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Paul Heyse

Im Grafenschloss

Novelle

Paul Heyse

Im Grafenschloss

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-61-7

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Im Grafenschloss

Ei­nen Som­mer lang hat­te ich auf der Uni­ver­si­tät häu­fi­gen und ver­trau­ten Ver­kehr mit ei­nem jun­gen Man­ne, des­sen see­len­vol­les Ge­sicht und edle Sit­ten auf je­den, der ihm nur flüch­tig nahe kam, einen ge­win­nen­den Ein­druck mach­ten. Ver­traut darf ich un­ser Ver­hält­nis wohl nen­nen, weil ich der Ein­zi­ge aus un­se­rem stu­den­ti­schen Krei­se war, den er auf­for­der­te, ihn zu be­su­chen, und der dann und wann sei­nen Be­such emp­fing. Aber von je­ner un­ge­bun­de­nen, über­schwäng­li­chen, nicht sel­ten zu­dring­li­chen Ver­brü­de­rung, wie sie un­ter der stu­die­ren­den Ju­gend her­ge­bracht ist, wa­ren wir, als wir uns im Herbst trenn­ten, fast so weit ent­fernt, wie auf je­nem ers­ten Spa­zier­gan­ge längs dem Rhei­nu­fer, wo uns der glei­che Weg und das glei­che Ent­zücken an der wun­der­vol­len Früh­lings­land­schaft zu­sam­men­führ­ten.

Selbst in sei­ne äu­ße­ren Ver­hält­nis­se hat­te er mich nur not­dürf­tig ein­ge­weiht. Ich wuss­te, dass er aus ei­nem al­ten gräf­li­chen Hau­se stamm­te, sei­ne Kna­ben­zeit im Schloss sei­nes Va­ters un­ter der Lei­tung ei­nes fran­zö­si­schen Hof­meis­ters ver­lebt hat­te, dann mit die­sem auf Rei­sen ge­schickt und end­lich auf sei­nen aus­drück­li­chen Wunsch zur Uni­ver­si­tät ge­gan­gen war. Hier erst hat­te er klar er­kannt, was ihm bis­her nur als eine dunkle Ah­nung nach­ge­gan­gen war, dass es ihm an al­ler re­gel­mä­ßi­gen Bil­dung fehl­te. Nun schloss er sich Jah­re lang mit Bü­chern und Pri­vat­leh­rern ein, ließ drau­ßen das wil­de Bur­schen­le­ben vor­über­brau­sen, ohne von sei­ner Ar­beit auf­zu­se­hen, und war, da ich ihn ken­nen lern­te, so weit ge­die­hen, dass er mit der Po­li­tik des Ari­sto­te­les auf­stand und mit ei­nem Chor­ge­sang des Eu­ri­pi­des zu Bet­te ging.

Kein Hauch von pe­dan­ti­schem No­ti­zen­stolz, kein An­flug von un­frucht­ba­rem Stau­be be­schwer­te sei­nen Geist nach die­sen ernst an­ge­spann­ten Lehr­jah­ren. So vie­le flei­ßi­ge Leu­te ar­bei­ten, um nur nicht le­ben zu müs­sen. Er er­leb­te al­les, was er ar­bei­te­te, denn er ar­bei­te­te im­mer aus dem Vol­len, mit al­len Or­ga­nen zu­gleich. Ei­nen geis­ti­gen Ge­winn, der nicht zu­gleich sei­nem Cha­rak­ter zu Gute kam und mit den Be­dürf­nis­sen sei­nes Ge­müts im Wi­der­spruch stand, kann­te er nicht, er­kann­te er nicht an. In die­sem Sin­ne war er viel­leicht die ideals­te Na­tur, die mir je be­geg­net ist, wenn das Wort nicht in dem plat­ten Sin­ne miss­braucht wird, wo es eine wei­che Schön­se­lig­keit, eine Ab­kehr von der kal­ten und un­sanf­ten Wirk­lich­keit der Din­ge be­deu­tet, son­dern den frei­lich sel­te­ne­ren Trieb, al­ler en­gen, fach­mä­ßi­gen Abrich­tung, selbst um den Preis glän­zen­der Er­fol­ge, aus­zu­wei­chen und ein Mensch­heits-Ide­al mit fes­tem Mut und be­schei­de­ner Hoff­nung im Auge zu be­hal­ten.

