Sie lachen das schon!
Dr. Charlotte Cordes hat Kommunikationswissenschaft, Markt- und Werbepsychologie und Amerikanistik in München studiert und führt seit Jahren Seminare zum Provokativen Ansatz, Improseminare sowie Einzel- und Paarcoachings für die unterschiedlichsten Zielgruppen durch. Sie ist Teil der Institutsleitung des Deutschen Instituts für Provokative Therapie (www.provokativ.com) und betreibt eine private Coachingpraxis in München. Seit 1998 spielt sie Improvisationstheater (www.improgoesloose.de) und singt seit 2011 in dem Münchner Vokalensemble Die Dachschrägen‘. Charlotte Cordes ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in München.
Sie lachen das schon!
Einführung in die Provokative SystemArbeit mit kommentierten Fallbeispielen
Illustrationen von Emil Tracht
www.provokativ.com
www.knollundpatze.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.ddb.de.
2. Auflage 2018
© K&P Verlag, Charlotte Cordes, München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Inge Bell, Stefan Baumgarth
Umschlaggestaltung: Lisa Höfner
Satz: Axel Wünsche
Illustrationen: Emil Tracht
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druckerei: Sowa Sp. z o.o. | ul. Hrubieszowska 6a | WARSZAWA, 01-209, Polen
ISBN 978-3-96443-457-9
VORBEMERKUNG
DIE URSPRÜNGE DER PROVOKATIVEN SYSTEMARBEIT (PROSA)
Frank Farrelly und die Provokative Therapie
Das Deutsche Institut für Provokative Therapie (DIP)
Das LKW
ProSA - Nur‘ ein Einstieg?
Die Kontraindikationen der Provokativen Vorgehensweise
Der Beginn in München
Ausbildungsmöglichkeiten
Provokative SystemArbeit und Impro
DIE 10 ELEMENTE DER PROVOKATIVEN SYSTEMARBEIT
1. Die Herstellung des Guten Drahtes
2. Der Einstieg in das Weltbild des Klienten
3. Aussprechen des Weltbildes des Klienten
4. Persiflieren des Weltbildes des Klienten
5. Globalisierung des Weltbildes des Klienten
6. Der Advocatus Diaboli
7. Begeisterung für das Symptom
8. Bilder verwenden
9. Idiotische Ratschläge
10. Hypnotische Kommunikation
FALLBEISPIELE
Vorbemerkungen
Wie beginnen und enden die Beratungsstunden?
Wie sitzen die Klienten während der Stunde?
Wie reagieren Sie als Berater auf emotionale Ausbrüche der Klienten?
Dürfen Sie Klienten, die monologisieren, unterbrechen?
Wissen Klienten nach einer Sitzung, was sie tun müssen?
Funktioniert Provokatives Arbeiten per (Video)Skype, Facetime oder Telefon?
Kann man mit Kindern provokativ arbeiten?
Fallbeispiel 1 (Beraterin: C. Cordes): Meine Nachbarin ist ein Messi
Fallbeispiel 2 (Beraterin: C. Cordes): Mein Klient hebelt mich aus
Fallbeispiel 3 (C. Cordes): Alle anderen sind doof
Fallbeispiel 4 (C. Cordes): Mein Sohn ist ein Dauerstudent
Fallbeispiel 5 (C. Cordes): Meine Kinder sind schwierig
Fallbeispiel 6 (C. Cordes): Kann ich provokativ arbeiten, wenn ich selbst im Rollstuhl sitze?
Fallbeispiel 7 (C. Cordes): Meine Tochter ist zu dick
Fallbeispiel 8 (C. Cordes): Die Perfektionistin
Fallbeispiel 9 (C. Cordes): Mein Leben ist ein Jammertal
Fallbeispiel 10 (N. Höfner): Kinder, ja oder nein?
Fallbeispiel 11 (F. Farrelly): Der Stotterer
FAZIT
BUCHTIPPS
Nachdem ich in den letzten Jahren regelmäßig von mehreren Seiten dazu aufgefordert wurde, in Ergänzung zu den Büchern meiner Mutter Noni (Dr. E. Noni Höfner) ein Buch über den Provokativen Ansatz zu schreiben, ist es jetzt endlich soweit.
