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AUTORENPORTRÄT

Emily Lowe

Emily Lowe war die Tochter eines englischen Richters. Sie studierte Schifffahrt und erwarb als erste Frau in England das Kapitänspatent, um am Steuer einer 350-Tonnen-Yacht das Mittelmeer zu überqueren. Die gesamte Mannschaft hörte auf ihr Kommando. Sie war die erste Frau, die Norwegen mit dem Schlitten durchquerte, und die erste, die den Ätna bestieg. In jenem Dezember 1857 hatte es ungewöhnlich viel geschneit. Niemand wollte den Aufstieg auf den Vulkan wagen. Als Emily oben angekommen war, unter ihr das golden leuchtende Sizilien, riefen die Träger aus: Ein solches Wunder konnte sich nur am Tag des Santa Lucia ereignen!

Susanne Gretter

Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie lebt und arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist Herausgeberin der Reihe »Die kühne Reisende«.

Klaudia Ruschkowski

Klaudia Ruschkowski, geboren 1959 in Dortmund, lebt in Volterra, Italien und in Berlin. Sie ist Dramaturgin, Autorin, Kuratorin und Übersetzerin. Sie übersetzte aus dem Italienischen und Englischen, zuletzt Etel Adnan, Guiseppe Zigaina, Vincenco Latronico u.a.

ZUM BUCH

1857 – nachdem sie zuvor den St. Gotthard-Pass zu Fuß überquert hatte – traf Emily Lowe in Begleitung ihrer Mutter in Palermo ein. Von dort reisten die »due donne sole«, die überall Aufregung und Bewunderung auslösten, weiter nach Catania, Messina, Syrakus – abseits der traditionellen Routen, also einsamer, beschwerlicher, gefährlicher. Das hier erstmals in Deutsch vorliegende Buch ist eine Entdeckung: Die junge Frau aus der englischen Oberschicht suchte das Abenteuer und Kontakt zu den Menschen. Treffend beschreibt sie das Leben der Aristokratie, einfühlsam das der kleinen Leute. Sie erzählt von Bauern und Fischern, von Frauen, die fürs tägliche Brot Spitzen klöppeln, von Einladungen in die Häuser der Reichen, von sizilianischer Mode und von schäbigen Hotels, von Tempeln und der Vielfalt der italienischen Kunst. Und schließlich von der gefahrenvollen Besteigung des Ätna: »Ich fühle den Moment gekommen, in dem zwei Wunder der Schöpfung, ein schneebedeckter Vulkan und die Neugier der Frauen, sich einander auf die Probe stellen.«

DIE KÜHNE REISENDE

Emily Lowe

Palermo,
oh Palermo!

Eine gewagte Reise durch Sizilien

Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

© by Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2016
Die Übersetzung folgt der Originalausgabe: Unprotected females in Sicily, Calabria, and on the top of Mount Aetna. Routledge, Warnes and Routledge, London 1859
Lektorat: Susanne Gretter, Berlin
Covergestaltung: Karina Bertagnolli, Wiesbaden
Bildnachweis: Die Bucht von Palermo mit dem Monte Pellegrino, Carl Bernhard Schlösser 1892 © akg-images
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0539-1

www.verlagshaus-roemerweg.de

 