So war es auch be­greif­lich, dass die ge­wöhn­li­chen stu­den­ti­schen Ver­gnü­gun­gen un­se­ren jun­gen Ein­sied­ler we­nig lock­ten. Man leg­te es ihm als ari­sto­kra­ti­schen Hoch­mut aus, von dem er völ­lig frei war. Al­ler­dings hat­te sei­ne Er­zie­hung einen Wi­der­wil­len ge­gen das Rohe, Un­säu­ber­li­che und Maß­lo­se in ihm be­fes­tigt. Aber das Be­dürf­nis äu­ße­rer Rein­lich­keit war ihm schon an­ge­bo­ren, eben so sehr, wie ein fast weib­li­ches Zart­ge­fühl in al­len sitt­li­chen Din­gen. Ich habe nie eine grö­ße­re Wil­lens­stär­ke, eine männ­li­che­re Ener­gie des Geis­tes mit so viel mäd­chen­haf­ter Scheu, von Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten zu re­den, ver­ei­nigt ge­fun­den. Da­rum mied er die lau­ten Ge­la­ge, in de­nen zwi­schen Wein­dunst und Ta­baks­qualm über Va­ter­land, Frei­heit, Lie­be und Freund­schaft, Gott und Uns­terb­lich­keit mit glei­chem brei­ten Be­ha­gen, wie über den letz­ten Ball oder den Schnitt ei­ner neu­en Korps­müt­ze ver­han­delt wur­de. Ja, auch un­ter vier Au­gen, wo er über ein wis­sen­schaft­li­ches Pro­blem aufs be­red­tes­te sich er­ge­ben konn­te, ge­riet er nur sel­ten auf Fra­gen, über die nur die ge­heims­te, per­sön­lichs­te Na­tur im Men­schen ent­schei­det. Po­li­tik, His­to­rie, Staats­wis­sen­schaft und die Al­ten trieb er mit Lei­den­schaft; da wur­de er in der De­bat­te oft so warm und über­strö­mend, als sprä­che er zu ei­nem gan­zen Volk, das er mit fort­zu­rei­ßen trach­te­te. Die täg­li­chen Din­ge be­rühr­te er kaum. Von sei­ner Fa­mi­lie habe ich ihn nie­mals spre­chen hö­ren.

Nur ein­mal nann­te er sei­nen Va­ter. Ich be­such­te ihn ei­nes Abends, um ihn zu ei­ner Was­ser­fahrt auf­zu­for­dern, wie er sie sehr lieb­te, wo wir im klei­nen Kahn uns zu ei­ner Wein­schen­ke eine Stun­de un­ter­halb der Stadt hin­un­ter ru­der­ten, um dann nach ei­nem ein­fa­chen Mahl un­term Ster­nen­him­mel zu­rück­zu­wan­dern. Ich fand ihn, da er eben sei­ne Fe­der weg­ge­wor­fen hat­te und mit dem Ent­schlus­se rang, sich zu ei­ner Ge­sell­schaft an­zu­klei­den. Be­kla­gen Sie mich! rief er mir ent­ge­gen (zum »Du« ha­ben wir es nie ge­bracht). Se­hen Sie das pracht­vol­le Aben­d­rot und stel­len Sie sich vor, dass ich ihm den Rücken wen­den muss, um mich an der Er­ha­ben­heit ge­stirn­ter Fracks zu wei­den.

Da­bei nann­te er mir ei­nes der äl­tes­ten ad­li­gen Häu­ser der Stadt, wo zu Ehren ei­nes durch­rei­sen­den Ge­sand­ten eine Soi­ree ver­an­stal­tet war.

Und Sie müs­sen? frag­te ich mit auf­rich­ti­gem Mit­ge­fühl.