Im ersten Teil des Buches werden die Ursprünge der provokativen Vorgehensweise beschrieben und anhand von 10 Punkten und kommentierten Auszügen aus Einzelsitzungen mit Klienten die Philosophie des Provokativen Ansatzes erläutert und veranschaulicht.
Im zweiten Teil des Buches befinden sich elf ausführliche Sitzungen (neun von mir, eine von meiner Mutter und eine vom Erfinder der Provokativen Therapie Frank Farrelly). Sie sind an einigen Stellen mit Kommentaren versehen, damit Sie als Leser einen Hinweis darauf bekommen, welcher der 10 Punkte aus dem ersten Teil des Buches gerade besonders im Vordergrund steht.
Sie werden merken, dass die drei Provokateure nicht identisch vorgehen. Es gibt bei dieser Art zu arbeiten kein Patentrezept für richtig oder falsch. Essentiell ist die Haltung, die dahinter steckt. Mein Ziel ist es, in diesem Buch diese Haltung deutlich zu machen und Ihnen einen ersten Schubs in Richtung provokatives Arbeiten zu geben (wenn Sie das möchten...).
Ich bin sehr froh, dass meine Mutter Frank Farrelly entdeckte, als ich etwa 10 Jahre alt war, und er infolgedessen jedes Jahr mehrere Wochen bei uns wohnte. So lernte ich ihn sowohl privat als auch beruflich sehr gut kennen. Ich habe die Provokative Therapie sozusagen fast mit der Muttermilch aufgesogen. Beruflich schlug ich erst einmal einen anderen Weg ein. Doch der Provokative Ansatz holte mich über Umwege wieder zu sich zurück. Seit dem Jahr 2000 arbeite ich mit Leidenschaft und immer intensiver in unserem Institut als Berater1, Trainer und Coach und werde das hoffentlich noch tun, bis ich ins Grab fahre. Da ich beschlossen habe, sehr alt zu werden, dauert das hoffentlich noch sehr lange.
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei den Klienten und Klientinnen bedanken, die mir ihre Fälle anonymisiert für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben. Ein provokativer Kommentar eines Klienten zu meiner Frage, ob ich einen Teil seiner Sitzung für das Buch verwenden dürfe: „Klar, nehmen Sie mich in das Buch. Dann werde ich wenigstens anonym berühmt.“
Die Provokative Systemarbeit (ProSA)®, der Provokative Stil (ProSt)® und das Provokative Coaching (ProCo)® sind Kommunikationsformen, die wir aus der Provokativen Therapie (PT) von Frank Farrelly entwickelt haben. Diese drei Begriffe decken unterschiedliche Anwendungsfelder ab und betonen auch den systemischen Anteil der provokativen Vorgehensweise. Die Provokative Therapie war von Anfang an systemisch, lange bevor es diesen Begriff in der Therapie überhaupt gab.
Wir haben uns die drei Begriffe schützen lassen, um zu verhindern, dass selbsternannte Provokateure, die im schlimmsten Fall Klienten bösartig in die Pfanne hauen, unter dem Mantel des Provokativen segeln und behaupten, sie hätten das bei uns gelernt. Die Provokative Vorgehensweise, wie wir sie praktizieren, hat nichts mit in die Pfanne hauen‘ zu tun. Im Gegenteil. Sie setzt eine sehr wohlwollende, empathische Grundhaltung voraus. Auf dieser empathischen Basis provozieren wir den Klienten an den Stellen, an denen er feststeckt. Wenn Sie als Berater an der richtigen Stelle in den Busch schießen, springt ein Hase heraus. Wenn der Hase springt, hat das zur Folge, dass der Klient einen raschen emotionalen Widerstand gegen seine Selbstschädigung entwickelt und sich über seine Stolpersteine amüsieren kann. Das bewirkt Entspannung und langanhaltende Verhaltensänderungen. Wenn nicht gleich einer herausspringt, dann probieren Sie, einen neuen Hasen zu finden. Sie werden überrascht sein, wie schnell es um Sie herum hüpft, wenn Sie genau hingucken.