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Emily Lowe

INHALT

EMILY LOWE – REISEN OHNE GEPÄCK
Vorwort von Klaudia Ruschkowski

SIZILIEN

KAPITEL I

DER TRAUM

KAPITEL II

PALERMO

KAPITEL III

PALERMITANISCHE BRÄUCHE

KAPITEL IV

PALERMOS UMGEBUNG

KAPITEL V

REISEN IN SIZILIEN

KAPITEL VI

EINE PROVINZSTADT

KAPITEL VII

DAS ANTIKE AGRIGENT

KAPITEL VIII

DAS MODERNE AGRIGENT UND DIE SCHWEFELMINEN

KAPITEL IX

DAS INNERE DER INSEL

KAPITEL X

CATANIA

KAPITEL XI

LEBEN AUF DEM ÄTNA

KAPITEL XII

DIE BESTEIGUNG DES ÄTNA

KAPITEL XIII

DIE FAHRT NACH SYRAKUS

KAPITEL XIV

SYRAKUS

KAPITEL XV

RÜCKKEHR NACH CATANIA

KAPITEL XVI

REISE NACH MESSINA

KAPITEL XVII

MESSINA

KALABRIEN

KAPITEL XVIII

KALABRIEN

KAPITEL XIX

REGGIO

KAPITEL XX

REISE DURCH KALABRIEN

KAPITEL XXI

COSENZA

KAPITEL XXII

PAOLA

KAPITEL XXIII

RAST IN NEAPEL UND PORTICI

KAPITEL XXIV

FAHRT DURCH ROM UND FLORENZ

Für meine Mutter

VORWORT

Emily Lowe – Reisen ohne Gepäck

Es ist früh im Herbst, als Emily Lowe und ihre Mutter 1857 in Palermo eintreffen. Sie sind bereits seit mehreren Wochen unterwegs. In einer Rückblende skizziert Emily die Route: die Überquerung der Alpen über den St. Gotthard, ein Besuch in Mailand und Genua, die Fahrt über Rapallo und Sestri Levante durch Cinque Terre bis nach La Spezia, schließlich die Ankunft in Livorno, von wo aus sie sich nach Sizilien einschiffen, dem Ziel ihrer Reise. In einem Zug beschreibt sie die abendliche Stimmung über dem Golf von Palermo. Sie entwirft ein paradiesisches Bild, Inbegriff von Süden und romantischem Gefühl. Mit leichter Hand umreißt sie den geografischen, kulturellen und mythologischen Raum des Mittelmeers: Der Schirokko verbindet Europa mit Afrika, Palermo verweist auf das maurische Spanien mit Al Andalus, dies führt zur arabischen Welt, die palermitanischen Berge rufen den Olymp auf und damit die griechische Götterwelt. Der romantische Traum, ein Topos der englischen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, mit dem Emily Lowe ihr Buch eröffnet, mündet am Ende des ersten Kapitels in die Wirklichkeit. Hier beginnen die eigentlichen Entdeckungen der beiden »schutzlos« reisenden Ladies, die 1859 unter dem Titel »Unprotected females in Sicily, Calabria, and on the top of Mount Aetna« unter »anonymous« im Londoner Verlag Routledge erscheinen. Eine Parenthese verweist jedoch auf die Autorschaft von »E. Lowe«.

Es handelt sich bereits um das zweite Reisebuch, das die junge Emily Lowe selbstbewusst veröffentlicht. 1857 erschien im selben Verlag »Unprotected females in Norway or the pleasantest way of travelling there, passing through Denmark and Sweden«. Im Zentrum des Berichts über die Reise nach Norwegen, damals »Terra incognita«, die sie ebenfalls gemeinsam mit ihrer Mutter unternimmt, steht die Überquerung des Sognefjells im Pferdeschlitten, auf der höchstgelegenen Passstraße Nordeuropas.

Die beiden Engländerinnen geben sich nicht mit konventionellen Zielen zufrieden. Sie bereisen Europas geografische Extreme, die sich außerhalb der seit der Renaissance obligatorischen und den Söhnen des europäischen Adels und später auch des gehobenen Bürgertums vorbehaltenen »Grand Tour« befinden. Es zieht sie nach Süditalien, das als unzugänglich und gefährlich gilt, für Frauen ohnehin undenkbar. Emily Lowes Buch über Sizilien und Kalabrien kann daher als Pionierarbeit betrachtet werden.

Durch die Formulierung »unprotected females« kreiert sie für sich und ihre Mutter eine originelle Identität. Zwar war die Bezeichnung »unprotected« für Frauen, die ohne männliche Begleitung reisen, in der viktorianischen Kultur durchaus verbreitet, galt aber als exzentrische Verirrung, als ebenso komische wie tragische Abweichung von der Norm. In einer Reihe von Sketchen machte sich die Londoner Satirezeitschrift »Punch« über die »Unprotected females« lustig und verhöhnte in den zwischen 1849 und 1851 erschienenen »Szenen aus dem Leben einer schutzlosen Frau« die Missgeschicke einer gewissen »Miss Martha Struggles«, die ohne männliche Obhut – oder Aufsicht – mit der »Komplexität des viktorianischen Lebens« kämpft, um schließlich erschöpft in die Arme eines Mr. Jones zu sinken, der sie noch gerade rechtzeitig aus einer scheinbar hoffnungslosen Situation befreit.

In ihren Veröffentlichungen besetzt Emily Lowe den Ausdruck »unprotected« positiv und dreht den Spieß um. Für sie hat die sogenannte »Schutzlosigkeit« einen ganz praktischen Sinn. Bevor sie nach Norwegen aufbrachen, sind Emily und ihre Mutter schon häufiger gereist und haben festgestellt, dass »Ladies weitaus besser allein reisen als zusammen mit Gentlemen«. Jeder ist freundlich, jeder versucht zu helfen. Reist die Frau in Begleitung eines Mannes, dann steht sie zwangsläufig im Hintergrund. Der Mann führt die Gespräche, er entscheidet über die Route, er schließt die Bekanntschaften, er erlebt die Abenteuer, die Emily, zum Zeitpunkt ihrer Reisen nicht älter als Anfang zwanzig, selbst erleben will. »Auf Reisen besteht der einzige Nutzen eines Gentleman darin, dass er sich um das Gepäck kümmert, und wir achten darauf, kein Gepäck dabei zu haben«, eröffnet sie dem Leser gleich zu Beginn ihres Norwegen-Berichtes. Detailliert beschreibt sie in ihrem Buch über Sizilien die Vorbereitungen zur Besteigung des Ätna, ein logistisches Unterfangen, aber auch eine Frage der Willenskraft. Wobei sie wie nebenbei darauf hinweist, dass nicht nur der berühmte Geologe Sir Charles Lyell mehrfach versucht hat, bis zum Gipfel des Ätna zu gelangen, im Gegensatz zu ihr jedoch nie über einen Nebenkrater hinausgekommen ist.

Emily Lowes streitlustiger und selbstbewusster Ton brachte ihr einige bissige Kritiken ein. Der Rezensent der englischen Wochenzeitschrift »The Era« bemerkte 1859, kurz nach dessen Erscheinen, das Buch über Sizilien »ist nicht eben das, was wir uns aus der Feder einer englischen Dame wünschen, aber es könnte laufen, immerhin so lange wie eine Weihnachtspantomime, und dann ist es vergessen«. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Verrisse durch die männliche Kritik hatten Emily Lowes Bücher Erfolg. Sie blieben – ebenso wie ihre Reisen – während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gedächtnis der englischen Öffentlichkeit. A. T. Camden Pratt widmete ihr einen Artikel in seinem 1897 in London erschienenen »People of the Period«, einem viktorianischen »Who’s Who«, wo sie als eine »Frau mit starkem Charakter« und »glühende Pionierin des Reisens« bezeichnet wird.

