknüpfung von Anfangs- und Endpunkt. Diese Technik gibt uns Sicherheit beim Analysieren spiritueller Texte.
Wir machen uns also leer, um unabhängig von unseren Wünschen, von unseren Vorstellungen, von unseren Bildern zu werden. Wir machen uns auch frei von den Dingen, die wir oft gehört haben, denn was wir oft gehört haben, beurteilen wir automatisch als zuverlässig, auch wenn dem gar nicht so sein sollte. Wir machen uns aber auch frei von jeder Autorität, ob sie von der Bibel ausgeht oder von unserem modernen, vermeintlich aufgeklärten Weltbild. Dieses Freimachen bedeutet ja nicht, dass wir unser Wissen verlieren oder unsere Vorstellung von Gut und Böse aufgeben, sondern nur, dass wir uns davon im Urteil dessen, was war, nicht beeinflussen lassen.
Bei der Herleitung stellen wir auch die Frage nach Gott, wie er denn sei und ob er denn überhaupt ist, hintenan – unabhängig davon verwenden wir jedoch religiöse Begriffe. Selbst vermeintlich wissenschaftlich gut abgesicherte Erkenntnisse über Jesus kommen auf den Prüfstand, denn auch die besten Forschungsmethoden können zu falschen Schlussfolgerungen führen. Dies geschieht nicht, um der Fantasie freien Lauf zu lassen oder um mit einem Kontra zu provozieren, sondern um frei von den Folgen zweier Jahrtausende Redaktions- und Interpretationsgeschichte zu sein, um wirklich von vorne anfangen zu können.
Dieses Sich-Frei-Machen umfasst auch den Bereich der Argumente. In vielen Fällen erfordert die Erörterung eines Einzelaspekts nämlich den Rückgriff auf ein überliefertes Gesamtbild oder auf andere Einzelaspekte. Wir verzichten nach Möglichkeit darauf, einen Einzelaspekt ausführlich zu diskutieren, solange das Gesamtbild beziehungsweise die übrigen Einzelaspekte noch nicht neu erschlossen wurden. So bleiben wir am ehesten offen für Neues, so können wir verhindern, über den Umweg durch eine verfrühte Erörterung einzelner Themen, die uns in irgendeiner Weise auf etwas festnagelt, dann doch durch vorgefasste Urteile beeinflusst zu werden.
Hinzu kommen praktische Gründe für diese Vorgehensweise. Die Entschlüsselung ist nur zu leisten, wenn man, wo möglich, Umfang und Komplexität nicht unnötig aufbläht. Das bedeutet nicht, dass in der Literatur aufgeführte Argumente ignoriert werden, sondern nur, dass sie sich nicht in den Vordergrund drängen. Wir gehen weiter jeder Spur nach. Ob sich die Argumente bestätigen oder nicht, ergibt sich dann oft im Zuge der Entschlüsselung. Ein Beispiel möge dies erläutern.
Eine außerbiblische Quelle, das Thomasevangelium,2 präsentiert sich als »Geheimlehre« Jesu. Dies wirft zu Recht Fragen nach der Authentizität auf. Schließlich hat Jesus meist öffentlich gesprochen. Er wollte niemanden von seiner Botschaft ausschließen und keinen elitären Geheimbund gründen – darauf deutet ansonsten nichts. Diese Schrift scheint also von Späteren kompiliert worden zu sein, die Eigenes als Jesuswort ausgaben. Die naheliegende Folgerung wäre somit, diese Schrift in Relation zu den biblischen Evangelien auf einen späteren Entstehungszeitpunkt zu datieren und als weniger authentisch einzuschätzen. Ist diese Begründung stichhaltig? Nein, denn bei diesem Argument fließen zwangsläufig viele weitere gängige Vorstellungen und Informationen wie die, dass Jesus überwiegend öffentlich gesprochen hat, mit ein, die jedoch (noch) nicht verifiziert sind. Außerdem werden Alternativen nicht genügend berücksichtigt.
