Lenka Staun
Mentalisieren bei Depressionen
MENTALISIEREN IN KLINIK UND PRAXIS
Herausgegeben von Ulrich Schultz-Venrath
Mentalisieren ist die Fähigkeit, subjektive Neigungen und Motive des oder der Anderen und von sich selbst gleichermaßen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Mentalisieren wird als wesentliche menschliche Kompetenz angesehen.
Die Fähigkeit des Mentalisierens ist bei verschiedenen psychischen Störungen unterschiedlich stark eingeschränkt oder nicht vorhanden. Dies hat häufig schwerwiegende Folgen. Die Mentalisierungsfähigkeit wieder herzustellen ist eine zentrale therapeutische Aufgabe in den verschiedenen Psychotherapien.
Die einzelnen Bände der Reihe stellen in kompakter Form die Anwendungsmöglichkeiten mentalisierungsbasierter Maßnahmen auf wichtigen Störungsfeldern vor.
Die Einzelbände behandeln folgende Themen:
1. Band: Mentalisieren in Gruppen (bereits erschienen)
2. Band: Mentalisieren bei Depressionen
3. Band: Mentalisieren bei Kindern und Jugendlichen
4. Band: Mentalisieren bei Somatisierungsstörungen
Weitere Bände in Vorbereitung
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Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96139-3
E-Book: ISBN 978-3-608-10871-2
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Danksagung
Einleitung
Kapitel 1
Grundlagen
1.1 Psychodynamische Konzepte von Depression
1.2 Epidemiologie und Verlauf
1.3 Diagnostik und Subgruppen
ICD-10 und DSM-V
Ein dimensionales Krankheitsverständnis – am Beispiel von Blatts Depressionsmodell
Die Borderline-Depression – »when depression is not just depression«
Peripartale Depressionen
1.4 Neuropsychologische und neurobiologische Aspekte
Das Wechselspiel von Depression und Kognition
Trauma und Neurobiologie: die Relevanz der Amygdala für depressive Störungen
Neuropsychodynamische Überlegungen zur Störung des Selbstbezugs
1.5 Zusammenfassende Bemerkungen
Kapitel 2
Grundlagen eines mentalisierungsbasierten Modells der Psychopathologie
2.1 Was ist Mentalisieren?
2.2 Wie entwickelt sich Mentalisieren?
Die frühe Interaktion
Störungen der frühen Interaktion
2.3 Affektregulation und mentalisierte Affektivität
2.4 Von prämentalistischen Modi zum Mentalisieren
Teleologischer Modus
Äquivalenzmodus
Als-ob-Modus
2.5 Dimensionen des Mentalisierens und ihre neurobiologischen Grundlagen
Explizites versus implizites (automatisches) Mentalisieren
Kognitives versus affektives Mentalisieren
Mentalisieren des Selbst und des Anderen
Mentalisieren von innen nach außen
2.6 Mentalisieren im Kontext von Bindung und Arousal
Sichere Bindungsstrategien
Bindungsaktivierende Strategien
Bindungsvermeidende Strategien
Desorganisierte Bindung
2.7 Wie kann Mentalisieren klinisch gemessen werden?
Das mentalisierungsbasierte Erstgespräch
Erstellen eines Mentalisierungsprofils
Woran lässt sich Mentalisieren erkennen?
Kapitel 3
Ein mentalisierungsbasiertes Modell der Depressionsgenese
3.1 Bindung, Affektregulation und Mentalisieren bei Depression
Das abwesende Objekt
Die besondere Bedeutung des Blicks bei Depressionen
Unsichere Bindung und Depression
3.2 Mentalizing the body – Depression als Psychosomatose
Alexithymie und Depressionen
Verlust des Mentalisierens und konkretistische Körpersymptome
3.3 Depressionsspezifische Störungen des Mentalisierens
Hypomentalisieren
Hypermentalisieren
Auftreten von prämentalistischen Modi des Mentalisierens
Zwanghaftes Grübeln als dysfunktionales Mentalisieren
3.4 Die suizidale Krise als Zusammenbruch des Mentalisierens
Mentalisierungsbasierte Interventionen in suizidalen Krisen
3.5 Psychopharmakotherapie und Mentalisieren
Kapitel 4
Wesentliche Prinzipien mentalisierungsbasierter Interventionen bei Depressionen
4.1 MBT versus mentalisierungsbasierte Interventionen
4.2 Die Säulen der mentalisierungsbasierten Therapie
4.3 Die therapeutische Grundhaltung
Nichtwissende Haltung
Affektfokussierte Fragetechnik
Anerkennende Haltung
Herausfordernde Haltung (»challenging«)
Der Therapeut als Modell
Kontinuierlicher Fokus auf Mentalisieren und emotionales Arousal
4.4 Mentalisierungsfördernde Interventionen
Selbst-Mitteilungen (»self disclosure«) des Therapeuten
Besonderheiten und Unterschiede im Vergleich zu psychodynamischen Verfahren
Mentalisieren der Übertragung und Gegenübertragung
4.5 Eine mentalisierungsbasierte Therapie für Depressionen
Kapitel 5
Forschungsüberblick
Kapitel 6
Ausblick
Literatur
Für
Emilia
Milan
Pola
Mein persönlicher Dank gilt dem Herausgeber der Reihe Mentalisieren in Klinik und Praxis, Ulrich Schultz-Venrath, durch den die Idee für dieses Buch entstanden ist. Mit seinen wichtigen Impulsen und hilfreichen Anregungen hat er viel zum Gedeihen dieses Buches beigetragen. Besonders geschätzt habe ich den intensiven Austausch mit ihm, durch den im Prozess der gemeinsamen Arbeit viele neue Ideen entstanden sind, die wir hoffentlich weiter entwickeln können.
Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta danke ich sehr für seine beharrliche und sorgfältige Unterstützung, ebenso Peter Döring für seine wertvollen kritischen Kommentare.
Dieses Buch wäre ohne die kostbaren Impulse und Erfahrungen, die ich aus der Behandlung mit meinen Patienten gewinnen konnte, nicht möglich gewesen. Ihnen gilt mein besonderer Dank.
Die gemeinsame therapeutische Arbeit hat mir ermöglicht, Einblicke in ihr Denken und Fühlen zu gewinnen. Sie hat mich auch neugierig gemacht, verstehen zu wollen, welche Interventionen psychische Entwicklung fördern und welche weniger entwicklungsförderlich sind.
Mein besonderer Dank gilt meinem Mann, Harald Staun, für seine liebevolle Unterstützung in den unterschiedlichen Etappen dieses Buches, seine Geduld und sein Verständnis für einen Schreibprozess, der auch Entbehrung und Rückzug bedeutet hat.
Meinen Kindern Emilia, Milan und Pola Staun gilt mein tiefster Dank. Ihre Lebendigkeit hat mir beim Schreiben an diesem Buch immer wieder vor Augen geführt, was viele depressive Patienten verloren haben und worauf es im Leben ankommt: sich in einer guten Beziehung verwurzelt zu fühlen und erfüllende Beziehungen im Hier und Jetzt zu leben.
Schon seit einigen Jahren werden Depressionen nicht mehr verharmlosend als »common cold« bezeichnet, denen mit kurzen Therapien beizukommen ist. Durch einen Paradigmenwechsel (Huber & Klug 2016, S. 22) werden Depressionen heute als schwerwiegende psychische Erkrankung gesehen, die meist nicht als einzelne Episode auftritt, sondern häufig wiederkehrt.
Depressionen zählen zu den psychischen Erkrankungen, die nach der »Global Burden of Disease«-Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zum Jahr 2020 neben Demenz, Alkoholmissbrauch und Hirninfarkt zu den vier häufigsten zukünftigen Krankheitslasten für die Gesellschaft zählen (Wittchen et al. 2011). Dank gut konzipierter Langzeitstudien konnte der wiederkehrende, episodische Verlauf von Depressionen verstanden werden, so dass man bei den meisten Fällen einer Depression mittlerweile von einer Erkrankung mit einem Langzeitverlauf und hohen Rückfallrisiko sprechen muss. Darüber hinaus belegen Metaanalysen, dass nicht nur Pharmakotherapien, sondern auch Psychotherapien von »Depressionen« in ihrer Outcome-Effektstärke (ES) überschätzt wurden und etwa 25 % weniger wirksam sind, als bisher angenommen (Driessen et al. 2015).
Depressionen sind so beeinträchtigend, weil sie sich auf die individuelle intrapsychische Ebene ebenso auswirken wie auf die interpersonelle. Wenn die WHO die Lebenszeitprävalenz depressiver Erkrankungen weltweit auf 12 % für Männer und für Frauen auf 26 % – mehr als doppelt so hoch – schätzt, dann bedeutet das, dass über ein Viertel der Frauen mindestens einmal in ihrem Leben unter einer Depression leidet. Dieser Unterschied zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts zeigt sich besonders für die schwere Depression (entspricht im Angelsächsischen der »major depression«), auch in anderen Ländern und Kulturkreisen (Kuehner 2003). Die besondere Vulnerabilität von Frauen spiegelt vermutlich ein komplexes Zusammenspiel soziologischer, psychischer und biologischer Risikofaktoren wider.
Auf Deutschland bezogen, lässt sich die Erhebung des Bundesgesundheitssurveys von 1998/99 anschaulich übersetzen: Demnach leiden vier Millionen Menschen in einem Zeitraum von zwölf Monaten an einer »major depression«. Zählt man auch die schwächer ausgeprägte Dysthymie dazu, sind es sogar mehr als 6,6 Millionen Menschen. Dieser hohe Anteil depressiver Menschen stellt eine große gesellschaftliche Herausforderung und ökonomische Last dar. Depressionen sind behandlungsbedürftige Erkrankungen, für die adäquate Therapien im ambulanten, tagesklinischen und stationären Setting angeboten werden müssen. Depressionen haben weitere große ökonomische Auswirkungen durch lange Arbeits- und Berufsunfähigkeitszeiten, einschließlich der Belastungen von Angehörigen, die kaum quantifizierbar sind.
Depressive Störungen wirken sich nicht nur auf die Lebensqualität, sondern auch auf die Sterblichkeit aus, die bei depressiv Erkrankten deutlich erhöht ist. Ein Grund dafür ist das Suizidrisiko, das bei depressiven Menschen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung etwa 20-mal höher ist (Bernal et al. 2007; Oquendo et al. 2004; Sokero et al. 2005). 2014 ereigneten sich in Deutschland 10 209 Suizide, von denen die meisten, wie auch die unbekannte Zahl von Suizidversuchen, auf eine depressive Störung zurückzuführen sind, die entweder gar nicht oder nicht ausreichend behandelt wurde. Suizid ist im Jugendalter nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache, wobei männliche Jugendliche mehr als doppelt so häufig wie weibliche Jugendliche betroffen sind. Ein weiterer Grund für die erhöhte Mortalität ist ein komplexes Wechselspiel von psychischen Symptomen und somatischen Erkrankungen. Wenn bei depressiven Patienten zusätzlich eine komorbide Angststörung vorliegt, besteht ein etwa dreifach erhöhtes Risiko, an kardiovaskulären Störungen wie z. B. einem Herzinfarkt zu erkranken bzw. daran zu sterben (Vogelzangs et al. 2010). Umgekehrt entwickeln Patienten mit neurologischen, internistischen oder malignen Erkrankungen nach der Diagnose in den nächsten fünf Jahren in 21 – 44 % der Fälle eine Depression (Thielscher et al. 2013).