Ich muss wohl, seufz­te er. Mein Va­ter, der mit Ge­walt einen Di­plo­ma­ten aus mir ma­chen will, wür­de sehr un­ge­hal­ten sein, wenn ich nach Hau­se käme und wüss­te nicht zu sa­gen, ob die Sou­pers des Barons N., an den er mich an­ge­le­gent­lich emp­foh­len, noch im­mer ih­ren eu­ro­päi­schen Ruf recht­fer­ti­gen. Da­rum habe ich mich sträf­li­cher Wei­se zu we­nig ge­küm­mert und muss nun zu gu­ter Letzt die Lücken in mei­nem Cur­sus aus­fül­len.

Er sah mich lä­cheln und setz­te schnell hin­zu: Sie müs­sen wis­sen, mein Va­ter denkt über die ga­lo­nier­te Nich­tig­keit, die in den meis­ten die­ser Krei­se sich spreizt, wo mög­lich noch un­höf­li­cher als ich, wenn er auch An­de­res dort ver­misst, als was mir zu wün­schen üb­rig bleibt. Er ist ein Mann der al­ten Schu­le, ein Di­plo­mat des Em­pi­re; er hat die Welt in Flam­men ste­hen se­hen und kann die dä­mo­ni­sche Be­leuch­tung nicht ver­ges­sen, in der da­mals Gut und Böse, schön und Häss­lich, Hoch und Nied­rig an ihm vor­über­zog. Jetzt ist Al­les fried­lich, aber grau, zahm, aber schläf­rig – wie es ihm vor­kommt. Aber gleich­viel, es ist im­mer noch eine Welt, und wer sie in sei­nem Krei­se be­herr­schen will, muss sie ken­nen. Er hat mir nicht viel gute Leh­ren mit auf den Weg zur Uni­ver­si­tät ge­ge­ben, aber die eine mir in hun­dert Va­ria­tio­nen ein­ge­schärft: Lies mehr in Men­schen, als in Bü­chern. Als ich in dei­nen Jah­ren war, pfleg­te er zu sa­gen, spiel­ten die Bü­cher eine viel be­schei­de­nere Rol­le; ich kann­te man­chen ge­nia­len Mann, der seit sei­nem Ein­tritt in die Ge­sell­schaft nie et­was An­de­res las, als den neues­ten Ro­man und die Kriegs-Bulle­tins, und nichts schrieb als De­pe­schen und Lie­bes­brie­fe. De­sto mehr Zeit blieb ihm zum Han­deln, wo es nö­tig war, und zum Den­ken – und wo wäre das nicht nö­tig? Aber ler­nen, aus Bü­chern ler­nen – das fiel Nie­mand im Erns­te ein; man wuss­te Al­les, es lag in der Luft, und wo ihr heu­te mit eu­rem La­tein bald zu Ende seid, reich­ten wir mit un­se­rem Fran­zö­sisch noch eine gute Stre­cke. – Ich habe mir das ge­sagt sein las­sen und im­mer wie­der einen An­lauf ge­nom­men, mich in die­se Men­schen hin­ein­zu­le­sen. Aber schon nach dem ers­ten Blät­tern sah ich ge­wöhn­lich, dass ihre Ti­tel das ein­zig Wich­ti­ge an ih­nen sind. Ich muss ent­we­der ein schlech­ter Le­ser sein – und ein »ge­neig­ter« bin ich frei­lich nicht – oder die vor­neh­me Welt der neu­en Schu­le lebt wirk­lich in ei­nem geist­lo­se­ren Stil. – Der Wa­gen fuhr vor, und ich ging, denn ich hat­te schon öf­ter be­merkt, dass es ihn ver­le­gen mach­te, wenn Je­mand bei sei­nem An­klei­den zu­ge­gen war. Als ich her­nach zu­fäl­lig an dem Hau­se vor­bei­schlen­der­te, wo das glän­zen­de Fest die gan­ze Ari­sto­kra­tie ver­sam­mel­te, sah ich ihn eben aus­stei­gen, und wir wech­sel­ten einen kur­z­en, halb iro­ni­schen Blick. Ich freu­te mich an der ho­hen, kräf­ti­gen Ge­stalt und der wahr­haft rit­ter­li­chen Hal­tung mei­nes Freun­des, als er lang­sam die mit Tep­pi­chen be­deck­ten Stu­fen hin­auf­stieg. Auch wuss­te ich von mehr als Ei­ner Sei­te, dass er den Frau­en ge­fähr­lich war; ja man er­zähl­te von ei­ner vor­neh­men Eng­län­de­rin, die nach ver­schie­de­nen, sehr un­zwei­deu­ti­gen Ver­su­chen, ihn zu ge­win­nen, end­lich in hel­ler Wut und Verzweif­lung ab­ge­reist sei und zu­vor noch ei­nem Pa­pa­gei den Hals um­ge­dreht habe, der wo­chen­lang bei Tag und bei Nacht den Na­men des sprö­den jun­gen Gra­fen zum Fens­ter hin­aus zu schrei­en pfleg­te.