Frank Farrelly und die Provokative Therapie
Ich bin seit über 30 Jahren in provokativer Dauertherapie. Frank Farrelly war in meiner Kindheit und Jugend nicht aus unserem Wohnzimmer wegzudenken und hat mein Leben nachhaltig geprägt. Meine Mutter entdeckte den US-Amerikaner in den 80er-Jahren bei einem seiner ersten Workshops in Europa und heftete sich an seine Fersen. Sie begann, Seminare mit ihm in Deutschland zu organisieren und war so begeistert von seiner Arbeit, dass sie den provokativen Ansatz sofort in ihren Beratungsstunden einsetzte. Schon bald gründete sie mit einem Kollegen das Deutsche Institut für Provokative Therapie, das sie bis heute leitet. Seit vielen Jahren mit mir zusammen. Wir fingen alle Feuer und begeisterten uns für Frank und seine Art zu arbeiten. Wir konnten uns der provokativen Kommunikation nicht entziehen, und sie ist bis heute fester Bestandteil unseres beruflichen und privaten Lebens. Wir stellten fest, dass man jeden liebevoll provozieren kann, wenn man den richtigen Knopf drückt‘, selbst wenn sich der Betreffende mit dem Provokativen Ansatz gut auskennt. Auch Frank Farrelly war nicht immun dagegen. Es gab Situationen, in denen wir ihn provozierten und er laut lachend sagte: »Jetzt habt ihr mich schon wieder erwischt.«
Frank Farrelly stammte aus einer katholisch-irischen Familie und war das neunte von zwölf Kindern. Eigentlich wollte er Priester werden, flog aber aus dem Priesterseminar hinaus, wegen mangelndem Gehorsam. Er passte einfach nicht dort hin und wurde stattdessen Psychologe, wo er auch gegen überkommene Therapievorstellungen den Gehorsam verweigerte. ‘Gott sei Dank!‘ kann ich nur sagen.
In den 60er- und 70er-Jahren arbeitete er fast zwei Jahrzehnte in einer psychiatrischen Klinik in den USA. Dort entwickelte er eher zufällig die Provokative Therapie. In der 91. Stunde mit einem depressiven, Klienten, der nicht müde wurde, sich selbst für hoffnungslos zu halten, platzte ihm der Kragen. Frank Farrelly hatte versucht, ihn 90 Stunden lang ohne sichtbaren Erfolg streng gesprächstherapeutisch positiv zu unterstützen, und sagte nun sinngemäß in etwa Folgendes zu ihm: »Ich stimme Ihnen zu. Sie werden sich nie ändern. Keine Chance. Sie sind dazu einfach nicht in der Lage. Sie sind ein hoffnungsloser Fall.« Zum ersten Mal zeigte dieser Klient erkennbare Reaktionen. Er wehrte sich ungewohnt heftig gegen diese Zuweisungen und änderte etwas in seinem festgefahrenen Denken und Verhalten. Frank war verblüfft. Er fing an, mit dieser Methode zu experimentieren und setzte sie in den kommenden Jahrzehnten unzählige Male sehr erfolgreich ein. Die Provokative Therapie war geboren. Irgendwann hieß es bei sehr hartnäckigen Fällen immer: »Holt Frank. Dem fällt bestimmt was ein.«
Ein Fall, den er mir aus seiner Zeit in der Psychiatrie erzählt hat, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Ein Mann wurde in der Nähe von Franks Arbeitsplatz aufgegriffen. Er war sehr aggressiv und sprach nur Kauderwelsch, sodass niemand so recht wusste, was sie mit ihm anstellen sollten. Man holte Frank und hoffte darauf, dass ihm etwas einfallen würde. Er kam mit zwei muskelbepackten »Bodyguards«, die den um sich schlagenden Mann festhielten. Frank stellte sich in einem sicheren Abstand daneben und beobachtete die Situation. Dann begann er einen Kauderwelsch-Dialog mit dem Patienten, wendete sich daraufhin an einen ebenfalls anwesenden Polizisten – und zwar so laut, dass der Patient es auch hören konnte –, und sagte: »Er behauptet, er heiße John und käme vom Planeten Beta XY. Das ist der Planet, auf dem alle Menschen Sex mit Ziegen haben!« Das saß. Der Kauderwelsch sprechende Mann wechselte sofort ins Englische und schrie Frank zu: »Fuck you!« Ab diesem Moment konnte er nicht mehr so tun, als verstünde er nichts. Nach einer Weile, in der Frank sich relativ normal mit dem Mann unterhalten hatte, konnten ihn die beiden Bodyguards loslassen, und der Klient ließ sich friedlich in die Psychiatrie bringen.