Emmeline Marjory Lowe wurde 1835 geboren. Englische Personenverzeichnisse des 19. Jahrhunderts und »Debrett’s Illustrated Baronetage« von 1864 stellen sie als Tochter des Richters R. Atwell Lowe vor, von dem Camden Pratt berichtet, er sei in Indien tätig gewesen. Die Mutter wird hier nicht erwähnt. In späteren Veröffentlichungen trifft man auf den Namen Helen Lowe, und wahrscheinlich handelt es sich bei Emilys Mutter um die Autorin des 1841 in London erschienenen Bandes »Cephalus and Procris«. Die Londoner Zeitschrift für Literatur, Wissenschaft und die Schönen Künste »The Athenaeum« veröffentlicht am 7. Mai 1842 die Notiz, dass »Cephalus und Procris« wegen der poetischen, an Milton erinnernden Sprache und einer großen Vertrautheit der Autorin mit der griechischen Mythologie und Literatur »mit Erstaunen aufgenommen wurde«. Die junge Emily muss die Liebe zu Mythologie und Dichtung durch ihre Mutter erfahren haben. So praktisch sie über Transport- und Zahlungsmittel, über Straßenverhältnisse, Brückenbauten und die Ausstattung von Gasthöfen berichtet, so passioniert flicht sie Götter und Mythen ein, um Sizilien zu beschreiben, das »antike Thrinakria«, »Helios’ leuchtende Insel«. Sie war, worauf die Zeitschrift »Woman’s World« ausdrücklich hinweist, das einzige Kind ihrer Mutter. Die Abenteuer, die beide zusammen erleben, ihr unkomplizierter Umgang miteinander und die lebhafte Art ihres Reisens lassen auf ein enges, schwesterliches Verhältnis schließen. »Mamma«, wie Emily ihre Mutter auf italienische Art nennt, erscheint als die praktischere von beiden, zügelt die ungestüme Jüngere, lässt sich dann aber immer wieder von ihr mitreißen.

Ab 1856 ist »Miss E. Lowe« als Mitarbeiterin bei »The Athenaeum« tätig, dessen Herausgeber, dem englischen Historiker und Reisenden Hepworth Dixon, sie ihr Buch über Norwegen widmet. Sie übernimmt die Recherche für Reise- und Geschichtsbeiträge von Autoren wie Walter White, einem Sekretär der Royal Society: »Zu Fuß durch Tirol im Sommer 1855«, für den Historiker Edward Stillingfleet Cayley: »Die Revolutionen von 1848« oder für das von Francis Coghlan herausgegebene »Handbuch für Reisende in Norditalien«, verfasst aber auch eigene Texte, zum Beispiel »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg« – erschienen am 17. Mai 1856, vor ihrem Aufbruch in den Norden. »Für den wahren Reisenden«, beginnt sie ihren Bericht über Norwegen, »liegt die eigentliche Faszination in einem unerforschten Land …« Die beiden Ladies wollen sich daher in »den wildesten Teil Skandinaviens« wagen. Die Reise in die Gegenrichtung, an einen der südlichsten Punkte Europas, stellt Mitte des 19. Jahrhunderts kein geringeres Wagnis dar. Hinzu kommt, dass Emily sich vorgenommen hat, im Winter und bei Schnee den Ätna zu besteigen und auf jeden Fall bis zum Krater zu gelangen, eine Herausforderung, der sie sich mit der eigenwilligen Bemerkung stellt, sie sehe »den Moment gekommen, wo zwei Wunder der Schöpfung, ein schneebedeckter Vulkan und die Neugier einer Frau, sich gegenseitig in ihrer Glut auf die Probe stellen«.

Dennoch ist Emily Lowe keine typische englische »Lady Explorer«. Sie erkundet keine exotischen Landstriche oder fernen Kontinente wie Isabella Bird, die nach Amerika, Australien und in den Fernen Osten aufbricht, oder wie Mary Kingsley, die es nach Afrika zieht. Weder erfüllt sie eine gesellschaftliche oder politische Mission, noch reist sie, um sich selbst zu finden. Sie scheint vielmehr von Neugier und einer ungemeinen Lebenslust getrieben, was mit einer jugendlich romantischen Vorstellung von Abenteuern einhergeht, deren Heldin sie ist. Vor allem in Kalabrien, dessen antike griechische Besiedlung, sarazenische Piratenüberfälle und albanische Einwanderung eine ganz eigene Kultur geschaffen haben, einem »wilden Land«, dem »romantische Gefahren« nachgesagt werden, zeigt sich Emilys Leidenschaft für Schauergeschichten, die im damaligen England sehr beliebt waren. Schließlich ist es aber wirklicher Wissensdurst, die Begeisterung für Natur und Geschichte und nicht zuletzt das aufrichtige Interesse an der Begegnung mit Menschen, was aus ihren Reiseberichten spricht. Obwohl sie im Laufe der Wochen, in denen sie unterwegs ist und mehr und mehr Einblick in die Verhältnisse des Landes gewinnt, in manch viktorianische Vorstellungen und von Standesdünkel getragene Vorurteile zurückfällt, sind ihre Reisen im Kern von der Überzeugung getragen, jederzeit herzlich auf die Menschen zugehen zu sollen, denn »ein kühl distanziertes Gebaren der Überlegenheit« verletzt den anderen und verhindert ein wirkliches Kennenlernen.