Mir war es nie ge­lun­gen, et­was Nä­he­res von die­sem oder ei­nem an­de­ren Aben­teu­er zu er­fah­ren; denn über­haupt ging er al­lem Ge­spräch über Frau­en ge­flis­sent­lich aus dem Wege, ob­wohl er mit kei­nem Wor­te je den Ver­dacht er­weck­te, als den­ke er ge­ring von ih­nen, oder tra­ge etwa eine Wun­de durchs Le­ben, die er neu auf­zu­rei­ßen fürch­te. Ich leg­te mir das nach sei­ner gan­zen Sin­nes­art so zu­recht, dass er, sei­nen erns­ten Zie­len nach­stre­bend, für ein leicht­her­zi­ges Ge­tän­del kei­ne Zeit üb­rig habe und von ei­ner tiefe­ren Nei­gung noch nicht be­rührt wor­den sei. Sei­ne Mut­ter war bald nach der Ge­burt die­ses ers­ten Kin­des ge­stor­ben. Zu­wei­len emp­fing er Brie­fe ei­ner weib­li­chen Hand und sag­te mir, dass sie von sei­ner al­ten Wär­te­rin kämen, die Mut­ter­stel­le bei ihm ver­tre­ten. Er schi­en ihr sehr an­zu­hän­gen, ver­weil­te aber auch bei ihr nicht lan­ge, da ihm im­mer Ge­sprä­che über sei­ne und mei­ne Stu­di­en auf der See­le brann­ten.

Er war mir um meh­re­re Jah­re vor­aus und ging, als wir uns im Herbst trenn­ten, nach Ber­lin, dort sein di­plo­ma­ti­sches Ex­amen zu be­ste­hen. Wir sag­ten uns herz­lich, aber ohne Hoff­nung ei­nes fort­dau­ern­den Ver­kehrs, Le­be­wohl. Bei­de wuss­ten wir, dass es un­mög­lich sein wür­de, was wir bis­her aus­ge­tauscht, auch in Brie­fen mit ein­an­der zu tei­len. Wir wa­ren jung; wir schie­den mit dem si­che­ren Ver­trau­en, dass uns das Le­ben un­fehl­bar wie­der zu­sam­men­füh­ren wür­de.