Bekanntlich gehen Depressionen mit einer Reihe körperlicher Symptome einher, wie etwa Schmerzen, Appetit- und/oder Gewichtsverlust. Weniger bekannt ist unter Psychotherapeuten allerdings, dass sich primär somatische Erkrankungen anfänglich nur in psychischen Symptomen manifestieren können, bevor sie mit körperlichen Beschwerden in Erscheinung treten. So leiden zwei Wochen vor einem Herzinfarkt 23 % der Patienten – und in den sechs Monaten davor sogar 49 % der Patienten – unter einer »major depression« (Cosci et al. 2015). Darüber hinaus werden nach diesem Review Erstmanifestationen einer depressiven Erkrankung beim Hyperparathyreoidismus in 52 – 76 %, bei Multipler Sklerose in 75 % oder bei einem Meningeom in 20 % der Fälle beobachtet. Bei etwa 50 % der psychiatrischen Patienten mit körperlichen Erkrankungen bleiben die organischen Ursachen leider unerkannt.
Durch den vor einigen Jahren postulierten Paradigmenwechsel rückt heute der Beziehungsaspekt depressiver Erkrankungen stärker in den Vordergrund (Hammen 2005). Ein depressiver Patient ist immer auch in ein soziales Gefüge – seine Familie, seinen Arbeitsplatz und seine Freundschaftsbeziehungen – eingebunden, so dass er nicht alleine unter den schwerwiegenden Symptomen leidet. Zum Leiden unter der symptomatischen Last tritt eine interaktionelle Komponente hinzu, die stärker in den Fokus neuerer Forschungs- und Behandlungsansätze gerückt ist. Zum einen wirken sich eine depressive Stimmung und negative Kognitionen ungünstig auf die Qualität der Beziehungen aus, etwa, wenn sich der Betroffene aus der Beziehung zu seiner Partnerin zurückzieht oder keine Eigeninitiative zeigt, die Beziehung zu gestalten. Eines der mächtigsten Kardinalsymptome, das bei sogenannten therapieresistenten Depressionen auch den behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten ergreifen kann, ist Hoffnungslosigkeit. Zum anderen scheinen Patienten, die vulnerabel für eine depressive Störung sind, einen bestimmten Beziehungsstil mit anderen zu pflegen, durch den sie unbewusst »Stress« generieren (Luyten et al. 2012a). Auch wenn dies paradox erscheinen mag, so »suchen« diese Menschen aktiv dysfunktionale Beziehungen, die sich als eine Wiederholung früherer Erfahrungen darstellen, in denen sie zurückgewiesen, allein gelassen oder ausgeschlossen wurden.
Ein Patient, der in seinen negativen Gedanken und Gefühlen beispielsweise davon ausgeht, dass andere ihn uninteressant und wenig liebenswert finden, interagiert mit anderen in der Weise, dass er im Gegenüber genau die ablehnende Reaktion auslöst, die er am meisten befürchtet und die er zu vermeiden versucht. Am Ende der Spirale fühlt er sich in seinen negativen Erwartungen bestätigt: Er habe es ja schon vorher gewusst, dass andere ihn nicht mögen und er nicht liebenswert sei.
Noch verheerender auf der interpersonellen Ebene sind depressive Störungen in der frühen Mutter- oder Vater-Kind-Beziehung. Eine Mutter, die nach der Geburt depressiv wird, kann sich an ihrem Kind nicht mehr freuen, wirkt in der Interaktion abwesend und leer oder lehnt das Kind sogar gänzlich ab. Green (1993) verwendete dafür das Bild von der »toten Mutter«. Dass die emotionale Abwesenheit der frühen Bezugsperson für die seelische Entwicklung eines Kindes schwere Folgen hat, verwundert nicht: Kinder depressiver Eltern haben ein höheres Risiko, im späteren Leben selbst an einer psychischen Störung zu erkranken (Gibb et al. 2009).
Was passiert innerseelisch in einem Kind, das erste Beziehungserfahrungen mit einem emotional nicht erreichbaren Elternteil macht? Die Bindungsforschung und die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie haben differenziert beschrieben, welch unaushaltbaren Schock- und Angstzustand ein Kind erlebt, wenn es in einem Stadium vollständiger Abhängigkeit an Stelle liebevoller Resonanz die seelische Leere seiner primären Bezugsperson erfährt (Green 1993; Gurevich 2012; Winnicott 1974a). Um diese existenziell bedrohliche Erfahrung seelisch und körperlich zu überleben, entwickelt das Kind einen Notfallmodus, in dem es synchron zur seelischen Abwesenheit der Bezugsperson eine eigene innerpsychische Abwesenheit entwickelt, gleich einer Leerstelle, in der bestimmte Teile des Selbst – wenn überhaupt vorhanden – abgespalten sind. Oft sind diese Leerstellen als Gefühllosigkeit lange eingefroren und treten erst später im Erwachsenenalter als depressive Symptome in Erscheinung. Sucht der Patient dann psychotherapeutische Hilfe, ist eine intensive Arbeit nötig, um die erlebte Abwesenheit in der therapeutischen Beziehung wieder anwesend zu machen und die abgespaltenen Selbstzustände wiederzubeleben und zu integrieren (Gurevich 2012). Möglicherweise erklärt sich so auch der empirisch inzwischen gut belegte Befund, dass Patienten mit einer Depression häufiger eine Alexithymie – die Unfähigkeit, Gefühle von sich und anderen wahrzunehmen – aufweisen als Patienten mit anderen psychischen Störungen (Leweke et al. 2012).