Emily Lowes Originalität als Verfasserin von Reisebüchern liegt, wie Stefania Arcara bemerkt, in der Stärke der Persönlichkeit, die sie in ihren Texten durch die Figur einer Reisenden kreiert, die ihre Unabhängigkeit ostentativ zur Schau stellt. Emily scheut sich nicht, sich selbst zu skandalisieren, Kühnheit und Antikonformismus zu zeigen. In Norwegen schneidert sie sich Hosen aus leuchtend rotem Flanell, um »à la Zouave« reiten zu können, »frei und unabhängig, einen Fuß in jedem Steigbügel«, und sieht sich in der Rolle eines militärischen Anführers, der in unerforschte Gegenden vordringt. In Sizilien legt sie es als »femme fatale« auf einen Flirt mit einem Mönch an, in Kalabrien sonnt sie sich in der Bewunderung einiger junger Männer, die ihr ein Sonett widmen. Die Verkleidungen, in denen sie sich nur zu gern zeigt, entsprechen ihrem Hang zur Theatralität und ihrer Liebe zur Bühne. Emily und ihre Mutter lassen in Sizilien keine Gelegenheit aus, die Oper zu besuchen – es sei denn, es handle sich um einen Sonntag, an dem sich die protestantischen Damen jegliches Vergnügen versagen.

Emily Lowe zeigt in jeder Hinsicht ein ambivalentes Verhalten, das zwischen extremer Grenzüberschreitung und der Annahme einer ganz traditionell weiblichen Haltung schwankt. Das hat durchaus Kalkül. »Trotz gelegentlich immenser Kraftanstrengungen«, vertraut sie dem Leser an, erscheinen sie und ihre Mutter von »trügerisch zarter Gestalt«. So werden die vermeintlich »Schutzlosen« während ihrer Reise unentwegt beschützt – wenn es in ihrem Interesse liegt. »Wie erstaunlich ist es doch, dass die Leute, wenn Damen einen vollkommen hilflosen und unschuldigen Eindruck machen, sogleich in die Falle gehen und alles unternehmen, um ihnen zu Diensten zu sein«, notiert Emily in Norwegen. »›Unprotecteds‹ fahren am besten damit, sich eng an die alte Kombination der Qualitäten von Schlange und Taube zu halten.«

Durch ihre Reiseberichte erschafft Emily Lowe, wie Hannah Sikstrom feststellt, einen neuen symbolischen Raum für die reisenden Frauen des 19. Jahrhunderts. Dieser »metamorphische Raum« gestattet es ihnen, sich selbst in ihrer Weiblichkeit zu definieren und je nach Situation über das Maß zu entscheiden, in welchem sie die zu jener Zeit dominanten Rollenvorstellungen von sich weisen oder ihnen entgegenkommen wollen.

Am 4. Oktober 1859 heiratet Emily Lowe den zwanzig Jahre älteren Sir Robert Cavendish Spencer Clifford, »3rd Baronet Clifford Of The Navy« und »Yeoman Usher of the Black Rod«, einen ranghohen Beamten im britischen Parlament und direkten Nachfahren von Königin Maria I. (Tudor). Wie Camden Pratt berichtet, macht sich Emily sogleich daran, Rutland House, ihren Wohnsitz in Knightsbridge, nach eigenen architektonischen Plänen zu gestalten. Mit der Heirat endet ihre Tätigkeit für »The Athenaeum«. Im Herbst 1861 lanciert der Verleger Samuel Beeton das Frauenmagazin »Queen«, das eine überraschend ausführliche Reisekolumne enthält. Dreißig Jahre lang wird das Blatt von einer anonymen Herausgeberin betreut. Jill Steward weist sie in ihrem 2005 erschienenen Beitrag zur Rolle des Reisejournalismus in England und der Entwicklung des Tourismus als »Helen Lowe« aus, »die als ›unprotected female‹ in Begleitung ihrer Mutter durch Norwegen und Sizilien reiste.« »Helen Lowe« soll demnach für »Queen« auch Beiträge »im Stil ihrer Reisetagebücher« verfasst haben. Vermutlich handelt es sich um einen Irrtum, und es war Emily, die ebenso »anonymous«, wie sie ihre beiden Bücher veröffentlicht hat, als Herausgeberin des Blattes fungierte. »Queen« ermutigte die Frauen, Reisen als eine ebenso befreiende wie bestärkende Erfahrung zu begreifen, und enthielt darüber hinaus zahlreiche praktische Ratschläge zum Verhalten in anderen Ländern.

Die Abenteuerlust hat Emily mit ihrer Heirat nicht verlassen. Die Londoner Gesellschaftsblätter berichten im Laufe der Jahre immer wieder von den Reisen, die sie, nun Lady Spencer Clifford, mit ihren drei Töchtern unternimmt, vor allem nach Italien. Sie besitzt eine Yacht, mit der sie unter dem Kommando eines Kapitäns etliche Fahrten durch das Mittelmeer und den Atlantik unternimmt. Auf die Dauer führt die zwischen Besitzerin und Kapitän geteilte Autorität jedoch zu Konflikten. Als gegen ihren Willen immer wieder Häfen außerhalb der festgelegten Route angelaufen und obskure Waren an Bord geladen werden, wendet sie sich an den zuständigen Konsul und erhält die offizielle Erlaubnis, den Kapitän und die mit ihm konspirierenden Offiziere zu entlassen. Nach dem Tod ihres Mannes im Januar 1892 macht Emily, wie die Zeitschrift »Woman’s World« vom 5. Oktober 1895 berichtet, ihr Kapitänspatent und wird bei der englischen Kammer als »Kapitän auf einem Handelsschiff« eingetragen. Dadurch eröffnet sie den Frauen ein neues Berufsfeld, gemäß ihrem Motto: »Wenn du willst, dass etwas getan wird, dann tu es selbst.« Nachdem sie die Prüfung in Nautik bestanden hat, die ihr als Frau, wie sie der Zeitschrift gegenüber ironisch versichert, »ganz gewiss leichter gemacht wurde«, steuerte sie bis zu ihrem Tod 1897 als erster weiblicher Kapitän in England ihre 350 Tonnen Yacht durch den Ärmelkanal, umrundete die iberische Halbinsel und passierte die Meerenge von Gibraltar auf dem Weg in ihr geliebtes Mittelmeer.