Wir schreiten hingegen einfach auf allen möglichen Gebieten mit der Spurensuche voran. Wenn sich dabei herausstellt, dass Jesus selbst einen Grund gehabt haben kann, von einer geheimen Lehre zu sprechen, erübrigt sich das Argument der geringeren Authentizität von der Bezeichnung »Geheimlehre«. So könnte beispielsweise Jesus die Geheimhaltung angeordnet haben, um seine Anhänger zu schützen. Ein Schutzmotiv liegt sogar nahe, da gemäß des Neuen Testaments er und andere verfolgt wurden. Dieses Phänomen ist nicht ungewöhnlich, bis heute verschweigen wegen drohender religiöser Verfolgung viele religiöse Gruppen ihre Religionszugehörigkeit oder Teile der Inhalte ihrer Religion.
Ein weiteres Motiv kann im Charakter der Schrift liegen. Das Thomasevangelium präsentiert sich als eine Art Werkzeugkasten, eine Sammlung spiritueller, nach innen gerichteter Anweisungen. Ein solcher Werkzeugkasten verlangt mitunter Begleitung, jemanden, der weiß, was gemeint ist. Andernfalls könnte er irreführen oder auch willentlich oder unbewusst missbraucht werden. Es sind somit noch mindestens zwei weitere Gründe denkbar, weshalb Jesus die Schrift als geheim deklariert haben könnte. Sie wäre weiterhin allen ernsthaft Interessierten zugänglich, aber sie wäre kein öffentlicher Text. In beiden denkbaren Fällen hätte es Jesus nicht darauf angelegt, einen elitären Zirkel zu gründen. Folglich kann man mit dieser Begründung keine spätere Datierung oder eine geringere Authentizität der Schrift schlussfolgern.
Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass es Sinn ergeben kann, sich bei der Erörterung eines Arguments zu gedulden. Es wird nicht ignoriert, vielmehr kommt aufgrund der Vielfalt der Spuren die Lösung eines Problems möglicherweise plötzlich aus einer ganz anderen Ecke. Wenn uns unsere Spurensuche dazu führt, werden wir mögliche Motive einer Geheimhaltung erläutern. Unabhängig davon suchen wir parallel anhand von Textstellen Hinweise auf die Datierung, darauf, was zuerst war, und wir suchen weitere Zusammenhänge. Wenn sich keine Lösung ergeben sollte, kommen wir auf das Ausgangsargument zurück. In der Praxis muss man bei einem komplexen Vorgang wie der Jesus-Entschlüsselung eine Vielzahl an Thesen bilden und wieder verwerfen, bevor man möglicherweise einen richtigen Lösungsansatz hat.
Ein weiterer Aspekt ist, dass wir zwangsläufig in Bereiche vordringen, in denen wir noch recht alleine sind. Trotz der Fülle an Forschung insgesamt herrscht ein großer Mangel, wenn es konkret darum geht, wer beispielsweise die Brotvermehrungslegende erfand. Man könnte etwa bei Fragen der Art, wann welche Schrift zu datieren ist, ausführlich die bestehende Literatur erörtern. Hier Zusätzliches aufzuzählen, wäre von geringer Relevanz in Relation zum zentralen Thema, wer, und zwar auf der literarischen Ebene, konkret wann was machte und weshalb. Wer schuf einen Text, wer veränderte ihn? Dieses konkrete Entschlüsseln auf der literarischen Ebene ist so gut wie unerforscht.
Da der konkrete Entstehungsvorgang der Texte kaum erforscht ist, ist aber auch, was sich hinter diesem Zerrspiegel der literarischen Ebene verbirgt, noch kaum erforscht. Es ist ein großer Unterschied, ob wir in Unkenntnis der Verfremdungsebene eine Handlung oder einen Spruch Jesu analysieren oder ob wir genau wissen, wer wann was getreu berichtete beziehungsweise verfälschte und wer wann welches Jesuswort einfügte beziehungsweise erfand. In Kenntnis des Zerrspiegels sehen wir jedoch durch verfälschte Textpassagen aufs Original und betreten so ein unbekanntes Universum.