Diese Beispiele machen deutlich, wie wichtig eine bindungs- und entwicklungsorientierte Perspektive ist, um die Komplexität depressiver Störungen zu verstehen und gut zu behandeln. Eine Depression ist nie »einfach nur« ein Symptom, sondern im Kontext der psychischen Struktur des Patienten und der auslösenden Situationen und Konflikte zu betrachten. Je nachdem, welche frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen ein Patient gemacht hat, welche inneren Bilder er von sich und anderen hat und wie diese sein Denken und Fühlen formen, hat die Depression eine für jeden Patienten individuelle Entwicklung. So gibt es u. a. depressive, aber sicher gebundene Patienten, bei denen es sich um Menschen mit einer »erarbeiteten Bindungssicherheit« (»earned security«) handelt (Pearson et al. 1994). Solche Menschen haben ihre ausgeprägt negativen Kindheitserfahrungen im Verlauf ihres Lebens psychisch integrieren können, weshalb sie später die Kriterien einer sicheren Bindung im »Adult Attachment Interview« (AAI) erfüllen (Schauenburg et al. 2016). Angesichts belastender Lebenserfahrungen haben diese Menschen allerdings ein ebenso dauerhaft erhöhtes Depressionsrisiko wie lebenslang unsicher gebundene Personen.
Psychotherapie mit depressiven Patienten bedeutet repräsentationale Arbeit zu leisten, d. h. mittels Repräsentanzen und mentalisierungsbasierter Aktivität nach Bewältigung von sensorischer Überlastung, etwa eines Leeregefühls, zu suchen. »Repräsentanzen« oder »Repräsentationen« haben nach Levine (2014) mindestens zwei Bedeutungen: erstens »für etwas stehen«, »jemanden oder etwas vertreten«, »für jemanden oder etwas sprechen«. Zum Beispiel: Ein Parlamentarier »repräsentiert« die Einwohner seines Wahlkreises. Die zweite Bedeutung ist, dass etwas von Neuem vorgestellt oder präsentiert, also »re-präsentiert« wird.
Freud hatte die geniale Idee, dass »die Psyche, um eine innere Welt zu schaffen, d. h. eine psychische Realität, die sich auf die konkrete innere (somatische) und äußere (perzeptuelle) Realität bezieht, diese widerspiegelt und für sie steht«. Die Psyche nutzt »Manifestationen« bzw. Repräsentanzen, »die mit früheren Erfahrungen, insbesondere mit Objektbeziehungen, verknüpft sind, sie widerspiegeln und mit emotionaler Wertigkeit und Signifikanz« ausstattet (Levine 2014, S. 791). Insofern dienen Repräsentanzen der psychischen Fähigkeit, etwas geistig präsent zu halten, das sich nicht im Wahrnehmungsfeld befindet. Dabei ist noch weitgehend unklar, wie dieser Prozess der Transformation von (noch) nicht repräsentierten mentalen Zuständen hin zu Repräsentanzen, die erst ein Selbst ermöglichen, vor sich geht und wissenschaftlich am besten zu erklären ist.
Wegen des vielschichtigen Zusammenspiels zwischen Bindung, Kognition und Psychodynamik bezüglich der Repräsentanzenbildung ist der Blick auf Mentalisierungsprozesse bei depressiven Erkrankungen ausgesprochen hilfreich. Die Attraktivität des Mentalisierungsmodells für das Verständnis der Depressionen liegt darin, dass theoretische Ansätze aus der Bindungsforschung, der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und den kognitiven Neurowissenschaften integriert werden. Es formuliert damit ein kohärentes, bindungsbasiertes Modell der normalen psychischen Entwicklung, von dem sich die Entwicklung von Psychopathologien als Beeinträchtigung der normalen Entwicklungslinien ableiten lässt.
Mentalisieren enthält als Kunstwort mehrere Bedeutungsebenen, die Fonagy (1991) erstmals mit den Worten zusammenzufassen versuchte: »Um der Kürze willen würde ich gerne die Fähigkeit, bewusste und unbewusste psychische Zustände in sich selbst und anderen zu begreifen, als die Fähigkeit zu mentalisieren kenntlich machen.« Mentalisieren ist eine zentrale psychische Fähigkeit, durch »holding mind in mind« die eigene psychische Verfasstheit und die anderer »lesen« zu können. Als eine imaginative Fähigkeit stellt Mentalisieren bedeutungsvolle Zusammenhänge zwischen dem Verhalten und den zugrunde liegenden mentalen Zuständen wie Wünschen, Gedanken, Absichten und Affekten her (Fonagy et al. 2004).
Ohne die Fähigkeit, die eigene Person wie auch den oder die anderen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und sich damit empathisch in den oder die anderen hineinzuversetzen, scheitern wir in sozialen Beziehungen. Das Verhalten anderer ist erst dann bedeutungsvoll und vorhersehbar, wenn wir ein Bild davon entwickeln können, was im anderen vorgehen könnte. Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass wir nie sicher wissen können, wie sich der andere tatsächlich fühlt. Wir können Annahmen machen und durch Nachfragen mehr über seine Gefühle herausfinden, absolut sicher können wir »leider« nie sein.
Mentalisieren ist eine Fähigkeit, die eine interpersonelle und eine intrapsychische Ebene umfasst. Mentalisieren ermöglicht, uns von außen und andere von innen zu betrachten. Allerdings ist dieser Perspektivenwechsel nur möglich, wenn wir anerkennen können, dass die eigene Realität nicht mit der äußeren oder der des anderen übereinstimmen muss. Besonders in nahen Beziehungen, die eine besondere Herausforderung für gelungenes Mentalisieren sind, sollten wir anerkennen, dass es unterschiedliche mentale Realitäten gibt.