Klaudia Ruschkowski

Literatur

Emily Lowe, Unprotected females in Norway or the pleasantest way of travelling there, passing through Denmark and Sweden, London, 1857

Emily Lowe, Due viaggiatrici ›indifese‹ in Sicilia e sull’Etna: diario di due lady vittoriane, übersetzt und herausgegeben von Stefania Arcara, La Spezia, 2001

A. T. Camden Pratt, People of the Period: Being a Collection of the Biographies of Upwards Six Thousand Living Celebrities, London 1897, 2 Bde., S. 232–33

H. M. L. S., A Few Words of Advice on Travelling and Its Requirements Addressed to the Ladies, London, 1875

John Pemble, The Mediterranean Passion: Victorians and Edwardians in the South, Oxford 1987

Hannah Sikstrom, ›The Serpent and the Dove‹: The Adventures of an Unprotected Victorian Female Traveller in Norway and Sicily, Liverpool Conference Paper, 2013

Jill Steward, How and Where to Go: The Role of Travel Journalism in Britain and the Evolution of Foreign Tourism, 1840–1914, in: Histories of Tourism: Representation, Identity and Conflict, Hg. John K. Walton, Clevedon – Buffalo – Toronto, 2005

Kathryn Walchester, Gamle Norge and Nineteenth-Century British Women Travellers in Norway, London / New York, 2014

Ein besonderer Dank gilt Stefania Arcara, Anglistin an der Universität Catania, und Übersetzerin von Emily Lowes Bericht über ihre Reise nach Sizilien ins Italienische.

Sizilien

KAPITEL I

DER TRAUM

Palermo bei Nacht – Ein Traum – Genua – Die »Sommerfrische« – Südwärts – Erwachen

Wer hat nicht schon von den Hymnen der Sizilianischen Vesper gehört?1… Sie erklingen, während wir von unserer Terrasse aus, zwischen Palmen und Aloe, die Sonne im Tyrrhenischen Meer versinken sehen. Der Mond wächst wie die Sichel der Ceres, in den Reihen der Paläste nach Osten und nach Westen gehen in allen Fenstern die Lichter an, die vorspringenden Berge, anmutig wie die Felsen des Olymp, verbleichen zu Schatten und wir spüren, wie sich der müde Schirokko aus den Wüsten Afrikas ein letztes Mal aufbäumt, die balsamische Luft durchzieht und säuselt: Schlafe!

Ja, schlafe … und vielleicht ist es nur ein Traum, dass wir die von allen Göttern geliebte Insel erreichten – im alten Panormus eintrafen, dem heutigen Palermo, einst eine maurische, dann spanische Stadt, wo die Menschen einander immer noch mit »Don« und »Donna« begrüßen? Süßer trügerischer Traum, vergehe nicht. Voll Zuversicht verließen wir unsere Heimat, kamen mit Bergführern über die Gletscher der Schweiz zum Fuß des St. Gotthard – überquerten seinen felsigen Pass, hinab zu den Ufern des Lago Maggiore, wo die Berge, die unter der milden Berührung der südlichen Sonne ihre Strenge verlieren, in sanften Biegungen und schillernden Farben rings um das Wasser auslaufen und der Ebene gestatten, das Antlitz der Natur bis zu Füßen des schwesterlichen Apennin mit ihren lieblichen Weinstöcken zu bedecken – einsam der Monte Rosa, errötender Gemahl des Mont Blanc, der nach Süden vordringt und sein Prachtgewand vom Gipfel bis zum Fuß erstrahlen lässt, um den Bergsteiger zu trösten, der den Schneefeldern der Nordwand nachtrauert. Wir stiegen auf die Kuppel des Mailänder Doms, errichtet aus weißem Marmor, in seiner Schönheit beinahe ein Werk der Natur, von wo aus wir mit einem einzigen Blick das gewaltigste Panorama dieser Welt vor uns hatten: die Alpen. Wir kamen an bemalten Gebäuden vorbei, jedes umgeben vom eigenen gestutzten Orangenhain, durchquerten vierzehn Tunnel und gelangten so in das geschäftige Genua, »wo der Osten noch an das Tor zu klopfen scheint«; und wo inmitten von Reihen reich geputzter und beladener Maulesel, die durch die engen Gassen trotten, der weiße Schleier über sprechende schwarze Augen und ungebärdige Locken weht; wo sich marmorne Aufgänge und schlafende Löwen aus dem Schmutz erheben und an jedem Eingang eine der Parzen Michelangelos ihren Rocken spinnt; wo eine Straße voll Gold und Silber sich zur herrlichen Nuova und Nuovissima verzweigt, der »neuen« Straße und der »ganz neuen«, auf Kirchen zu, deren Pracht sich durch Frische bricht, und hin zu kleineren Tempeln, aus denen man kaum die Betten für die Opfer der Choleraepidemie entfernt hatte, die nun unter den die Wälle verdunkelnden Zypressen ruhen. Griechische Seeleute, wahre Korsaren mit steif abstehenden Röcken und Schärpen, springen zu den groben Klängen eines Musikers auf dem Platz vor der Kathedrale in Matrosenquadrillen herum, während auf der großen Opernbühne ein politisches Drama mit dem Titel »Der Traum eines Verbannten« getanzt wird, mit Garibaldi als Held – der sich im wirklichen Leben auf ein eigenes Stück Land auf Sardinien zurückgezogen und alle Angebote zur Vergrößerung seines Vermögens abgelehnt hat –, umgeben von tollenden Nymphen in höchst raffinierten Kostümen: die auf der einen Seite mit den drei Nationalfarben, die auf der anderen österreichisch gestreift. Letztere lösten mit dem Erscheinen einer bekrönten Dame, auf deren Brust der Doppeladler des Kaiserreichs prangte, einen Sturm an Pfiffen aus, während erstere, angeführt von einer rot-grün-weiß geflügelten Sardischen Fee, das Publikum in Entzücken versetzten, bis der Auftritt eines Jesuiten, der Heftchen an die Kinder verteilte, den Sturm der Entrüstung erneut aufleben ließ; er legte sich erst, als ein Schwarm von Amoretten Lorbeerkränze auf ihr geliebtes Land niederregnen ließ, während die österreichische Flagge in Flammen aufging. Dieses Schauspiel, das sich Abend für Abend wiederholt, zeigt, mit welchen Gefühlen die Menschen auf ihre Habsburger Nachbarn reagieren, deren italienische Staatsbürger diese Empfindungen voll und ganz teilen. Könnten Mailand und Turin, die beide den Aufstieg des anderen zur Hauptstadt fürchten, nur ihre Rivalität vergessen, so würden die fruchtbaren Ebenen der Lombardei noch immer die Felsenkrone des Piemont bereichern.