Indem wir die Verfälschung bereits in Jüngerkreisen konstatieren, setzen wir auch zeitlich eine Stufe früher an als heute üblich. Theorien wie die bekannte Zweiquellentheorie, die die Evangelienentstehung zu erklären versucht, sind Vorläufer in Bezug auf die Idee eines Entstehungsstammbaums. Wir bauen aber nicht darauf auf, sondern erschließen alles neu. Letztlich besteht die Jesus-Entschlüsselung aus einer Vielzahl an Einzelthesen. Erst als Ergebnis der Zusammenschau dieser Einzelthesen ergeben sich dann konkrete Theorien.
Das Weltbild unserer modernen, vermeintlich rationalen Wissensgesellschaft verleitet manchen dazu, Wissen nur als Anhäufungsprozess vieler Informationen zu sehen. Oft wird dann Jesus eigenständige Kreativität weitgehend abgesprochen, er mutiert zu einem besseren Priester. Selbst christliche Autoren reduzieren ihn mitunter zu einem irgendwie zwar herausragenden Menschen, der aber letztlich lediglich auf Bestehendes zurückgegriffen haben soll.
Wissen kann aber nicht nur aufgegriffen werden, sondern auch neu geschöpft, neu erkannt werden, sei es in einem genialen, sei es in einem spirituellen Prozess. Es gibt diese Katalysatoren der Menschheitsgeschichte, und Jesus gehörte dazu – Paulus übrigens ebenfalls. Jesus muss sein Wissen nicht von irgendeiner Sekte geborgt haben, er muss nicht in Indien zur Lehre gegangen sein, er hat es aus sich selbst geschöpft.3
Grundsätzlich behandeln wir anfangs auch alle Thesen gleich, unabhängig von ihrer Herkunft. Dies schließt scheinbar exotische Thesen mit ein. Zugleich hinterfragen wir selbst als gesichert geltende Auffassungen. Wir gehen vor wie Archäologen aus einer anderen Kultur, von einem anderen Stern, die nichts über Jesus wissen und die Texte erstmals lesen. Wir beginnen mit ersten Puzzlestücken, die dann ein erstes Teilbild ergeben werden, um dann vielleicht an ganz anderer Stelle mit ganz anderen Steinchen weiterzumachen. Wir gehen ins Detail, wo nötig, und schließlich ergeben sich mitunter größere Zusammenhänge auf einen Schlag. Nur im Einzelfall wird auf etwas zurückgegriffen, das noch nicht hergeleitet wurde. Auch das ist wie bei einem Puzzle, manchmal ist bereits ein Schatten zu sehen, die zugehörige Sonne zeigt sich erst später.
Ziel ist die wissenschaftlich fundierte Entschlüsselung der Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments. Dabei ergibt sich zwangsläufig ein weiteres Ziel, nämlich die Bergung der Botschaft Jesu: Kümmere dich um deine innere spirituelle Entwicklung, kümmere dich um die Überwindung deines Egos, kümmere dich letztlich um deine Erleuchtung, so wie Jesus bereits zu Lebzeiten eins wurde mit dem Spirituellen. Die Entschlüsselung der Vorgänge um Jesus ist nicht nur Selbstzweck, sie ist auch Mittel zum spirituellen Ziel.
Zumeist wird für Analysen zu Leben und Lehre Jesu nur das Neue Testament herangezogen. Das führt jedoch zu Verfärbungen. Nicht Jesus entschied, welche Texte in die Bibel aufgenommen wurden. Deshalb ziehen wir sukzessive auch andere Quellen heran. Als erste außerkanonische, also nichtbiblische, Quelle wird das bereits erwähnte Thomasevangelium betrachtet. Es wurde Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Höhle bei Nag Hammadi in Ägypten als Teil eines umfassenderen spätägyptischen Papyrusfundes entdeckt. Diese Handschrift wird meist ins 4. Jahrhundert nach Christus datiert, der Text selbst ist aber sicher älter. Aus kirchenpolitischen Gründen war die Schrift lange verschollen. Dem Namen nach war sie jedoch schon vor dem Fund bekannt, denn dieses Evangelium wurde von antiken Autoren erwähnt oder es wurde aus ihm zitiert. Neben dem gefundenen vollständigen Exemplar gibt es kleinere Bruchstücke in griechischer Sprache. Das bestätigt eine frühe Verbreitung. Es gibt keine Sammlung von Sprüchen Jesu, die in der Spätantike häufiger belegt ist als das Thomasevangelium.