Mentalisieren entwickelt sich im Kontext einer sicheren frühkindlichen Beziehung und ist damit entscheidend vom intersubjektiven Austausch mit einer feinfühligen primären Bezugsperson abhängig. Indem die Mutter (oder der Vater) die noch diffusen und unverdauten affektiven Zustände des Kindes markiert spiegelt, signalisiert sie dem Kind auch, dass seine Affekte (zum Beispiel Angst) nicht mit ihren eigenen übereinstimmen. In einer gelungenen, fein abgestimmten Interaktion nimmt die Bezugsperson die eher noch rohen Affekte des Kindes angemessen auf, »containt« diese und »spiegelt« dem Kind die durch sie modulierten Affekte zurück. Dieser täglich in unzähligen Interaktionsepisoden stattfindende Mikroprozess ist notwendig, damit sich im Kind ein psychischer Innenraum mit stabilen Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickeln kann. Zwischen sicheren Beziehungserfahrungen und der Entwicklung von Mentalisieren gibt es eine intensive Wechselbeziehung: Eine sichere Bindung fördert die Entwicklung von Mentalisieren und eine gut entwickelte Mentalisierungsfähigkeit trägt dazu bei, dass sich Beziehungen festigen und vertiefen können, wodurch sie weniger störungsanfällig sind.
Misslingt die komplexe Interaktion zwischen Mutter und Kind – zum Beispiel, weil eine Mutter in einem psychischen Zustand ist, in dem sie die affektiven Signale des Kindes nicht adäquat aufnehmen kann oder sie zu oft fehlinterpretiert –, kann sich im Kind ein »fremdes« Selbst ausbilden. Macht ein Kind keine ausreichende Erfahrung, im psychischen Innenraum der Mutter »gehalten« und reflektiert zu werden, können seine eigenen nicht markierten Affekte und die der Mutter als »unverdaute«, unverstandene Affekte zurückbleiben. In der weiteren Entwicklung führen diese schwer zu integrierenden Fragmente zu einer brüchigen Selbststruktur, die häufig mit dem Gefühl einer inneren Fremdheit verbunden ist und mit einer eingeschränkten Fähigkeit einhergeht, Affekte angemessen regulieren zu können. Kompensatorisch werden Affekte dann abgespalten, damit sie nicht mehr gefühlt werden, oder sie werden externalisiert und agiert. Beide Prozesse sind bei depressiven Patienten gut zu beobachten, die durch ihre frühen Bindungserfahrungen besonders vulnerabel für die Entwicklung von psychischen Störungen sind.
Wie der Blick auf die frühkindlichen Interaktionsprozesse zeigt, ist Mentalisieren eine besondere psychische Errungenschaft. Mentalisieren ist jedoch nicht einmalig erreicht und damit fixiert, sondern stellt eine dynamische Fähigkeit dar, die bei allen psychischen Störungen mehr oder minder eingeschränkt ist. Wie gut ein Patient mentalisieren kann, hängt von strukturellen Persönlichkeitsfaktoren (Trait-Faktoren) ab und von Faktoren, die kontextabhängig sind (State-Faktoren), wie zum Beispiel vom Ausmaß des psychischen Arousals, von der momentanen Affektlage und vom jeweiligen Beziehungskontext.
Evolutionsbiologisch entwickelte sich Mentalisieren, um als Homo sapiens durch die geeignete Interpretation und Antizipation des Verhaltens von Artgenossen und gefährlichen Tieren zu überleben. Mentalisieren bot den Menschen in größeren Gruppen einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Spezies und ermöglichte darüber hinaus die transgenerationale Weitergabe von Wissen, die die Basis jeder kulturellen Entwicklung ist (Karterud 2015; Kirsch et al. 2016).
Durch die Arbeiten von Fonagy und Target, die die Entwicklung von Mentalisieren eng mit der Entwicklung des Selbst und seinen Störungen konzeptualisierten, wurden bisher besonders Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-Störung unter dem Aspekt von Mentalisierungsdefiziten untersucht (Fonagy & Bateman 2008). Dank eines mittlerweile breiten Forschungsinteresses an Mentalisierungsprozessen und einem sich vertiefenden interdisziplinären Austausch von Psychotherapieforschung und kognitiven Neurowissenschaften hat sich das Feld der Mentalisierungsforschung in zwei Richtungen erweitert: Zum einen sind in den letzten Jahren auch andere Psychopathologien hinsichtlich der zugrunde liegenden Mentalisierungsprozesse untersucht worden. Dazu zählen Psychosen (Chung et al. 2014; Debbane et al. 2016; Sachs & Felsberger 2013), Essstörungen (Kuipers et al. 2016; Skarderud & Fonagy 2015), somatoforme und affektive Störungen (Cusi et al. 2013; Fischer-Kern et al. 2008; Ladegaard et al. 2014; Luyten et al. 2015a; Staun et al. 2010; Taubner et al. 2011). Zum anderen lässt sich das Konzept mit Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen des Mentalisierens – Selbst versus Anderer, implizites versus explizites Mentalisieren und kognitives versus affektives Mentalisieren –, die je nach psychischer Störung unterschiedlich eingeschränkt sein können, besser in die psychotherapeutische Arbeit integrieren.
Ein Schwerpunkt bisheriger Forschung betraf die soziale Kognition bei Depressionen verschiedener Phänomenologie. So interessierte man sich vermehrt dafür, wie sich negative Affekte darauf auswirken, wie ein Patient sich und sein soziales Umfeld wahrnimmt, wobei eine pessimistische und negativ gefärbte Sicht häufig Fehlannahmen begünstigt, die zu Missverständnissen in der sozialen Kommunikation führen.