Am nächsten Morgen umrundeten wir die Mauern von Genua, schritten durch die Paläste der Stadt, verloren uns in den endlosen Arkaden, wo tausend Ambosse einer Welt von Schmieden ihre Funken versprühen. Dann längs der Riviera di Levante, einer überwältigend schönen Küste, gesäumt von einem herrlichen Meer. Marmorne Landspitzen erhoben sich von Olivenhainen, eine blaue Bucht erstreckte sich vor vielfarbigen Dörfern, Lateinersegel flogen auf den Horizont zu, Kaktus, Kapern, Feigen säumten unseren Weg. Zauberhafte Szene, in welch leuchtenden Worten der Palette meines Geistes könnte ich dich malen?

Während sich all diese Reize zu meiner rechten ausbreiteten, entfalteten sich auf der linken die Wunder der Villen, in denen die italienischen Herrschaften ihre Sommer verbringen. Jeder Hügel war von ihnen bekrönt, vom herrschaftlich mit Portiken versehenen Palast bis hin zum kleinen Sommerhaus waren alle umgeben von Wein und Spalieren. In ihren Formen und Farben drückten sich tausenderlei Launen aus: Hier eine karmesinrote Festung mit zahlreichen Erkertürmen, bewacht von hochglanzlackierten gepanzerten Kriegern; daneben ein Tempel, dessen pastellig getönte Bogengewölbe sämtliche Musen beherbergen; die Wände eines anderen geformt aus Lapislazuli und Malachit; wir blickten in ein Fenster, hinter dem eine Katze saß, die einem Kanarienvogel zublinzelte, hinter einem anderen jagte ein Affe einen Papagei. Um eine Ahnung vom italienischen Fresko zu bekommen, müsst ihr diesen Weg nehmen. Und wie alles in der Sonne leuchtete!

Der erste Tag der Reise führte uns über Rapallo nach Sestri, unter dessen steinernen Säulengängen die weibliche Bevölkerung sich ihrer kostbaren Seidenspitzenarbeit widmete. Am nächsten Tag begann die Überquerung des Ligurischen Apennins, wo wir auf nichts anderes als Felsen, Wiesen, Ziegen, Schafhirten und weit voneinander entfernte Berggipfel stießen, bis nach einem langen, gewundenen Abstieg die ligurische Hauptstadt La Spezia vor uns auftauchte, ihr Golf sah aus wie ein Türkis, eingefasst von einem silbernen Kranz runder, weiß-wipfeliger Olivenbäume.

Ein Dampfer nahm eine Ladung rot bemützter Bauern an Bord, um sie zum Holzfällen nach Korsika zu bringen, das deutlich sichtbar in der Ferne aufragte. Wie sehr wünschte ich, wir wären mit ihnen gefahren! Denn nun kündigte sich der Alb des Traumes an: Sturzbäche von Regen, so viel der italienische Himmel fünf Tage lang nur ununterbrochen herab schütten kann, als wolle er dadurch all sein Strahlen vergessen machen. Häuser und Land waren überschwemmt, zu zeichnen gab es nichts anderes als Regen. Nur wenige Meilen entfernt floss der brückenlose, überflutete Macra2, der unpassierbar geworden war, nicht zuletzt wegen einer erpresserischen Forderung. Wir waren dumm genug gewesen, von Genua aus eine Kutsche mit einer irischen Familie zu teilen, die nie zuvor im Ausland gewesen war, keiner fremden Sprache mächtig, die den Italienern gab, was immer sie auch verlangten und zuließ, dass der Kutscher ihre Freundlichkeit und damit auch die unsere missbrauchte. Er hatte während des unfreiwilligen Aufenthalts bereits eine stattliche Summe für seine eigenen Ausgaben und zur Pflege der Pferde erhalten, aber als der Fluss passierbar wurde, war er nicht willens, uns ohne ein neuerliches Handgeld hinüberzubringen. Wäre nicht ein hartnäckiger Schotte mit seiner Familie eingetroffen, die sich weder ausnehmen lassen, noch verspäten wollten, hätten wir gewiss noch weitere fünf Tage versucht, durch den Nebel hindurch Byrons Residenz in Lerici zu erspähen und in regendurchtränkten Booten einen Ausflug zu der Süßwasserquelle in der Bucht zu unternehmen. Zu einem ähnlichen Verdruss wird es an diesem Ort nicht mehr kommen, denn als die Regierung kurz darauf beschloss, in La Spezia einen großen Hafen anzulegen, erhielt der Fluss eine steinerne Brücke.