Äußerlich unterscheidet sich das Thomasevangelium von den aus der Bibel bekannten vier Evangelien. Es hat die Form einer Lehrspruchsammlung. Erzählungen, Handlungen und Jesu Lebenslauf sind darin nicht enthalten. Die spektakulären Ereignisse, wie die Krankenheilungen und selbst die Auferstehung, finden keine Erwähnung. Diese Dinge hält man heute für wichtig und sogar maßgeblich für Jesus und seine Geschichte – der Verfasser des Thomasevangeliums hat ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass er nichts davon gewusst hat, weil er seine Schrift vor der Erfindung dieser Erzählungen verfasste. Stattdessen enthält es (Lehr-)Sätze Jesu sowie einige Fragen der Jünger: So wie ein Meister zu seinen Schülern spricht, ganz ohne Effekthascherei.
Aber auch der spirituelle Inhalt unterscheidet sich. Beispielsweise enthält das Thomasevangelium keine gesetzesartigen Anleitungen zur Lebensführung. Stattdessen findet man zunächst nur schwer verständliche, offenbar metaphorisch gemeinte, nach innen gerichtete Sätze. Dazu gebraucht er Worte der äußeren Welt, was Missverständnisse befördert. Die Sätze dienen, wie wir sehen werden, der Begegnung mit Gott nicht erst nach dem Tode, sondern der spirituellen Erleuchtung bereits zu Lebzeiten.
Da die Bedeutung des Thomasevangeliums oft unterschätzt wird, wollen wir ein paar Ergebnisse vorwegnehmen: Das Thomasevangelium muss neben anderen Einflüssen (wie dem Judentum) als eine Wurzel sowohl des Christentums als auch einer spätantiken spirituellen Strömung, der Gnosis, verstanden werden. Deshalb scheint es formal-äußerlich aus christlichen und aus gnostischen Elementen zu bestehen. Als Wurzel beider enthält es noch nicht die »Ausschmückungen« wie die Wundererzählungen, die das Christentum und auch die Gnosis auszeichnen. Es wird sich klar zeigen: Die Jesusworte des Thomasevangeliums sind von hoher Authentizität, von höherer als die der kanonischen Evangelien. Wegen des derzeit noch geringen Bekanntheitsgrades ist das Thomasevangelium im Anhang beigefügt.
Da die Inhalte des Thomasevangeliums weniger bekannt sind als die der Evangelien des Neuen Testaments, sich aber stark von diesen unterscheiden, wollen wir an dieser Stelle eine kurze Beschreibung vorwegnehmen. Auch für diese Beschreibung nehmen wir wiederum einige Ergebnisse der späteren Untersuchung vorweg, was der Verständlichkeit dient.
Das Thomasevangelium ist eine Anweisung an den menschlichen Geist zur Erlangung einer spirituellen Erfahrung, die Jesus gemacht hatte und der er unter anderem die Namen »Licht«, »Reich des Vaters« oder »Himmelreich« gab. Diese spirituelle Erleuchtung war die wichtigste Erfahrung seines Lebens, sodass er es sich zur Lebensaufgabe machte, sie auch anderen zu ermöglichen. Da er sie als zentrales Element aller Religiosität erkannte, fühlte er sich verpflichtet, diese höchste aller Erfahrungen zu lehren und von ihr zu sprechen. Er verstand sie als Einheit mit dem Göttlichen. Wenn er vom Himmelreich sprach oder vom Reich des Vaters, verstand er diese »Reiche« aber weder jenseitig und noch diesseitig, vielmehr hatte er die Einheit mit Gott in der Erleuchtung vor Augen, die er selbst erzielt hatte. Im Unterschied zum Neuen Testament, wo Jesus vor allem als Sohn Gottes erscheint, bezeichnet sich Jesus im Thomasevangelium als Prophet (Spruch 52). Aufgrund seiner Einheitserfahrung setzt er sich sogar andeutungsweise mit Gott gleich (Spruch 13). Jesus war aber kein Prophet in dem Sinne, dass er Worte Gottes vermittelt hätte – so etwas gibt es nicht, Gott kommuniziert nicht in Menschensprache, er ist absolut still –, sondern indem er einen Weg aufzeigte, wie man Gott verstehen, ihm näher kommen und in der Erleuchtung auch erreichen kann.