Das Verständnis und die Behandlung von Depressionen unter dem Blickwinkel des Mentalisierungsmodells eröffnen eine neue Perspektive. Was ein depressiver Patient denkt und fühlt, wird in Zusammenhang gebracht mit der Frage, wie er denkt und fühlt, insbesondere im interpersonellen Kontext. Ähnlich den Angststörungen sind Depressionen mit der Basisemotion Trennungsangst und Traurigkeit verbunden, als natürliche Reaktion auf eine Störung im Bindungssystem. Die meisten Kinder, die eine Bindungsbeziehung entwickelt haben, reagieren mit Trennungsangst, wenn sie sich verlassen fühlen. Trennungsangst ist ein natürlicher Teil einer Art Protestphase, die mit Weinen und Schreien verbunden ist, um die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen. Traurigkeit gehört zu einer späteren Phase, wenn der Protest nicht das gewünschte Resultat gezeigt hat. Ist sie Folge des Todes einer nahen Bezugsperson, mündet sie in der Regel in eine Trauerreaktion, die Ähnlichkeiten mit depressiven Symptomen aufweist, obwohl sie qualitativ sehr unterschiedlich ist (Bateman & Fonagy 2006 [2016]).
Je nachdem, wie schwer die depressive Symptomatik ausgeprägt ist, schränkt sie die Fähigkeit ein, mentale Zustände von sich und anderen zu »lesen« und mit anderen zu interagieren. Meist ist Mentalisieren dahingehend beeinträchtigt, dass temporär oder bei schweren Depressionen auch chronifiziert vermehrt Vorstufen des Mentalisierens zu beobachten sind oder sich der Betroffene gar zunehmend aus der Welt des Mentalen zurückzieht.
Außer bei schweren Depressionen sind Mentalisierungsdefizite vermutlich nicht global, sondern eher kontext- und depressionsspezifisch. Die basale Theorie des mentalisierungsbasierten Ansatzes bei Depression besteht darin, dass depressive Symptome als Reaktion auf eine bedrohte Bindung angesehen werden. Sie können auf eine (drohende) Trennung, auf Zurückweisung, auf einen Verlust oder auf befürchtete Versagungserfahrungen zurückgeführt werden, die zu Verlassenheits- und/oder Schamgefühlen oder zu beidem mit einer verzerrten oder eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeit führen (Luyten et al. 2012a). Für jeden Patienten gibt es individuelle depressionsrelevante Themen wie Verlust oder Zurückweisung, bei denen Mentalisieren abhanden kommt oder verzerrt ist. Wenn ausgeprägte negative Affekte das Mentalisieren verzerren, ist der Patient oft in seinen negativen Überzeugungen und Gefühlen gefangen. Er zeigt einen extremen Pessimismus, leidet unter exzessiven Selbstanklagen und steckt beim Grübeln in einer mentalen Sackgasse fest, in der er nicht mehr in der Lage ist, eine alternative Perspektive einzunehmen.
Mit zunehmender Schwere der Depression wird auf der kognitiven Ebene Denken und Fühlen ebenfalls zunehmend konkretistischer. In diesem Äquivalenzmodus, der zu den prämentalistischen Modi zählt, gibt es keinen Unterschied zwischen eigenen Gefühlen und äußerer Realität. Ein depressiver Patient fühlt sich nicht mehr »nur« leer, sondern ist leer, was sich auch körperlich in der Gegenübertragung abbildet, wenn der Therapeut eine bleierne Müdigkeit erlebt, die sein eigenes Denken und Fühlen lähmt. Einem schwer depressiven Patienten ist Mentalisieren so weit abhanden gekommen, dass er weder die Perspektiven wechseln noch seine eigenen Gefühle erforschen kann. Intrapsychisch kann sich daraus in schweren Fällen eine Entkoppelung des Selbst entwickeln, die bis zum erlebten Selbstverlust führt. Beschreibt ein Patient Gefühle, sich »wie tot« oder »abgestorben« zu erleben, deutet dies auf einen drohenden Zusammenbruch des Mentalisierens hin, der unbedingt als Warnsignal für eine bevorstehende suizidale Krise gewertet werden muss. Eindrucksvoll hat dies der niederländische Psychiater und Hochschullehrer Piet C. Kuiper (1991) an seiner eigenen »major depression« beschrieben.
Für die klinische Arbeit ist es wichtig zu beurteilen, ob die gestörte Mentalisierungsfähigkeit eines Patienten strukturell bedingt ist, also schon vor der depressiven Episode beeinträchtigt war, oder ob erst die akute depressive Störung zu Defiziten des Mentalisierens geführt hat. Da die depressive Symptomatik bei einem niedrigen Strukturniveau meist die Folge von strukturellen Ich-Defiziten ist und folglich Ausdruck kompensatorischer Stabilisierungsversuche, sollte eine Therapie bei diesen Patienten ihr Augenmerk zunächst auf die Schwierigkeiten in der Wahrnehmung, Differenzierung und Kommunikation von Affekten richten. Es ist wenig hilfreich, einen depressiven Patienten in der akuten Phase mit komplexen Deutungen zu überfordern, wenn seine Wahrnehmung durch seine negative Sicht verzerrt ist. Hat sich der Patient auf den Ebenen der Affektregulation, der Selbstregulation und der Bindungssicherheit entwickelt, und ist die Mentalisierungsfähigkeit wieder gegeben, kann in der Therapie später – wenn erforderlich – stärker deutungszentriert gearbeitet werden. Auch wenn die depressive Störung auf einem höheren Strukturniveau angesiedelt und Ausdruck einer Konfliktpathologie ist, bei der das Mentalisieren jedoch passager eingeschränkt ist, ist es hilfreich, den Fokus in der Anfangsphase auf die Wiederherstellung des Mentalisierens zu richten, bevor sich die Psychotherapie den zugrunde liegenden unbewussten Konflikten zuwendet.