Ich hatte das Glück, Frank jahrelang über die Schulter schauen zu dürfen. Das hat mir in meiner (beruflichen) Entwicklung unglaublich viel gebracht. Und tut es noch heute.
Das Deutsche Institut für Provokative Therapie (DIP)
Als meine Mutter Frank Farrelly und seine Art zu arbeiten in Europa kennenlernte, begriff sie sehr schnell, dass die Provokative Therapie weit mehr ist als »nur« eine therapeutische Technik. Sie fußt auf einem Menschenbild, das die Selbstverantwortung des Klienten fördert und ihm wieder die Kontrolle über das eigene Leben zurück gibt. Der Klient gibt seine Opferhaltung auf und wird wieder zum „Täter“. Der Provokative Ansatz ist daher keine Technik oder Masche, sondern eher eine Grundhaltung oder Lebensphilosophie, die sich in Therapie, Beratung und Coaching sowie im Alltag umsetzen lässt.
Das LKW
Als Noni Höfner der Provokativen Therapie zum ersten Mal begegnete, fühlte sie sich wie von einem großen LKW überrollt. Wie Frank Farrelly arbeitete, irritierte sie. Er tat in ihren Augen Dinge, die – so hatte sie es bisher gelernt – in jeglicher Art von Beratung, Therapie oder Coachingsitzung strengstens verboten waren. Nicht nur fasste er Klienten an, er spielte ihnen auch Szenen sehr drastisch vor, verwendete politisch inkorrekte Formulierungen, wurde plakativ und pauschal, redete sehr offen über Sex, fluchte, popelte in der Nase oder gähnte, wenn ihm langweilig wurde. Und das Erstaunlichste: Die Klienten waren voll dabei, fühlten sich verstanden und änderten manchmal schon während der ersten Sitzung bestimmte Verhaltensweisen. Es war unfassbar. Je länger ich mich mit dieser Methode auseinandersetzte, desto mehr begriff auch ich, was da passierte. Und ich begreife noch immer. Ständig.
Der LKW, der damals über Noni hinwegdonnerte, steht für das liebevolle (L) Karikieren (K) des Weltbildes (W) des Klienten. An den Stellen, an denen der Klient emotional feststeckt und keinen Ausweg sieht, karikiert der Berater auf wertschätzende und humorvolle Weise die selbstschädigenden Glaubenssätze des Klienten, sodass er darüber lachen kann und somit zur Relativierung seiner Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen angeregt wird.
Je karikierter und pauschaler Sie dabei als provokativer Berater werden, desto mehr fängt der Klient an, zu differenzieren. Wenn Sie z.B. zu einem 30-jährigen Klienten sagen: Sie können das niemals! Sie sind dafür viel zu alt!’ ist die Chance groß, dass der Klient sagt: Doch. Kann ich wohl! Ich bin doch noch jung!!‘ Wenn Sie als Berater das Gegenteil tun und differenziert argumentieren, z.B. Überlegen Sie sich doch mal, ob Sie das vielleicht nicht doch noch lernen könnten. Sie können doch sonst so viel und sind doch noch so jung...‘, dann kann ich Ihnen mit fast 100-prozentiger Sicherheit voraussagen, dass der Klient pauschal antwortet: Nein. Bei mir geht das nicht!‘ So funktionieren wir Menschen.