Aber vie­le Jah­re hin­durch war er bis auf den Na­men für mich ver­schol­len. Das Letz­te, was ich über ihn er­fuhr, las ich in der Zei­tung, dass ein Graf Ernst … zum Ge­sandt­schafts-Se­kre­tär in Stock­holm er­nannt wor­den sei. Dann ver­ging wie­der eine ge­rau­me Zeit ohne die ge­rings­te Kun­de von ihm, und ich be­ken­ne, dass sein Bild in mei­nem An­den­ken ziem­lich erb­lasst war, als ich, auf ei­ner Fuß­wan­de­rung be­grif­fen, un­ver­mu­tet den Na­men sei­nes vä­ter­li­chen Schlos­ses auf ei­nem Weg­wei­ser las, der in einen ver­wach­se­nen Hohl­weg hin­auf­deu­te­te, von mei­ner Stra­ße am Ran­de des Ge­bir­ges im rech­ten Win­kel ab­len­kend. Ich stand plötz­lich still, und wie durch den Schlag ei­nes Zau­ber­sta­bes war die Ge­gend um mich her ver­wan­delt. Der Rhein rausch­te zu mei­nen Fü­ßen, und ich sah die edle Ge­stalt des jun­gen Man­nes wie da­mals da­her wan­deln, den Hut in der Hand, das vol­le, et­was ins Röt­li­che spie­len­de Haar lei­se vom Ufer­win­de be­wegt, die schö­nen, sin­ni­gen Au­gen über Strom und Ge­bir­ge hin­stau­nend, bis mein Gruß ihn aus sei­nen Ge­dan­ken los­riss. Nur einen Mo­ment dau­er­te die­ses Spiel ei­ner vi­sio­nären Erin­ne­rung. Dann aber fühl­te ich ein un­be­zwing­li­ches Ver­lan­gen, der Wirk­lich­keit selbst wie­der ins Ge­sicht zu se­hen und das so lan­ge Ver­säum­te recht aus dem Vol­len nach­zu­ho­len. Es war früh am Nach­mit­tag. Ich hoff­te den Weg nicht zu feh­len und zwei­fel­te nicht im Ge­rings­ten, dass ich den Freund in die­ser Herbst­zeit auf dem Schlos­se an­tref­fen wür­de, da er ein lei­den­schaft­li­cher Jä­ger war und mir von den Bäu­men, un­ter de­nen er auf­ge­wach­sen, mehr als von den Men­schen er­zählt hat­te.

Wohl eine Stun­de war ich durch die Schlucht hin­auf ge­wan­dert, als es mir doch selt­sam auf­fiel, dass die Stra­ße völ­lig ver­wahr­lost und of­fen­bar über Jahr und Tag von Wa­gen nicht mehr pas­siert wor­den war. In tie­fen Ris­sen mo­der­te das Laub vom ver­gan­ge­nen Herbst, hie und da traf ich auf Fels­stücke und mor­sche Äste, die ein Win­ter­sturm vom Ran­de des Hohl­wegs hin­ab­ge­schleu­dert hat­te, und nur die Spur von Men­schentrit­ten ließ sich in dem zä­hen Bo­den er­ken­nen. Ich be­schwich­tig­te mei­ne Zwei­fel mit dem Ge­dan­ken, dass wohl längst ein min­der ab­schüs­si­ger Pass vom Schloss nach der Ebe­ne hin­aus ge­bahnt wor­den sei, ob­wohl ich frei­lich beim Ein­gang in die Schlucht ge­se­hen hat­te, dass kein ge­ra­de­rer Weg nach dem na­hen Fa­brik­städt­chen füh­ren konn­te. Jetzt aber, auf der Höhe des Pas­ses an­ge­langt, stand ich wirk­lich rat­los, denn hier oben lie­fen ein halb Dut­zend gleich­mä­ßig ver­wil­der­ter Wege zu­sam­men. Ich klomm eine alte, breitäs­ti­ge Bu­che hin­an und über­blick­te nun erst die Ge­gend. Ein tiefer und sehr re­gel­mä­ßig aus­ge­run­de­ter Tal­kes­sel lag mir zu Fü­ßen, den in pracht­vol­len, dun­kel­grü­nen Wo­gen die dich­tes­te Bu­chen­wal­dung wie ein tiefer See aus­füll­te. Un­ten, ganz in der Mit­te, er­ho­ben sich ei­ni­ge Sin­nen und Schorn­stei­ne des Schlos­ses, über des­sen Dä­chern die Wild­nis zu­sam­menschlug. Es hat­te et­was Mär­chen­haf­tes in der kla­ren Herbst-Abend­son­ne, die Wet­ter­häh­ne auf den klei­nen Türm­chen blit­zen zu se­hen, wie man von ver­sun­ke­nen Zau­ber­pa­läs­ten er­zählt, de­ren letz­te Zin­nen bei kla­rer Luft aus dem Mee­res­grun­de auf­tau­chen. Dazu er­scholl nir­gends ein Laut des Men­schen­le­bens. Die Spech­te schei­te­ten ein­tö­nig im Wald, ein sorg­lo­ses Reh lief an mir vor­über und sah mich mehr ver­wun­dert als er­schro­cken an, und in al­len Äs­ten wim­mel­te es von dreis­ten Eich­hörn­chen, die mit den Hil­fen der Buch­e­ckern nach dem Ein­dring­ling ziel­ten.