Mit der mentalisierungsbasierten Therapie hat die Londoner Arbeitsgruppe um Fonagy, Bateman, Allen und viele andere Kollegen (Fonagy et al. 2004; Target 2006) einen Therapieansatz entwickelt, der konzeptuell aus der psychoanalytischen Psychotherapie hervorgegangen ist und den Schwerpunkt auf Mentalisierungsprozesse im interpersonellen Kontext legt. Die mentalisierungsbasierte Therapie ist weder ein schnelles Wundermittel noch eine eigene Therapieschule, sondern eine spezifische therapeutische Haltung. Sie hat das Ziel, Mentalisieren im Rahmen einer sicheren therapeutischen Beziehung zu fördern und damit zu ermöglichen, dass der Patient ein eigenes Modell des Mentalen entwickeln kann.
Gerade wegen des bei depressiven Patienten hohen Risikos, einen späteren Rückfall zu erleiden, ist die Entwicklung und Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit wichtig, damit der Patient psychisch widerstandsfähiger gegenüber belastenden und potenziell depressionsauslösenden Lebensereignissen wird. Die klinische Forschung hinsichtlich einer mentalisierungsbasierten Herangehensweise bei Depressionen steht erst am Anfang. Dabei ist gut vorstellbar, dass auch Kinder, deren depressive Eltern in einer mentalisierungsfördernden Behandlung sind, von diesem Behandlungsansatz profitieren, so dass damit ein Schritt getan wäre, die intergenerationale Weitergabe von Depressionen zumindest zu verringern.
Entgegen kritischen Befürchtungen, die das Mentalisierungsmodell und die davon abgeleitete mentalisierungsbasierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie als »Bedrohung für die Psychoanalyse« sehen, geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, mentalisierungsbasierte Interventionen in die bewährte therapeutische Arbeit zu integrieren und genau zu schauen, wann der Patient für komplexere Deutungen bereit ist. Indem die mentalisierungsbasierte Therapie den Fokus stärker auf den Prozess als auf den Inhalt und damit auch intensiver auf die interpersonelle Ebene richtet, befördert sie die Option, dysfunktionale Interaktionsmuster in der therapeutischen Beziehung bearbeiten zu können.
Die mentalisierungsbasierte Therapie mag manchen klassisch arbeitenden Analytiker mit ihrer lebendigen, affektfokussierten Interventionstechnik irritieren; wer jedoch selbst erlebt hat, wie wirksam und entwicklungsfördernd mentalisierungsbasierte Interventionen besonders bei drohenden Zusammenbrüchen sein können, wird sich in seiner therapeutischen Kunst bereichert fühlen.
Das vorliegende Buch veranschaulicht, dass eine mentalisierungsbasierte Perspektive äußerst hilfreich für die Behandlung von Depressionen sein kann, weil sie die Besonderheiten dieses Erkrankungsspektrums berücksichtigt und flexibel im ambulanten, tagesklinischen und stationären Setting eingesetzt werden kann. Ich widme mich zunächst der Frage, wie sich Mentalisieren unter günstigen Bedingungen in der frühen Kindheit entwickeln kann und wie frühe interaktionelle Störungen dazu führen, dass sich keine reifen und komplexen Mentalisierungsprozesse entwickeln. In diesem Zusammenhang wird speziell auf die psychische Entwicklung von Kindern depressiver und traumatisierter Mütter eingegangen und illustriert, wie die emotionale Abwesenheit der Bezugsperson zur Entwicklung einer partiell eingeschränkten, fragmentierten Mentalisierungsfähigkeit führt.
Die wichtigsten Formen beeinträchtigter Mentalisierungsprozesse bei depressiven Patienten werden in Fallbeispielen vorgestellt. Es werden Interventionen vorgeschlagen, mit denen Mentalisieren angeregt und gefördert wird. Dabei wird auf die besondere Herausforderung eingegangen, wenn Mentalisieren in einer suizidalen Krise zusammenzubrechen droht.
Das Buch schließt mit einem Kapitel zum aktuellen Stand der Forschung anhand einiger Forschungsfragen zum Thema »Mentalisieren und mentalisierungsbasierte Therapie bei Depression«. Unter anderem wird der Frage nach dem Zusammenhang von Persönlichkeitsfaktoren und Mentalisierungsprozessen bei Depressiven und deren Auswirkung auf die Qualität der therapeutischen Beziehung nachgegangen.
Mentalisierungsbasierte Interventionen fördern Verständigung vor Verstehen, was die folgenden Worte einer Patientin belegen. Sie zeigen, wie die (hinter-)fragende und wohlwollende Haltung des Therapeuten als eigenes mentales Modell ausprobiert und integriert wird. Nachdem die Patientin ausführlich von einer emotional belastenden Situation berichtet hatte, sagte sie humorvoll: »In der Situation ging es noch nicht, dafür war ich zu aufgewühlt, aber kurz danach wusste ich, was Sie mich gefragt hätten. Das habe ich mich dann auch gefragt und konnte mich dann anders entscheiden.«
Kapitel 1
Depressionen sind Störungen mit komplexen Ursachen und sehr unterschiedlichen Entwicklungspfaden. Aus unserer Sicht sollte nicht von einer Krankheit, sondern von einem Syndrom mit vielen Gesichtern gesprochen werden, das den affektiven Störungen zuzuordnen ist. Die lapidar und oft auch fälschlich gegebene Diagnose »Depression« sagt ebenso wenig aus wie die Diagnose »Kopfschmerz« oder »Rückenschmerz« (Schultz-Venrath 2013 [2015], S. 304).