Das Allerwichtigste: Um provokativ in unserem Sinne zu arbeiten, müssen Sie dem Klienten zutrauen, dass er sich selbständig aus seiner festgefahrenen Lage heraus bewegen kann. Sie müssen das gar nicht aussprechen, aber unbedingt daran glauben. Wenn Sie der Meinung sind, dass der Klient ein hoffnungsloser Fall und dazu nicht in der Lage ist, werden Sie bitte nicht provokativ. Die Provokationen werden dann ätzend und zynisch und bewirken, dass der gute Draht zum Klienten verloren geht und er die Schotten dicht macht. Sie dürfen den Klienten beim provokativen Arbeiten auf keinen Fall auslachen. Stattdessen machen Sie sich gemeinsam mit ihm über seine Stolpersteine lustig, und zwar nur über diese. Das fordert ihn zum Widerstand gegen das eigene absurde Denken, Fühlen und Verhalten heraus. Der Klient sollte dabei immer etwas mehr lachen als der Therapeut.
Mit dem provokativen Ansatz in diesem Sinne ist es möglich, sehr schnell die Emotionen des Klienten in Wallung zu bringen. Manchmal reicht schon ein Satz, der beim Klienten etwas auslöst und eine Verhaltensänderung bewirkt. Das kann bereits in den ersten Minuten einer Beratungsstunde passieren, je nachdem, wie schnell Sie als Coach oder Therapeut den oder die Punkte erwischen, die für den Klienten emotional relevant sind. In jeder Sekunde einer Sitzung sollten Sie sich deshalb als Berater mit ihrer ganzen wohlwollenden Aufmerksamkeit dem Klienten und seinen emotionalen Reaktionen widmen, den verbalen wie den nonverbalen, und damit jonglieren. Druckreduzierend für den Berater ist, dass er nicht derjenige ist, der die Lösung für das Problem finden muss. Der Klient findet sie selbst. Die provokativen Interventionen helfen ihm dabei.
ProSA - Nur‘ ein Einstieg?
In manchen Artikeln heißt es, die Provokative Vorgehensweise sei ausschließlich als netter humorvoller Einstieg in eine Therapie, ein Coaching oder eine Beratung geeignet und könne nur bei kleinen harmlosen Problemchen‘ helfen. Das entspricht ganz und gar nicht unserer Erfahrung. Frank Farrelly ist es in seiner langen Psychiatriezeit unzählige Male gelungen, Patienten mit schwersten Störungen aus geschlossenen Abteilungen hinaus zu provozieren. Viele dieser Menschen nahmen danach ihr Leben wieder selbst in die Hand und konnten jenseits von psychiatrischen Anstalten relativ normal leben. Auch Noni und ich haben schon bei vielen unserer Klienten innerhalb kürzester Zeit radikale Kehrtwendungen in ihren Verhaltensweisen beobachten dürfen.
Anhand von folgendem Beispiel aus meiner Praxis kann man gut sehen, wie schnell eine Veränderung durch die richtigen’ Provokationen in die Wege geleitet werden kann. Ein Abiturient rief mich an und wollte eine Stunde bei mir vereinbaren. Im Hintergrund hörte ich, wie seine Mutter ihm soufflierte, was er mir sagen sollte. Der junge Mann kam und sein Problem war, dass er kurz vor dem Abitur seinen Hintern nicht mehr hochbekam, um zu lernen. Ich sprach das nach dem vorherigen Telefonat für mich Offensichtliche an und riet ihm provokativ, dass er ohnehin kein Abitur bräuchte, weil er ja seine Mutter hätte, die sich wunderbar um ihn kümmern würde und zwar bis an sein Lebensende. Sie hätte ihn indirekt ja auch hierher geschleift, wie ich am Telefon bereits heraushören konnte. Er musste schallend lachen. Ich sagte ihm, dass das doch auch viel bequemer wäre, wenn seine Mutter sich um alles kümmern würde, als wenn er sein Leben selbst in die Hand nehmen müsste. Außerdem hätte seine arme Mutter ohne ihn keine Lebensaufgabe und das könne er auf keinen Fall zulassen. Er solle sich als guter Sohn schämen, überhaupt daran zu denken, einen Schulabschluss zu machen und selbstbestimmt leben zu wollen. Je mehr ich ihn in diese Richtung provozierte, desto mehr begann er zu lachen und zu schwitzen. Irgendwann sprang er in der Stunde auf und hielt mir eine flammende Rede, dass er durchaus in der Lage sei, sein Abitur durchzuziehen und anschließend zu studieren und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. (Anmerkung: Er war übergewichtig und hing bis zu diesem Moment ziemlich phlegmatisch neben mir im Stuhl). Ich riet ihm dennoch weiter davon ab. Ich prophezeite ihm, dass er das zwar jetzt sagen würde, aber wenn er morgen seine Mutter wieder sehen würde, wäre er wieder ganz der alte Schlaffsack.