Ich war drauf und dran, mei­nen Vor­satz auf­zu­ge­ben, wenn nicht bei schär­fe­rem Hin­bli­cken ein dün­ner Rauch, der über dem ver­wun­sche­nen Schloss auf­stieg, mir an­ge­zeigt hät­te, dass es nicht aus­schließ­lich Ge­s­pens­ter be­her­ber­gen konn­te. Dass der Graf sich lan­ge hier nicht hat­te bli­cken las­sen, konn­te ich aus dem ver­wil­der­ten Forst mit Si­cher­heit schlie­ßen. Aber ir­gend ein Schloss­vogt oder Wald­hü­ter schi­en drun­ten zu hau­sen. Und so hoff­te ich we­nigs­tens Nach­rich­ten von Le­ben und Er­ge­hen mei­nes Ju­gend­freun­des zu ge­win­nen und eine Nacht an dem Orte zu schla­fen, an dem sein gan­zes Herz ge­han­gen hat­te.

Aufs Ge­ra­te­wohl schlug ich einen Pfad tal­ab­wärts ein und ver­sank bald in der wun­der­ba­ren Wald­nacht, die je über mei­nem Haup­te ge­rauscht hat.

Aber in der Wald­nacht kom­men Träu­me, und sie hat­ten mich bald so fest ein­ge­spon­nen, dass ich völ­lig ver­gaß, wo ich war und wo­hin ich woll­te, und blind­lings die Füße für mein Fort­kom­men sor­gen ließ. Die schrit­ten gleich­mü­tig aus, so lan­ge, bis sie wohl still ste­hen muss­ten, an ei­nem brei­ten Bach, der dun­kel zwi­schen den Bu­chen hin­floss. Da­bei war aber kei­ne Spur des We­ges mehr zu ent­de­cken. Die Bäu­me stan­den dicht und ver­schränk­ten ihre Zwei­ge mit dem zä­hen Un­ter­holz zu ei­ner un­durch­dring­li­chen Mau­er. Ich kehr­te so­fort um und schritt den Ab­hang wie­der hin­auf, bis mich ein Weg zur Rech­ten ab­lock­te. Den ver­folg­te ich ge­trost, such­te dann wie­der einen Pfad zu Tal, ging zum zwei­ten Mal in die Irre und streif­te so stun­den­lang in der gan­zen Run­de des Tal­rings um­her, ohne auch nur einen Stein des Schlos­ses durch die Wild­nis schim­mern zu se­hen. Der Mond glänz­te be­reits hin­ter den Bu­chen­wip­feln und ich mach­te mich dar­auf ge­fasst, in ei­ner luf­ti­gen Her­ber­ge über­nach­ten zu müs­sen.

Auf ein­mal aber, da ich mich’s am we­nigs­ten ver­sah, öff­ne­te sich das Ge­hölz, und wie auf ei­ner In­sel mit­ten im See von Grün stand das graue, alte Schloss­ge­bäu­de plump und groß mit un­zäh­li­gen blin­den Fens­tern, ohne jede Spur, dass Men­schen dar­in wohn­ten, vor mir da. Eine brei­te stei­ner­ne Brücke lief über den trock­nen Schloss­gra­ben in einen dunklen Hof hin­ein, um wel­chen die drei vier­e­cki­gen, schmuck­lo­sen Flü­gel des Bau­es schwer­fäl­lig auf­stie­gen. Kein Er­ker, kein Bal­kon be­leb­te die ein­för­mi­gen Mau­ern, nur ein ge­wal­ti­ges in Stein ge­haue­nes Wap­pen über dem Haupt­por­tal, des­sen he­ral­di­sche Zei­chen ich vom Sie­gel­rin­ge mei­nes Ju­gend­freun­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­