In Sarzana, am gegenüberliegenden Ufer, gab es einige schöne römische Ruinen, auch die Villen tauchten hier und dort wieder auf; doch wie hatte die Nässe ihnen zugesetzt! Gewiss sieht keine Operndiva mit schlammverschmutzter Schleppe erbärmlicher aus als ein verregnetes Norditalien. Zöllner, die unter einem Bogen mit der herzoglichen Krone einige Franken erbettelten, ließen uns nach Modena hinein: nichts als baufällige Ortsteile, Schmutz und jammervolles Elend. Carrara mit seinen Steinbrüchen und den Marmorblöcken, die quer durch die Stadt hindurch zum Meer gebracht werden, waren die einzig interessanten Dinge. Dieselbe offizielle Bettelei kündigte uns die Toskana an. Nach einer weiteren Nacht, die wir an der Straße nach Pietrasanta verbrachten, durchquerten wir am nächsten Morgen ein sehr viel besser gestelltes Land, bis sich vor uns ein weißer Turm erhob, der deutlich aus der Lotrechten wich: Pisa. Dort, Reisender, sind Kathedrale, Baptisterium, Friedhof und Portale so herrlich wie alles, was du von nun an erblicken wirst.

Dann flog Morpheus mit uns nach Livorno und trug uns, nachdem er uns sanft durch zwei Nächte auf dem Meer gewiegt hatte, zu jener schönen Maske auf verdorbenem Gesicht: dem Golf von Neapel. Der Vesuv flammte, und als wir des Nachts erneut aufbrachen, war sein Feuer weithin sichtbar in der Dunkelheit. Bei Tagesanbruch lag eine Insel mit Felsvorsprüngen vor uns auf dem Wasser. Ich glaube, wir gingen an Land – und es war kein Traum, denn hundert Glocken zugleich schlagen die Stunde, die Sonne funkelt hell durch den Fensterflügel, die vorspringenden Felsen ragen aus dem Meer, eine kleine Eidechse huscht am Myrtentopf entlang: heute wollen wir Palermo entdecken.

KAPITEL II

PALERMO

Angriffslustige Fahrer – Die Straßen – Die Kirchen – Die Kathedrale – Der Palast – Die Glocke der »Sizilianischen Vesper« – Die Menschen auf den Straßen – Der Liebesbrief

Und nun Palermo, oh Palermo! Du liegst im vollen Tageslicht vor uns, aber es ist nicht leicht, deine Straßen zu erkunden. Kaum setzt man den Fuß vor die Tür, füllt sich die enge Gasse augenblicklich mit verrückten Fahrzeugen, wieder andere nähern sich von deren beiden Enden. Die Fahrer beknien uns alle zugleich, als könnten wir sämtliche Wagen auf einmal besteigen, drängen uns gegen die Hauswände, füllen die Luft mit Peitschenknall und folgen uns einer hinter dem andern durch die Stadt. In Zukunft werden wir den erstbesten Wagen nehmen, dies versprechen wir, doch heute wollen wir nur bummeln, umherstreifen und einen Blick auf den neuen Ort werfen. Und noch etwas anderes beschäftigt uns: Wie können wir das Heer der Bettler bezwingen? Begierig, das große Los zu ziehen, erwarten sie die Ankunft eines jeden neuen Reisenden, wollen herausfinden, ob er die Absicht hat, während seines Aufenthalts ihre Börse zu füllen, um ihn – je nachdem, wie die Antwort ausfällt –, in dieser Zeit entweder zu verfolgen oder ihn in Ruhe zu lassen; der erste grano3, den er gibt, weist ihn als Opfer aus; verweigert er ihn, ist er ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig.