Ich hörte einige Zeit später, dass er sich tatsächlich nach dieser Stunde hingesetzt und sein Abi sehr motiviert in Angriff genommen hatte. Seine Mutter schickte mir daraufhin gleich den nächsten Klienten.
Wenn der provokative Hebel sitzt bzw. der richtige emotionale Knopf gedrückt wird, kann eine solche Veränderung von einer Sekunde zur anderen passieren und langfristige, nachhaltige Folgen haben. Die Grenzen dieses Ansatzes liegen nicht in der Art des präsentierten Problems, sondern ausschließlich in Ihnen selbst.
Und da sind wir schon bei den Kontraindikationen: Wann sollten Sie nicht provokativ arbeiten?
Die Kontraindikationen der Provokativen Vorgehensweise
Es gibt vier Situationen, in denen ich Ihnen davon abrate, provokativ zu arbeiten.
1. Wenn Sie selbst im gleichen Problem feststecken wie der Klient, wird es schwierig, provokativ zu werden. Sie können sich dann zwar in den Armen liegen und gegenseitiges Mitgefühl und Verständnis zeigen, aber das Problem provokativ liebevoll zu karikieren wird in diesem Fall schwierig, weil Ihnen die humorvoll relativierende Distanz fehlt. Sie sollten also dem Klienten in der Bearbeitung des Problems mindestens eine Woche voraus sein.
2. Es wird ebenfalls so gut wie unmöglich, provokativ zu arbeiten, wenn für Sie das Problem zu weit weg ist, d.h. wenn Sie überhaupt nicht verstehen, wovon der Klient gerade spricht. Sie können dann nicht in das Weltbild des Klienten einsteigen, weil Sie gar nicht verstehen, was den Klienten bewegt. In dem Fall sollten Sie den Klienten entweder zu jemandem schicken, der sich mit der Thematik auskennt, oder sich vorher informieren, um was es eigentlich geht.
3. Die provokative Arbeit verbietet sich, wenn Ihnen der Klient unsympathisch ist oder Sie ihn nicht leiden können. Dann fehlt die wohlwollende, wertschätzende Grundhaltung, die unerlässliche Voraussetzung für die provokative Arbeit ist. Lassen Sie also die Finger davon und schicken Sie den Klienten zu einem Kollegen, den Sie nicht leiden können.
4. Eine letzte Kontraindikation ist die sogenannte individuelle Beißhemmung. Sie liegt bei jedem an einer anderen Stelle. Ihnen wird dann sowieso nichts Provokatives einfallen, deshalb richtet diese Kontraindikation nicht viel Schaden an, außer dem, dass in der Stunde nicht viel passiert, was den Klienten weiter bringen würde. Wenn Sie zum Beispiel glauben, dass der Klient zu hilfsbedürftig und schwach ist, um sein Problem ohne Ihre permanente Unterstützung und Hilfe zu lösen, wenn Sie die Krise kriegen, sobald ein Klient anfängt zu weinen, wenn Sie jedes Mal bei älteren Damen nicht mehr wissen, was Sie sagen sollen, wenn Sie bei Menschen mit Behinderungen in eine Schonhaltung verfallen (um nur ein paar Beispiele zu nennen), dann machen Sie lieber etwas anderes als eine halbherzige provokative Bemerkung. Versuchen Sie immer wieder für sich selbst herauszufinden, an was es liegt, dass Sie bei bestimmten Themen in Schockstarren verfallen und erweitern Sie Ihre eigenen Grenzen Stück für Stück.