Aus psychodynamischer Perspektive wurde erstmals durch Karl Abraham die »Depression« des Malers Giovanni Segantini durch den frühen Tod seiner Mutter – er war fünf Jahre alt, als sie starb – auf enttäuschte Liebeswünsche, auf frühkindliche Urverstimmung, verdrängten Hass auf die Mutter, abgewehrte grausame Impulse und Schuldgefühle zurückgeführt (Abraham 1911 [1982]). Dem damaligen Zeitgeist folgend, hob Abraham die Triebdynamik der oralen Introjektion sowie des oralen und analen Sadismus hervor und vertrat eine »präödipale Mutter-Ätiologie der Depression: mit der Fantasie von einem ursprünglichen Glück, dem Erleben von Verlassenheit, der abgewehrten Rachsucht und einer unstillbaren Sehnsucht nach der Mutter« (Will 2014, S. 162 f.).
Freud ergänzte in seiner berühmt gewordenen Studie über »Trauer und Melancholie« (1916 – 17f, S. 429) diese Überlegungen, indem er als zentralen Mechanismus der Melancholie die narzisstische Identifizierung mit dem »verlorenen« Objekt der Depression ansah: »… der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich« (ebd., S. 435). Daneben wies er auf den narzisstischen Rückzug solch erkrankter Patienten hin und sprach »von der Auflassung ihrer unbewussten Objektbesetzung und von der Regression der erotischen und aggressiven Libido ins Ich« (Will 2014, S. 163). Dadurch habe man »denn den Schlüssel des Krankheitsbildes in der Hand, indem man die Selbstvorwürfe als Vorwürfe gegen ein Liebesobjekt erkennt, die von diesem weg auf das eigene Ich gewälzt sind« (Freud 1916 – 17f, S. 434). Ferenczis Vorschlag, dass es sich bei der Depression um eine »Introjektionspsychose« handle, die durch eine Störung der »Abgrenzung des Ich vom Nicht-Ich« gekennzeichnet sei, hatte Freud nur partiell aufgenommen (May 2007, S. 4).
Rado (1927) differenzierte als Erster die verschiedenen Depressionsformen in eine melancholische und eine neurotische Depression. Dabei nahm er an, dass zwar die Konflikte und Mechanismen bei beiden identisch seien, die Unterschiede aber in der Struktur des Ich und dessen Objekt- und Realitätsbeziehung bestünden. Edith Jacobson (1977) differenzierte die jeweiligen ich-strukturellen Niveaus, die mit depressiven Zuständen verbunden sein können, und unterschied zwischen einem neurotischen, einem Borderline- und einem psychotischen Niveau der Depression sowie zwischen verschiedenen Formen depressiver Zustände.
Die Erkenntnis, dass sich psychische Erkrankungen meist nicht auf einen spezifischen Konflikt zurückführen lassen, wie dies das diagnostische und klassifikatorische Vorgehen der frühen Psychoanalyse noch vertrat, führte zur entscheidenden Weiterentwicklung der psychodynamischen Krankheitslehre. Wichtige Entwicklungen der Objektbeziehungstheorie und der intersubjektiven Theorie, einschließlich des Mentalisierungsmodells, trugen dazu bei, dass die Trias von Konflikt, Abwehr und spezifischem Krankheitsbild, wie sie die klassische psychoanalytische Krankheitslehre postulierte, abgelöst wurde.
Als einer der Ersten, die sich für eine Weiterentwicklung der psychodynamischen Theorie und Praxis interessierten, vertrat Mentzos (1982, 2009) eine dreidimensionale Diagnostik für psychische Störungen, die die strukturelle Ebene, die Konfliktebene und die Abwehr- bzw. Kompensationsmechanismen berücksichtigte:
Mit der ersten Dimension (Modus) beschrieb er die Art der Abwehr und die Modi der Kompensation einer Störung, die entschieden, welche Symptomatik und welches Erscheinungsbild bei einer psychischen Störung vorrangig seien. Dabei sollten die Abwehrprozesse und die Kompensation eines Konflikts oder eines psychischen Traumas immer auf zwei Ebenen, der intrapsychischen und der interpersonellen, betrachtet werden. Besonders der Blick auf den interpersonellen Abwehrmodus lasse gut sichtbar werden, in welcher Art und Weise der Patient seine Beziehung zum Objekt konstelliere, damit sie für ihn kompensatorisch wirksam ist. Auf früheren psychoanalytischen Theorien zur Abwehr aufbauend, nutzte Mentzos eine Hierarchie von reifen und unreifen (frühen) Abwehrmechanismen. Zu den reiferen Abwehrmechanismen zählen Intellektualisierung, Rationalisierung, Affektisolierung, Verschiebung, Identifikation und Verdrängung, zu den unreiferen Idealisierung, Projektion, psychische Introjektion, projektive Identifizierung, Abspaltung, Verleugnung, Dissoziation, Somatisierung und Agieren.
Die zweite Dimension (Konflikt) bezog sich auf die Art und die Reife des Konflikts. Sidney Blatts Arbeiten zur Depression integrierend, ging Mentzos von einem dialektischen Prozess zwischen einem selbst- und einem objektbezogenen Pol aus. Die normale psychische Entwicklung sei ein Oszillieren zwischen Tendenzen nach Identität, Autonomie und Autarkie auf der einen Seite und Wünschen nach Nähe und Bindung auf der anderen. Gerate der dialektische Prozess durch bestimmte Faktoren wie z. B. neurobiologische Dispositionen, Persönlichkeit und bestimmte psychosoziale Konstellationen in eine Dysbalance, führe dies zur Entwicklung bestimmter Grundkonflikte, je nachdem, welcher Pol der Entwicklung beeinträchtigt sei. Auf dieser Basis formulierte Mentzos folgende sieben Grundkonflikte:
Autistischer Rückzug versus Fusion mit dem Objekt
Absolut autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit
Separation versus Abhängigkeit sowie Individuation versus Bindung
Autarkie versus Unterwerfung und Unselbständigkeit
Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem Weiblichen
Loyalitätskonflikte
Triadische »ödipale« Konflikte
Die dritte Dimension (Struktur)Arbeitskreis OPD 2009