Da das aber von den meisten, die das Spirituelle nicht aus eigener Erfahrung kannten, nicht verstanden worden wäre, verwendete er Umschreibungen. Er sprach in Metaphern, um den Menschen die spirituelle Erkenntnis nahezubringen. Manche Aussagen aus dem Thomasevangelium sind auch auf das Alltagsleben ausdehnbar, wie beispielsweise Anweisungen oder Empfehlungen zur Führung eines adäquaten Lebens. Bedeutsam ist, dass eine erstarrte Moral und festgefahrene Rituale als potenzielle Hindernisse bei der Entwicklung des Selbst genannt werden (Sprüche 6, 14, und 104). Ferner wird, lange vor Sigmund Freud (1856–1939), dem sogenannten Vater der Psychoanalyse, und ganz nebenbei, die Psyche der Masse als höriges Kind gesehen (Spruch 21, wobei dieser nicht nur die Masse meint).
Konkrete Beschreibungen etwa von Personen oder Vorgängen sind im Thomasevangelium nur wenige und nur kurze vorhanden. Sie sind offenkundig aus konkreten Situationen heraus entstanden und entsprechend in den Text eingearbeitet. Es findet sich aber auch formell Wegweisendes, so scheint hier erstmals die substantivistische Verwendung des Wortes »Einzelner« (Spruch 16) vorzukommen.
Die konkrete Erfahrbarkeit des Himmelreichs zu Lebzeiten ist besonders hervorzuheben. Mit ihr tritt im Thomasevangelium eine religiöse Auffassung Jesu zutage, die sich weitgehend von den Vorstellungen unterscheidet, die im Christentum mit seiner starken Jenseitsbezogenheit üblich sind. So beschreibt es das Himmelreich als inwendig (das ergibt sich beispielsweise aus Spruch 89 oder 113). Es kann aber auch äußerlich sein (siehe Spruch 3). Hauptkonzeption ist letztlich, dass es in Wahrheit beides ist, inwendig und äußerlich, im Grunde geht sogar alles geht in einer Einheit auf (das zeigen etwa die Sprüche 22 und 77). Da aber das Inwendige zumeist nicht erkannt wird, kommt es zuvorderst auf das Inwendige an (siehe Spruch 67). Dass es sich um eine Erfahrung handelt, genauer gesagt, dass es mit einer solchen beginnt (Spruch 2 ist eine Art Tagebuchaufzeichnung der Vorgänge), folgt beispielsweise aus der Forderung nach Einsamkeit (Spruch 75). Einsamkeit ist aber ansonsten im Leben nicht angezeigt, vor allem nicht als ein dauerhaft anhaltender Zustand. Auch Jesus selbst hielt sich ja unter Menschen auf und nicht in der Einsamkeit, nachdem er die Erleuchtung erzielt hatte. Solche inwendig-spirituellen Vorstellungen sind dem Christentum weitgehend, aber nicht gänzlich fremd, so haben etwa christliche Mystiker wie Meister Eckhart sehr wohl die konkrete Begegnung mit Gott gesucht.
Die Aussagen im Thomasevangelium dienen jedoch nicht nur der Erlangung einer solchen spirituellen Erfahrung. Sie erfassen auch andere Bereiche und dienen generell der Entwicklung des Menschen. Das ist etwa der Fall bei dem auch aus den kanonischen Evangelien bekannten Spruch, demzufolge man nicht auf den »Splitter« im Auge des »Bruders«, sondern auf den »Balken« im eigenen »Auge« achten solle (Spruch 26). Der Anwendungsbereich dieses Spruchs ist offenkundig vor, im Zuge, nach, aber eben auch unabhängig von einer spirituellen Erfahrung zu sehen – und im Übrigen nicht für die Einsamkeit, sondern für ein soziales Wesen gedacht, da es den Menschen in Bezug zu anderen, zu einem »Bruder«, setzt.