Grundsätzlich gilt: Jeder, der Menschen im allgemeinen und den speziellen Klienten im besonderen mag und ihnen zutraut sich zu verändern, kann in unserem Sinne provokativ arbeiten. Jeder kann, darf und sollte das auch ein bisschen anders machen. Bringen Sie Ihre eigene Persönlichkeit mit hinein und kombinieren Sie das Provokative zudem mit anderen Methoden, Tools, Werkzeugen. Alles, was sich für Sie gut anfühlt, ist erlaubt und wird funktionieren.
Der Beginn in München
Bevor Noni Höfner auf Frank Farrelly stieß, war sie kurz davor, ihren Job als Psychologin an den Nagel zu hängen und etwas komplett anderes zu machen. Weder das Psychologiestudium noch eine der Zusatzausbildungen danach befriedigte sie so, dass sie hätte weitermachen wollen. Bis Frank auf der Bildfläche erschien. Bernhard Trenkle sagte zu ihr: Bevor du aufgibst, schau dir Frank Farrelly an. Seine Arbeit könnte was für dich sein. Gunther Schmidt organisierte damals ein Seminar mit Frank Farrelly. Noni ging hin. Bingo. Das war im Juni 1985. Ich war zehn Jahre alt.
Sie war begeistert von dem Ansatz. Außerdem verstand sie sich gleich gut mit Frank. Pragmatisch wie sie war (und immer noch ist), fing sie an, Seminare mit ihm zu organisieren und selbst provokativ zu arbeiten. Drei Jahre später, 1988, gründete sie das Deutsche Institut für Provokative Therapie (DIP). Anfangs kamen vor allem Psychotherapeuten, um den Provokativen Ansatz kennenzulernen. Sie hatten von Frank Farrelly gehört und waren neugierig. Frank hatte langjährige Erfahrung und war ein begnadeter Therapeut. Er arbeitete intuitiv und hatte keine Lust, seine Arbeit rational zu erklären. Er erklärte sie lieber mit Bildern und Geschichten. Noni, die gerne systematisch vorgeht, hatte das Bedürfnis, die provokativen Interventionen nicht nur intuitiv, sondern auch kognitiv zu begreifen. Sie konnte nicht nur gut organisieren, sondern entwickelte Übungen, anhand derer einzelne provokative Bausteine gezielt geübt werden konnten. Eine gute Ergänzung zu Frank also. Nach Gründung des Instituts und der Ausschreibung der ersten Seminare kamen langsam immer mehr Menschen. Anfangs waren es fast ausschließlich Psychologen. Inzwischen, fast dreißig Jahre später hat sich die Zielgruppe vergrößert. Neben Psychologen möchten Trainer, Coaches, Mediatoren, Unternehmensberater und Ärzte die Provokative SystemArbeit bei uns lernen und in ihrem Berufeinsetzen. Es mischen sich auch immer wieder komplett fachfremde Menschen unter die Teilnehmer. Wir hatten schon Frisörmeisterinnen, IT-ler, Hoteliers, Menschen aus der Pharmaindustrie... Sie kommen von überall her, wo Menschen mit Menschen zusammenarbeiten.
Ausbildungsmöglichkeiten
Nach einigen Jahren (als ich schon mit ins Institut eingestiegen war), merkten wir, dass es eine wachsende Anzahl an selbsternannten Provokateuren gab, die sich auf uns beriefen, ohne jemals eine Ausbildung bei uns gemacht zu haben. Sie hatten höchstens ein Video von Frank angeschaut oder ein einzelnes Seminar bei uns besucht. Bei diesen Provokateuren stand oft die pure konfrontative Arbeit im Vordergrund – ohne die wertschätzende Grundhaltung, die dabei unerlässlich ist.