Schmale Gehwege säumen beide Seiten der vier lebendigen, sich kreuzenden Straßen, die quer durch Palermo zu den vier Stadttoren Felice, Maquada, Toledo und St. Antonino führen. Sie treffen sich im Zentrum der Stadt4, wo sich neben Opernplakaten und dem Bildnis der Madonna vier steinerne Brunnen befinden, deren Wasser aus satinweißen, bannerförmigen Dekors und Verzierungen sprudelt. Inmitten der Piazza steht – typisch für alle gut ausgestatteten sizilianischen Straßen und Plätze – eine eiserne Brücke auf Rädern, mit deren Hilfe man schlammigen Stellen ausweichen kann. Junge Männer unternehmen ihren frühmorgendlichen Ausflug auf glatt gestriegelten Eseln; die Händler diskutieren in den schönen, zur Straße gelegenen Salons, in denen sie ihre Waren feilbieten; Konditoren haben gerade begonnen, mit langen Stangen, an deren Enden bunte Papierfahnen geknüpft sind, die bereits versammelten Fliegenschwärme zu verscheuchen; gelb gekleidete, aneinander gekettete Gefangene ziehen in Reihen zu ihrer frühmorgendlichen Arbeit; kindliche Novizen, die kaum unter ihren Hüten hervorschauen, gehen zum Unterricht, und Donna Luisa verschwindet mit ihrer Kammerfrau in der Kirche. Lasst uns ihr folgen, denn es gilt, dreihundert heilige Gebäude zu besuchen, die alle am Mittag schließen. Sie kniet vor einem von van Dycks5 heilig melancholischen Bildern. Die reiche Innenausstattung der Kirche besteht aus vielfarbig glänzendem Marmor; die Säulen sind reliefartig mit detaillierten Szenen aus der Heiligen Schrift überzogen – die, an der wir lehnen, zeigt die Geschichte von Jonas, das Schiff, den Walfisch, alles farbgetreu und von prächtigem Glanz; hinter einem vergoldeten Gitter entdecken wir schließlich die Schwestern von Santa Caterina, denen die Kirche gewidmet ist.

Die Innenräume von Santissimo Salvatore und die der Basilika San Giuseppe dei Teatini, in der sich eine kleine »Heilige Familie« von Raphael befindet, sind ebenso vollkommen gestaltet wie die der Kirchen La Martorana, Sant’Ignazio all’Olivella und der Casa Professa, überall treffen wir auf Meisterwerke der sizilianischen Mosaikkunst, die Ähnlichkeiten mit der Florentinischen aufweist. Nur der Dom – ein höchst poetisches Bauwerk! – ist in seinem Inneren von strenger Schlichtheit, außen dagegen so, wie ich mir eine edle spanische Kathedrale erträumen würde. Halb maurisch, halb gotisch öffnet er sich auf eine Piazza – auf der einen Seite bewacht von Santa Rosalia, seiner süßen Schutzpatronin, auf der anderen von Santa Olivia mit ihrem Friedenszweig; tausende kleiner Bögen, deren hochaufragende Mauern mit Blumenkränzen verziert sind, folgen dicht aufeinander, bis sich der letzte Bogen weiträumig zum Kardinalspalast hinüberspannt, aus dem Scharen rotgewandeter Lakaien strömen.

Im Inneren des Gotteshauses liegt Friedrich Barbarossa in seinem Porphyr-Sarkophag – zwischen den prachtvollen Gräbern von Roger II. und den frühen normannischen Königen.6 Die hohen Seitenschiffe wurden jüngst restauriert, und obwohl sie sich im Stil von dem zauberhaften Äußeren unterscheiden, sind die achtzig Granitsäulen, von denen die rauen Bögen getragen werden, eine Augenweide. Santa Rosalias Altar besteht aus Lapislazuli; nur zu den Festen ist es erlaubt, den heiligen Ernst dieses Ortes durch Flitterkram zu stören.

Vom frühen Morgen an huschten Gestalten ein und aus und knieten vor den Beichtstühlen; anmutige Frauen bewegten sich lautlos durch die Arkaden und bekreuzigten sich. Wir hielten uns lange dort auf, und es wäre uns kaum in den Sinn gekommen, welch romantischer Begebenheit wir gedankenverloren beiwohnen sollten: Als wir den Dom verließen, fiel unser Blick vom Portikus aus auf Ciceros Haus gegenüber, nun im Besitz des Prinzen Ninfa; vom Licht geblendet, wanderte unser Auge blinzelnd über die Steine der Kathedrale, die golden in einer Sonne leuchteten, deren Schein seit sieben Jahrhunderten auf sie fällt; es verweilte beim benachbarten Convento dei Sett’Angeli, dem Kloster der sieben Engel, wo wir beobachteten, wie die Armen Geschirr und Flaschen auf eine Drehscheibe neben dem Fenster des Parlatoriums stellten und alles nach einer Umdrehung mit Fleisch und Wein gefüllt zurück erhielten. Welche Freude bereitete uns dieser kurze Blick in die Zeiten des Mittelalters!

Die Orden und Kloster wechseln einander beim Verteilen der Speisen ab, so dass die Armen sich jeden Tag einer Mahlzeit gewiss sein können. Zudem gibt es ein weiträumiges und gut geführtes Obdachlosenhaus namens »Albergo dei Poveri«, wo man sich der Bedürftigen annimmt; in einem anderen wird dem notleidenden Adel geholfen, womit das Betteln eigentlich unnötig sein sollte.

Nun auf zum Palast! Vor dessen Toren wartet eine Karosse auf den gegenwärtigen Bewohner Prinz Castelcicala, der lange Zeit Botschafter in England gewesen war und nun im Alter das Amt des Vizegouverneurs von Sizilien als Pfründe erhalten hat. Die Regierungsgeschäfte liegen in Wirklichkeit jedoch in Händen von fünf Direktoren. Sie gehören als Minister dem neapolitanischen Kabinett an. Die hübsch ausgemalten königlichen Wohnräume mit ihren Volten, Marmorfußböden und den wenigen klassischen Möbeln geben eine gute Vorstellung von einer gepflegten italienischen Residenz. Auf einer Säule ruht der letzte Widder von Syrakus, der einst mit seinen bronzenen Gefährten die vier Eckpunkte der Stadt zierte – der Wind, der durch ihre hohlen Körper zog, röhrte aus ihren Mäulern und zeigte an, aus welcher Richtung Äolus wehte – eine Anlage von Archimedes, so heißt es.

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