Deshalb führten wir das DIP-Zertifikat ein. Es dient als Qualitätsnachweis und zum Schutz der Zertifizierten. Wir gehen davon aus, dass die Anwender des Provokativen Ansatzes nach Absolvieren des Zertifikats die unverzichtbare wohlwollende Grundhaltung verinnerlicht haben und leben. Diese Grundhaltung ist uns wichtiger als der Einsatz besonders ausgefeilter Techniken. Dabei behält sich das DIP vor, weniger geeigneten Kandidaten von der Anwendung der provokativen Interventionen abzuraten. Da diese Grundhaltung praktisch nicht messbar ist, gibt es beim DIPZertifikat keine Abschlussprüfung. Alle unsere Veranstaltungen sind auch für Teilnehmer offen, die kein Zertifikat anstreben. Unsere Seminare können einzeln oder im Kombipack gebucht und besucht werden.
Provokative SystemArbeit und Impro
Ich hatte erst einmal gar nicht vor, in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, und studierte Mitte der 90er Jahre Kommunikationswissenschaft und Psychologie in München. Nebenbei arbeitete ich vor allem im Medienbereich. Ich absolvierte Schichtdienste bei einem Radiosender, moderierte bei einem lokalen Fernsehsender, war ein paar Monate in einer großen Werbeagentur und ging ein halbes Jahr in die USA, um dort PR für eine große Firma zu machen. Das alles machte mir Spaß, aber so richtig Feuer fing ich nicht.
Kurz vor Ende des Studiums 1998 entdeckte ich mehr oder weniger zufällig das Improvisationstheater, das mich total begeisterte. Ich besuchte Kurse und initiierte zusammen mit ein paar anderen eine Improgruppe. Wir trafen uns regelmässig und traten auch immer häufiger auf.
Eines Tages kam ein begeisterter Impro-Fan auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht für die Führungskräfte seines Verlags ein Improseminar halten könnte. Ziel sollte es sein, die Mitarbeiterkommunikation zu verbessern. Ich fragte einen meiner Impro-Kollegen, ob er das Seminar mit mir zusammen halten wollte. Da er keine Zeit hatte, war ich gezwungen, mich alleine ins kalte Wasser zu werfen. Ganz ohne Netz und doppelten Boden. Das Ergebnis war verblüffend. Die Teilnehmer blühten auf und überraschten sich selbst mit ihrer ungeahnten Kreativität. Und mir fiel es leicht und es machte richtig Spass.
Ich merkte sehr schnell, dass die Philosophie und die Techniken, die für gutes Improvisationstheater verantwortlich sind, für alle Bereiche gelten, in denen Menschen produktiv miteinander kommunizieren möchten und müssen. Dazu gehört – neben dem Mitarbeitergespräch, dem Smalltalk auf einer Party, dem Krisengespräch mit dem Chef oder dem anstrengenden Gespräch mit der Schwiegermutter – auch die provokative Kommunikation zwischen Therapeut, Berater, Coach auf der einen und dem Klienten auf der anderen Seite.
Und ich merkte auch: Die Philosophie, die hinter Impro steckt, ist absolut identisch mit den Prinzipien, die die Provokative SystemArbeit ausmachen.
Anfänger in der Anwendung der provokativen Werkzeuge setzen sich gerne unter Druck und glauben, sie müssten ununterbrochen schlagfertig und kreativ sein. Man kann jedoch durch Anstrengung weder kreativer noch intelligenter werden, im Gegenteil. Die provokative Arbeit setzt auch keine übermenschliche Kreativität voraus, sondern nur eine entspannte, wohlwollende Grundhaltung, einen Blick für das Naheliegende und eine wache Offenheit für Angebote, die der Klient macht. Da Improtheater nach dem gleichen Prinzip funktioniert, erleichtern Übungen aus diesem Metier die Anwendung provokativer Methoden ungemein. Der Druck, kreativ sein zu müssen, lässt nach, und dadurch wird die Kreativität sehr beflügelt.